LuiseFootnote 1, die Fachkraft, verteilt die geschnittenen WähenstückeFootnote 2 an die Kinder, in der Reihenfolge, in der sie sitzen. Die Kinder, die die Wähe nicht besonders mögen, bekommen ein kleines Randstück mit grösserem Teiganteil und sollen es probieren. (BP_17.05.2017; Z. 91–93)

Diese Beobachtungssequenz beschreibt eine Essenssituation in einer Schweizer Kindertagesstätte (Kita). Essenssituationen sind im Kitaalltag sich stetig wiederholende, komplexe und vielschichtige Situationen. Hansen et al. (2017) betonen, dass Mahlzeiten wichtige Situationen der Sozialisation, der Konstruktion von Identitäten, der sozialen Beziehungen und Machtverhältnisse sowie für Positionierungen bedeutsam sind (vgl. S. 237). Dabei gehe es um das Essen an sich, aber auch um die Art und Weise, wie zusammen gegessen wird (vgl. a. a. O., S. 237). Nentwig-Gesemann und Nicolai (2017) beschreiben das Miteinanderessen als Verwobenheit von Selbstbezug, Bezug zu den anderen und zur kulturellen, dinglichen und räumlichen Mitwelt (vgl. S. 57). In Bezug auf das Wie zeigen einige Studien (z. B. Schulz 2016a; Übersicht bei Meyer 2018, S. 79 ff.), dass Essenssituationen je nach Institution sehr unterschiedlich sein können. Beispielsweise beeinflussen Faktoren wie Personalschlüssel, räumliche und finanzielle Voraussetzungen der Kita, Kitakonzepte, Elternwünsche etc. die institutionelle Umsetzung der Essenssituationen in unterschiedlichen Kitas. Gleichzeitig liegt Essenssituationen übergreifend aber auch etwas Spezifisches zugrunde, das sich von anderen Tageselementen (wie Spiel- oder Angebotssituationen) abgrenzen lässt: Essen ist ein körperliches Grundbedürfnis, welches von den Fachkräften im Rahmen ihres Care-Auftrags regelmäßig sichergestellt und organisiert werden muss und das auch anhand von Maßstäben (z. B. wieviel ein Kind genau gegessen hat) nachvollzogen werden kann.

Im vorliegenden Artikel werden Essenssituationen im Anschluss an Tull (2021) und Schulz (2016a) als Inszenierungen gesehen, „im Sinne eines geplanten und gestalterischen Handelns, als ein In-Szene-Setzen von Handlungsabläufen“ (Tull 2021, S. 84). Schulz (2016a) spricht von institutionellen Inszenierungen. In den Blick geraten dann räumliche und zeitliche Aspekte sowie Artefakte, Handlungen und Personen.

In Bezug auf das Was in Essenssituationen in der Kita betonen Studien v. a. gesundheitliche, erzieherische, bildungsrelevante sowie körperdisziplinierende Aspekte. Gleichwohl können diese Situationen auch von Zwang und Kontrolle geprägt sein (vgl. Nentwig-Gesemann und Nicolai 2017, S. 58). Aus diesen Perspektiven werden Kinder häufig als Adressat*innen von (gesundheits)erzieherischen Maßnahmen oder als Lernende dargestellt. Dies lässt sich auch in der obigen Beobachtungssequenz erkennen, bei der auf einen ersten Blick die Kinder als Erziehungsobjekte in der vorstrukturierten, erwachsenendominierten und regelorientierten Essenssituation erscheinen. Zugleich orientiert sich die Fachkraft an den Bedürfnissen der Kinder, indem sie Stücke mit mehr oder weniger Teig verteilt, je nachdem, wie (un)gerne die Kinder Wähe essen. Und an diese Sequenz anschließend stellt sich die Frage: Was machen die Kinder? Wie verhalten sie sich zu und in den Essenssituationen? Mit einer agencytheoretischen Perspektive lässt sich das in den Fokus nehmen, was Menschen tun (vgl. Edmonds 2019, S. 201). In diesem Sinne wird hier – den New Childhood Studies folgend – davon ausgegangen, dass Kinder handlungsfähige Akteure sind, die ihre Lebenswelt aktiv mitgestalten (vgl. z. B. Eßer et al. 2016; James und Prout 2014). Dabei wird vermehrt die Dezentralisierung von Agency (vgl. Prout 2003) und die „Variabilität von kindlichem Handlungsvermögen je nach Kontext“ (Bollig und Kelle 2014, S. 266) fokussiert. Denn die Agency von Kindern in der Kita findet innerhalb von Strukturen, Ordnungen und Machtverhältnissen statt (vgl. z. B. Eßer 2009), und Teil dieser Machtverhältnisse ist zum Beispiel die generationale Ordnung (vgl. z. B. Bühler-Niederberger 2020; Alanen 2005). Agency wird daher nicht statisch, sondern relational und fluide gesehen (vgl. z. B. Urban-Stahl 2012). In der vorliegenden Analyse und Argumentation wird der Handlungsraum fokussiert, welcher nach Fichtner und Trần (2019) als „Möglichkeit, Fähigkeit und Vermögen des Handelns (Agency) in einem spezifischen Kontext“ (S. 110) verstanden wird. Im Anschluss an diese analytische Perspektive auf Essenssituationen und Agency verfolgt der Artikel zwei Fragen: Wie werden Essenssituationen in einer Kita inszeniert? Und wie zeigt sich darin Agency der Kinder? Diesen Fragen wird anhand ethnografischen Beobachtungsmaterials aus dem kindheitstheoretischen Dissertationsprojekt „Agency von Kindern in der Kita“ nachgegangen. Dazu wird zunächst der Forschungsstand umrissen, bevor die methodische Vorgehensweise vorgestellt wird. Im Empirieteil werden die Analyseergebnisse präsentiert. Dabei zeigt sich, dass unterschiedliche Handlungsräume durch Praktiken hervorgebracht werden. So können in einer Essenssituation unterschiedliche Handlungsräume parallel entstehen. Diese Ergebnisse werden im Fazit gebündelt und diskutiert.

1 Essenssituationen in Kitas aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven – eine Annäherung

Das Thema Essen in der Kita wird methodisch und thematisch vielseitig erforscht. Neben psychologischen und ernährungswissenschaftlich-medizinischen Untersuchungen entstehen erst seit einigen Jahren erziehungswissenschaftliche Studien, welche die institutionellen Essenssituationen in der Kita in den Blick nehmen (vgl. Schulz 2016b, S. 143). Eine Mehrzahl der Studien diskutiert dies vor allem unter der Perspektive von Gesundheit(serziehung) und Bildung. Im Folgenden werden anhand einiger Studien perspektivische Schlaglichter auf Essenssituationen vorgestellt, um den Mehrwert einer agencytheoretischen Perspektive, wie in diesem Artikel, zu verdeutlichen.

Gesundheit und Essen stellen eine scheinbar unhinterfragbare Verbindung in gesellschaftlichen, medizinischen, gesundheitspolitischen und pädagogischen Diskussionen dar, und so fokussieren viele Studien Themen wie gesundes Essen, Ernährungsbildung und Ernährungserziehung (vgl. z. B. Arens-Azevedo et al. 2014). Neben der reinen Versorgung der Kinder mit Essen im Sinne von Kalorien und Nährstoffen haben Kitas auch den gesellschaftlichen und sozialen Auftrag, die richtige Ernährung zu vermitteln, die oftmals als gesund, ausgewogen etc. bezeichnet wird. Es sollen sich demnach „Gesundheitserziehung und Bildungsförderung verzahnen“ (Schulz 2010, S. 38), um unter anderem einen gesunden Kinderkörper zu formen (vgl. ebd.). Solch bildungstheoretisch ausgerichtete Studien fokussieren, inwiefern Essenssituationen zu Bildungssituationen werden (vgl. auch Burkhardt Bossi 2021 zur Struktur des Mittagessens in Schweizer Kitas; Tull 2021). Schulz macht in seinen Studien deutlich, dass Essenssituationen in Kitas durch didaktische und Peer-learning-Momente immer auch Bildungssituationen sind, nämlich „durch ihre multifunktionalen Verwendungsweisen, indem die Beteiligten sowohl den sozialen Situationen des Essens als auch dem zu Verzehrenden selbst praktisch-performativ einen Symbolcharakter zuschreiben, der sich innerhalb des Geschehens permanent und dynamisch verändern kann“ (Schulz 2010, S. 146). Er betont in seinen institutionell vergleichenden Analysen, dass trotz der sehr großen Unterschiede zwischen Essenssituationen in verschiedenen Kitas nicht nur der soziale Rahmen und die beteiligten Akteur*innen, sondern auch die Materialität des Essens eine große Rolle spielen und dies die „darin performativ entfaltenden Erfahrungs- und Handlungsspielräume mit strukturiert“ (Schulz 2016a, S. 44). Meyer (2018) nennt die Essenssituationen „Überarrangements“ (S. 81), in denen zu wenig auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder eingegangen werde (vgl. S. 82). Diese stellen sich laut Dietrich (2016) nicht als familiäre Arrangements dar, sondern als Teil eines Bildungs- und Lernortes (vgl. S. 74).

In kindheitstheoretisch ausgerichteten Studien werden mehr die Kinder fokussiert, und im Mittelpunkt der Analysen stehen etwa die Orientierungen der Kinder in Bezug auf die Gestaltung von Essenssituationen in Kitas (vgl. Nentwig-Gesemann et al. 2020) oder die gelingende Passung zwischen Fachkräften und Kindern (vgl. Nentwig-Gesemann und Nicolai 2017). Es wird zum Beispiel herausgearbeitet, dass die Kinder sowohl an Regeln, Ritualen und der Gemeinschaft Interesse haben, um sich sicher zu fühlen, als auch an Spaß und Spiel mit den Freund*innen (vgl. Nentwig-Gesemann et al. 2020, S. 296). Dies wird auch anhand von Essenssituationen in dänischen Kindergärten mit dem theoretischen Blickwinkel von „striated und smoothing spaces“ (im Sinne von vorgegebener und offener Raum) gezeigt (vgl. Hansen et al. 2017; vgl. auch „weite und enge Räume für die Nahrungsaufnahme“ bei Tull 2021). Essenssituationen in Kitas werden dabei als ein Netz aus materiellen, diskursiven und menschlichen Elementen analysiert und zwei gegensätzliche, aber koexistierende Perspektiven herausgearbeitet: zum einen Essen als eine Situation für die Konstruktion von „future beings“, zum anderen als eine Situation für Gemütlichkeit, die die Essenden als „here-and-now beings“ hervorhebt (vgl. a. a. O., S. 246). Kinder konstruieren die Mahlzeiten mit dem Streben nach „striation“ als „safe space“ (vgl. ebd.). So werden ambivalente und komplexe Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen sichtbar sowie eine Verflechtung von „striated“ und „smoothing spaces“ aufgezeigt (vgl. ebd.).

Daran anschließend kann die agencytheoretische Perspektive den Blick nun dahingehend weiter öffnen, dass danach gefragt werden kann, was die Kinder in den unterschiedlichen Essenssituationen tun und wie sich deren Agency zeigt. Um die empirischen Analysen in diesem Beitrag nachvollziehen zu können, wird im Folgenden zunächst die Methode und die beforschte Kita genauer vorgestellt.

2 Essenssituationen im Projekt „Agency von Kindern in der Kita“ – methodische Vorgehensweise und Feldbeschreibung

Der Artikel basiert auf dem Dissertationsprojekt „Agency von Kindern in der Kita“, in welchem mittels ethnographischen Zugangs in einer Schweizer Kita in einer ländlichen Gegend geforscht wurde. Im Fokus der teilnehmenden BeobachtungFootnote 3 (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 71 ff.; Lange und Wiesemann 2012; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 44 ff.) standen die sozialen Praktiken von Kindern zwischen drei und sechs Jahren und den FachkräftenFootnote 4. Für die diesem Artikel zugrundeliegenden Daten und Fokussierung auf Essenssituationen bedeutet dies, dass die Forscherin wie die Fachkräfte und Kinder mit im Kreis oder am Tisch sitzt und auch das einverleibt hat, was den anderen angeboten wird (vgl. Schulz 2016a, S. 33). Die Analyse vollzieht sich in Anlehnung an die Grounded Theory, wobei im offenen und axialen Kodierverfahren Konzepte und Kategorien entwickelt werden (vgl. Flämig 2018; Hülst 2012; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014; Strauss und Corbin 1996; Truschkat et al. 2005). Hierbei wurde im offenen Kodieren zunächst danach gefragt, was in den Situationen passiert und wie die Personen mit was und wem agieren. Relevant scheinende Sequenzen wurden anschließend einer sequenzanalytischen Feinanalyse unterzogen, um diese KategorienFootnote 5 analytisch zu schärfen, verdichten und kontrastieren. Im axialen Kodieren zeigten sich dann die unterschiedlichen Inszenierungen der Situationen als relevant, und darin die unterschiedliche Agency der Kinder.

Im Alltag der beobachteten Kita fanden unterschiedliche Essenssituationen statt: Frühstück, Zwischenmahlzeiten wie Znüni/ZvieriFootnote 6 und Mittagessen. Diese Essenssituationen sind regelmäßig wiederkehrende Teile eines normalen Tagesablaufs in der beforschten Kita und bilden fixe Ankerpunkte.Footnote 7 Die Ankommenszeit in der Kita ist zwischen 7.15 Uhr und 9.00 Uhr. So liegt das Frühstück in dieser Ankommenszeit und bildet eine Option für die Kinder, die etwas essen möchten. Das Znüni stellt den gemeinsamen Start in den Tag dar, bei dem alle Kinder, die am Vormittag anwesend sind, und mindestens eine Fachkraft sich gegen 9.00 Uhr im Kreis auf dem Boden sammeln. Das Mittagessen findet um 11.30 Uhr statt und teilt den Tag in Vor- und Nachmittag ein. Das Zvieri um ca. 15.00 Uhr findet wieder im Kreis auf dem Boden statt. Hiernach beginnt die Abholzeit der Eltern. Nach jeder dieser Mahlzeiten müssen die Kinder Zähne putzen. Zwischen diesen Mahlzeiten gibt es für die Kinder kein Essensangebot, sie können aber jederzeit trinken. Die Ausgestaltungen zwischen den Mahlzeiten werden häufig spontan geplant (je nach Fachkräfteanzahl, Anwesenheit der Kinder, Wetter, Wünsche der Kinder etc.). Ritualisierte Handlungssequenzen wie Singkreise, Abschiedsrituale und Geburtstagsrituale finden (häufig nach dem Aufräumen) direkt vor dem Mittagessen und/oder nach der Mittagspause statt. In der beforschten Kita ist eine Köchin angestellt, welche den Essensplan erstellt und das Essen in der Küche vorbereitet. Der wöchentliche Essensplan (in schriftlicher Form) hängt an der Pinnwand auf Erwachsenen-Augenhöhe und ist für die Kinder ohne Unterstützung von Erwachsenen weder ersichtlich noch verständlich. Dies ist das Setting, in dem Agency von Kindern in unterschiedlichen Inszenierungen von Essenssituationen im Folgenden analytisch betrachtet wird.

3 Empirische Einblicke in die Agency von Kindern in unterschiedlichen Essensinszenierungen – eine Analyse

Der Aufbau dieses Kapitels orientiert sich an den unterschiedlichen Mahlzeiten, beginnend mit dem Frühstück, welchem die Zwischenmahlzeiten und das Mittagessen folgen. In den Unterkapiteln wird jeweils aufgezeigt, wie die Situationen unterschiedlich inszeniert werden und wie sich darin Agency zeigt.

3.1 „Ich bin müde“ – Agency als Bedürfnisorientierung in der Frühstückssituation

Situation am frühen Morgen; zwei Kinder sind in der Kita anwesend; ca. 7.30 Uhr

Florine (die Auszubildende) sagt: „Bist du noch müde? Jetzt gibt’s Frühstück. Habt ihr Hunger?“ Finja schüttelt den Kopf. Florine: „Keinen Hunger. Und du?“ Sie schaut Bianca an. Sie nickt leicht. Florine: „Du hast Hunger. Ich hab auch noch nichts gegessen“. Finja sagt, dass sie müde sei. Florine sagt, sie könne gerne im Gruppenzimmer bleiben. Florine geht aus dem Zimmer hinüber ins Esszimmer. Bianca folgt ihr, sie trägt ihren Bären auf dem Arm. Finja geht hinter den beiden her. Ich folge ihnen. Florine knipst die Deckenbeleuchtung an. Es wird sehr hell, aber es ist ein gemütliches Licht. Auf einem Tisch, der an der Fensterfront steht, steht ein Tablett mit einer Dose mit Cornflakes, ein Marmeladenglas, eine Milchpackung und ein Brotlaib. Die Trinkflaschen der Kinder, welche Florine vorher mit Wasser gefüllt hat, stehen auf dem vorderen Tisch, links. Florine fragt: „Wollen wir mal an den Tisch gehen?“ Bianca nickt und setzt sich an den hinteren Tisch, auf die Bank ans Fenster. Sie legt ihren Bären neben sich auf die Bank. Florine an Finja gewandt: „Und was magst du?“. Finja: „Ball spielen“ Florine: „Willst du Ball spielen? Ok“ Finja geht zurück ins Gruppenzimmer. (BP_02.08.2018, Z. 105–120)

Die Frühstückssituation ist gekennzeichnet von einer gewissen Offenheit, die sich erstens auf Zeitlichkeit beziehen lässt. Das Frühstück läuft parallel zum Beginn des Kitaalltags ohne fixen Start- und Endzeitpunkt und wird in Form eines Buffets angeboten. Zweitens besteht Offenheit in Bezug auf Örtlichkeit, da keine Vorgabe von Seiten der Kita gemacht wird, wo die Kinder, welche in der Kita am Morgen eintreffen, sich aufzuhalten haben. Stattdessen wählen die Kinder frei ihren Aufenthaltsort und bleiben entweder im Gruppenzimmer oder gehen mit ins Esszimmer, um dort ihr Frühstück zu essen. Sie haben mit der Wahl der Tätigkeit und der Wahl des Ortes die Möglichkeit, zwischen Essen und Spielen bzw. zwischen Esszimmer und Gruppenzimmer zu entscheiden. Sie können also zwischen Anwesenheit und Abwesenheit beim Essen bestimmen und gestalten aufgrund ihrer Bedürfnisse und Wünsche diesen Teil des Kitatages innerhalb von Vorgaben mit. Die Kinder zeigen hier über ihre Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit (als Handlungsfähigkeit) ihre Bedürfnisse wie Müdigkeit oder Hunger (wie Bianca und Finja mit Kopfschütteln und Nicken). Darin, dass die Kinder ihren Bedürfnissen (Finja geht zum Spielen und Bianca zum Essen) nachgehen, zeigt sich Agency als Bedürfnisorientierung. Die offen formulierten Fragen der Fachkraft an Bianca und die akzeptierten Antworten ihrerseits zeigen drittens Offenheit bezüglich der Inszenierung der Situation in dem, ob, was (aus der Auswahl) und wieviel die Kinder essen möchten. Dies impliziert eine gewisse Freiwilligkeit. Das Frühstück ist insgesamt nicht als gemeinschaftliches Ereignis angelegt, sondern die Bedürfnisse der einzelnen Kinder stehen im Vordergrund (die Kinder werden gefragt, ob sie Hunger haben). Die Offenheit der Situation sowie die Entscheidung für das Nichtessen ermöglicht Finja den alleinigen Aufenthalt im Gruppenzimmer. So stellt sie für sich einen individuellen Spielraum (verstanden als Handlungsraum) her. Sie nutzt das Gruppenzimmer für sich allein, was sonst im Kitaalltag nicht möglich ist.

Währenddessen ist Bianca im Esszimmer. Dies wird in der nächsten Sequenz beschrieben:

Bianca sitzt am Bankende und wirkt auf mich sehr ruhig. Sie sitzt da und schaut in den Raum. Florine geht in die Küche. Ich sitze am anderen Ende der Bank, da ich mich dort gut hinsetzen kann und ich alles im Raum überblicke. Ich schaue Bianca von der Seite an und frage: „Hast du gut geschlafen?“ Bianca nickt, schaut mich aber nicht an. Ich frage: „Bist du noch müde?“. Sie nickt wieder. Florine kommt wieder ins Zimmer und steht vor dem Tisch und schaut Bianca an: „Was möchtest du gerne essen?“ Bianca leise: „Brot“. Florine: „Brot?“ Tülay (Fachkraft) kommt ins Zimmer: „Guten Morgen, Bianca. Geht’s gut?“. Bianca nickt. Florine stellt einen Teller vor Bianca: „Was möchtest du gerne aufs Brot?“. Bianca: „Honig“. Florine: „Mit Honig. Dann hast du hier noch ein Messer“. Sie gibt Bianca ein kleines Messer über den Tisch. Bianca nimmt es entgegen. Florine: „Streich mal selber (…)“. Bianca bestreicht ihre Brotscheibe mit Butter. (…) Ich spreche mit Florine über die Tagesplanung. (…) Bianca redet nicht, während sie am Tisch sitzt und ihr Frühstück isst. (…) sie bewegt sich nicht viel und schaut vor allem vor ihr auf die Tischplatte. (BP_02.08.2018, Z. 120–149)

Während Bianca am Tisch sitzt und isst, entsteht eine Situation, die sich als Umkehr der normalen generationalen Anwesenheit in der Kita bezeichnen lässt: Es sind deutlich mehr Fachkräfte im Raum als Kinder, wodurch eine Art Exklusivität bzw. eine Kindorientierung/Individuumsorientierung entsteht. Kindzentrierte Wünsche und Empfindsamkeiten stehen im Fokus (Hunger, Müdigkeit) und werden durch eine Fragenbatterie der anwesenden Erwachsenen an die Kinder zum Ausdruck gebracht (z. B. „Bist du noch müde?“, „Habt ihr Hunger?“, „Hast du gut geschlafen?“, „Was möchtest du gerne essen?“). Die befindlichkeitsorientierten Fragen und damit verbundenen permanenten Aufforderungen zeigen einerseits, dass Kinder ernst genommen werden und die Erwachsenen sich um ihr Wohlbefinden kümmern. Andererseits fordern die Nachfragen von den Kindern Antworten – und damit auch Reflexion und Bewusstmachung – über ihre aktuellen Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Vorhaben. Dies hat Entscheidungszwänge für die Kinder zur Folge, da sie sich auf die fragende Ansprache durch die Erwachsenen verhalten müssen und so überfordert sein können. In dieser Situation kann bei Bianca das herausgearbeitet werden, was Bühler-Niederberger (2020) „Komplizenschaft“ (S. 238) nennt: Indem sie den handlungsbezogenen Aufforderungen der Fachkraft nachkommt (sie nimmt das Messer entgegen und streicht ihr Brot selber) und möglichst kurze, in der sozialen Situation gerade hinreichende Antworten gibt, kooperiert sie in dieser Situation. Dabei reagiert sie auf die zahlreichen Fragen einsilbig und mit leiser Stimme sowie mit nonverbalen Reaktionen (Kopfschütteln, Kopfnicken, Wegschauen). Hier gibt es mehrere Lesarten für Biancas Reaktionen: Sie möchte nicht auffallen, sie fühlt sich nicht wohl, sie kann müde sein oder sie möchte in Ruhe essen. Hier zeigt sich durch das nichtäquivalente Reagieren eine weitere Form von Agency: Bianca stellt einen Schweigeraum her. Schweigen kann nach Liebel (2020) als spezifische Kommunikationsform angesehen werden, das unterschiedliche Bedeutungen sowie Ursachen und Gründe haben kann (vgl. S. 108 ff.). In dieser „reproduzieren sich bis zu einem gewissen Grad die sozialen Strukturen und Machtverhältnisse einer Gesellschaft und [somit auch] die zwischen Kindern und Erwachsenen“ (a. a. O., S. 115), hier den Fachkräften. Diese Ambivalenz des Schweigens beinhaltet also diverse Deutungsmöglichkeiten, die aber nur teilweise offengelegt und somit kaum empirisch fassbar sind (vgl. Magyar-Haas und Geiss 2015, S. 9). Demnach können aus der vorliegenden Beobachtung nicht die Bedeutung sowie der Grund für Biancas Schweigen herausgelesen werden, jedoch wird deutlich, dass sie während des Schweigens in Ruhe isst. Die Erwachsenen sprechen währenddessen im Rahmen ihrer Care-Praktik (hier der Tagesplanung) parallel miteinander.

3.2 „Jan und Ben stehen auf und setzen sich hoch aufs Bänkli“ – Agency als Auslotung von Grenzen in normorientierten Zwischenmahlzeiten

Beginn einer Znüni Situation:

Stefan, eine Fachkraft, kommt ins Zimmer mit einer Schüssel, darin sind ein Apfel, Banane und fünf Aprikosen. Ben, Pascal und Jan hauen sich mit Kissen, sie stehen sich auf den Decken gegenüber. Stefan setzt sich auf den Boden, mit dem Rücken an die Bank und stellt die Schüssel vor sich auf den Boden: „So, hört mal, ihr Zwei, wir sind jetzt beim Znüni. Jan. Ihr dürft euch hinsetzen. Wie immer“. Stefan fängt an, das Obst in kleine Stücke zu schneiden. (BP_02.08.2018, Z. 469–475)

Im Gegensatz zur Frühstückssituation, die von Offenheit gekennzeichnet ist, steht in den Znüni- und Zvierisituationen Strukturierung und Reglementierung im Vordergrund. Dies zeigt sich darin, dass die Situationen zeitlich im Kitatag fixiert sind („Wir sind jetzt beim Znüni“). Der Beginn und das Ende sowie der Ablauf sind vorgegeben bzw. werden von den Fachkräften strukturiert: Sie entscheiden, wann das Essen beginnt, nämlich dann, wenn sie das Essen parat haben (zum Beispiel das Obst fertig geschnitten haben) sowie wann die Situation beendet ist. Neben diesen zeitlichen Vorgaben spielen räumliche Anordnungen und Direktiven der Fachkräfte eine Rolle („Ihr dürft euch jetzt hinsetzen“). So werden die Zwischenmahlzeiten jeweils im Kreis eingenommen. Diese finden (je nach Wetter) im Gruppenzimmer auf dem Boden oder im Garten auf einer Decke statt, wobei die Kinder und Fachkräfte in einem Kreis auf dem Boden sitzen und das Essen sich meistens in einer Schüssel in der Mitte befindet. Die Essenssituation wird demnach als geschlossenes, gemeinschaftliches Ereignis, als „Gemeinschaftskonstituierung“ (Magyar-Haas und Kuhn 2011, S. 21) organisiert, bei dem alle Kinder teilnehmen müssen und Regeln und Normen im Vordergrund stehen. Die beobachteten Zwischenmahlzeiten lassen sich insofern als „geschlossene Einheit“ (a. a. O., S. 27) deuten, dass die Kinder den Kreis zum einen nicht einfach verlassen dürfen und dafür eine Legitimation brauchen, wie die Flasche aufzufüllen oder aufs WC zu gehen, zum anderen nicht so einfach in den Kreis kommen können, während die Fachkräfte den Kreis bzw. die Essenssituation ohne Ankündigung oder Legitimation verlassen (z. B. Sonja, eine Fachkraft, beim Znüni, die aufsteht und den Raum verlässt; BP_19.07.18). Auch innerhalb des Kreises ist der körperliche Handlungsspielraum der Kinder soweit eingeschränkt, dass körperliche Bewegungen nur innerhalb der vorgegebenen Kreisstruktur möglich sein sollen (körperliche Einschränkung durch Sitzenbleiben). Trotzdem zeigt sich Agency der Kinder in der Auslotung dieser Kreisgrenzen, wie im obigen Beispiel, in dem die drei Kinder sich mit Kissen hauen oder in einer weiteren Sequenz zwei Kinder aufstehen und sich auf die Bank setzen („Pascal erzählt weiter. Jan und Ben stehen auf und setzen sich hoch aufs Bänkli. Stefan sagt, sie sollen auf dem Boden sitzen“; BP_02.08.18).

Durch diese Anordnung der Körper werden gesellschaftliche Normen deutlich: Während des Essens solle kein Herumlaufen stattfinden. Die Essenszubereitung und -vorgabe erfolgt in den vorliegenden Beobachtungen durchgehend durch die Fachkräfte, und es scheinen Effizienz- und Kollektivorientierungen eine Rolle zu spielen. Die Kinder werden nicht gefragt, was sie essen und in welcher Form sie es essen wollen (ob z. B. die Banane als Ganzes), sondern es wird ihnen mundgerecht serviert. Die Portionierung des Essens bei den Zwischenmahlzeiten geht von den Fachkräften aus und ist – im Unterschied zum Frühstück – weniger kind-, sondern essens- und mengenorientiert. Es geht in erster Linie also nicht darum, ob die Kinder Hunger haben, sondern es wird etwas angeboten, und das soll gegessen oder zumindest probiert werden. Es wird in den Beobachtungen deutlich, dass je nach Essensware das Essen entweder von den Fachkräften verteilt oder für alle Kinder zugänglich in der Mitte des Kreises platziert wird. Trotz dieser Anordnung der Personen und des Essens in der Mitte des Kreises (die Platzierung aller ist zur Mitte des Kreises ausgerichtet) und des möglichen permanenten Zugangs der Kinder zum Essen wird das Essen an sich jedoch nach einem regelgeleiteten Ablauf vollzogen. Der Ablauf ist erstens durch inkorporierte Regeln gekennzeichnet: Die Kinder wissen, wie das Znüni und Zvieri abläuft, sie holen zum Beispiel eigenständig ihre Flaschen von der Fensterbank und setzen sich auf die Decke. Hier kann wiederum mit Bühler-Niederberger (2020) Komplizenschaft als eine Form von Agency herausgelesen werden. Dennoch werden zweitens manche Regeln in Form von Verbalisierungen expliziert:

Tom, eine Fachkraft, sagt: „So. Essen wir mal das, was wir da haben“ und stellt den Teller mit den Bananen- und Melonenstücken in die Mitte der Kinder. „Aber hört mal, ihr nehmt ein Stück und geht wieder zurück“. (BP_19.07.2018, Z. 68–70)

Zusätzlich zeigen sich in einigen Situationen drittens implizite Regeln und Normen, die anscheinend handlungsleitend für die Fachkräfte sind. Dies wird am Beispiel der folgenden Sequenz während des Znünis deutlich, in der die Kinder und Fachkräfte auf dem Boden im Kreis sitzen, in der Mitte steht eine Schale mit Bananenstücken:

Die Kinder reden durcheinander über Wasserspielzeug, als plötzlich Tom sagt: „Ella, du bist grad mega am hamstern.“ Ella hat in der einen Hand ein Bananenstück und langt mit der anderen Hand gerade wieder in die Schüssel, um sich noch ein Bananenstück zu nehmen, hält inne, dreht ihren Kopf nach links zu Tom und starrt ihn lange an. Tom schaut sie an und macht die Augen sehr gross. So bleiben die beiden ein paar Sekunden. Tom sagt leiser: „Einige haben wirklich weniger gegessen.“ Leonie und ein paar andere Kinder lachen. Tom sagt: „Pascal hat zum Beispiel nur zwei Stücke genommen.“ (Ich sehe, dass es noch einige Bananenstücke auf dem Teller hat.) Sonja fragt zu Pascal gewandt: „Möchtest du noch mehr, Pascal?“ Pascal schüttelt den Kopf. (Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf Mara und Natascha, die wieder ins Zimmer kommen und ich verliere Ella aus dem Blick.) (BP_19.07.2018, Z. 85–97)

Die Zurechtweisung von Ella durch Tom, sie würde „hamstern“ und mehr essen als andere, zeigt, dass die Kinder nicht frei sind in der Wahl, wieviel sie essen dürfen, sondern dass es eine durch die Erwachsenen kontrollierte Situation ist. Diese Zurechtweisung – die auch als moralischer Vorwurf gelesen werden könnte – zeigt, dass die Erwachsenen die Kinder in ihrem Essverhalten genau beobachten und bewerten. Dies lässt auf gesellschaftliche Normen schließen, welche beim Essen eine Rolle spielen und den Kindern in der Kita vermittelt werden sollen. Eine mögliche Lesart ist, dieses Beispiel als Gerechtigkeitsappell zu interpretieren. Dieser Apell soll Ella daran erinnern, dass es beim Essen um eine gerechte – und in diesem Falle egalitaristische – Verteilung für alle beteiligten Kinder geht. Egalitaristisch, weil hier daran appelliert wird, dass allen Kindern die gleiche Menge Essen zustehe und die Erwachsenen hier darauf achten, dass nicht die einen den anderen etwas wegessen. Dies zeigt sich in anderen Sequenzen auch daran, dass die Fachkräfte immer wieder Kinder fragen, ob sie noch etwas essen möchten oder ob sie genug hatten. Auch ein maßvoller Umgang mit der Ware Essen wird an der Zurechtweisung an Ella thematisch. Unter Hinzunahme weiterer Sequenzen zeigen sich dabei Normen wie Nachhaltigkeit und Vermeidung von Verschwendung. Da die Zwischenmahlzeiten, wie oben erwähnt, als gemeinschaftliches Ereignis organisiert sind, geht es hier weiterhin um Normen wie Rücksichtnahme in der Gruppe. Die Fachkräfte treten als Sorgende und Erziehende auf, die für eine gerechte Verteilung und für eine nachhaltige Verwendung knapper Güter sorgen. Dies ist jedoch keine essensspezifische Beobachtung, sondern wäre auch in anderen Situationen, wie etwa in Bastelsituationen vorstellbar. Das Besondere an dieser Situation ist jedoch die Kreisstruktur. Diese bietet neben der Kontrollfunktion im Sinne ständiger Sichtbarkeit der Kinder gleichwohl die Möglichkeit einer Bühne (vgl. Magyar-Haas und Kuhn 2011, S. 27). So wird Ella hier von Tom vor der gesamten Gruppe vorgeführt, eventuell beschämt und in ihrer Agency eingeschränkt, indem sie nicht so viel Essen nehmen darf, wie sie möchte. Tom argumentiert an dieser Stelle normorientiert in seiner Position als Sorgender und Erziehender, der hier den Vorwurf des „Hamsterns“ und damit einer ungerechten Handlung formuliert. Gleichwohl zeigt sich eine weitere Form von Agency: Neben dieser potenziell beschämenden Zurechtweisung können die Kinder die Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe erhalten und so einen Bühnenraum für sich (als Individuum in der Gruppe) herstellen. Dies zum Beispiel durch körperliche Auslotung der Grenzen (sich auf allen Vieren gegenüberstehen und anfauchen, mit der Trinkflasche einem anderen Kind auf den Kopf hauen, hin- und herwippen, aufstehen und auf die Bank setzen). Aber auch, indem Erzählungen generiert werden. Diese Herstellung von Erzählräumen ist in den vorliegenden Beobachtungen in vielen Essenssituationen zu sehen und zeigt sich unterschiedlich. Es entstehen zum Beispiel Erzählräume, welche von den Kindern ausgehen. Diese erzählen etwas, und die Gruppe hört zu. Sie setzen somit ihre eigenen Themen. Aber auch Erzählräume, die von den Fachkräften aus an einer kindlichen Kommunikation und den Themen der Kinder orientiert sind und sich so Kinder und Fachkräfte miteinander verbal austauschen. In der Analyse wurde weiterhin deutlich, dass die Essenssituationen als Austausch- und Organisationsgefäß für die Fachkräfte hergestellt und genutzt werden. Dies wird bei den Zwischenmahlzeiten an vielen Stellen sichtbar: Die Fachkräfte treffen zum Beispiel Absprachen bezüglich der Tages- und Wochenplanung (z. B. Dinge, die erledigt werden müssen, wie ein kaputter Feuermelder, die Ämtliverteilung, der Waldtag) und nutzen dafür parallel Artefakte wie eine Agenda oder ein iPad. Sie sprechen über (abwesende) Kinder und deren Alltags- und Familiensituationen (z. B. über Jans Situation als neuer Bruder) oder die anstehende Ferienplanung der Kinder. Die Kinder stellen im Rahmen dieses Miteinander-Organisierens der Fachkräfte und der dadurch entstehenden parallelen Erwachsenen-Kommunikationsebenen Erzähl- als auch Schweigeräume selber her. Auf diese Weise unterstützen sie die parallele Kommunikation der Fachkräfte und stellen für diese wiederum Handlungsräume her.

3.3 „Ich hab das nicht gern“ – Agency als Widerständigkeit beim Mittagessen

Natascha, die Fachkraft, ruft: „Hinsetzen“. Pascal steht noch neben dem Tisch und Natascha weist ihn auf seinen Platz hin. Pascal setzt sich auf den Stuhl. Dann ruft sie nochmal: „Hinsetzen. Wir rufen dann grad mal auf.“ Natascha geht zu den Essensschüsseln auf der Fensterbank und ruft, dass Pascal und Ben kommen können und sich schöpfen dürfen. (BP_24.07.2018, Z. 233–237)

Im Vergleich zu den vorherigen Essenssituationen scheint die Mittagessenssituation am stärksten strukturiert zu sein.

In Bezug auf die räumliche Strukturierung wird an der obigen Sequenz deutlich, dass das Mittagessen an Kindertischen und kleinen Stühlen stattfindet. Die Platzwahl der Kinder ist nicht, wie bei dem Frühstück oder den Zwischenmahlzeiten, frei, sondern es wird mit den Trinkflaschen vorher von den Fachkräften oder ausgewählten Kindern eine Sitzordnung festgelegt. Das Tischdecken übernehmen die Fachkräfte, und von ihnen ausgewählte Kinder helfen dabei. In einer Beobachtungssituation wird deutlich, dass Ella die Flaschen sehr bewusst und selbstbestimmt auf dem Tischen verteilt. So können die Kinder über das Zuordnen der Trinkflaschen Personengruppen an den einzelnen Tischen zusammenstellen und die Mittagssituation in Bezug auf die Interaktionen aktiv mitgestalten. Wie auch in den obigen Essenssituationen werden während des Mittagessens Schweige- und Erzählräume hergestellt, zusätzlich aber auch (Sprach‑)Spielräume. Zum Beispiel stellen die Kinder an einem Tisch ein Sprachspiel mit Bezug zu Essenswörtern oder Rechenspiele her, welche sie fast das gesamte Mittagessen hindurch aufrechterhalten, oder es finden körperlich aufeinander bezogene Spiele wie Ohrfeigen geben statt. Anders als bei den Zwischenmahlzeiten, die als Kreissituationen angelegt sind, gestalten sich diese Handlungsräume im Hinblick auf die Interaktion und Kommunikationsstruktur beim Mittagessen in Abhängigkeit der Sitzordnung bzw. wer mit wem am Tisch sitzt.

Bezüglich der zeitlichen Strukturierung ist beim Mittagessen eine geplante zeitliche Ordnung der Abläufe zu erkennen: Tische decken und Platzzuweisung – WC-Gang – Hinsetzen – Schöpfen – gemeinsames Singen des Mittagsblues – Essen – Zähne putzen – Mittagsruhe. Diese Ordnung der Abläufe wird durch die Fachkräfte strukturiert und aufrechterhalten, indem sie Aufforderungen an die Kinder weitergeben („Hinsetzen“; Aufrufen von immer zwei Kindern zum Schöpfen, Aufruf zum Teller versorgen und Aufruf zum Zähneputzen). Hier zeigt sich der Anspruch an das Mittagessen als gemeinschaftliches, geschlossenes Ritual, bei dem alle gemeinsam anfangen sollen zu essen und in dem bestimmte Regeln einzuhalten sind.

Die Kinder schöpfen sich das Essen selber: Nach dem Aufruf ihres Namens durch die Fachkraft stehen sie auf und gehen sich Essen schöpfen. Es wird so eine bestimmte Reihenfolge innerhalb der Kindergruppe, aber auch zwischen Kindern und Erwachsenen, bestimmt: Kinder schöpfen immer zuerst, dann sind die Erwachsenen an der Reihe. Es werden dabei kontrollierende und überwachende Aspekte sichtbar:

Pascal und Ben gehen mit ihren Tellern zu der Fensterbank und schöpfen sich der Reihe nach aus den Schüsseln, die auf Kinderhöhe stehen. Zunächst steht am Anfang eine Auflaufform mit Reis und Zucchini, mit Käse überbacken. Daneben steht eine Schüssel mit Reis, Erbsen und Möhren. Daneben steht eine Schüssel mit Salat. (…) Die Kinder schöpfen sich selber, Natascha steht hinter ihnen und rückt die Schüsseln nach vorne, sodass sie drankommen. Auch sagt sie ihnen, dass die Auflaufform heiss sei oder dass in der einen Schüssel Reis ohne Käse sei. Als Pascal wieder zu den Tischen geht, sagt Natascha: „Gut. Pascal, ist Salat drauf?“. Er bejaht und geht zu seinem Platz. Natascha: „Gut, dann kann der Daniel kommen und die Lena“. (BP_24.07.2018, Z. 241–252)

Im Gegensatz zu den Zwischenmahlzeiten, wo sich die Kinder (meistens) nehmen, was und wann sie wollen, wird hier von den Fachkräften vorgegeben, wann und was genau die Kinder auf ihren Teller schöpfen sollen. Hier lässt sich eine eingeschränkte Freiwilligkeit bzw. ein „Modus von gleichsam ‚ermöglichenden Einschränkungen‘ der kindlichen Akteur_innenposition“ (Neumann et al. 2019, S. 340) erkennen. Dies lässt sich nach Neumann et al. (2019) als Partizipation deuten, die dann auftritt, wenn es keinen beliebigen Entscheidungsspielraum gibt (vgl. S. 340): Die Kinder bewegen sich körperlich, sie stehen auf vom Tisch und schöpfen sich selber. Was genau aus der Auswahl und wieviel, entscheiden die Kinder zunächst selber. Die Fachkraft steht aber hinter den Kindern, hilft ihnen einerseits, kontrolliert aber auch andererseits, ob sie etwas Gesundes („ein bisschen grüne Sachen“ [Z. 257]) auf dem Teller haben.

Wie auch in den obigen Situationen tauchen hier Essensnormen auf, welche den Kindern vermittelt werden sollen: Beim Essen wird sitzengeblieben (deshalb vorher WC-Runde), es wird gemeinsam begonnen (mit Mittagsblues singen), und es wird geordnet geschöpft (Hinsetzen, Aufrufen). Anders als bei den anderen Mahlzeiten gilt beim Mittagessen jedoch, dass alles probiert werden soll, und es muss etwas gegessen werden; nichts essen ist keine Option. Hier lassen sich in einer Lesart die Fachkräfte als Sorgende und Erziehende lesen, die dafür sorgen, dass die Kinder über den langen Kitatag hinweg auch mit ausreichend Energie versorgt sind und daher beim Mittagessen etwas zu sich nehmen sollen. In einer anderen Lesart bestimmen zugleich die nicht anwesenden Eltern die Situation mit (wie auch z. B. bei Schlafenszeiten; vgl. dazu Schlattmeier 2021, S. 235). Die Fachkräfte sind in einer Auskunfts- und Rechenschaftsposition, da sie den Eltern berichten (müssen), was die Kinder am Tag in der Kita gegessen haben. Den so motivierten Appell zur Nahrungsaufnahme an die Kinder gestalten die Fachkräfte in den beobachteten Sequenzen unterschiedlich: Appell an Gesundheit, körperliche Nähe zum Essen herstellen (es auf dem Teller zu haben), unterschiedliche Praktiken wie Trennen von Essen (Erbsen und Reis) und mündliche Aufforderungen, die Kinder zum Probieren zu bringen.

In diesem Rahmen zeigt sich Agency der Kinder als Widerstandspraktik über die Äußerung des Nichtmögens, wie die folgende Sequenz darlegt:

Tom fragt: „Habt ihr also jetzt gar nichts gern vom Essen?“. Daniel und Matthias schütteln den Kopf. Tom: „Habt ihr noch Hunger?“. Daniel: „Ja“. Tom: „Fest? Soll ich noch schnell fragen, ob wir euch noch Brot oder so bringen können?“ (…) Tom fragt Florine, ob sie ihnen Brot geben sollen, sie essen nichts. Florine fragt: „Nicht mal den Reis?“. Sie geht zu Daniel auf die Seite des Tisches. Daniel und Matthias schauen nach oben, weil Florine steht und viel grösser ist als die Kinder, welche auf den kleinen Stühlen sitzen. Sie sind beide ruhig, sagen nichts. Florine sagt, dass sie sicher ist, dass Daniel Reis gern hat und sucht von seinem Teller aus dem Reis das Gemüse heraus, indem sie es mit der Gabel auf die Seite des Tellers schiebt. Matthias flüstert etwas. Im Gegensatz zu eben, beim Sprachspiel, ist er sehr leise, schaut schüchtern auf seinen Teller. Florine: „Tschuldigung?“. Matthias: „Reis hab ich nicht gern.“ Das wiederholt er mehrmals. (…) Florine sagt zu Tom, dass Daniel nun Reis isst und er Matthias schon ruhig Brot geben kann. Ihr fällt ein, dass es kein Brot mehr gibt, aber dass Tom nach etwas anderem schauen kann, zum Beispiel Microc. (…) Tom bringt Microc und gibt Matthias zwei Scheiben. Matthias knabbert an der Weizenscheibe, die er in der rechten Hand hält, in der linken Hand hält er noch eine Scheibe. (BP_24.07.2018, Z. 409–441)

Da es beim Essen unter anderem um Nahrungsaufnahme (in den Körper) geht, kann der Prozess von Seiten der Fachkräfte nicht bestimmt werden. Wenn die Kinder das Essen nicht zu sich nehmen, mit der Begründung, sie haben das Essen nicht gern, muss ihnen eine Alternative angeboten werden, wenn der oben beschriebenen Norm nachgegangen wird, es sollte etwas gegessen werden.

Hier zeigt sich die Agency der Kinder in Form von Widerstand gegenüber den oben genannten Essensnormen sowie den Apellen der Fachkräfte. Es kann gleichzeitig als Selbstbestimmung über den eigenen Körper, über Bedürfnisse und Wünsche gelesen werden.

Es zeigt sich, dass die Mittagessenssituationen von den oben genannten strukturierenden Aspekten gerahmt werden, diese also vor allem am Anfang und Ende der Situation (von den Fachkräften ausgehend) thematisch werden. Darin stellen die Kinder Handlungsräume her, welche sie als alternative Handlungsräume zum Essen nutzen.

4 Herstellung von alternativen Handlungsräumen – Agency von Kindern in Essenssituationen

Wie die obige Analyse zeigt, unterscheiden sich die unterschiedlichen Essenssituationen in einer Kita voneinander. So kommen beide „Logiken von ‚Offenheit‘ und ‚Geschlossenheit‘ (…) im einrichtungsinternen Vergleich“ (Tull 2021, S. 332) vor. Das Frühstück als freiwillige Angebotssituation, in der eine Individuumszentrierung im Vordergrund steht, wird wünsche- und bedürfnisorientiert inszeniert. Bei den Zwischenmahlzeiten, die als geschlossene, gemeinschaftliche Kreissituationen durchgeführt werden, wird eine Essens- sowie Regel- und Normorientierung deutlich. Das Mittagessen zeigt sich als am stärksten strukturierte und reglementierte Inszenierung.

Die hier eingenommene Perspektive auf das, was die Kinder in diesen unterschiedlichen Essenssituationen tun, unterstreicht die Relevanz der Agency von Kindern. Durch die ethnographische Vorgehensweise und die Perspektive auf Agency kann verdeutlicht werden, „wie jenseits der ‚offiziellen‘ bzw. intendierten pädagogischen Programmatik weitere Strukturierungen des Sozialen wirksam werden“ (Budde 2015, S. 10): Neben den sonst oft fokussierten Bedeutungen von Essenssituationen in Kitas, wie der reinen Nahrungsgabe, Nahrungsaufnahme, Bildung, dem Lernen oder der Gesundheits(erziehung), kommt so diesen Situationen auch die Bedeutung von zeitlichen und räumlichen Inseln im Kitaalltag zu. Unabhängig von den unterschiedlichen Inszenierungen der Essenssituationen wird zwar durchgehend eine – körperliche – Einschränkung der Kinder sichtbar. Gleichwohl stellen die Kinder in allen Essenssituationen eigene Handlungsräume her wie Schweige‑, Erzähl- oder (Sprach‑)Spielräume, oder sie schaffen sich eine Bühne in der Gruppe. Bei dieser Herstellung von Handlungsräumen spielt Komplizenschaft der Kinder eine Rolle, aber auch körperliche Praktiken zur Auslotung von Grenzen sowie Widerstandspraktiken (wie z. B. gegenüber Aufforderungen von Fachkräften) sind relevant. In Bezug auf die Aufnahme des Essens zeigt sich eine Widerstandspraktik der Kinder, indem sie äußern, dass sie etwas nicht essen mögen. Die Nahrungsaufnahme kann als etwas Spezifisches an Essenssituationen im Vergleich zu anderen Situationen in der Kita gesehen werden, da nur die Kinder selbst die Aufnahme des Essens vollziehen können. Diese Widerstandspraktik, welche sich durch die Äußerung des Nichtmögens oder auch der Herstellung von alternativen Handlungsräumen zum Essen wie Erzähl- oder Spielräumen zeigt, ließe sich mit weiteren Situationen in der Kita vergleichen und kontrastieren sowie dahingehend diskutieren, wie sich Agency von Kindern unterschiedlich zeigt. In Aufweck‑, Haarekämm- oder Zahnputzsituationen wurden beispielsweise unterschiedliche Praktiken herausgearbeitet, die sich in argumentative, körperlich-aktive oder körperlich-passive Widerstandspraktiken aufspannen lassen (vgl. Schlattmeier 2021, S. 236).

In Bezug auf die Fachkräfte stellen Essenssituationen besondere Care- und Erziehungsanforderungen dar. Geht es zum Beispiel um körperliche und essenzielle Bedürfnisse der Kinder wie essen oder schlafen, sind Fachkräfte „in einer Zwangslage im institutionellen Kontext, die sich unter anderem im Zusammenspiel von Kindeswillen, Elternaufträgen und Erfordernissen des kollektiven Alltags in der Kita“ (Schlattmeier 2021, S. 238) zeigt. Wie in der vorangegangenen Analyse dargestellt, sind die Essenssituationen erwachsenendominiert, und zugleich zeigt sich die Agency der Kinder vielschichtig. Sie stellen nicht nur Handlungsräume für sich her, bei denen die unterschiedlichen Essenssituationen Anlass und Rahmung darstellen, sondern es entstehen durch die Agency der Kinder auch Handlungsräume für die Fachkräfte, z. B. Austausch- und Organisationsräume. Dies verdeutlicht auf theoretisch-analytischer Ebene auch nochmals die Relevanz einer agencytheoretischen Perspektive, welche die vielfältige Agency von Kindern in unterschiedlichen Essensinszenierungen in Kitas sichtbar macht.