1 Einleitung

Es steht schlecht um die Historiographie in der Erwachsenenbildungswissenschaft, es steht aber auch schlecht um die Integration der Erwachsenenbildung in die historisch-systematische Erziehungswissenschaft, die im 20. Jahrhundert sich noch als „historisch-systematische Pädagogik“ verstand, und die entfaltete Historiographie der Erwachsenenbildung hat keinen guten Ruf: Sie ist disziplinär randständig und hat keinen Anschluss an die ausdifferenzierte Geschichtswissenschaft gefunden. Man beklagt diese Tatsache, aber die Klage verändert sie nicht. Man verändert sie, insofern man sie als diese anerkennt und zu begreifen versucht, und man begreift sie, wenn man ihren disziplinär-systematischen Ort ausmacht und ihre Genesis betrachtet. Was ist, hat seine Geschichte, und was geworden ist, muss nicht bleiben, was es ist. Das Begreifen der Tatsache relativiert ihre entwickelte Positivität.

2 Historiographische Formen der Erwachsenenbildung

Die Erwachsenenbildung ist im Bewusstsein der Erwachsenenbildner, der Erziehungswissenschaft und auch der Bildungspolitik eine geschichtlich späte Form der Bildung (vgl. Olbrich 2001; Seitter 2000; Dräger 1984). Den Beginn der Erwachsenenbildung setzt man mit der Aufklärung, mit der sogenannten Volksaufklärung, die weithin auf die bäuerliche Bevölkerung adressiert war, die einerseits durch die Religion für die öffentliche Moral im Sinne der Einheit von Thron und Altar und andererseits für die sich vollziehende landwirtschaftliche Revolution zugerüstet werden sollte. Dieser Bewegung folgte dann, so die Historiographie, mit den Anfängen der industriellen Revolution und der Gewerbefreiheit die technisch-gewerbliche Handwerkerbildung in den Gewerbevereinen. Mit dem Niedergang der absolutistischen Herrschaft, eingeleitet durch die Französische Revolution und durch die Herausbildung des Fabriksystems mit der Folge der Arbeiterbewegung entstand die Arbeiterbildung in sozialökonomischer und politischer Intention. Die Herausbildung des Nationalstaates, die sich in Europa nach der napoleonischen Ära und dem Wiener Kongress von 1815 vollzog, erforderte die Rückverlegung des Staates in das Bewusstsein der Staatsbürger, um so die Einheit von Staat und Nation herbeizuführen. Der Nationalstaat forderte die Nationalbildung. Als eine Modifikation der nationalen Bildung wird dann die Volksbildung angesehen, die durch Teilhabe des Volkes an der entfalteten nationalen Kultur die Herausbildung eines gebildeten Volkes in seiner funktionalen Gliederung in Hinsicht auf einen sozialen Frieden schaffen sollte. Diesen Bildungsformen und Konzepten gemeinsam war, dass Bildung in der entwickelten historischen Situation auf eine Defizitkompensation zielte, durch die die kulturelle, gesellschaftliche und politische Situation neu gestaltet werden sollte. Anders formuliert: Die Erwachsenenbildung in diesen Formen und Konzepten war gesellschaftlich partikular, betraf sie doch im Sinne der intendierten Ziele nur diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die der geistigen und kulturellen Anhebung und Formung noch bedürftig waren. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Revolution von 1918, der Etablierung der Demokratie als Regierungsform, die die Teilhabe aller an der Politik gewährleistete und durch die Verfassung politische Gleichheit aller Bürger schuf, entstand mit dem Konzept der Volkshochschule als der Hochschule des Volkes, wie Grundtvig sie in Dänemark (Hollmann 1919) für die bäuerliche Bevölkerung entworfen hatte, die Idee, jedem einzelnen gemäß seines Lebenskreises eine individuelle und das hieß zugleich intensive Bildung zu ermöglichen (von Erdberg 1924). Volk wurde verstanden als eine umfassende Arbeitsgemeinschaft; und Volksbildung entstand dadurch, dass aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen einzelne Mitglieder, sie wurden „die bildungsfähigen Wenigen“ genannt, in einer eigenen Arbeitsgemeinschaft ein gemeinsames Bildungsideal arbeiteten, mit dem sie, zurückkehrend in ihre Herkunftsgemeinschaften, die konkreten, lebenskreisspezifischen Bildungsinhalte als das je Besondere des erarbeiteten Bildungsideals der Volksbildung umgestalteten. Damit, so wurde angenommen, werde der seit der Aufklärung entstandene Pluralismus und Partikularismus in der Erwachsenenbildung aufgehoben: Die Bildung des Volkes als Volksbildung war damit zugleich eine Volkbildung, in der jede konkrete Bildung immer das Besondere des Allgemeinen war. Insofern alle Bildungsausprägungen teilhatten an dem allgemeinen Bildungsideal, das für alle galt und an dem alle in ihren Lebenskreisen teilnehmen können sollten, hatte die Bildung der Erwachsenen in der Volksbildung als Volkbildung in den jeweiligen Volkshochschulen den Charakter von Allgemeinheit. Erwachsenenbildung wurde damit als öffentlich-rechtliche Aufgabe begriffen (von Erdberg 1928). Sie erhielt in der Weimarer Verfassung im sogenannten Schulparagrafen 148 Abs. 4 Verfassungsrang. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in der historiographischen Literatur der Beginn der modernen Erwachsenenbildung auch mit der Weimarer Republik gesetzt wird und die unterschiedlichen historischen Formen gleichsam als Vorformen und Vorläufer betrachtet werden (Picht 1950; Scheibe 1980). Die Entwicklung der Erwachsenenbildung der Weimarer Republik hat sich nicht nach dem theoretischen, dem sozial- und kulturphilosophischen Konzept des Modells der Volkshochschule entfaltet; sie hat sich weltanschaulich plural, aber institutionell volkshochschulähnlich vollzogen. Die Volkshochschule als Institution gab das Einrichtungsmuster der in den Zielen differenzierten Erwachsenenbildungsbewegung in der Weimarer Republik ab und hat diese Funktion weithin bis heute bewahrt (Kappe 1964).

Die Geschichtsbetrachtung hat seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zwei Schwerpunkte herausgebildet: einerseits die Epoche der Weimarer Republik mit dem Zentrum der Volkshochschule und andererseits die unterschiedlichen Formen von Erwachsenenbildung des 18. und 19. Jahrhunderts, die vor allem in Vereinen und Verbänden in kritischer Koexistenz arbeiteten. Die historische Forschung vollzog sich dann in der Analyse der bekannten Formen der Erwachsenenbildung dieser beiden Zeitabschnitte. Für die Historiographie zur Weimarer Erwachsenenbildung, auf die die Forschung sich vornehmlich fokussiert, hatte dies zur Folge, dass die neuen Institutionen, ihre Gründer und leitenden Personen und deren Intentionen differenziert und vertieft untersucht wurden. Für die vereins- und verbandsverfasste Erwachsenenbildung des 18. und im Besonderen des 19. Jahrhunderts dagegen sind keine vergleichbaren Ausarbeitungen erstellt worden; hier herrscht die positivistische Deskription der Institutionen vor. Auszuklammern ist hier die Arbeiterbildung, die von der allgemeinen Geschichtswissenschaft im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung thematisiert worden ist, allerdings weniger als Bildungsarbeit sondern vor allen Dingen als politische Bewusstseinsbildung. Wenn die Weimarer Erwachsenenbildung eine Erwachsenenbildung neuer Qualität darstellte – sie selber verstand sich als „neue Richtung“, die die bisherige Erwachsenenbildung, Volksbildung, Volksaufklärung und auch die Arbeiterbildung in sich aufhob – dann ist es gleichsam verständlich, dass man sich fragte, warum man sich forschend, vergegenwärtigend mit dem Überholten, dem Abgegoltenen abarbeiten sollte, vermochte es doch für die gegenwärtig entfaltete Bildungsrealität kein besseres Verständnis zur Verfügung zu stellen. Aus dieser Vergangenheit heraus war die Gegenwart nicht zu verstehen, nicht zu verlebendigen. Herman Nohl (1879–1960), Mitbegründer der Volkshochschule Jena (1919) und der Jugendvolkshochschule Göttingen (1921), Professor für Pädagogik an der Universität Göttingen, ausgerichtet auf die Geisteswissenschaft der Dilthey-Schule, hat in seinen Göttinger Vorlesungen zur Deutschen Bewegung (1937/47) die Maxime der historischen Forschung als Suche nach den „Wurzeln“ der je gegenwärtig engagiert praktizierten Bildungsbewegung formuliert. Er sah die Reformbewegung der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, zu der er die Reformpädagogik und die Volkshochschulbewegung rechnete, verbunden mit der sogenannten „Deutschen Bewegung“, die mit dem Sturm und Drang begann, über die Klassik und die Romantik in die Bewegung der Kulturkritik und die Begründung der Geisteswissenschaft reichte, und hat daher die geschichtliche Betrachtung als Rückgang auf den Geist jener Bewegung begriffen, damit dieser Geist das gegenwärtige „lebendige Volk (…) (in) all seinen Lebensäußerungen beherrscht und (…) alles, was ihm begegnet, darauf ansieht, ob es ihm hilft, sein Leben zu gestalten.“ Dieser Rückgang sollte verstanden werden, als „ein Eintreten in einen Prozess, eine Bewegung, deren Willen wir auf einer neuen Stufe nur wieder aufnehmen“ (Nohl 1970, S. 91). In solcher historischer Betrachtungs- und Forschungsperspektive konnte die Erwachsenenbildung des 19. Jahrhunderts schwerlich in den Blick kommen, war sie doch vom Realismus der nach-idealistischen Philosophie und vom Geist des wissenschaftlichen Positivismus geprägt und bildungstheoretisch von einem didaktischen Materialismus beherrscht. Wurde sie aber im Widerspruch zur geisteswissenschaftlichen Perspektive thematisiert, verfiel sie der Rezeption. Die Gegenwart zurückbinden auf die Geschichte, d. h. auf die Geschichte einer normativen Vergangenheit, macht die Geschichte zur Legitimationsinstanz der Gegenwart. Geschichte wird zum Steinbruch für die gegenwärtige Theorie, die eigentlich nicht mehr eigens zu formulieren ist, denn sie ist die Aktualisierung der historischen Theorie im Modus der Transformation. Nach den Wurzeln suchend, findet man nur, im Bild bleibend, die ganze Pflanze, von deren Blüte man ausgegangen ist. Solche Vorgehensweise erschließt streng genommen nur das relativ Bekannte in präziser Weise; das mag gewiss ein Gewinn der Selbstversicherung und Identitätsbildung sein, doch es erschließt keine neuen Horizonte. Wir haben es mit einer Zirkelbewegung des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit zu tun, durch die gleichsam eine Verschließung gegenüber der Erscheinungsvielfalt und historischen Entwicklung der Erwachsenenbildung in der Forschung entsteht. Die Durchsicht der präsenziellen Bibliografie zur Geschichte der Erwachsenenbildung zeigt dann auch in den Monographien eine Konstanz der betrachteten Gegenstandsbereiche und in der Aufsatzform eine reflexive Betrachtung dieser Forschungsergebnisse in Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit für aktuelle Zusammenhänge. Die entfaltete Historiographie ist selektiv und damit partikular. Angemerkt sei, dass selbst die sozialgeschichtliche Wende in der Historiographie der Bildungs- und Erziehungsgeschichte keine neuen Bereiche der Erwachsenenbildung erschlossen hat; sie verblieb in der sozialgeschichtlichen Kommentierung der geisteswissenschaftlich orientierten Historiographie.

Aber die Historiographie ist nicht die Geschichte; wird sie aber dafür gehalten, führt dies in der Tendenz zu einem Versiegen innovativer historischer Forschung im Bereich der Erwachsenenbildung, und das bedeutet, dass die Erwachsenenbildung in ihrer historischen Mannigfaltigkeit nicht erschlossen wird und nicht zur Darstellung kommt. Es ist aber die Aufgabe der historischen Forschung, die vergangene Realität der entfalteten Formen und Gestaltungen der Erwachsenenbildung in ihren konkreten Kontexten aufzuzeigen, damit wir zu einem historisch aufgeklärten Begriff unseres Gegenstandes kommen. Eine aufgearbeitete Geschichte lehrt uns, was bisher als Erwachsenenbildung möglich war, und zeigt zugleich welche Möglichkeiten nicht realisiert worden waren: und sie tut dies ohne Präjudiz für die Praxis der Gegenwart, aber mit der Aufforderung an die präsenzielle Forschung und Theorie, ihrerseits über die entfaltete Gegenwart hinaus nach alternativen Möglichkeiten Ausschau zu halten, um damit über einen Erwachsenenbildungsbegriff hinauszukommen, der nur das Aktuelle erfasst. Die Synthese des historischen und des präsenziellen Begriffs von Erwachsenenbildung ergäbe erst für die weitere Forschung einen umfassenden Begriff unseres Gegenstandsbereiches. Um dem Dilemma der gegenwärtigen erwachsenenbildnerischen Historiographie zu entkommen, die strukturbedingt über eine Präzisierung des Bekannten in seiner Verzweigung nicht hinauskommt, ist eine Theorie der möglichen Geschichte erforderlich: Der Historiker Koselleck schreibt:

„Es geht in der geschichtlichen Erkenntnis immer um mehr als um das, was in den Quellen steht. Eine Quelle kann vorliegen oder gefunden werden, aber sie kann auch fehlen. Und doch sind wir genötigt, Aussagen zu riskieren. (…) Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Geschichte zeugt. (…) Die Geschichtswissenschaft ist von vornherein genötigt, ihre Quellen zu befragen, um auf Zusammenhänge zu stoßen, die jenseits der Quellen liegen. In dieser Nötigung liegt auch die Grenze aller Verstehenslehre, die primär auf Personen, auf deren Zeugnisse oder Werke hin orientiert bleibt, um deren Interpretation es ihr geht. Aber schon Erklärungsmodelle, um etwa langfristigen Wandel ökonomisch zu deuten, entziehen sich einer Verstehenslehre, die sich erst an den Quellen selbst entzündet. (…) Wir benötigen eine Theorie, und zwar eine Theorie möglicher Geschichte. (…) Es erzwingt der Primat der Theorie auch den Mut zur Hypothesenbildung, ohne die eine historische Forschung nicht auskommt. Damit wird freilich der Forschung kein Freibrief erteilt. Denn die Quellenkritik behält ihre unverrückbare Funktion. (…) Die Quellen haben Vetorecht“ (Koselleck 1977, S. 44 f.).

Das heißt, der Historiker der Erwachsenenbildung muss Theoretiker sein, um neue Quellen zu erschließen und Zusammenhänge aufzuzeigen; er darf nicht der Positivist kontingent gefundener Quellenbestände und der Interpret eines Zirkularverhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit in legitimatorischer Intention sein.

3 Die Pädagogik als Grund der Schwierigkeit der Erwachsenenbildung, ihren Begriff zu finden. Oder das pädagogische Verständnis der Erwachsenenbildung.

Die Wahrnehmung und die Akzeptanz der Erwachsenenbildung als eine Form der Bildung durch die entfaltete Pädagogik waren in der Geschichte nicht unproblematisch. Herbart (1776–1841), realistischer Philosoph, der sich selbst in der Nachfolge Kants verstand, und dessen theoretische Pädagogik neben der Pestalozzis das 19. Jahrhundert im Besonderen in Bezug auf die Volksschule prägte, schrieb den lakonischen Satz: „Die Übertreibung der Pädagogik zur Andragogik ist zu rügen. Dadurch würde eine allgemeine Unmündigkeit entstehen“ (Herbart 1851, S. 437). Da für Herbart das Hauptgeschäft der Pädagogik die Moralität war und sie auf die zukünftige Selbstständigkeit des Zöglings zielte, war Andragogik, die er sich nur pädagogisch vorzustellen vermochte, eine Aufhebung der Prinzipien der Pädagogik. In einer Rezension (1835) zu Alexander Kapps Werk „Platon’s Erziehungslehre als Pädagogik für die Einzelnen und als Staatspädagogik oder dessen praktische Philosophie“ (1833), in dem der Begriff der Andragogik für den deutschen Sprachgebrauch erstmals auftauchte, konstatierte er, dass die Felder dieser Andragogik, die Kapp nach der Darstellung der platonischen Pädagogik beschrieb – Selbsterkenntnis, Charakterbildung, Berufsbildung (des Arztes, des Kriegers, des Lehrers, des Staatsmanns, des Gesetzgebers und des Herrschers) sowie die Bildung des Mannes zum Familienvater – in die praktische Philosophie gehörten und zu den Aufgaben des Staates zu rechnen seien. Explizit fragte er sich, „wer die Andragogen (nach Analogie der Pädagogen) sein sollen, und welcher Grad von Unmündigkeit den Männern dadurch angedroht werde?“ (Herbart 1914, S. 489). Die Andragogik in Analogie zur Pädagogik verstehen, verschließt das Verständnis des Eigencharakters dieser Bildungsform von Menschen als Gegenstandsbereich von Theorie und Forschung der Erziehungswissenschaft. Kapps Studie zu Platon war für Herbart kein Beitrag zur Geschichte der Erziehung. (In der weiteren Darstellung werde ich mich des Begriffs der Andragogik bedienen.)

In der Kritik der Definition der Pädagogik als des Ganzen von Bildung und Erziehung liegt die Möglichkeit eines Perspektivwechsels. Der romantische Theologe Schleiermacher (1768–1834), der mit seinen Vorlesungen zur Pädagogik an der Berliner Universität, im Besonderen der von 1826, die in Mitschriften überliefert, aber erst 1871 veröffentlicht worden ist, großen Einfluss auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik des 20. Jahrhunderts gehabt hat, sah die Pädagogik bestimmt durch die erziehende und bildende Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere. Es galt für ihn, dass es

„eine Theorie geben (muss), die von dem Verhältnis der älteren Generation zu jüngeren ausgehend sich die Frage stellt: Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zwecke, wie wird das Resultat der Tätigkeit entsprechen? Auf dieser Grundlage des Verhältnisses der älteren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung auf die andere obliegt, bauen wir alles, was in das Gebiet dieser Theorie fällt“ (Schleiermacher 2009, S. 9).

In der Zielbestimmung der Erziehung ist dann auch der Gegenstandsbereich der Theorie der Erziehung formuliert:

„Die Erziehung – im engeren Sinne beendet, wenn der Zeitpunkt eintritt, dass die Selbstständigkeit der Einwirkung anderer übergeordnet wird – soll den Menschen abliefern als ihr Werk an das Gesamtleben im Staate, in der Kirche, im allgemeinen freien geselligen Verkehr, und im Erkennen oder Wissen“ (ebd., S. 31).

Die bildende und erziehende Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere Generation führt den Nachwuchs auf das gesellschaftliche entwickelte kulturelle Niveau und bewahrt damit zugleich die Kultur der Gesellschaft. In die Geschichte gewandt macht Schleiermacher dann deutlich, dass der Zusammenhang von individueller Hinführung zur Kultur und gesellschaftlicher Bewahrung der Kultur das Prinzip der Pädagogik schlechthin sei. Da Schleiermacher vom Ende der Erziehung mit dem Erreichen der Selbstständigkeit der jüngeren Generation sprach, hat sich die Vorstellung entfaltet, dass für Schleiermacher die geistig kulturelle Einwirkung und Entwicklung nur im intergenerationellen Verhältnis stattfände, dass es jenseits der Pädagogik für ihn, wie für Herbart, eigentlich keine „Agogik“ mehr gäbe. Gewiss, Schleiermacher hat die Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere Pädagogik genannt, damit aber nicht gesagt, dass es nicht auch geistig kulturelle Einwirkungen und Entwicklungen im intragenerationellen Verhältnis der Erwachsenen untereinander gibt. Schleiermacher hatte für dieses Phänomen der intragenerationellen Einwirkung keinen Begriff, beschrieben aber hat er dieses Phänomen in seinem „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ (Schleiermacher 1983). Diese Theorie der Geselligkeit ist implizit die Didaktik einer sich selbst konstituierenden und sich selbst bildenden Geselligkeit; sie stellt, anders formuliert, die formale Didaktik einer selbstbestimmten kollektiven Selbstbildung dar, die durch den geistigen Austausch sich anerkennender und achtender und unterschiedlich gebildeter Erwachsene stattfindet. Die Inhalte sollten die Sphäre der Berufstätigkeit und des häuslichen Lebens überschreiten, denn

„jedes bürgerliche Verhältnis nämlich, in so fern es anhaltende Beschäftigung mit einem Gegenstand voraussetzt, hält diejenigen, die daran gebunden sind, von denen Theilen der allgemeinen Bildung nothwendig zurück, die ein gerade entgegengesetztes Verfahren erfordern, oder von jenem Gegenstande am weitesten entfernt sind“ (Schleiermacher 2009, S. 273).

Die Aufgabe der Bestimmung der Inhalte selbst „wird durch den freien Umgang vernünftiger sich unter einander bildender Menschen gelöst“ (ebd., S. 254). In der Geselligkeit „ist der Mensch ganz in der intellektuellen Welt, und kann als ein Mitglied derselben handeln; dem freien Spiel seiner Kräfte überlassen, kann er sie harmonisch weiterbilden, und von keinem Gesetz beherrscht, welches er sich selbst auferlegt, hängt es nur von ihm ab, alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf ein Zeitlang, soweit er will, zu verbannen“ (ebd.). Die Inhalte im Austausch der freien Gesellschaft mögen sich „mit Neuigkeiten oder moralischen Schilderungen (…), mit Kunst, mit Literatur oder mit Philosophieren“ beschäftigen (ebd., S. 265), müssen aber dergestalt behandelt werden, „dass mehrere Menschen auf einander einwirken sollen, und dass diese Einwirkung auf keine Art einseitig seyn darf“ (ebd., S. 258). Die geistige Einwirkung des Austauschs soll auffordernden Charakter haben:

„es kann also auf nichts anderes abgesehen seyn, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, durch welche alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und beleben. Die Wechselwirkung ist so nach in sich selbst zurückgehend und vollendet; in dem Begriff derselben ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Thätigkeit enthalten und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus“ (ebd., S. 259 f.).

Schleiermachers Konzept einer Erwachsenenbildung ist über eine Skizze hinaus nicht entfaltet, diese aber zeigt einen Typus von Erwachsenenbildung eigener Qualität und Art, der sich unterscheidet von der vereins- und verbandsverfassten Erwachsenenbildung des 19. Jahrhunderts wie auch von der der Volkshochschule der Weimarer Republik. In seiner Theorie der Geselligkeit beschreibt Schleiermacher die Idee des Ideals der freien, selbstorganisierten, bürgerlichen, kollektiven Selbstbildung, wie sie sich im Prozess der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft entfaltete. Schleiermacher ist nicht der Pädagoge, den die Geschichte der Erziehung beschreibt: Seinen Begriff von Pädagogik für die Interpretation seiner Bildungstheorie insgesamt zu nehmen, verdrängt seine Reflexion zur intragenerationellen kollektiven Selbstbildung von Erwachsenen und macht aus ihm, der einen komplexen und umfassenden Bildungs- und Erziehungsbegriff hatte, einen Vertreter einer nur partikularen Pädagogik. Die Erziehungshistoriker haben mit ihrem Verständnis des Schleiermacherschen Begriffs von Pädagogik als intergenerationelles Bildungsverhältnis das Phänomen der intragenerationellen Erwachsenenbildung bei Schleiermacher nicht in den Blick zu nehmen vermocht.

Der exemplarische Fall einer Verdrängung einer konzipierten Erwachsenenbildung durch die Nutzung des Paradigmas „Pädagogik“ für die Betrachtung und Beschreibung von komplexen Erziehungs- und Bildungsprozessen in gesellschaftlicher Entwicklung ist die pädagogische Historiographie zu Pestalozzi (1746–1827). Er wird beschrieben als der Elementarpädagoge, als der Leiter eines Waisenhauses und der Gründer von Internaten, die europäischen Ruhm erreichten: er wird nur gesehen als Methodiker, der die Schulpädagogik grundlegend erneuerte. Seine Erwachsenenbildung entfaltet Pestalozzi, bevor er Schulpädagoge wurde. In seinem Volksbuch „Lienhard und Gertrud“ (1781–87), einem vierbändigen Romanwerk, hat er die Restauration einer sittlich verfallenen und ökonomisch darniederliegenden Dorfgesellschaft dargestellt einerseits durch individuelle Bildung von Erwachsenen zu Sittlichkeit, zu Arbeit mit neuen Verfahren und Formen in Landwirtschaft und Gewerbe in Hinsicht auf den sich entwickelnden Freihandel sowie zur gesellschaftlichen Verantwortung der eigenen Lebenshaltung. Über den Aufweis erfolgreicher individueller Bildung hinaus beschreibt er dann andererseits die Einrichtungen, in denen diese Bildung verallgemeinert wird, d. h. auf alle ausgerichtet wird und somit die Bildung zur Lebensordnung des einzelnen zur Gesellschaftsordnung für alle wird: der Gemeindetag, der Dorfrat und der Weiberbund arbeiten im Stile von Arbeitsgemeinschaften mit helfender Beratung durch Regierungsbeamte, daneben gestellt sind eine kirchliche Arbeitsgemeinschaft und ein Spital, das eine Rehabilitationseinrichtung für Straffällige ist, das das Gefängnis ersetzt. In dieses Gefüge von gesellschaftlichen Einrichtungen, in denen Bildung durch Austausch, Beratung und Praxiserfahrung geschieht, hat Pestalozzi dann die Schule platziert als Stätte der Zurüstung für eine geordnete, sich stets selbstbildende Gesellschaft (Pestalozzi 1927a). Wie zum Beleg, dass sein Romanwerk als Bildungsbuch der Erwachsenen des Volkes gedacht war, beschreibt er in dem Werk „Christoph und Else“ (1782) ein bäuerliches Ehepaar, das in den Abendstunden gemeinsam mit seinem durch die Wanderschaft weltkundig gewordenen Knecht und bei Anwesenheit ihrer Kinder das Romanwerk liest, sich darüber austauscht und sich, wo ihm das Verständnis von Textpassagen abgeht, einen sachkundigen Ökonomie- und Regierungsrat einlädt, der ihnen aufklärende Vorträge hält. Zu diesen Vorträgen werden Nachbarn aus dem Dorf eingeladen (Pestalozzi 1927b). Mit „Christoph und Else“ beschreibt Pestalozzi modellhaft eine selbstgeschaffene bäuerliche Erwachsenenbildungseinrichtung, in der durch Selbstbildung und eingeforderte, didaktisch aber selbstbestimmte Lehre von Dritten die Zurüstung von Erwachsenen für die sich verändernde Welt ereignet. Pestalozzi kannte die Begriffe von Erwachsenenbildung, Weiterbildung und Andragogik nicht; er sprach von Volksbildung, Nationalbildung, Volkserziehung und Menschenbildung: das Volk, die Nation konnte nur gebildet und erzogen werden durch die Bildung der einzelnen: „Individualbildung“ und „Sozialbildung“ waren zwei Seiten der gleichen Medaille. Und Menschenbildung war für Pestalozzi einerseits die Bildung zur Bestimmung des Menschen und zur gleichen Zeit die unausgesetzte, begleitende Bildung des Menschen im Lebensprozess. In seinem Roman „Lienhard und Gertrud“ und in dem Dialogwerk „Christoph und Else“ zeigt Pestalozzi, dass der Zusammenhang von Bildung der Kinder und Bildung der Erwachsenen sowohl als die Einheit von Menschenbildung wie auch als die Einheit von Volksbildung zu begreifen ist. Die Bestimmung des Verhältnisses von Menschenbildung und Volksbildung, von Mensch und Gesellschaft, die Pestalozzis Werk durchzieht, hat in der Epoche der Aufklärung in der Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Menschheit den Ausdruck von Allgemeinheit erhalten (Dräger 1989).

Wenn das 18. Jahrhundert als das Jahrhundert der Pädagogik genommen wird, wie es die pädagogische Historiographie tut, und es zugleich als der Beginn der Erwachsenenbildung, der Andragogik, erscheint, dann gilt, dass es das Jahrhundert der Menschenbildung ist. Die Bildung des Menschen ist die Antwort auf die Herausforderungen der veränderten Welt: Wissenschaft und Technik und Wirtschaft erfordern, dass Bauern und Handwerker an die neu entwickelten Produktionsmittel und Produktionsverfahren sowie an die marktwirtschaftlichen Formen der Gewerbefreiheit herangeführt und sie zu einer Lebensform geleitet werden, die infolge der Erosion der ständisch-feudalistischen Gesellschaftsordnung Selbstständigkeit und Selbstverantwortung von jedem einzelnen erfordert. Der gesellschaftliche Wandel macht es erforderlich, dass die Bauern und Handwerker für die Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktion auf dem fortgeschrittenen technischen und soziokulturellen Niveau eine Bildung erfahren, die über ihre Traditionsbestände hinausgeht. Und die Kinder dieser Bauern und Handwerker müssen auf die sich dynamisch verändernde Welt, auf die Welt des Fortschritts, hin gebildet werden, dass sie später dann teilhaben und teilnehmen können an den gesellschaftlichen Mächten, wie es Schleiermacher in seiner Definition der Pädagogik gefordert hatte. Bildung erscheint nicht mehr als ein Privileg der oberen Stände und der Patrizier der Städte; Bildung gilt nun gesellschaftlich als allgemein: jeder und d. h. alle müssen gebildet werden. Im 18. Jahrhundert wird allgemein bewusst, dass Bildung als solche für alle zu gelten hat, dass jeder Mensch gebildet werden muss, wenn auch die Bildung nicht für alle gleich, also nicht inhaltlich Allgemeinbildung sein muss. Bildung des Menschen als solche hatte formal allgemein zu gelten im Sinne einer Menschenbildung für alle im Lebensprozess. Karl Rudolf Stab (1811–1854), Theoretiker einer umfassenden Volksbildung im Vormärz, hat die Einheit von Pädagogik und Andragogik, die die Menschenbildung meint, als „Anthropagogik“ bezeichnet (Stab 1844, S. 26). (In der weiteren Darstellung werde ich mich des Begriffs der Anthropagogik bedienen.)

In dieser Sichtweise werden historisch partikulare Betrachtungen auf Pädagogik und Andragogik für die Epoche der Aufklärung problematisch, da es, wenn in Texten und Quellen von Menschenbildung gesprochen wird, schwierig ist, zu erschließen, ob die Besonderung der Pädagogik oder der Andragogik thematisiert ist. Jede partikulare Betrachtungsperspektive steht dann in der Gefahr, eigenperspektivisch zu interpretieren und Menschenbildung pädagogisch als die Bildung zum Menschen oder andragogisch als die Bildung des Menschen in seiner lebenslangen Entwicklung zu verstehen. Durch den Aufweis der Allgemeinheit von Bildung im Begriff der Menschenbildung als Anthropagogik hat die Aufklärung einen Perspektivwechsel in der Betrachtung von Bildung und Erziehung vorgenommen, der sich dann aber nicht durchgesetzt hat. Das Paradigma „Pädagogik“ vermochte sich im 19. Jahrhundert als dominant zu behaupten. Die Realität der Andragogik wurde pädagogisch als Defizitkompensation im Modernisierungsprozess wahrgenommen, und die theoretischen Ansätze einer eigenständigen Andragogik sowie einer umfassenden Menschenbildung als Anthropagogik fanden in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft keine Anerkennung.

Herder (1744–1803), der in Bückeburg und Weimar Konsistorialrat war, war nicht nur Theologe, sondern vor allem ein Theoretiker der Menschenbildung im Medium der Kultur und als solcher ein Kulturtheoretiker und einer der ersten Kulturhistoriker in Deutschland. Den Pädagogen gilt Herder als einer ihrer Klassiker, obwohl bei ihm ein dezidierter Erziehungsplan, der Entwurf einer Erziehungseinrichtung oder auch eine didaktische Konzeption nicht zu finden ist. Herder sieht in seiner Schrift „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784/91) die Menschenbildung als ein Moment des historischen Prozess der Menschheit durch die Bildung der einzelnen Menschen hindurch, und dies bedeutet in der Umkehr, dass die Bildung des einzelnen Menschen stets auf dem Niveau der konkreten, präsenziellen Kulturstufe des kulturellen Prozess stattzufinden habe. Für Herder war der Mensch der „Freigelassene der Schöpfung“ (Herder 1989, Bd. VI, S. 145 f.), der durch Vernunftfähigkeit sich seine Lebenswelt zu gestalten vermochte – zum Guten wie zum Bösen, zur „Perfektibilität“ wie zur „Korruptibilität“ (ebd., S. 337). Es musste daher die Aufgabe sein, den Menschen zu seiner Bestimmung, seiner Menschheit, d. h. zu seiner Humanität hinzuführen und so die Menschheit als ganze auf Menschlichkeit hin auszurichten. Herder rekonstruierte den Kulturprozess als Prozess der Formen der individuellen und der universalen Menschenbildung, die er ihrerseits als eine Vielfalt von Besonderheiten begriff. Die Betrachtung des Kulturprozess machte deutlich, dass es erforderlich ist, dass die Mitglieder der Gemeinschaften, der Gesellschaften, der Völker einerseits in großer Zahl an der entfalteten Kultur teilhaben, sie leben und fortentfalten und andererseits diese Kultur dem Nachwuchs überliefern. D. h. die Menschenbildung muss in sich differenziert sein, einerseits die Erwachsenen betreffen und andererseits auf den Nachwuchs orientiert sein: Menschenbildung umfasst den Zusammenhang von Andragogik und Pädagogik. Herder selbst hat eine solche Differenzierung explizit nicht formuliert, aber, insofern er mit seiner Kulturtheorie und Kulturgeschichte über das Paradigma der Pädagogik hinausgegangen ist, sie implizit gehandhabt.

„Die Vernunft ist ein Aggregat von Bemerkungen und Übungen unserer Seele; eine Summe der Erziehung unseres Geschlechts, die, nach gegebenen fremden Vorbildern, der Erzogene zuletzt als ein fremder Künstler an sich vollendet. Hier also liegt das Prinzipium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe“ (ebd., S. 337).

Und weiter heißt es: „So wenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt nach aus sich entspringt, so wenig ist er im Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein Selbstgeborener.“ Jede Entwicklung hängt ab von dem Schicksal, „das uns hier und dorthin pflanzte und nach Zeit und Jahren die Hilfsmittel der Bildung um uns legte“ (ebd., S. 337). Die Kultur selbst ist das Produkt menschlicher Tätigkeit und insofern sie zum Material des Nachdenkens wird, ist sie zugleich der Impuls ihrer Fortentwicklung.

„Die Menschen schaffen immer mehrere und bessere Werkzeuge, sie lernen sich selbst einander immer mehr und bessere Werkzeuge gebrauchen. (…) Unendlich sind die Verbindungen, in welche die Gegenstände der Natur gebracht werden können; der Geist der Erfindungen zum Gebrauch derselben ist also unbeschränkt und fortschreitend. Eine Erfindung weckt die andere auf; Eine Thätigkeit erweckt eine andere. Oft sind mit Einer Entdeckung tausend andere, und zehntausend auf sie gegründete, neue Thätigkeiten gegeben“ (zit. nach Gulyga 1978, S. 55).

Es ist der spezifische Charakter der Menschen, „durch eine Lebenslange Übung zur Menschheit gebildet zu werden“ (Herder 1989, Bd. VI, S. 337). Herder zeichnet die Kulturgeschichte und in sie eingebunden die Geschichte der Menschenbildung in naturgeschichtlicher Perspektive, als sei sie der Ausdruck einer Evolutionstheorie, und sagt doch zugleich im Dialogwerk „Gott“ (1787), dass alle Phänomene dieser Welt „Ausdrücke der göttlichen Kraft“, „Hervorbringung einer der Welt innewohnenden ewigen Wirkung Gottes“ seien (Herder 1994b, Bd. IV, S. 713). Für den Theologen Herder, der in der Tendenz ein Pantheist war, galt die Identität von Natur und Gott, so dass für ihn die Selbstentfaltung von Menschenbildung und Menschheit die in der Schöpfung angelegten Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigten; er hat auf die von ihm selbst gestellte Frage nach dem ersten Erzieher der Menschen, nach der Unterweisung der ersten Menschen, antwortend auf Gott verwies. Gott hatte die Erkenntnisfähigkeit im Menschen angelegt, sich ihm offenbart und den Gebrauch der Vernunft gelehrt: Religion und Vernunft verweisen wechselseitig auf sich. Herders Leistung ist es, dass er die Menschenbildung in der Einheit von Andragogik und Pädagogik in ihrer Bedeutung für die Kulturgeschichte und die Geschichte der Menschheit aufgewiesen hat. Zwar entfaltete Herder seine Theorie der Menschenbildung in den Grenzen seiner Religionsvorstellung, aber er hat mit seinem Werk Anregungen geschaffen, die über die Religion weit hinausgreifen, wie die kreative Rezeption seiner Kulturtheorie und Kulturgeschichte im 19. und auch im 20. Jahrhundert zeigt.

Kant (1724–1804) hat 1784 in einer Rezension der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ Herders Bemühen um die Darstellung der Erzieherschaft Gottes aus der Tradition der Religionen kritisch kommentiert und gefragt, ob er, wenn er sein Ziel erreicht habe, Gott als den Erzieher der Menschen darzustellen, „wohlbehalten wieder zu Hause, d.i. im Sitz der Vernunft zur rechten Zeit eintreffe und sich also auch Nachfolger versprechen könne“ (Kant 1968, S. 803). Wenn Gott für die kritische Vernunft im Sinne Kants nicht als Realität gelten konnte, musste die Tatsache der Erziehung in den Grenzen der Vernunft behandelt werden. Der Unterschied der Auffassung scheint geringfügig, ist aber diametral.

Fichte (1762–1814), der philosophisch seinen Ausgang von Kant nahm, hat die Bestimmung des Menschen nicht wie Herder naturgeschichtlich und kulturgeschichtlich durch die Entfaltung der göttlich gegebenen Vernunftfähigkeit dargestellt, sondern sie erkenntnistheoretisch grundgelegt. Von der Freiheit ausgehend, begriff er die Welt als Entwurf des vernunftbestimmten freien Ichs.

„Muss, nach den nothwendigen Gesetzen vernünftiger Wesen, zugleich mit denselben noch manches Andere gesetzt werden, so ist das Setzen desselben gleichfalls nothwendiges Factum, wie das erstere“ (Fichte 1971, Bd. III, S. 35).

Im Wechselverhältnis von Ich und Welt, das eine „Wirkung von Gegenwirkung“ ist, entfalteten sich das Ich und die Kenntnisse über die Welt als Welt. „Die Einwirkung wurde begriffen“, schreibt Fichte,

„als eine Aufforderung des Subjectes zu einer freien Wirksamkeit, und, worauf alles ankommt, konnte gar nicht anders begriffen werden, und wurde überhaupt nicht begriffen, wenn sie nicht so begriffen wurde. (…) Aber soll es dies, so muss es die Aufforderung erst verstehen und begreifen, und es ist auf eine vorhergehende Erkenntnis desselben gerechnet. Die gesetzte Ursache der Aufforderung ausser dem Subjecte muss demnach wenigstens die Möglichkeit voraussetzen, dass das letztere verstehen und begreifen können, ausserdem hat seine Aufforderung gar keinen Zweck“ (ebd., S. 36).

„Eine Wirkung kann, nachdem sie da ist, gar wohl begriffen werden, und das mannigfaltige in ihr fügt sich unter die Einheit des Begriffs (…) jemehr der Beobachter selbst Verstand hat. Dies nun ist eine Einheit, die der Beobachter selbst in das Mannigfaltige, durch das, was Kant reflectirende Urteilskraft nennt, hineingetragen hat, und es nothwendig hineintragen muss, wenn für ihn überhaupt Eine Wirkung da sein soll“ (ebd., S. 37).

Die Erkenntnisarbeit durch reflektierende Urteilskraft ist der eine Weg der geistigen Entfaltung und zugleich die Voraussetzung für einen unabdingbaren zweiten Weg.

„Der Mensch (so alle endliche Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er nichts Anderes seyn kann, denn ein Mensch, und gar nicht seyn würde, wenn er dies nicht wäre – sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn. Dies ist (…) eine aus dem Begriff des Menschen streng zu erweisende Wahrheit. Sobald man diesen Begriff vollkommen bestimmt, wird man von dem Denken eines Einzelnen aus getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist so nach gar nicht Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist nicht denkbar, sondern der einer Gattung“ (ebd., S. 39).

Wie das Verhältnis von Ich und Welt, von Subjekt und Welt Wirkung von Gegenwirkung ist, so ist das Verhältnis von Mensch zu Mensch eine freie Wechselwirksamkeit. Die Einwirkung des Menschen auf den Mitmenschen stellt eine Aufforderung zur geistigen Selbsttätigkeit dar. Und so definiert Fichte dann: „Die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man Erziehung nennt.“ Und Fichte fährt fort „Alle Individuen müssen zum Menschen erzogen werden, ausserdem würden sie nicht Menschen“ (ebd., S. 39). Erziehung wird verstanden als die wechselseitige Aufforderung erkennender Individuen zur geistigen Selbsttätigkeit. Es ist, als sei hier die kollektive Selbstbildung, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft der Aufklärungsepoche entfaltete, ins Allgemeine der Gattung als Menschenbildung gehoben.

„Nur freie Wechselwirkung durch Begriffe und nach Begriffen, nur Geben und Empfangen von Erkenntnissen, ist der eigenthümliche Charakter der Menschheit, durch welchen allein jede Person sich als Mensch unwidersprechlich erhärtet“ (ebd., S. 40).

Der hier entfaltete Erziehungsbegriff ist schwerlich als der pädagogische des intergenerationellen Verhältnisses von älteren und jüngeren Generation aufzufassen. Doch genau diese Engführung leistet die pädagogische Theorie und Historiographie. In seiner „Allgemeinen Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns“, in der er eine solide Darstellung der Erkenntnistheorie Fichtes gibt, ergänzte Dietrich Benner jenes bedeutsame Zitat, das ich oben zitiert habe, wie folgt:

„Die (pädagogische D.B.) Einwirkung wurde begriffen als eine Aufforderung des Subjekts zu einer freien Wirksamkeit, und, worauf alles ankommt, konnte gar nicht anders begriffen werden (…)“ (Benner 1987, S. 64).

Die Einfügung „pädagogisch“ holt Fichtes allgemeine Erkenntnistheorie in die Pädagogik. Dass die Bezeichnung „Pädagogik“ für Benner die Erziehung und Bildung als Ganze umfasst, belegt die Tatsache, dass das Phänomen Erwachsenenbildung explizit keine Thematisierung erfährt. Auch in seiner mit Brüggen verfassten „Geschichte der Pädagogik“ (Benner und Brüggen 2011) kommt nur die Pädagogik als das intergenerative Verhältnis der älteren Generation zur jüngeren zur Darstellung, die Erwachsenenbildung erfährt keine Erwähnung. Benner als allgemeiner und historisch-systematischer Pädagoge ist hier gewählt, weil er auf theoretisch-philosophisch hohem Niveau Pädagogik zur Darstellung bringt unter vollständiger Ausklammerung jeglicher Andragogik. Insofern ist er der exemplarische Fall der pädagogischen Ausklammerung der Andragogik. Und wenn nicht er, wer hätte in den letzten Jahrzehnten die Andragogik in die allgemeine und historisch-systematische Erziehungswissenschaft holen können? In den Corallaria des § 3 der „Grundlagen des Naturrechts“, auf den die dargelegten Betrachtungen zu Fichte sich beziehen, schreibt Fichte:

„Es dringt sich hierbei jedem die Frage auf: wenn es nothwendig seyn sollte, einen Ursprung des ganzen Menschengeschlechts, und also ein erstes Menschenpaar anzunehmen, – und es ist dies auf einem gewissen Reflexionspuncte allerdings nothwendig; – wer erzog denn das erste Menschenpaar? Erzogen mussten sie werden; denn der geführte Beweis ist allgemein. Ein Mensch konnte sie nicht erziehen, da sie die ersten Menschen seyn sollten. Also ist es nothwendig, dass sie ein anderes vernünftiges Wesen erzog, das kein Mensch war – es versteht sich, bestimmt nur so weit, bis sie sich selber untereinander erziehen konnten. Ein Geist nahm sich ihrer an, ganz so, wie es eine alte ehrwürdige Urkunde vorstellt, welche überhaupt die tiefsinnigste, erhabenste Weisheit enthält, und Resultate aufstellt, zu denen alle Philosophie am Ende doch wieder zurückmuss“ (Fichte 1971, Bd. III, S. 39 f.).

Wenn dieser Mythos das Urbild der Erziehung veranschaulicht, dann ist die erste Erziehung Erwachsenenbildung gewesen, ein Akt andragogischer Anthropagogik. Die Ausklammerung der Andragogik aus den theoretischen und historischen Arbeiten einer sich als allgemein und historisch-systematisch verstehenden Erziehungswissenschaft ist theoretisch nicht zu begründen und nach der Entfaltung des Theorems der Menschenbildung, der Anthropagogik, nicht zu begreifen, wohl aber aus der Entstehung und dem historischen Prozess der Erziehungsreflexion zu verstehen.

4 Der Entdecker, der Erfinder, der Pionier, der Denker und die Erziehung

Der Weg von der tierähnlichen Lebensform des Menschen zur Zivilisation unserer Tage ist der Weg der Wissensproduktion, der Wissensanwendung und der Wissensdistribution, d. h. der Erkenntnis, der Arbeit und im letzten der Erziehung. Die Nachzeichnung dieses Weges arbeitet mit Quellen und Hypothesen. „Eine Quelle“ so hatten wir Koselleck zitiert, „kann vorliegen oder gefunden werden, aber sie kann auch fehlen. Und doch sind wir genötigt, Aussagen zu riskieren“. Und die Instrumente des Historikers sind „die Theorie der möglichen Geschichte“ und die „Quellen mit Vetorecht“. In skizzierender Nachzeichnung soll die Menschenbildung, die Anthropagogik, im Zivilisationsprozess aufgezeigt werden, in dem der Andragogik der Primat zukommt und die Pädagogik, die sich in deren Folge entfaltete, die Funktion hat, die Kontinuität entwickelter Zivilisation zu bewahren.

Der Mensch, der „Freigelassene der Natur“, vermag als Vernunftbegabter, den je vorfindlichen Lebensraum zu nutzen und sich auf diese Weise über den Erdball zu verbreiten: Er hat die Möglichkeit der Ubiquität. Vom Sammler und Jäger wird er, Erfahrung machend, zum Hirten und Bauern. Der Vorgang, Erfahrung zu machen, ist durch den Doppelakt von Erkennen und Anwenden bestimmt. D. h. der vernunftbegabte Mensch entfaltet ein erkennendes, epistemisches Weltverhältnis und durch die Erkenntnisanwendung ein hervorbringendes, produktives, poietisches Weltverhältnis und macht sich so zum Gestalter seiner physischen Lebenswelt und wird dadurch als solcher zugleich zum Erzieher, wenngleich nicht gewollt, aber faktisch. Verhält sich doch der vernunftbegabte Mensch nicht nur erkennend zu seiner physischen Lebenswelt, sondern auch zu dargestellten Erkenntnissen. Die ursprünglich einfachen Produkte und Herstellungsverfahren, die die frühe Geschichte zeigt, sind anschauliche, transparente Darstellungen der in ihnen angewandten Erkenntnisse. Mit der Fähigkeit, aus den Produkten und Verfahren die zugrundeliegenden Erkenntnisse zu erkennen, diese sich anzueignen und wieder zur Anwendung zu bringen, entfaltet der Mensch sich selbst, oder, in anderer Formulierung, wird er mittelbar, d. h. ohne dessen Intention, durch einen anderen Menschen gestaltet: Autodidaxie oder Edukation? Die Einwirkung eines Menschen, die Aufforderungscharakter für einen anderen Menschen „zur Selbsttätigkeit“ hat, ist nach Fichte, „das, was man Erziehung nennt“. Das Erkennen der physischen Lebenswelt wie das Erkennen dargestellter Erkenntnis in der Anwendung von Erkenntnissen basiert auf ein und derselben Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Wenn also in der Gemeinschaft vernunftbegabter Menschen Erkenntnisarbeit und Erkenntnisanwendung sich ereignet, ist zugleich die Bedingung zur spontanen Erkenntnisaneignung gegeben, allerdings unter der Voraussetzung, dass die zur geistigen Selbsttätigkeit auffordernde Einwirkung anschlussfähigen Charakter hat. Inventionen oder Innovation, die eine Melioration der entwickelten Praxis darstellen, erfüllen diese Bedingung bei jenen im Besonderen, die die überkommene Praxis beherrschen. D. h. die Prozesse von Erkennen und Erkennen der dargestellten Erkenntnis vollziehen sich in der frühen Geschichte auf der Ebene der Praktiker, und d. h. auf der Ebene der Erwachsenen, sind intragenerationell: die Erneuerer, die Inventoren, die Innovatoren, die Pioniere sind stets die ersten Erzieher im Felde ihrer Errungenschaften. Sind die Inventionen und Innovationen zu Momenten der gesellschaftlichen Praxis geworden und haben Lebensformrelevanz erlangt, findet deren Weitergabe, genauer deren Wiederaneignung in einem analogen Aneignungsprozess im Lebensmitvollzug durch den Nachwuchs statt – nun in einem intergenerationellen Verhältnis mit den Erwachsenen. Diese, durch die Vernunftfähigkeit der Menschen sich ereignenden Aneignungsprozesse vollziehen sich in der Frühgeschichte nicht bewusst, sie sind Begleiterscheinungen des gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensvollzugs, sind informelle Erziehungsprozesse, sind, in moderner Diktion formuliert, Prozesse des „informellen Lernens“. Mit der Erfindung der Sprache, dem wohl ersten Symbolsystem der Menschheitsgeschichte, hat dieser Prozess eine neue Qualität bekommen, insofern über die Produkte und ihre Herstellungsverfahren Austausch stattfinden konnte, so dass sich zwischen darstellender Arbeit und darstellender Sprache ein Komplementärverhältnis der Aufforderung zur Selbsttätigkeit entfaltete, und der informelle Erziehungsprozess tendenziell ins Bewusstsein gehoben wurde.

Die skizzierte informelle Menschenbildung, Anthropagogik, in den Ausformungen von Andragogik und Pädagogik ist das kulturelle Distributions- und Gestaltungsverfahren bis zur Erfindung der Zeichensprache in unterschiedlichen Symbolsystemen. Diese sind eine vergleichsweise späte Erfindung, die sich in der Herausbildung von Stadtstaaten und regionalen Reichen ereignete. Die informelle Menschenbildung hat ihre Geltung in der Zeit der neolithischen Revolution mit der Herausbildung der Landwirtschaft, in der Kupferzeit und der Bronzezeit, in denen sich in dynamischer Entwicklung die Arbeitsteilung vollzog mit der Herausbildung unterschiedlicher Arbeitsfelder von Handwerkern. Mit dieser Arbeitsteilung vollzog sich zugleich eine Wissens- und Kultur- und Gesellschaftsteilung, was dann die Errichtung von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungssystemen mit Regelwerken und Machtstrukturen zur Folge hatte mit der Notwendigkeit, diese im Bewusstsein aller Gesellschaftsmitglieder zu implementieren. Unterwerfung und Gehorsam waren frühe Mittel der gesellschaftlichen Ordnung, Momente menschlicher Ordnungsführung.

Die Erfindungen des Menschen betrafen aber nicht nur die Gestaltungsverfahren der physischen Weltgestaltung in Hinsicht auf die materielle Existenz sowie die Ordnung der sich dynamisch ausdifferenzierender Gemeinschaften und die Sprachen; die Menschen erfanden die Symbolsysteme von Kunst und Mathematik, sie erfanden die Mythen, die Götter und den Kult, die Kosmologien und Weisheitslehren, d. h. die Philosophie, sowie Maßsysteme und Chronometer und anderes mehr, sie erfanden die Schriftsprache und sie gründeten Städte, in denen diese Erfindungen weiterhin stattfanden. Es entstand die Differenz von Land und Stadt. Das Land blieb die Produktionsstätte der Subsistenzmittel der Menschen, nun im Besonderen für die Stadtbevölkerung; es zeichnete sich gegenüber der Stadt durch eine geringe Innovationsentwicklung aus. In den Städten vollzog sich die kulturell progressive Entwicklung; sie waren der Ort aller nicht-landwirtschaftlicher Errungenschaften und stellten dadurch für den denkenden Umgang mit den unterschiedlichsten Erkenntnissen, Einsichten und Verfahren ein großes Potenzial wechselseitiger Anregungen zur Verfügung, aus dem der Fortschritt sich dann speiste. In den Städten entfaltete sich die neue, revolutionäre Denkungsart, insofern die Menschen begannen, über ihre Errungenschaften und über die Verfahren ihrer Entstehung und damit über sich selbst nachzudenken. Mit dem Reflexivwerden der Kultur entstand die Kultur des Geistes der Abstraktion, die sich von der Kultur der Praxis abhob. Und die unterschiedlichen Schriftsprachen, die in administrativen Ordnungszusammenhängen entstanden waren, wurden zu Darstellungsformen abstrakter Aussagen gestaltet. Die Zeit, in der sich dieser Kultursprung der Hochkulturen zwischen 800 und 200 v. Chr. vollzog, nennt Karl Jaspers die „Achsenzeit der Weltgeschichte“ (Jaspers 1955, S. 58 ff.). Für die Menschenbildung entwickelte sich nun eine Struktur, die ihre Geltung bis zum heutigen Tag erhalten hat. Konnten die Errungenschaften der Kultur der materiellen Existenzsicherung in den Verfahren der informellen Erziehung angeeignet werden, so erforderten der Zugang zu den Erkenntnissen und Einsichten der Kultur des abstrakten Geistes und deren Aneignung die Beherrschung der Schriftsprachen als Voraussetzung. Sollte der Erwachsene teilhaben an dieser Kultur des abstrakten Geistes, an der Arithmetik, der Geometrie, der Kosmologie und den Weisheitslehren, sollte er sie handhaben und ihren weiteren Fortschritt sich fortschreitend aneignen können, dann bedurfte er einer vorgelagerten Ausbildung in den unterschiedlichen Symbolsprachen. Diese Notwendigkeit führt zur Form der intentionalen und formalen Erziehung in institutioneller Ausformung mit einem sachkundigen Erwachsenen als Lehrer. Pädagogik als eigenstrukturierter Teil der Anthropagogik mit der Institution Schule in Ausrichtung auf die in Schriftsprachen kodifizierten Kulturbereiche war entstanden. Ihre Funktion ist – wie die der informellen Pädagogik – die Tradierung der Kultur zum Zweck der Handhabung der Kultur sowie der Befähigung zur Aneignung von Innovationen. In seiner Geschichte des „Lehrplans des Abendlandes“ hat Josef Dolch die zweieinhalbtausendjährige Geschichte dieser neuen Pädagogik minutiös nachgezeichnet (Dolch 1971). In den schriftlosen Kulturbereichen der Praxis der bäuerlichen und handwerklichen Gewerke blieben die überkommenen Formen der informellen Anthropagogik sowohl in der Andragogik wie in der Pädagogik unbeeinflusst erhalten, und zwar bis ins 18. Jahrhundert. Ein Blick in die Geschichte der Technik (König 1997) zeigt uns die auf hohem technischem Niveau entwickelten Praxisfelder, in denen diese informelle Anthropagogik ihre Geltung und Gültigkeit behielt. Einer Historiographie der informellen Anthropagogik sind wir entbehrend. Erst mit der Mechanisierung des Handwerks und der Maschinisierung der Produktion in Manufakturen und Fabriken infolge einer naturwissenschaftlich basierten Technologie sowie der Herausbildung einer rationellen Landwirtschaftstechnik und der Agrokulturchemie entstanden in rascher Folge intentionale und formale Strukturen in der praktischen, der sogenannten „realistischen Bildung“ zuerst in den gemeinnützigen Gesellschaften und Akademien, dann in Gewerbe- und Landwirtschaftsvereinen für die Erwachsenen und später dann in den Schulen für den beruflichen Nachwuchs.

Die Achsenzeit hatte neben der kulturellen Differenzierung von Stadt und Land die Differenzierung zwischen der Praxis der physischen Weltgestaltung und der Kultur der theoretischen und philosophischen Welterkenntnis und Weltdeutung in symbolsprachlicher Darstellung gebracht: d. h. die Differenzierung zwischen Praxis und Theorie. Der paradoxe Zusammenhang dieser zweifachen Differenzierung hat die Entwicklung der Kultur und der Lebenswirklichkeit des Abendlandes bestimmt. Doch in der kulturgeschichtlichen Betrachtung dieser Entwicklung erlangte die Kultur des abstrakten Geistes stets die größere Aufmerksamkeit. Das hatte seine Ursache in der Tatsache, dass diese neue Denkungsart auch die später entwickelte Kulturgeschichte beherrschte. Wenn die Erkenntnis der Natur aus einem Prinzip Naturphilosophie ist, wenn die Tätigkeit des Geistes, der aus Gedanken Ideen erzeugt, von denen die Wirklichkeit nur ein Abbild ist, Ideenlehre ist als Lehre von der Wahrheit, und wenn schließlich die Sittenlehre des gesellschaftlichen Lebens eine Ableitung aus der Idee des Guten ist, dann ist die Welt des Geistes die eigentliche, wahre, substantielle Wirklichkeit und die Welt der Praxis nur die „niedrige“ Wirklichkeit, nichts anderes als die Realisierung der Ideen, die der Geist erzeugt hat. Die Folge dieser Rangordnung ist es dann, dass der geistige Mensch als der höhere Mensch gegenüber dem Praktiker erscheint. Der griechische Idealismus führte zu einer Abwendung bis hin zu einer Verneinung der äußeren Wirklichkeit als einer relevanten Welt. Wie zum Beweis dieses Sachverhaltes muss die Tatsache genommen werden, dass die griechische Philosophie keine Philosophie der Technik entfaltete. Die Abkehr von der niederen Welt der Praxis zu der höheren Welt des Geistes, die die Philosophie entfaltete und darin die Kultur des Geistes grundlegte, bestimmte auch Struktur und Aufgabe der neuen institutionalisierten, intentionalen und formellen Pädagogik, die zum Vorhof der Kultur des Geistes wurde. Die Menschenbildung der Praktiker und die kulturschöpferische Leistung der Praxis gerieten aus dem Blick.

Diese Abkehr von der äußeren Welt teilt dann das Christentum mit der griechischen Philosophie, wenngleich auch aus anderen Gründen. Die Welt galt ihm als das „Jammertal“, von dem die Menschen durch Christus als Messias erlöst werden sollten mit der Aufnahme in das Reich Gottes. In seiner frühen Entwicklungsphase hat das Christentum in Auseinandersetzung mit der im römischen Reich weit verbreiteten spätgriechischen Philosophie, im Besonderen mit dem Stoizismus und dem Neuplatonismus, philosophische Momente in die Glaubenslehre aufgenommen, teils um sich als anschlussfähig darzustellen, teils zur Erläuterung, teils zur eigenen Rechtfertigung. Diese Philosophie wurde zur Magd der Theologie, und das hatte dann zur Folge, dass die religiöse Bildung über den Kult und die Erzählung des christlichen Mythos hinaus für den Theologen ein Studium der „Philosophie der Theologie“ erforderte. Das Christentum übernahm die Struktur der in der griechischen Kultur entfalteten Anthropagogik in flexibler Angleichung an die sich aufbauende Kirchenstruktur. Es kam zu Schulgründungen, Domschulen, und zur Einrichtung hoher Schulen für den Klerikernachwuchs, Universitäten; für die Laien, d. h. für die nicht-geistlich-geistige Bevölkerung, blieb es bei der Struktur der informellen Menschenbildung in der traditionellen Ausprägung für Erwachsene und Kinder. Wenn auch die Welt der Kultur der Praxis als eine geistige Welt im christlichen Idealismus nicht anerkannt wurde, galt sie doch als Teil der äußeren Welt, von der Erlösung versprochen wurde, so hat sie dennoch eine große, reichhaltige, in sich vielfältig differenzierte, bedeutsame und wirkmächtige Entfaltung erfahren. Von dieser Entfaltung zeugen der Bergbau, die Mühlenwerke, der Schiffs- und Wagenbau sowie die Kathedralen und die europaweite Verbreitung der ihnen zugrundeliegenden Technik. Gerade der Kathedralenbau zeigt die schöpferische Leistung der Praxis mit der von ihr entwickelten Technik im Dienste der geistigen Welt der Kirche. Die Bauhütte der Kathedralen muss nicht nur als eine komplexe Werkstatt, sondern auch als eine Bildungsstätte gesehen werden, in der aber nicht nur Traditionen an den Nachwuchs weitergegeben wurden, sondern Inventionen und Innovationen sich vollzogen und auf der intragenerationellen Ebene der Erwachsenen angeeignet und verbreitet wurden. Die Bauhütte war eine besondere anthropagogische Bildungsstätte der praktischen, d. h. der äußeren Weltgestaltung.

5 Die philosophische Anerkennung der Praxis und die Erziehung

Bedeutsam für die weitere Entwicklung ist der philosophische Universalienstreit der mittelalterlichen Theologie in der Scholastik, in dem es um die Frage ging, ob die Ideen oder die einzelnen Dinge die relevante Wirklichkeit darstellten, ob die Ideen das Wesen der Dinge bestimmten, so argumentierte der sogenannte Realismus, oder ob die Ideen aus der Betrachtung der Dinge gewonnen werden, so behauptete es der sogenannte Nominalismus. In Rückbindung an Aristoteles, der im 14. Jahrhundert über die arabisch-muslimische Welt wieder bekannt geworden war, vermochte sich der Nominalismus gegen den platonisch orientierten Realismus zu behaupten. Die einzelnen Dinge der realen Welt rückten in den Blick. Und in Verbindung mit der Diskussion über die Gottesebenbildlichkeit des Menschen wurde der Mensch als der „zweite Gott“ gesehen (Flasch 1995, S. 543; Cassirer 1969, S. 72 f.), der aus der von Gott geschaffenen Welt durch Erkenntnis und schöpferisches Vermögen Dinge hervorzubringen vermochte, die es in der Natur selbst nicht gab: so z. B. ein paar Schuhe und einen Löffel. Die praktische Arbeit wurde als schöpferisch gesehen, d. h. der Handwerker wurde durch sein epistemisches und poietisches Weltverhältnis als der schöpferische Mensch anerkannt. Diese Verbindung von Nominalismus und Theologie des „zweiten Gottes“ machte dann in der Folgezeit den Weg frei für einen wissenschaftlichen Empirismus und eine experimentelle Naturwissenschaft, deren pragmatische Ausrichtung zum Wohle der Gesellschaft dann Francis Bacon (1561–1626) in seinem Werk „Novum Organum“ (1620) einforderte. Das Wissen erhielt Gestaltungsmacht unter der Bedingung, dass der Praktiker, d. h. der Handwerker und der Landwirt, sich dieses Wissen als Arbeitswissen aneignete, d. h. wenn ihm die Möglichkeit der Aneignung gegeben wurde. In seinem utopischen Entwurf „Neu-Atlantis“ (1627) stellte Bacon mit dem „Haus Salomon“ eine Forschungs- und Technologieeinrichtung dar, die zugleich mit Unterricht und der weiten sozialen Distribution der pragmatischen Forschungsarbeit beauftragt war. Die Besucher des „Hauses Salomon“ erhielten stets einen Forschungsbericht mit dem Satz des Vorstehers ausgehändigt: „Ich gebe Dir die Erlaubnis, ihn zum Wohle anderer Völker zu verbreiten“ (Bacon 1960, S. 215). Bacon gilt als der erste Philosoph der Neuzeit, der die Wissenschaft in Hinsicht auf Nützlichkeit und Fortschritt denkt, der konsequent Wissenschaft, soziale Distribution anwendungsfähiger Erkenntnisse und Erziehungsarbeit zu einer Einheit verbindet und der mit diesem anthropagogischen Realismus eine neue Epoche der Erziehung einleitet. Bei Bacon entsteht der Ansatz der Institutionalisierung der Andragogik, die bisher im Modus der Informalität stattfand, da die Inventionen und Innovationen der Praxis, d. h. der Erfahrung und dem denkenden Umgang mit den überkommenen Errungenschaften in Herausforderungssituationen selbst entstammten, sie nun aber als Produkte von eigenständigen Forschungseinrichtungen in Erscheinung traten. Die Institutionalisierung der Anwendungsforschung erfordert die Institutionalisierung ihrer sozialen Distribution sowie die Einrichtungen für die Qualifizierung der Praktiker. Was in der Epoche der Aufklärung als ein neues Phänomen wahrgenommen wurde, als Volksaufklärung, als Bauernbildung und Gewerbebildung, nahm hier seinen Anfang. Bacons Entwurf des „Haus Salomon“ hat in England zu informellen wissenschaftlichen Zirkeln geführt, aus denen heraus dann einerseits die Royal Society 1660 gegründet wurde, die wiederum Vorbild für Akademien in ganz Europa wurde, und andererseits Anregungen gegeben hat zu Vereinigungen von Aufklärern und zu gemeinnützigen Gesellschaften auf dem europäischen Kontinent (vgl. Dülmen 1986).

Der christliche Idealismus in Fortwirkung des griechischen Idealismus mit der empirischen Wirklichkeitsverdrängung in der theoretischen Weltbetrachtung, mit der Missachtung der Praxis und der ihr inhärenten informellen Menschenbildung, war gebrochen, aber nicht überwunden. Die Rückwendung zur Antike in der Renaissance ist zwar einerseits Kritik an der Kirche und der mittelalterlichen Theologie, vorgetragen durch die vergleichende Betrachtung der antiken philosophischen Momente der christlichen Theologie mit den antiken Originaltexten, die im 14. Jahrhundert wieder bekannt geworden waren, und sie ist andererseits durch die Interpretation dieser Texte die Darstellung eines neuen Welt- und Lebensverständnisses, in dem der Mensch in seiner Diesseitigkeit mit seinen kulturschöpferischen Leistungen in den Mittelpunkt gestellt wurde. Die „studia humanitatis“, die Wissenschaften vom Menschen, betrachteten die Kultur als den neuen Fixpunkt und behandelten die Geschichte, die Philologie, die Ethik und die Politik als die zentralen Gegenstände. Die geistige Welt als Hervorbringung des Menschen, oder anders formuliert, der Mensch als Gestalter seiner kulturellen und gesellschaftlichen Welt durch den denkenden Umgang mit den kulturellen Errungenschaften, wurden in den Blick genommen. Der Humanismus der Renaissance als Kritik der Scholastik band seine kulturelle Entwicklung an die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Sprache der Vergangenheit. Nicht die Erschließung der realen Wirklichkeit im epistemischen und poietischen Verhältnis, sondern die geistige Kultur in pragmatischer Interpretation in kulturgestaltender Intention war das leitende Interesse der Humanisten. Ausdruck dieser Absicht waren einerseits die Vereinigungen der Humanisten, für die exemplarisch die „Platonische Akademie“ in Florenz von 1440 steht, und andererseits die Hinwendung zur Politik, die betrachtet wurde als das Handeln von politikmachenden Herrschern, wie es Machiavelli (1469–1527) in seiner Schrift „Der Fürst“ von 1513 unternommen hat. Der Renaissance-Humanismus war eine kulturschöpferische Elitebewegung, die das neuzeitliche Kulturverständnis geprägt hat. Der Zugang zu dieser Kultur erforderte die Beherrschung der antiken Sprachen und die Kenntnis der antiken Literatur. Daher wurden die im antiken Griechenland konzipierten Schulen, die im Christentum in Modifikation in den Domschulen fortgeführt wurden, in erneuter Modifikation in den Stadtschulen, den Gymnasien, das Schulmodell des Humanismus, sie gaben nun als Vorhof zur Kultur der geistigen Welt das Paradigma der modernen Pädagogik ab. Die kollektive Selbstbildung der Humanisten als ein Phänomen der Erwachsenenbildung zu verstehen, die sie war, schuf und verbreitete sie doch ein neues Kulturverständnis und innovative kulturelle Errungenschaften, lag nicht im Selbstverständnis der Humanisten; indirekt begründeten sie damit das Verständnis, dass die Erweiterung der Kultur der Gebildeten selbst keine eigenständige Bildungsform sei.

Dem Realismus und dem Humanismus, die höchst unterschiedlich entfalteten geistigen Richtungen der Renaissance, die in kritischer Wertschätzung zueinander standen und in komplementärer Koexistenz Gestaltungskräfte der historischen Entwicklung waren, der Realismus auf der Seite der Gestaltung der äußeren Welt und der Humanismus auf der Seite der Gestaltung der geistig-kulturellen und gesellschaftlichen Welt, war gemeinsam, dass sie die Menschen auf der Grundlage ihres Vernunftvermögens als schöpferische Wesen begriffen und mit Blick auf die Geschichte, den vor allem die Humanisten unternahmen, erkannten, dass die Lebenswirklichkeit und die Kultur im historischen Prozess von Menschen hervorgebracht worden waren und dass sie im denkenden Umgang mit den entwickelten Errungenschaften diese fortzuentwickeln vermögen. Die Bewusstheit des eigenen Schöpfertums, die Entstehung eines allgemeinen umfassenden poietischen Weltverhältnisses, war das prägende Charakteristikum der Epoche der Neuzeit, von Renaissance und Aufklärung. Karl Jaspers wirft die Frage auf, ob in Europa in dem Zeitraum von 1500 bis 1800 eine zweite Achsenzeit zu erblicken sei (Jaspers 1955, S. 79). Die Landwirtschaft mit neuen Wirtschaftsformen und neuen Gerätschaften, der Handel mit dem allgemeinen Gebrauch der doppelten Buchführung, der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mit verbesserten Transportmitteln, die Entfaltung eines technikbasierten Textilgewerbes, der Beginn der Mechanisierung des Handwerks und die Entstehung von Manufakturen, die Entstehung des Territorialstaates mit der Herausbildung eines eigenständigen Beamtenapparates, der Ausbau des Buchdrucks, die Entfaltung des Kapitalismus und die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, sie waren die Folge einer veränderten Geisteshaltung und eines bewussten poietischen Verhältnisses zur je entfalteten Gegenwart. In all diesen Bereichen musste es Inventoren, Innovatoren, Pioniere geben und eine das neue Wissen und die neuen Verfahren und Formen distribuierende Infrastruktur. Der Historiker Troitzsch schreibt:

„Die Technik wurde im behandelten Zeitraum nicht nur von immer mehr Menschen benutzt, sondern auch immer mehr Menschen erdachten, produzierten, verbesserten Maschinen und Anlagen, die in ihrer Konstruktion zum Teil immer komplexer wurden. (…) Eine spezielle Ausbildung nach heutigem Verständnis gab es jedoch nicht. Solche Leute kamen meist aus handwerklichen Berufen (…) aufgrund vorhandener Begabung eigneten sie sich das Rüstzeug und die notwendigen Kenntnisse durch (…) Literaturstudium an. Die besten Möglichkeiten ergaben sich in den höfischen Zentren, wo (…) Fürsten Gelehrte und Praktiker aller Sparten um sich versammelten, die in regem geistigen, allem Neuen aufgeschlossenen Gespräch standen“ (Troitzsch 1997, S. 249 f.)

Man kann dieses Ausbreitungsverfahren als intentional gewordene informelle Erwachsenenbildung auffassen. Daneben gab es intellektuelle Zirkel und gemeinnützige Gesellschaften, die bildend in die Gesellschaft hineinwirkten, sowie die Akademien, auf die wir mit den Prototypen der „Platonischen Akademie“ und dem von Bacon entworfenen „Haus Salomon“ hingewiesen hatten. Indem die Realisten und Humanisten die Reflexion auf die Bedeutung des epistemischen und poietischen Weltverhältnisses selbst betrieben, wie es Bacon explizit dargestellt hat, sich auf das Schöpfervermögen des Menschen zurückbezogen, entstand die Idee, diese Einheit von Wissensproduktion und Wissensdistribution zum Zwecke der Anwendung auf Dauer zu stellen. Diese Institutionsform wird die weitere Geschichte der Andragogik maßgeblich prägen, ohne aber die informelle Erwachsenenbildung aufzuheben. Die Institutionalisierung hob die ursprüngliche Einheit von Pionier und Erzieher der Praktiker auf, ließ Distributionsketten mit vielfältigen Zwischengliedern, auch mit nachgeordneten weiteren Institutionen entstehen. Der Verlust der Unmittelbarkeit brachte dann das Problem der Methodik der Bildungsarbeit hervor. Die Gestaltungsformen der Erwachsenenbildung als Form der Wissens-und Verfahrensdistribution entwickelten sich vielfältig, wurden unübersichtlich. Einer umfassenden Geschichte dieser Distribution sind wir entbehrend. Ein zweites Moment der Reflexion über das allgemeine Schöpfertum des Menschen, auch von philosophischer Bedeutung, ist die Umstellung von Mensch auf Menschheit und Menschengeschlecht. Nun gilt: Die Menschheit ist Subjekt der äußeren, der sachlichen wie der kulturellen, der gesellschaftlichen Weltgestaltung und darin ist sie dann selbst mittelbar Objekt: Die Geschichte ist der Prozess der Selbsterziehung des Menschengeschlechts.

In seinem geschichtsphilosophischen Werk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1751/80) beschreibt Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) die geistig-moralische Geschichte der Menschheit als den Prozess der Entfaltung von Vernunftwahrheiten durch Auseinandersetzungen mit religiösen Offenbarungen. Die Offenbarungen sind für ihn Darstellungen der Erkenntnisse der Vernunft auf dem Niveau der frühen Epochen der Geschichte. Im steten denkenden Umgang mit diesen Offenbarungen der Vernunft als Religion und der verstehenden Aneignung entfaltet sich das Vernunftvermögen und entstehen neue Einsichten in diese Offenbarung, die dann ihrerseits wiederum zum Material des denkenden Umgangs werden, sodass der geschichtliche Prozess sich als Erweiterung der Einsichten, der Erkenntnisse, der Wahrheiten darstellt.

„Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlecht nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher“ (Lessing 1979, S. 490).

Das Verhältnis zwischen der Offenbarung, also dem, was vorgegeben wird, und der Vernunft des Menschen lässt sich durch die Figur der Spirale beschreiben. „Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellt die Vernunft auf einmal seine Offenbarung“ (ebd., S. 498). Der Kulturprozess des Menschengeschlechts schreitet voran durch den erziehenden, d. h. denkenden Umgang des einzelnen Menschen mit den entfalteten, ihm vorgegebenen Vernunftwahrheiten. Dieser Prozess zeigt „Unmerklichkeit“, weil „das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt (wird), deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert“ (ebd., S. 509). Lessing verbindet die individuelle Erziehung mit der Erziehung, d. h. der Kulturentwicklung des Menschengeschlechts und zeigt damit auf die prinzipielle kulturgeschichtliche Bedeutung der Erziehung. Erziehungsgeschichte wird als Moment der Kulturgeschichte gesehen, und die Kulturtheorie zeigt den kulturellen Ort und die Relevanz der Erziehung an. Oder anders formuliert: Lessing verschränkt Kulturtheorie und Erziehungstheorien. Diese neue Sichtweise des Zusammenhangs von Kulturentwicklung und Erziehungsgeschichte wird dann von Herder übernommen und ließ ihn zum Autor einer „Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774) werden (Herder 1994a). Lessings Erziehungsbegriff ist kein pädagogischer Erziehungsbegriff im Sinne Schleiermachers und der geisteswissenschaftlich geprägten Pädagogik, Lessings Erziehungsbegriff zielt auf die Menschenbildung des Erwachsenen im denkenden, schöpferischen Umgang mit den entwickelten geistigen Hervorbringungen: Erziehung ist hier andragogische Anthropagogik als kollektive schöpferische Selbstentfaltung im stets initiierten Kulturentfaltungsprozess.

6 Theoretischer Nachsatz

Der Mensch als das von Natur freigelassene, vernunftbegabte Wesen entwickelt ein epistemisches und poietisches Weltverhältnis. Die Anwendung seiner Erkenntnisse, Einsichten, Inventionen und Innovationen, zusammengefasst als kulturelle Errungenschaften, sind zugleich deren Darstellung für den vernunftbegabten Beobachter. Erkenntnisanwendung als Darstellung und Erkenntnis der angewandten Erkenntnisse ist die Einheit der ursprünglichen Erziehung, die sich im Modus der Informalität vollzieht. Diese informelle Erziehung leistet die gesellschaftliche Distribution und Implementation der kulturellen Errungenschaften; bewähren diese sich in der Daseinspraxis, werden sie zur Tradition der Gesellschaft. Die Überlieferung der Traditionen an den Nachwuchs geschieht im Lebensmitvollzug, also im Modus der informellen Erziehung; sie bewahrt das entwickelte kulturelle Niveau, das die Basis für weitere kulturelle Errungenschaften ist. Die informelle Erziehung des Nachwuchses entwickelt sich durch vernunftorientierte Betrachtung zur intentionalen informellen Erziehung fort. Der Prozess der Kultivierung der Gesellschaft vollzieht sich im Zusammenspiel der Aneignung der kulturellen Errungenschaften auf der Ebene der Bildung der Erwachsenen als intragenerationeller informeller Andragogik mit der Überlieferung der Tradition an den Nachwuchs als intergenerationelle informelle Pädagogik. Andragogik und Pädagogik sind die entwickelten, wenngleich in ihren frühgeschichtlichen Formen unbewussten kulturellen Instrumente der kulturellen Entwicklung mit dem Primat der Andragogik. Mit der frühgeschichtlichen Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft zwischen Landwirtschaft und Handwerk entsteht zugleich eine gesellschaftliche Wissensteilung; und diese Ausdifferenzierung hat zur Folge, dass nicht mehr alle alles wissen müssen, sondern nur jenes, was für ihren Arbeitsbereich bedeutsam ist; und dieser Prozess führt zu unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen mit unterschiedlichen Niveaustufen unterschiedlicher Arbeitsfelder. Das Handwerk erweist sich als kreativer und innovativer als die Landwirtschaft. Die entfaltete Struktur der informellen Erziehung in den Formen von Andragogik und Pädagogik bleibt in den ausdifferenzierten Arbeitsfeldern bewahrt. Diese Arbeitsteilung erfordert mit Notwendigkeit eine Zusammenhangsordnung, die durch eine Herrschaft von Menschen über Menschen geleistet wird. Unterwerfung und Einübung in den Gehorsam sind die Ordnungsmittel, deren Ausdifferenzierung dann den politischen Prozess der Ordnungsarbeit bestimmen. Die Einführung der symbolischen Zeichensysteme für die Sprache, für die Mathematik und die Denkverfahren, die Logik, die aus dem Erfahrungswissen durch Abstraktion und Reflexion entstehen, stellt eine kulturelle Revolution dar. Zur Teilhabe an den in den symbolischen Zeichensystemen kodifizierten kulturellen Errungenschaften der Kultur des abstrakten und reflexiven Geistes ist die Beherrschung der Zeichensprache erforderlich. Dieses Erfordernis führt zur Errichtung einer Institution der intentionalen formellen Erziehung, der pädagogischen Schule, in der ein Teil des gesellschaftlichen Nachwuchses die Zugangsvoraussetzung für die Teilhabe an der geistigen Kultur erwirbt, die ihrerseits die Voraussetzung für das kulturschöpferische Erkennen des Erkannten ist. Auch in dieser Entwicklung bleibt die Strukturordnung von Andragogik und Pädagogik erhalten mit dem Primat der Andragogik. Diese Kultur des Geistes erweist sich als kreativ und schöpferisch und bestimmt die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft auf hohem Niveau. Sie selbst versteht sich als Übersicht über das Wissen insgesamt, d. h. sie versteht sich als Theorie und sieht Landwirtschaft und Handwerk als die Praxis einer niederen Kultur an. Die kulturellen Errungenschaften dieser niederen Kultur vollziehen sich weithin in der Melioration der Praxis selbst, sodass die Infrastruktur der informellen Erziehung von Andragogik und Pädagogik ohne Veränderung bleibt. Die kulturelle Entwicklungshöhe der Praxis dieser niederen Kultur als der Gestaltung der äußeren Welt führt aus der Erkenntnis des allgemeinen Schöpfertums des Menschen in Theorie und Praxis durch die Theorie der Kultur des Geistes zur Anerkennung der Praxis. Zwischen Theorie und Praxis entfalten sich pragmatische Wissenschaften und eine wissenschaftlich basierte Technik mit eigenen Institutionen der intentionalen formellen Erziehung, die ihrerseits pädagogische Schulen einforderten für den Erwerb der Zugangsvoraussetzungen für die Teilhabe an den Einrichtungen der Wissenschaft und der Technik sowie den Anwendungen von Wissenschaft und Technik in der Praxis. Durch die Herausbildung von pragmatischen Wissenschaften und wissenschaftsbasierter Technik kommt es zu der Entwicklung der Verallgemeinerung der intentionalen, institutionellen und formellen Erziehung in den Formen von Andragogik und Pädagogik in den unterschiedlichen Praxisfeldern. Die informelle Erziehung sowohl in der Form der Andragogik wie der der Pädagogik werden aber keinesfalls aufgehoben. Die entwickelten Formen der Erziehung der Menschen, der Menschenbildung, der Anthropagogik, mit dem Primat der Andragogik koexistieren komplementär. In einer durch den historischen Prozess kulturell geschichteten Gesellschaft, in der Schichtendurchlässigkeit aus dem Verständnis einer „offenen Gesellschaft“ heraus gilt, ereignen sich Erziehungsprozesse in die Kulturinhalte höherer Gesellschaftsschichten hinein; diese Prozesse als „kompensatorische“, „als nachholende Bildung“ zu betrachten, hat einen durchaus herablassenden Charakter, der entsteht aus dem historisch entfalteten Geist der Pädagogik, der die pädagogische Erziehung für die eigentliche Erziehung erachtet und darin bekundet, dass die Pädagogik ihre Partikularität nicht begriffen hat (vgl. Dräger 2014). Ein Beleg für die Tatsache dieser Koexistenz und Komplementarität ist die in unseren Tagen sich vollziehende Computerisierung der Gesellschaft: Sie begann informell auf der Ebene der Erwachsenen, es etablierten sich andragogische Einrichtungen für den Gebrauch der Rechner, mit der Verbreitung der Rechner nahm die informelle Pädagogik des Nachwuchses einen stürmischen Verlauf – die intentionale, institutionelle, formelle Pädagogik vollzieht sich allerdings erst gegenwärtig.

Will man in einer Formel zusammenziehen, was in diesem Beitrag skizzenhaft dargestellt ist, so müsste diese lauten: Wo immer im Kulturprozess Inventionen und Innovationen, also neue kulturelle Errungenschaften sich zeigen, zeigt sich Andragogik, die ihrerseits eine Pädagogik erfordert, die die Zugangsvoraussetzungen für das Niveau der kulturellen Entwicklung allgemein zu gewährleisten hat. Diese Formel ist zugleich als eine „Theorie einer möglichen Geschichte“ der Anthropagogik zu handhaben, und sie zeigt, dass sich das Verhältnis von Pädagogik und Andragogik anders darstellt, als es die „Geschichten der Pädagogik“ thematisieren – wenn sie es denn überhaupt tun. Die Andragogik hat kulturgeschichtlich, kulturtheoretisch den Primat; individualgeschichtlich gesehen gilt, dass die Andragogik Weiterbildung ist auf der Grundlage der Pädagogik. Diese Sichtweise aber ändert nichts an der Tatsache, dass die innovativen kulturellen Errungenschaften auf der Ebene der Erwachsenen intragenerationell gesellschaftlich distribuiert und implementiert werden.