Zusammenfassung
Wie Menschen ihren Weg finden, wird in der englischsprachigen Forschung bereits seit den 1980er Jahren unter dem Stichwort wayfinding untersucht. Aufgrund der Einbettung dieser Forschung in die Umweltpsychologie fokussierte sie allerdings stark auf die Informationsverarbeitung während des Orientierungsprozesses. Dementsprechend bleibt die Bedeutung des konkreten räumlichen Kontexts in der wayfinding-Forschung unterbelichtet, wodurch sie nur begrenzten Anwendungsbezug für die Stadtplanung erhält. Dieser Beitrag stellt einen praxeologischen Zugang zum wayfinding vor, der das praktische Wissen des Wayfinders sowie die sinnliche Erfahrbarkeit von Umwelt und damit den Kontext des wayfinding in den Mittelpunkt rückt. Mit den kommentierten Parcours wird eine in situ-Interviewmethode vorgestellt, die den Anforderungen an einen derartigen Zugang zum wayfinding gerecht wird. Zwei Fallbeispiele demonstrieren das Potenzial des alternativen Zugangs.
Abstract
The process how people manage to find their way has been discussed in the Anglo-Saxon literature already since the 1980s using the term wayfinding. However, as wayfinding research is mainly rooted within environmental psychology, it basically focuses on information processing. Thus, wayfinding research does not systematically take into account the influence of distinct settings and therefore it is only of limited use for urban planning. In this article we introduce a praxiological approach which highlights the embodiment and sensuality of wayfinding allowing to put a special focus on the relevance of environmental settings for wayfinding practices. We then present a method (commented walks), which captures wayfinding in situ and by doing so follows the requirements of our approach. The potentials of the praxiological approach for urban planning is finally demonstrated using two case studies.
Notes
Im Autoverkehr hat der Einsatz von GPS-basierten Navigationsgeräten die Möglichkeiten der Zielfindung in fremden Umgebungen grundlegend neu gestaltet und erheblich erleichtert. Auch für Fußgänger sind inzwischen Geräte auf dem Markt. Ihr Einsatz wird in Städten aufgrund von Empfangsschwierigkeiten sowie von Handhabungsschwierigkeiten (keine Befestigungsmöglichkeit wie im Auto, zusätzlich mitgeführte Dinge wie Tüten etc.) wohl auch längerfristig keine annähernd so große Verbreitung finden.
Wenn wir im Folgenden von Körper sprechen, folgen wir dem Verständnis von Bourdieu (2001: 180 ff.), der im Zusammenhang mit seinem Habitusbegriff zu einer Integration des Konzept des Körpers als Ausdrückendem und Instrumentellem und des Leibes als Spürendem zum Verständnis eines sozialisierten Körpers gelangt, der entsprechend seiner Sozialisation für das leibliche Empfinden disponiert ist (vgl. auch Alkemeyer 2006: 266). Auf die Bedeutung des Empfindens für das Verständnis von Praktiken wird unter 3.2 eingegangen.
Interviews in Bewegung haben jüngst einen Boom erfahren: So erforscht Kusenbach (2008) Alltagserfahrungen in Stadtvierteln mit „go alongs“, Jones/Bunce/Evans et al. (2008) experimentieren mit verschiedenen Formen von „walking interviews“ und insbesondere Büscher und Urry (2009: 103) fordern darüber hinaus im Zuge des von ihnen proklamierten „mobilities turn“ generell den vermehrten Einsatz von Methoden in Bewegung im Sinne einer mobilen Ethnographie.
Das emergency wayfinding lässt sich mit dieser Methode verständlicherweise nicht nachvollziehen. Teilaspekte können über das resolute wayfinding abgedeckt werden, wobei allerdings die Panik und damit ein zentrales Kennzeichen ausgeblendet bleibt.
Die Anwendungsbeispiele stammen aus Diplomarbeiten, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Ott 2006) und der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Jacobs 2006) entstanden sind. Die kommentierten Parcours wurden hier mit Rückgriff auf Levy (2001) und Thibaud (2001) eingesetzt, ohne bereits die praxeologische Dimension näher zu reflektieren. Wir möchten den beiden Autorinnen danken, dass sie uns ihre Arbeiten für eine Sekundäranalyse zur Verfügung gestellt haben.
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Kazig, R., Popp, M. Unterwegs in fremden Umgebungen. Raumforsch Raumordn 69, 3–15 (2011). https://doi.org/10.1007/s13147-010-0075-x
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