1 Einführung

Im Herbst 2015 kam der Abgasskandal ins Rollen. Die Kernbranche des „Modell Deutschland“ ist damit stark in Verruf geraten. Darüber hinaus mussten vor allem in den USA mehrere Milliarden Dollar an Strafzahlungen und Schadensersatz geleistet werden. Insgesamt belaufen sich die direkten Kosten des Abgasskandals allein für den VW-Konzern auf 28 Mrd. € (FAZ 2019). In Deutschland sind bereits infolge von Klagen der Deutschen Umwelthilfe (DUH) in mehreren Städten Fahrverbote für ältere Dieselmodelle verhängt worden. Die erhebliche Überschreitung der in der EU gültigen Luftschadstoffgrenzwerte in Verbindung mit der Zuspitzung klimapolitischer Konfliktlagen, die emblematisch für die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse stehen, könnte das Ende des Verbrennungsmotors in den nächsten Jahrzehnten einläuten. Zudem wandeln sich vor dem Hintergrund der Urbanisierung, Digitalisierung und Individualisierung die Mobilitätsbedürfnisse (Canzler und Knie 2016). Gleiches gilt für die globalen Konkurrenzverhältnisse, denn mit der verstärkten Elektrifizierung und dem Angebot neuer, digitaler Mobilitätsdienstleistungen bilden sich neben den traditionellen Autoherstellern, die seit über 100 Jahren auf die Optimierung der „Rennreiselimousine“ (Canzler und Knie 1994, S. 7) fokussiert sind, neue Konkurrenten heraus (Haas 2018a). Vor diesem Hintergrund und der überragenden Bedeutung der Automobilindustrie für das „Modell Deutschland“ stellt sich die Frage, inwiefern das in der Vergangenheit überaus stabile deutsche Kapitalismusmodell vor tief greifenden Umbrüchen steht (Röttger 2012).

Die in diesem Beitrag entwickelte These ist, dass die Beharrungskräfte der fossilistischen Automobilität groß sind, mittelfristig jedoch eine Transformation der (Auto‑)Mobilität anstehen wird, die zu einschneidenden Veränderungen des „Modell Deutschland“ führen könnte. Dies gilt vor allem im Hinblick auf das Lohnverhältnis, die Unternehmensformen und die internationale Einbettung des deutschen Kapitalismusmodells. Ob es damit auch zu einem Ende des vergleichsweise stabilen „Modell Deutschland“ kommen wird, ist hingegen keineswegs ausgemacht. So fand bereits in den 1990er-Jahren vor dem Hintergrund der Wende, einer voranschreitenden europäischen Integration und der Globalisierung der Weltwirtschaft eine intensive politikwissenschaftliche Debatte über die Zukunftsfähigkeit des „Modell Deutschland“ (Streeck 1995; Simonis 1998), bzw. des rheinischen Kapitalismus statt (Albert 1992). Trotz weitreichender Liberalisierungen und Deregulierungen etwa im Bereich des Arbeitsmarktes (Hassel und Schiller 2010) oder der Corporate Governance (Höpner 2007) in den 2000er-Jahren, erwies sich das „Modell Deutschland“ in der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise in seinen Grundzügen als überaus robust (Lux 2018). Der Beitrag zeigt, dass neben der in der Literatur stark fokussierten monetären Dimension des „Modell Deutschland“, auch die materiell-stoffliche Dimension elementar ist und gerade vor dem Hintergrund der anstehenden Transformationen in der Automobilindustrie von erheblicher Bedeutung sein wird (Fuchs und Reckordt 2016). Damit sind auch neue Herausforderungen für die politikwissenschaftliche Forschung verbunden.

Der Artikel ist folgendermaßen aufgebaut: Im folgenden zweiten Teil werde ich die Strukturmerkmale und Entwicklungsdynamiken des „Modell Deutschland“ aus einer regulationstheoretischen Perspektive herausarbeiten und das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Wandel beleuchten. Im dritten Teil wird die Bedeutung der Automobilindustrie für das „Modell Deutschland“ aufgezeigt und auf die Aspekte des Lohnverhältnisses, der Formen der Konkurrenz und der internationalen Einbettung fokussiert. Darauf aufbauend werden im vierten Teil die globalen Transformationsdynamiken im Bereich der Automobilität analysiert und dabei drei wesentliche Treiber identifiziert: die voranschreitende Digitalisierung, die Intensivierung und Rekonfiguration globaler Konkurrenzverhältnisse und die zunehmende und neuerliche Politisierung des Autos. Daran anknüpfend werden die Strategien der deutschen Automobilhersteller analysiert. Im abschließenden Fazit werden die Implikationen und Zukunftsperspektiven für das „Modell Deutschland“ eruiert und fünf Ansatzpunkte für zukünftige Forschungsarbeiten definiert.

Die Empirie des Beitrags basiert neben der Analyse wissenschaftlicher Quellen, Zeitungsbeiträgen, Pressemitteilungen und Positionspapieren auf einundzwanzig Expert*inneninterviews, die in den Jahren 2018 und 2019 geführt wurden. Diese ermöglichen es, ein fundiertes Verständnis der strategischen Praxen und Interaktionsmuster im verkehrspolitischen Kontext zu generieren.

2 Das „Modell Deutschland“ – Strukturmerkmale und Entwicklungsperspektiven

Der Modell-Deutschland-Ansatz wurde wesentlich von der Konstanzer Schule in den späten 1970er-Jahren geprägt. Sie zielte darauf ab, eine polit-ökonomisch fundierte Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation in Deutschland zu generieren und dabei sowohl der internationalen Einbettung als auch der spezifischen und historisch gewachsenen Ausprägungsformen des (west-)deutschen Gesellschaftszusammenhangs gerecht zu werden:

Die Grundidee des Modell-Deutschland-Ansatzes besteht in der Annahme, daß die Entwicklung (ökonomisch, sozial, politisch) nationaler Gesellschaften – sowohl die Erhaltung (Reproduktion) als auch der Wandel ihres historisch entstandenen Strukturmusters – nur im Rahmen der historischen Entfaltung und der Dynamik des kapitalistischen Weltsystems erklärt werden kann. Staatlich verfasste Gesellschaften verfügen freilich über umfangreiche, historisch gewachsene Besonderheiten: diese „Trivialität“ steht nicht zur Debatte, aber welche dieser Besonderheiten Bedeutung erlangen und sich gut verwerten lassen, ist in hohem Maße abhängig von dem externen Umfeld, dem internationalen System. Die jeweils besondere Art und Weise der Integration in das internationale System wird daher zum entscheidenden Ausgangspunkt zur Untersuchung der historischen Entwicklungspfade einzelner staatlich verfaßter Gesellschaften (Simonis 1998, S. 266).

Ein zentraler theoretischer Bezugspunkt für die Entwicklung des Modell-Deutschland-Ansatzes war dabei die in Frankreich entwickelte Regulationstheorie (Simonis 1998, S. 267–270). Die Regulationstheorie geht davon aus, dass die kapitalistische Produktionsweise immanent krisenanfällig ist. Vor dem Hintergrund der relativ großen Stabilität und Prosperität in der fordistischen Entwicklungskonstellation, dem sogenannten goldenen Zeitalter des Kapitalismus (Hobsbawm 1994), gingen die französischen Regulationstheoretiker der Frage nach den zentralen Bestimmungsmerkmalen des Fordismus nach. Dabei fokussierten sie auf einer intermediären Analyseebene auf die Entwicklung von Kategorien, um historisch spezifische Gesellschaftsformationen zu analysieren und deren Einbettung in Weltmarktzusammenhänge fassen zu können (Sablowski 2013). Gleichwohl legte zumindest die Pariser Schule der Regulationstheorie den Schwerpunkt der Analyse vorwiegend auf die nationale Maßstabsebene. Es geht der Regulationstheorie darum, den Zusammenhang von Akkumulation und Regulation zu entschlüsseln. Denn um die immanente Krisenanfälligkeit des Akkumulationsprozesses abzumildern, bedarf es einer spezifischen politischen Einhegung, die zahlreiche kompromissvermittelte, institutionelle Arrangements umfasst, um die Akkumulationsdynamik zu stabilisieren. Dieser Zusammenhang wird mit den Begriffen des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise gefasst (Aglietta 1979; Lipietz 1985). Für die Bestimmung der Regulationsweise werden zumeist fünf strukturelle bzw. institutionelle Formen definiert, die für ein stabiles Akkumulationsregime konstitutiv sind. Dazu gehören neben dem Lohn- und dem Geldverhältnis, die Unternehmensformen (damit wird sowohl auf die interne Organisation von Unternehmen als auch die Konkurrenz- und Kooperationsformen zwischen den Unternehmen verwiesen), der Staat und die internationalen Regime (Jessop 2007, S. 238).

Dem Modell-Deutschland-Ansatz zufolge hat sich in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert ein Spezialisierungsprofil herausgebildet, das sich über die beiden Weltkriege hinweg weiter ausdifferenziert hat. Der Kern des „Modell Deutschland“ besteht nach Georg Simonis (1998, S. 260–265) aus vier Kernelementen: Erstens ist das deutsche Akkumulationsregime sehr stark auf den vorwiegend industriellen Exportsektor ausgerichtet. Entsprechend orientieren die wesentlichen wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Arrangements auf die stetige Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit. Zum Zweiten kommt dem Binnenmarkt im „Modell Deutschland“ nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Vielmehr soll über die Konkurrenz auf den Binnenmärkten die Wettbewerbsfähigkeit des Exportsektors gestärkt werden. Drittens ist für den Erfolg des Exportsektors eine gut ausgebildete Facharbeiterschaft zentral, die über sozialpartnerschaftliche Arrangements in das deutsche Exportmodell integriert ist. Viertens spielt der Staat eine bedeutende Rolle im „Modell Deutschland“, etwa indem durch handelspolitische Liberalisierungen neue Exportmärkte geöffnet werden. Insbesondere dieser letzte Aspekt verweist darauf, dass das „Modell Deutschland“ immer ganz wesentlich von der internationalen Einbettung abhängig gewesen ist. Für die fordistische Entwicklungskonstellation etwa spricht Gilbert Ziebura von einer

fast optimalen Kongruenz von externen und internen Bestimmungsfaktoren. Der Pax Americana waren nicht nur stabile sicherheitspolitische Rahmenbedingungen zu verdanken, sondern auch der Weg zum fordistischen Wachstumsmodell und dessen Integration in die Arbeitsteilung der kapitalistischen Weltökonomie, vornehmlich im atlantisch-westeuropäischen Raum. Dieser Tatbestand erwies sich als umso glücklicher, da er die volle Entfaltung historisch gewachsener ökonomischer Strukturen (v. a. das industrielle Spezialisierungsprofil) erlaubte, die durch die Organisation gesellschaftlicher Machtverhältnisse (v. a. die Beziehung Kapital-Arbeit als Kern der Sozialen Marktwirtschaft) sowie das politische System wirkungsvoll unterstützt wurden (Ziebura 1998, S. 21).

Gleichwohl zeigten sich im Zuge der Krisen der 1970er-Jahre deutlich Risse im „Modell Deutschland“. Die Erosion des Bretton-Woods-Systems ging in Deutschland einher mit steigenden Inflationsraten. Auch die Erwerbslosigkeit nahm sehr stark zu – im Jahr 1975 überschritt die Zahl der Erwerbslosen die Marke von einer Million. Acht Jahre später wurden bereits zwei Millionen Erwerbslose gezählt. In Verbindung mit betrieblichen Reorganisationsprozessen, dem Übergang von tayloristischen zu flexibleren Produktionsformen und der Auslagerung von Produktionsprozessen schwand die Macht der Gewerkschaften. Die soziale Kohäsion des „Modell Deutschland“ ging zurück (Streeck 2016).

Allerdings setzte in den späten 1980er-Jahren eine neuerliche Prosperitätsphase ein. Insofern waren die Bedingungen für die Wiedervereinigung und den „Aufbau Ost“ gut. Die rasche Integration der ostdeutschen Ökonomie und Gesellschaft in das westdeutsche Modell ging jedoch mit einer deutlichen Zuspitzung sozialer und räumlicher Ungleichheiten einher. Während über die Treuhandanstalt die ostdeutschen Unternehmen zumeist an westdeutsche Unternehmen verkauft wurden, folgten eine massive Deindustrialisierung im Osten und eine Abwanderung vorwiegend jüngerer Arbeitskräfte. Trotz der Abwanderung stieg die Erwerbslosenquote in den neuen Bundesländern zeitweise auf über 20 % an. Auch die öffentliche Verschuldung wurde massiv ausgeweitet, die Gewerkschaften übten sich in Lohnzurückhaltung und akzeptierten in Tarifverträgen unterschiedliche Abschlüsse in Ost und West – die neuen Bundesländer wurden damit eine Art Niedriglohnzone (Czada 1998; Esser 1998).

Vor dem Hintergrund dieser Umbrüche und sich intensivierenden Globalisierungsprozessen stellte sich in den 1990er-Jahren die Frage der Zukunftsfähigkeit des „Modell Deutschland“. Während Gerd Junne (1998) das Ende der Ultrastabilität des „Modell Deutschland“ prognostizierte, ging auch Wolfgang Streeck (1995) davon aus, dass sich das Modell erschöpft habe und sich dem liberalen anglo-amerikanischen Modell angleichen werde. Letzteres sollte sich vor allem während der rot-grünen Bundesregierung zwischen 1998 und 2005 zumindest teilweise bewahrheiten. Denn unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders wurden die Regulationsweise des „Modell Deutschland“ stark verändert: Die Unternehmenssteuersätze wurden deutlich gesenkt, der Kapitalverkehr weiter liberalisiert und mit den Hartz-Reformen die Arbeitsmärkte stark dereguliert und der Übergang von einem umlagefinanzierten hin zu einem privaten Rentensystem eingeleitet. Die Deregulierung der Arbeitsmärkte führte zu einer starken Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Höpner 2007). Zudem wurde über die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen die Entflechtung von Finanz- und Industriekapitel forciert und damit der Auflösung der „Deutschland-AG“ den Weg bereitet (Höpner und Krempel 2004). Insofern zeigt sich, dass im Rahmen des „Modell Deutschland“ durchaus eine bemerkenswerte Reform- und Anpassungsfähigkeit vorhanden ist bzw. es Spielraum für „Politikwenden“ (Czada 2019) gibt, ohne dass die wesentlichen von Simonis benannten Strukturmerkmale des „Modell Deutschland“ dadurch infrage gestellt werden.

Zwar nahm durch die Reformen der 2000er-Jahre die soziale Kohäsion des „Modell Deutschland“ weiter ab, allerdings erwies sich das deutsche Akkumulationsregime in der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, die sich in Europa spezifisch ausprägte, als überaus robust. Nach einem Einbruch des BIPs um 5,1 % im Jahr 2009, erreichte die deutsche Wirtschaftsleistung bereits im Jahr 2011 wieder das Vorkrisenniveau (Bieling et al. 2014). Die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, die wesentlich getragen werden durch den industriellen Bereich, erreichten neue Rekorde. Im Jahr 2018 betrug der Leistungsbilanzüberschuss 260 Mrd. € oder 7,4 % des BIPs. Dabei profitiert die deutsche Industrie sehr stark von der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und einem in Bezug auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands stark unterbewerteten Euro. Während die Staaten an der europäischen Peripherie unter dem Austeritätsdiktat, das wesentlich durch die deutsche Regierung und entsprechende Interessenverbände forciert wurde, und diversen Rettungspaketen in ihren wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten stark eingeschränkt werden, profitiert insbesondere die deutsche Exportwirtschaft vom europäischen Krisenkonstitutionalismus (Bieling 2013; Jessop 2014; Lux 2018).

Gleichwohl stellt sich vor dem Hintergrund der inneren und äußeren Erosionstendenzen des liberalen Kapitalismus erneut die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des „Modell Deutschland“. Die inneren Erosionstendenzen beziehen sich auf die Herausforderung der liberalen Demokratie durch starke rechtspopulistische und in Teilen rechtsextreme Parteien in nahezu allen Ländern der westlichen Hemisphäre und darüber hinaus. Die äußeren Erosionstendenzen verweisen auf die damit verbundene Kritik an der Globalisierungs- und Liberalisierungsagenda, die am prominentesten von US-Präsident Donald Trump vorgebracht wird und in diversen Handelsstreitigkeiten mündet (Bieling 2019). Zudem wird über die digitalisierungsinduzierten Veränderungen und die Gefahr massiver Arbeitsplatzverluste diskutiert, die sich besonders in der Kernbranche des „Modell Deutschland“, der Automobilindustrie, auswirken könnten (Burmeister 2019). Die Debatten um die Zukunft der Mobilität werfen darüber hinaus ein Schlaglicht auf eine in der Literatur zum Modell-Deutschland-Ansatz unterbelichteten Aspekt, nämlich die materiell-stoffliche Dimension des Wirtschaftens (Altvater 2010), die sich im Hinblick auf Deutschland in einer extrem stark ausgeprägten Importabhängigkeit im Hinblick auf metallische Rohstoffe zeigt. Die internationale Einbettung des „Modell Deutschland“ verweist somit nicht nur auf die Notwendigkeit, Absatzmärkte für die Exportprodukte sicherzustellen, sondern auch die Bedingungen für den Import von Rohstoffen zu sichern. Während sich Deutschland im Hinblick auf mineralische Rohstoffe zu einem hohen Grad selbst versorgen kann, ergibt sich bei den Energierohstoffen ein gemischtes Bild. Der Braunkohlebedarf wird zu 100 % aus heimischen Vorkommen gedeckt. Steinkohle wird inzwischen zu 100 % importiert. Die Eigendeckung des Erdgases und Ölbedarfs ist auch nur marginal. Bei metallischen Rohstoffen, die für die Automobilproduktion entscheidend sind, besteht in Deutschland eine nahezu komplette Importabhängigkeit (Groneweg und Reckordt 2020, S. 255).

Diese Thematik verweist auf einen Aspekt, der in der Regulationstheorie kontrovers diskutiert wird – ob die ökologische Restriktion des Wirtschaftens eine eigene strukturelle Form darstellt oder quer zu den anderen Formen besteht (Becker und Raza 2000; Raza 2003; Görg 2003). Unstrittig ist jedoch, dass mit der Entfaltung der Produktivkraftentwicklung und dazu korrespondierenden Formen des Massenkonsums in der Phase des Fordismus eine massive Zuspitzung der sozial-ökologischen Problemlagen einherging. Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) konstatieren eine Universalisierung der imperialen Lebensweise im Globalen Norden, da auch weite Teile der Arbeiterklasse, wenn auch auf subalterne Weise, eingebunden waren in eine Form der Produktion und Konsumtion, die elementar auf der Aneignung von Arbeitskraft und Natur im Globalen Süden basierte. Das zeigt sich auch und gerade bei Automobilen. Diese bestehen zu ca. 70 % aus Stahl, Eisen und Aluminium (KFZwirtschaft 2004). Die deutsche Automobilindustrie ist im Hinblick auf metallische Rohstoffe nahezu vollständig importabhängig (Müller 2013). Dieser Aspekt wird nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zunehmenden Elektrifizierung und Digitalisierung des Automobils verstärkt adressiert (Groneweg und Weis 2019; Brunnengräber und Haas 2018). Im Folgenden soll das Automobil bzw. die Automobilindustrie vor dem Hintergrund der oben skizzierten Spannungsverhältnisse im „Modell Deutschland“ verortet werden.

3 Die Automobilindustrie im „Modell Deutschland“

Bereits im Jahr 1908 wurde in der Frankfurter Zeitung die potenzielle Bedeutung dieses Industriezweigs für die deutsche Ökonomie erkannt:

Die junge Automobilindustrie […] verträgt heute noch keinerlei Experimente, geschweige denn irgendwelche Kraftproben. Gerade weil sie den Keim künftiger Größe in sich birgt, sollte sie von Staats wegen gehütet und geschützt werden, da sie unzweifelhaft berufen ist, im volkswirtschaftlichen Leben unseres Volkes eine bedeutende Rolle zu spielen […] Sie steht noch nicht auf jener geordneten Basis, die notwendig ist, um in der Welt als erfolgreicher Konkurrent auftreten zu können. Sie muß erst im eigenen Lande Wurzeln schlagen, es muß ihr das eigene Land die Bedingungen der Rentabilität bieten, damit sie sich vom sichern, heimatlichen Herde aus über andere Märkte ausbreiten kann (zit. nach Sachs 1984, S. 39).

Gleichwohl sollte es noch einige Jahrzehnte dauern, bis die Automobilindustrie zur Leitbranche des „Modell Deutschland“ heranwachsen sollte. Denn anders als in den USA, als mit der Fließbandproduktion des Ford Modell T und der damit zusammenhängenden Transformation der Arbeitsbeziehungen die Geburtsstunde für den Fordismus und die automobile Durchdringung der Gesellschaften gelegt wurde, vollzog sich die Massenmotorisierung in Deutschland erst im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders. Nicht nur in den USA, auch in Frankreich war die Motorisierungsrate in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich höher als in Deutschland. Insofern handelt es bei Deutschland, dem Land in dem das Automobil erfunden wurde, um eine „verspätete Autonation“ (Canzler 2016, S. 62; Hervorhebung im Original).

Mit der in den 1950er-Jahren einsetzenden Massenmotorisierung und dem bestehenden industriellen Spezialisierungsprofil, das sich als günstig für die Entwicklung einer Automobilindustrie mit immer ausdifferenzierteren Zuliefererbetrieben erwies, gelang es, die Branche sukzessive zum zentralen Eckpfeiler des „Modell Deutschland“ zu machen. Über den ökonomischen Aspekt hinaus hatte das Automobil und die Automobilindustrie für Deutschland eine ganz wesentliche identitätsstiftende Funktion:

For the recuperating West German society and its people, owning a car was synonymous with territorial unity (through the sophisticated highway system), societal access (through increased spatial mobility), economic self-esteem (through conspicuous consumption) and national pride (through the identification with West Germany as a global economic force) (Wentland 2017, S. 144).

Während der im Jahr 1937 gegründete Volkswagen-Konzern zu einem der führenden Massenhersteller aufstieg und das gleiche Segment bediente wie die Adam Opel AG, haben die deutschen Automobilhersteller insbesondere im Premium-Segment mit den Marken Daimler-Benz, BMW, Audi und Porsche eine herausragende Position in den Weltmärkten.

Insgesamt wurden von deutschen Herstellern im Jahr 2019 mehr als 16 Mio. Autos produziert, 4,66 Mio. davon in Deutschland. Der Umsatz der deutschen Automobilindustrie lag ca. bei 436 Mrd. €. Die Zahl der Beschäftigten betrug in der gesamten Automobilindustrie (Endhersteller und Zulieferbetriebe) 832.841. Während die Auslandsproduktion an Bedeutung gewinnt, werden in Deutschland vorwiegend Autos im hochpreisigen Segment gefertigt. Die Exportquote der in Deutschland produzierten Autos lag im Jahr 2019 bei 74,8 % – insofern zeigt sich auch hier die starke Exportorientierung des „Modell Deutschland“ (VDA 2020). Rechnet man die Beschäftigten in Tankstellen, Autohäusern oder Autowerkstätten sowie die anderen unmittelbar mit dem Automobil verknüpften Bereiche hinzu, steigt die Zahl der Arbeitsplätze auf ca. 1,8 Mio. an (Seiwert und Reccius 2017).

Die Automobilindustrie ist für die Regulierung des Lohnverhältnisses im „Modell Deutschland“ von großer Bedeutung. Die Branche zeichnet sich durch einen extrem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aus. Circa ein Drittel der Mitgliedsbeiträge der IG Metall kommt aus der Automobilindustrie bzw. den Automobilzulieferern. Während die Kernbelegschaften über tarifvertragliche Bestimmungen mit relativ guten Arbeitsbedingungen und ein vergleichsweise hohes Lohnniveau verfügen, tritt neben den Kernbelegschaften eine wachsende Zahl prekär Beschäftigter. Es lässt sich feststellen, „dass Leiharbeit und Werkverträge enorm ausgeweitet wurden, die Spaltungen zwischen Kern- und Randbelegschaften zunehmen“ (Blöcker 2015, S. 537).

Dennoch gilt die deutsche Automobilindustrie als ein wichtiger Garant für die Stabilität des „Modell Deutschland“ und den damit verbundenen Prosperitätsversprechen.

Das sehr hohe Beschäftigungsniveau konnte durch eine stetige Erweiterung der Produktion und immer hochwertigere Modelle gehalten werden, trotz der zunehmenden Verlagerung von Produktionsschritten vorwiegend nach Osteuropa und der voranschreitenden Automatisierung (Krzywdzinski 2018). Die Endmontage sowie Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten, die hochqualifizierte Arbeitskräfte erfordern, sind nach wie vor zu einem bedeutenden Teil in Deutschland angesiedelt (Burmeister 2019). Insofern findet einerseits eine starke Transnationalisierung der Wertschöpfung statt, andererseits befindet sich Deutschland mit seinen Premiumherstellern und der Ansiedlung von Produktionsstätten und Forschungs- und Entwicklungsabteilungen an der Spitze der internationalen Arbeitsteilung im Automobilbereich (Blöcker 2015, S. 535–536).

Gleichwohl weisen die Debatten um die Zukunftsperspektiven der Automobilindustrie, ähnlich wie die Analysen des „Modell Deutschland“, häufig allein auf die monetären Aspekte hin. Die materiell-stoffliche Dimension des Automobils wird meist wenig beachtet oder nur unter dem Primat der Versorgungssicherheit analysiert (Agora Verkehrswende 2017). Insofern zeigen die Debatten um die Zukunft der Automobilindustrie eine ähnliche Blindstelle auf wie diejenigen über das deutsche Kapitalismusmodell. Der Umstieg auf batterieelektrische und zunehmend digital vernetzte Fahrzeuge würde den deutschen Rohstoffimportbedarf qualitativ verändern und gerade im Bereich metallischer Rohstoffe stark erhöhen. Vor dem Hintergrund der im globalen Maßstab deutlich wachsenden Nachfrage würde dies zu einer Verschärfung sozial-ökologischer Problemlagen in den Ländern der Rohstoffextraktion im Globalen Süden führen (Brunnengräber und Haas 2018). Darüber hinaus ist mit wachsenden Konflikten um die Rohstoffe zu rechnen (Interview IG Metall).

Zwar ist unstrittig, dass der Verbrennungsmotor keine langfristige Perspektive hat, eine Elektrifizierung der Automobilität könnte sich allerdings auch zumindest mittelfristig als Sackgasse vor dem Hintergrund der mit dem Rohstoffabbau verbundenen sozial-ökologischen Problemlagen erweisen. Insofern steht die Automobilindustrie als Leitindustrie des „Modell Deutschland“ vor einer doppelten Transformationsherausforderung. In monetärer Hinsicht ist die mit dem Automobil verbundene Wertschöpfung vor dem Hintergrund neuer Konkurrenzverhältnisse unsicher (Burmeister 2019). In materiell-stofflicher Hinsicht wird neben einer Energiewende auch eine Ressourcenwende mit deutlich niedrigerem Verbrauch eingefordert, die weit mehr implizieren würde als eine Erneuerung des Antriebsstrangs (Groneweg und Weis 2019; Groneweg et al. 2017). Insofern stellt sich vor dem Hintergrund der Umbrüche der Automobilindustrie die Frage nach dem Verhältnis von Akkumulation und Regulation im „Modell Deutschland“ neu – insbesondere im Hinblick auf die Gestaltung des Lohnverhältnisses, der Formen der Konkurrenz und der internationalen Regime.

4 Die Transformation der Mobilität und der Autoindustrie

Der Wandel der Mobilität ist zugleich vermittelt mit grundlegenderen ökonomischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen. Dafür sind drei Dynamiken zentral: die Digitalisierung, der Wandel globaler Konkurrenzverhältnisse und die zunehmende Politisierung des Autos und des Klimawandels. Vor diesem Hintergrund ergeben sich diverse Herausforderungen für die Automobilindustrie, die sich auch im Hinblick auf das Lohnverhältnis, die Unternehmensformen und die materiell-stoffliche Dimension des Autos niederschlagen.

Erstens birgt die Digitalisierung das Potenzial in sich, die Mobilität der Zukunft radikal anders zu gestalten und damit auch das Automobil und die damit verknüpften sozialen Verhältnisse zu rekonfigurieren. Andreas Knie und Weert Canzler (2016) malen eine „digitale Mobilitätsrevolution“ aus. Den Kern der digitalen Mobilitätsrevolution bildet der Übergang von einer autofixierten Mobilität hin zu einem Mobilitätsregime, in dem multimodale Verkehrspraxen dominieren. Das Auto ist dabei ein Baustein neben anderen Verkehrsmitteln, die mithilfe digitaler Kommunikationstechnologien optimal aufeinander abgestimmt werden können. Die Autos wandeln sich von einem stark kulturell aufgeladenen Statussymbol zu einem Gebrauchsgegenstand, der vorwiegend geteilt sein wird. Dieses Szenario deutet an, dass die Digitalisierung das Mobilitätsverhalten zumindest in städtischen Räumen bereits beeinflusst und in Zukunft noch stärker beeinträchtigen wird. Gleichwohl ist es keineswegs ausgemacht, wie stark sich die Mobilität in Zukunft wandeln wird und welche Rolle dem Automobil darin zukommen wird (Haas und Jürgens 2020). Es spricht jedoch viel dafür, dass auch vor dem Hintergrund der voranschreitenden Entwicklung des autonomen Fahrens die klassische Form der Automobilität an Bedeutung verlieren wird (Machnig 2017; Stickler 2020). Darüber hinaus erfolgt nicht nur eine digitalisierungsvermittelte Veränderung der Mobilität, die Digitalisierung verändert auch die industriellen Produktionsverfahren. So argumentiert etwa Burmeister (2019), dass die Automobilkonzerne vor allem in ihren Verwaltungen durch die Digitalisierung ein sehr großes Rationalisierungspotenzial sehen, wohingegen in der Produktion vor allem über Verlagerungen und Auslagerungen die Kosten gesenkt werden sollen.

Zweitens geht mit den digitalisierungsvermittelten Effekten eine Transformation der globalen Konkurrenzverhältnisse im Automobilsektor einher. Seit der Entwicklung des Automobils und der Durchsetzung des Verbrennungsmotors zeichnet sich die Branche durch eine sehr starke Pfadabhängigkeit aus (Canzler und Knie 1994). Es lassen sich drei Produktionsstufen unterscheiden: die Ressourcenextraktion als Basis der industriellen Produktion (Tier 1), die Weiterverarbeitung der Rohstoffe und die Herstellung einzelner Komponenten (Tier 2) und die Zusammensetzung des Automobils (Tier 3). Dabei kommt den Automobilherstellern (Original Equipment Manufacturers, OEMs) häufig eine dominante Position im Produktionsprozess zu (Sommer 2017, S. 118–122; Blöcker 2015, S. 536). Diese Stellung der OEMs wird jedoch durch zwei Entwicklungen gefährdet: Erstens ermöglicht, wie bereits oben skizziert, die Digitalisierung, Mobilität neu zu gestalten. Entsprechend wird sich in Zukunft der Anteil der Wertschöpfung, die unmittelbar mit dem industriellen Produktionsprozess verbunden ist, verringern. An Bedeutung hinzugewinnen werden hingegen Mobilitätsdienstleistungen und IT-Anwendungen (Machnig 2017). Dies wird unter dem Label „Mobility as a Service“ (MaaS) verhandelt. Entsprechend drängen auch zunehmend US-amerikanische und chinesische IT-Konzerne wie Google, Apple oder Alibaba in den Mobilitätsmarkt (Bauriedl 2020). Besonders chinesische Konzerne können vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklungen in ihrem Heimatmarkt mit einem hohen Innovationstempo aufwarten (Bormann et al. 2018; Interview BMU). Zweitens gefährdet der Wechsel des Antriebsstrangs vom Verbrennungs- zum Elektromotor zahlreiche Zuliefererbetriebe und Standorte der OEMs. Die Batteriezellen werden bisher fast ausschließlich in Asien gefertigt (Senz 2020). In Deutschland und Europa existiert noch keine Produktionsstätte, wenngleich CATL am Erfurter Kreuz und VW am Standort Salzgitter die Fertigung von Batteriezellen angekündigt haben. Darüber hinaus gibt es diverse Konsortien und Fördertöpfe, die im deutschen und dem europäischen Kontext diskutiert werden (Brunnengräber 2020; Interview VW). Gleichwohl sorgen sowohl die voranschreitende Digitalisierung als auch die Elektrifizierung des Antriebsstrangs für eine Ausweitung und Veränderung des Rohstoffbedarfs (Groneweg und Reckordt 2020). Diese Entwicklungen stellen die deutsche Automobilindustrie vor große Herausforderungen. Der damalige Daimler-Chef Dieter Zetsche etwa ließ im Frühjahr 2019 verlautbaren, dass es kein Naturgesetz sei, dass Daimler ewig bestehe (Burmeister 2019, S. 283).

Drittens bildet neben der Digitalisierung und der Veränderung der globalen Konkurrenzverhältnisse die zunehmende Politisierung des Automobils, die auch durch die Zuspitzung des Klimawandels und ausbleibender Emissionsreduktionen im Verkehrsbereich begünstigt wird, einen wichtigen Parameter des Wandels. Canzler (2016, S. 67–79) unterscheidet historisch drei Wellen der Autokritik. Es gibt diverse Indizien dafür, dass sich momentan die Konflikte rund um die Automobilität zu einer vierten Welle zuspitzen. Ein Treiber dafür ist der im Jahr 2015 aufgedeckte Dieselskandal, in dessen Zentrum der VW-Konzern steht, der jedoch die gesamte Branche betrifft. Die mit den massiven Feinstaub- und Stickoxidgrenzwertüberschreitungen im Realbetrieb einhergehenden gesundheitlichen Gefahren wurden in den letzten Jahren verstärkt skandalisiert. Die Automobilhersteller sehen sich massiven Imageverlusten ausgesetzt (Kröger 2018) und über die juristische Schiene macht vor allem die DUH Druck auf die Kommunen, die verantwortlich für die Einhaltung der Luftreinhaltegrenzwerte sind. Zahlreiche Kommunen sind inzwischen dazu gezwungen, Fahrverbote für ältere Dieselmodelle zu verhängen. Zudem erhöhen Initiativen für bessere Radwege oder einen beitragsfreien öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) den Druck, die Alternativen zum Automobil zu stärken und das Leitbild der autogerechten Stadt aufzubrechen (von Schneidemesser et al. 2018). Darüber hinaus besteht in Anbetracht der bis zum Ausbruch der Corona-Krise stagnierenden Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor eine zunehmende Notwendigkeit, zumindest eine Antriebswende einzuleiten (Manderscheid 2020). Selbiges Unterfangen wurde bereits im Jahr 2009 halbherzig mit der Einrichtung der Nationalen Plattform Elektromobilität (NPE) von der damaligen Bundesregierung angestoßen. Während die Plattform wichtige regulatorische Grundlagen erarbeiten konnte, wird das ursprüngliche Ziel, im Jahr 2020 eine Million E‑Autos in Deutschland zugelassen zu haben, deutlich verfehlt werden (Interviews BMU; NPE).

Im Frühjahr 2019 hat die Arbeitsgruppe 1 der neuen Plattform zur Zukunft der Mobilität, die von der deutschen Bundesregierung im Anschluss an die NPE eingerichtet wurde, einen Zwischenbericht zu möglichen Instrumenten für eine Dekarbonisierung des Verkehrs vorgelegt. Dessen ungeachtet besteht, so die Einschätzung mehrerer Interviewpartner*innen (BMU; BUND; DUH; NABU), das verkehrspolitische Dilemma nicht darin, dass es einen Mangel an Expertise und Ideen für ein nachhaltiges Verkehrssystem gäbe, sondern an deren Nichtumsetzung. Gleichwohl scheinen sich Verschiebungen abzuzeichnen. So wurde auf europäischer Ebene vereinbart, die Flottengrenzwerte bis zum Jahr 2030 um 37,5 % abzusenken (Haas und Sander 2019).

Insofern sorgen sowohl die Digitalisierung, die Transformation globaler Konkurrenzverhältnisse als auch die wachsende Politisierung insbesondere des Automobils dafür, dass die Automobilkonzerne unter einem großen Veränderungsdruck stehen. In Anbetracht der doppelten Rekonfiguration der automobilen Wertschöpfungsketten sprach ein Interviewpartner von einem „doppelten Zangengriff“, in dem sich die deutsche Automobilindustrie befinde (Interview IG Metall). Der VW-Vorsitzende Herbert Diess hat vor diesem Hintergrund erklärt: „Wir müssen schneller werden. Der Markt und die Technologien verändern sich rasanter als jemals zuvor“ (zit. nach Becker 2018).

Vor dem Hintergrund der anstehenden Umbrüche differenzieren etwa Bormann et al. (2018) zwischen zwei möglichen Transformationspfaden, einer „Transformation by Desaster oder by Design“. Während bisher die Logik des „Transformation by Desaster“ vorherrschend sei, indem der Wandel weitgehend blockiert werde und die Fokussierung auf die alte Automobilwelt vorherrschend sei, müsse es durch einen Pakt für die Mobilität der Zukunft darum gehen, auf den Pfad einer „Transformation by Design“ überzugehen.

Gleichwohl sind gerade aufgrund der starken Pfadabhängigkeiten im Automobilbau und der gewachsenen industriellen Beziehungen in dieser zentralen Branche des „Modell Deutschland“ die Beharrungskräfte stark. Das Institut für Arbeit und Beschäftigung (IAB) hat im Jahr 2018 eine Studie zu den Beschäftigungswirkungen eines Wandels der Antriebstechnologie im Automobilbau veröffentlicht. Im Hinblick auf das Jahr 2035 gehen die Autor*innen davon aus, dass nur 23 % der hergestellten Fahrzeuge mit einem Elektromotor ausgestattet sein werden. In dieser Szenarioanalyse würde das BIP in Deutschland um 0,6 % sinken und einen Jobverlust von 113.000 Stellen implizieren, davon 83.000 im Fahrzeugbau. Diesem Wegfall an Arbeitsplätzen stehen 16.000 neue Stellen gegenüber, die aufgrund des Ausbaus der Elektromobilität und des damit zusammenhängenden Infrastrukturausbaus und neuen Dienstleistungsaktivitäten entstehen würden. Dieses Szenario wurde entsprechend in Stellung gebracht gegen einen schnellen Ausbau der Elektroautos (Interviews BMU; IG Metall). Gleichwohl unterstreicht die Studie sowohl die Gefahren im Hinblick auf die Beschäftigungswirkung als auch die Chancen:

Wird einerseits bedacht, dass das Elektromobilitäts-Szenario „nur“ von einem Elektro-Anteil von 23 Prozent bis 2035 ausgeht, ist davon auszugehen, dass bei einer stärkeren Marktdurchdringung mit deutlich höheren Wachstums- und Beschäftigungseffekten gerechnet werden muss. Andererseits könnte durchaus ein positiver Wachstums- und Beschäftigungseffekt realisierbar sein, wäre Deutschland in der Lage, sowohl den Markt stärker mit inländisch produzierten Autos als auch mit inländisch produzierten Traktionsbatteriezellen zu versorgen (Mönnig et al. 2018, S. 7–8).

Vor dem Hintergrund der mit der Optimierung des Verbrennungsmotors einhergehenden Pfadabhängigkeiten und Wertschöpfungspotenziale waren sowohl die IG Metall als auch die Automobilhersteller sehr zögerlich was den Wechsel hin zu einer neuen Antriebstechnologie anbelangt. Nichtsdestotrotz unternahmen alle drei großen OEMs in der vergangenen Dekade vorsichtige Erneuerungsprozesse, die auch die interne Firmenorganisation betrafen.

BMW hat bereits im Jahr 2010 ein Competence Center eingerichtet, um das Modell i3 als erstes rein elektrisches Serienfahrzeug zu entwickeln. Dieses wurde 2013 in den Markt eingeführt. Aufgrund der Leichtbauweise und neuer Produktionsverfahren gilt dieses Modell als sehr innovativ (Sovacool et al. 2019). Darüber hinaus hat BMW das Free-Floating-Carsharing-Unternehmen „drive now“ aufgebaut und die Nutzung der Ladeinfrastruktur durch das Angebot „charge now“ ermöglicht. Zudem wurde etwa der BMW i Ventures-Fonds mit einem Volumen von 500 Mio. US-$ aufgesetzt, mit dem Beteiligungen an Mobilitäts-Start-ups verwirklicht werden. Das Ziel dabei sind neben finanziellen Renditen, die Generierung von Informationen und eine Beobachtung der Entwicklungen im Start-up-Bereich (Interview BMW).

Auch der Daimler-Konzern hat ein relativ breites Portfolio an neuen Geschäftsmodellen entwickelt. Neben dem Free-Floating-Carsharing-Angebot „car to go“, hat der Konzern die Mytaxi-App entwickelt und beispielsweise die Infotainment-Abteilung „Mbition“ von Stuttgart nach Berlin verlagert, um neue Organisationsmodelle zu erproben. Darüber hinaus besteht eine Vielzahl an Beteiligungen, neue Ride-Sharing-Angebote werden erprobt, etwa in Berlin mit dem Berlkönig. Die Bedeutung des Wandels der Mobilität greift der Konzern unter dem Stichwort CASE auf. So verlautbarte der damalige Vorstandsvorsitzende Dieter Zetsche: „Connected, Autonomous, Shared, Electric: Jeder einzelne dieser Punkte hat das Potenzial, unsere Industrie auf den Kopf zu stellen. Die wahre Revolution steckt allerdings in der Verknüpfung all dessen“ (Daimler 2019). Neben dem SUV GLC F‑Cell, der ein Hybrid von batterieelektrischem und Brennstoffzellenantrieb darstellt und in kleiner Stückzahl verleast wird, sollen in den nächsten Jahren unter dem neuen Label EQ diverse Batteriefahrzeuge angeboten werden (Interview Daimler). Zudem besteht etwa mit dem Modell F ein Konzeptfahrzeug, das andeutet, wie sich das Auto in Zukunft zu einem Third-Living-Space entwickeln könnte (Manderscheid 2018).

Der VW-Konzern steht vor dem Hintergrund des Abgasskandals unter einem starken Veränderungsdruck, der auch die Organisationskultur betrifft. In diversen Publikationen wurde darauf verwiesen, dass unter dem langjährigen Vorstands- und späteren Aufsichtsratsvorsitzenden Ferdinand Piech und dem Vorstandsvorsitzenden Manfred Winterkorn, der infolge des Abgasskandals abtreten musste, ein extrem autoritärer Führungsstil geherrscht hat, der die Entwicklung und den flächendeckenden Einsatz der Betrugssoftware befördert hat. Insofern ist mit der Aufarbeitung des Dieselskandals auch die Entwicklung einer neuen Organisationskultur notwendig. VW entwickelt mit MOIA neue Ride-Sharing-Modelle, die bisher vorwiegend in norddeutschen Städten erprobt werden (Interview VW).

Darüber hinaus hat der neue VW-Vorstand eine massive Elektrooffensive angekündigt und ist auf Konfrontation mit dem Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA) und den anderen Herstellern gegangen. Insofern scheint sich entweder ein Bruch innerhalb der großen drei OEMs abzuzeichnen oder die kleineren Konkurrenten Daimler und BMW folgen dem VW-Konzern. Der VDA hat sich stets zur Technologieoffenheit bekannt und insistiert, dass sowohl batterieelektrische Fahrzeuge als auch die Brennstoffzellentechnologie und synthetische Kraftstoffe mögliche Dekarbonisierungsoptionen darstellen. Vor diesem Hintergrund wurde stets eine Festlegung auf einen technologischen Pfad abgelehnt. Zahlreiche Kritiker*innen haben darauf hingewiesen, dass das Konzept der Technologieoffenheit letztendlich zu einer Verfestigung des Status quo diene, denn ohne Festlegungen lassen sich keine Veränderungsprozesse forcieren. VW-Chef Diess hat dies in seiner Kritik am VDA indirekt eingeräumt und gefordert, dass sich der Verband klar zu batterieelektrischen Autos als Zukunftstechnologie bekennen sollte (Mortsieffer 2019; Haas und Jürgens 2019). Insofern könnte dies eine Zäsur darstellen und eine dynamische Erneuerung der Automobilhersteller zumindest im Hinblick auf die Antriebstechnologie einläuten. Gleichwohl hat die Arbeitsgruppe 1 der Plattform Zukunft der Mobilität in ihrem Abschlussbericht synthetische Kraftstoffe als möglichen Baustein einer Dekarbonisierung des Autoverkehrs ausgewiesen. Insofern ist nicht ausgemacht, dass sich die Automobilindustrie geschlossen vom Konzept der Technologieoffenheit abwenden wird (Haas und Jürgens 2019).

Während etwa ein Interviewpartner spekuliert hat, dass sich die Automobilkonzerne auf mittlere Sicht ähnlich wie die Stromkonzerne aufspalten werden, in einen Bereich, der das alte Geschäftsmodell auslaufen lässt, und einen Bereich, der die neue Mobilitätswelt bedienen wird, scheinen sich die Autokonzerne, wenn auch langsam, zu erneuern (Interview BUND). Neben organisationsinternen Neuerungen, der Entwicklung neuer Mobilitätsdienstleistungen und neuer Marken, scheint zumindest VW auch sehr massiv in die Elektromobilität und sogar in die Batteriezellfertigung zu investieren.

Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Kooperationen der großen OEMs untereinander, aber auch mit anderen Automobilkonzernen und IT-Konzernen. Ein zentrales Projekt der drei großen OEMs ist der Kartendienst HERE, den sie im Jahr 2015 von Nokia übernommen haben. In der Zwischenzeit wurde das Konsortium erweitert und die App stetig ausgebaut, sodass sie eine wichtige Konkurrenz zu Google darstellt. Darüber hinaus wurde die Roaming-Plattform Hubject von den drei großen OEMs initiiert, um die app-basierte Ladeinfrastruktur der E‑Tankstellen zu vernetzen. Mehr als 90.000 Ladepunkte auf drei Kontinenten umfasst die im Jahr 2012 gegründete Plattform. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Kooperationsformaten mit diversen Start-ups (Interviews BMW; Bundesverband Deutsche Startups; Daimler; VW).

Inzwischen wurde im Rahmen des im Jahre 2012 gegründeten Bundesverbands Deutsche Startups die Fachgruppe Future Mobility ins Leben gerufen. Diese hat gemeinsam mit dem VDA im Jahr 2017 das Positionspapier Deutschland als Cluster für die Mobilität von morgen verfasst und bietet neben der Vernetzung der Start-ups und Lobbyaktivitäten auch Austauschmöglichkeiten mit den etablierten Konzernen. Gleichwohl handelt es sich um ein spannungsreiches Verhältnis zwischen den Start-ups und den etablierten OEMs. So bestehen einerseits vielfache Kooperationsbeziehungen, zugleich kritisiert ein Vertreter der Fachgruppe, dass die großen OEMs etwa im Rahmen der NPE systematisch darauf hingearbeitet haben, ihre dominante Stellung zu nutzen, um etwa die Forschungsförderung so auszurichten, dass kleine Start-ups und ausländische Konzerne außen vor bleiben (Interview Bundesverband Deutsche Startups). Zugleich bieten neben den etablierten Autoherstellern auch zunehmend andere Akteure Elektromobile an. Das prominenteste Beispiel hierfür ist die im Jahr 2014 von der Deutschen Post AG übernommene Streetscooter GmbH, die an den Standorten in Aachen und Düren batterieelektrische Nutzfahrzeuge produziert. Im Jahr 2015 wurde in Aachen die e.Go Mobile AG gegründet, die seit Mai 2019 die ersten elektrischen Kleinwagen zum Preis ab 15.900 € ausliefert.

Insofern zeigt sich, dass sich Erneuerungsprozesse nicht nur innerhalb der Automobilhersteller vollziehen, sondern sich neue Akteure etablieren und sich vielfältige, schwer überschaubare Netzwerkstrukturen herausbilden, die unterschiedliche Nischen im Bereich der Elektromobilität bedienen. Gleichwohl stehen auch im Zuge der Restrukturierung der Automobilkonzerne die Beschäftigten massiv unter Druck. Der Übergang zu Elektroautos wird vonseiten der Konzerne auch zu einem Angriff auf die bestehenden Arbeitsrechte genutzt: „Unter diesen Vorzeichen kündigen sich Sparprogramme für die Beschäftigten an, Ergebnissicherung rückt für die Konzerne in den Mittelpunkt“ (Burmeister 2019, S. 283). Zudem herrschen im Start-up-Bereich meist kaum tarifvertraglich regulierte Arbeitsverhältnisse vor. Insofern deutet sich an, dass sich die skizzierten Transformationsprozesse stark auf das Lohnverhältnis auswirken und den Trend zur Ausweitung sogenannter a‑typischer Beschäftigung, der durch die Hartz-Reformen wesentlich begünstigt wurde, weiter forciert wird (Röttger 2012).

Auch im Hinblick auf die Unternehmensformen zeichnet sich ab, dass durch die Veränderungen im Mobilitätsbereich vor allem der Kostendruck auf die Zulieferbetriebe weiter zunehmen wird (Blöcker 2015, S. 536–538). So ließ etwa VW-Chef Diess verlautbaren, dass in Zukunft nicht mehr Bosch, Continental und ZF die bedeutendsten Zulieferfirmen von VW sein werden, sondern LG, Samsung und CATL (Burmeister 2019, S. 283). Gleichwohl hat VW auch auf Druck der IG Metall angekündigt, in Zukunft am Standort Salzgitter selbst Batteriezellen herstellen zu wollen. Allerdings stehen insbesondere diejenigen Zulieferbetriebe und Standorte unter erheblichem Druck, die Teile für den Antriebsstrang produzieren, die für Elektromotoren nicht mehr gebraucht werden (Interviews Bosch; IG Metall; VDA). Insofern kommt dem Aufbau der Batteriezellproduktion eine große Bedeutung zu. Matthias Machnig (SPD), der zwischen 2014 und 2018 als Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium fungierte und im Rahmen der NPE mehrmals die OEMs und großen Zulieferbetriebe vehement dazu aufgefordert hat, eine eigene Batteriezellfertigung aufzubauen (Interviews NPE; BMU), konstatierte im Jahr 2017:

Konservierungswürdig sind geschlossene Wertschöpfungsketten. Da sich die Wertschöpfung aber ändert, müssen neue Komponenten integriert werden. Bei der Batteriezellenproduktion dürfen wir uns nicht abhängen lassen. Über eine eigene zu verfügen, ist Voraussetzung für einen Spitzenplatz in der Elektromobilität. Begleitet werden muss der Aufbau einer eigenen Zellproduktion durch eine Stärkung der Batteriezellenforschung (Machnig 2017, S. 27).

Dies verweist auf den Aspekt, dass sich im Zuge der Digitalisierung und der Elektrifizierung der Automobile der Rohstoffbedarf verändert. Schon heute wird ein erheblicher Teil der nach Deutschland direkt und indirekt über Vorprodukte importierten Rohstoffe von der Automobilindustrie benötigt. Die Zusammensetzung wird sich im Zuge der Elektrifizierung und Digitalisierung des Verkehrs verändern und zusätzliche Bedarfe schaffen:

Die immer komplexer werdenden Ausstattungen basieren auf Elektronik und Motorik, die nicht nur viel wiegen, sondern auch spezifische Rohstoffbedarfe schaffen. Wenn Autos zu vernetzten Geräten werden, die mit Bordcomputern, Displays und Sensoren sowie luxuriösen Zusatzfunktionen ausgestattet sind, benötigen sie dafür all jene metallischen Rohstoffe, deren Verbrauch im Zuge der allgemeinen Digitalisierung stark ansteigt (Groneweg und Reckordt 2020, S. 258).

Für Elektromotoren ist insbesondere mit einer massiven Ausweitung des Bedarfs an den sogenannten Seltenen Erden zu rechnen, während für die Batteriezellen Lithium, Kobalt, Grafit, Nickel, Mangan, Aluminium, Kupfer, Zinn Silikon, Magnesium, Germanium, Indium, Antimonium sowie ebenfalls Seltene Erden benötigt werden (Groneweg und Reckordt 2020, S. 259–262). Infolgedessen stellt sich die Herausforderung der Sicherstellung des Rohstoffzuflusses, den die deutsche Bundesregierung mit der kontinuierlichen Überarbeitung der Rohstoffstrategie und der Ausweitung von Rohstoffpartnerschaften Rechnung trägt. Die OEMs hingegen setzen verstärkt auf direkte Lieferverträge und die Einführung von Zertifizierungen der Rohstoffe (Groneweg und Reckordt 2020, S. 262–272). Damit reagiert die Branche auch auf den Druck von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Denn die Rohstoffextraktion ist häufig mit Landkonflikten verbunden und führt in vielen Fällen zu einer Zuspitzung von sozial-ökologischen Problemlagen in den Abbauregionen (Prause und Dietz 2020).

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich ab, dass die anstehenden Transformationsprozesse im Mobilitätsbereich starken Einfluss auf das „Modell Deutschland“ haben werden, insbesondere im Hinblick auf das Lohnverhältnis, die Unternehmensformen und die internationale Einbettung mit besonderem Fokus auf die Rohstoffpolitik. Letzteres stellt einen blinden Fleck in der Modell-Deutschland-Literatur dar.

5 Perspektiven des „Modell Deutschland“ und weitergehender Forschungsbedarf

Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Umbrüche in der deutschen Automobilindustrie stellt sich die Frage nach der Stabilität des „Modell Deutschland“ neu. Prognostizierten bereits in den 1990er-Jahren einige Wissenschaftler das Ende des „Modell Deutschland“, haben sich die Strukturmerkmale des „Modell Deutschland“, dessen Akkumulationsregime auf die stetige Ausweitung der Exportüberschüsse durch Industrieproduktion ausgerichtet ist, als überaus robust erwiesen. Die Automobilindustrie bildet den Kern des „Modell Deutschland“. Gleichwohl fanden durchaus diverse institutionelle Anpassungen und Politikwenden in den vergangenen Jahrzehnten statt (Czada 2019).

Das „Modell Deutschland“ wird momentan in Rahmen der Doppelkrise des liberalen Kapitalismus sowohl von innen durch den Aufstieg des Rechtspopulismus als auch durch die Zuspitzung geopolitischer Konfliktlagen und der Konflikte im atlantischen Zentrum herausgefordert (Bieling 2019). Aufgrund der spezifischen Problemlagen und Dynamiken rund um den Wandel der Mobilität stellt sich die Frage nach der Transformation und den Zukunftsperspektiven in der Automobilbranche in besonderer Weise (Bormann et al. 2018). Die doppelte Rekonfiguration der automobilen Wertschöpfungsketten setzt die Branche unter Druck und damit steht auch das relativ hohe Niveau an gewerkschaftlichen Machtressourcen in der Branche zur Disposition (Burmeister 2019). Hinzu kommen die wachsende Politisierung ökologischer Problemlagen und europäische Regulierungsvorgaben. Auch der enorme Ressourcenbedarf für (Elektro‑)Automobile könnte sich zumindest in mittelfristiger Hinsicht als ernstzunehmende Gefahr für die Versorgungssicherheit erweisen (Agora Verkehrswende 2017). Insofern könnte mit der Kernbranche auch die Akkumulationsdynamik des „Modell Deutschland“ und damit verbundene korporatistisch, kompromissvermittelte Arrangements erodieren. Diese Veränderungen dürften insbesondere das Lohnverhältnis, die Unternehmensformen und die internationale Einbettung des „Modell Deutschland“ betreffen.

Gleichwohl ist es keineswegs ausgemacht, dass die deutsche Automobilindustrie ihre dominante Stellung im Besonderen im sogenannten Premiumsegment verlieren wird. Denn alle Automobilhersteller haben begonnen sich neu auszurichten. Das betrifft sowohl die interne Unternehmensorganisation als auch die Produktpalette, die neben neuen Antriebstechnologien auch verstärkt neue Mobilitätsdienstleistungen umfasst (Haas und Jürgens 2020). Insbesondere das Vorpreschen von VW und die Kritik des Paradigmas der Technologieoffenheit könnte ein Wendepunkt hin zur Erneuerung mittels batterieelektrischer Fahrzeuge markieren. Zwar wird die Arbeit der NPE durchaus kritisch gesehen (Interviews BMU; BUND), gleichwohl wurden in dieser Plattform wichtige regulatorische Grundlagen für die Marktdurchdringung der Elektromobile gelegt. Der wachsenden Autoskepsis arbeiten die OEMs durch den Versuch einer neuen symbolischen Aufladung des Automobils entgegen, die sich unter dem Leitbegriff des Third-Living-Spaces fassen lässt (Haas 2018b; Interview Daimler). Darüber hinaus scheint trotz der angespannten Weltlage die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland sehr hoch zu sein und durch die Konstitution der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wird die deutsche Industrie weiter von enormen preislichen Wettbewerbsvorteilen profitieren (Jessop 2014; Streeck 2015).

Diese vorläufigen Überlegungen zu den Perspektiven der Automobilindustrie und damit auch des „Modell Deutschland“ bedürfen jedoch zumindest in fünffacher Hinsicht einer detaillierteren politikwissenschaftlichen Analyse. Erstens stellt sich die Frage nach den Unternehmensformen im (Auto‑)Mobilsektor neu. Damit verbunden ist ein erheblicher Forschungsbedarf für eine präzise Bestimmung der Veränderungen in der Wertschöpfung und der damit verbundenen Verschiebungen im Akteursfeld (Sommer 2017). In der Debatte wird häufig auf die globale Dimension fokussiert, obgleich sich etwa auch in Rahmen der NPE Verteilungskonflikte zeigten, auch in Deutschland Unternehmen aus dem Start-up-Bereich in den Markt drängen oder Tesla in Brandenburg eine große Fabrik errichten will.

Zweitens gilt es zu analysieren, wie sich mit dem sich abzeichnenden Übergang zur Elektromobilität und einer verstärkten Digitalisierung der Mobilität die Arbeitsbeziehungen bzw. die Regulation des Lohnverhältnisses verändern werden. Während die Arbeitsmärkte in den letzten Jahrzehnten zunehmend dereguliert wurden (Röttger 2012), konnte die IG Metall relativ hohe Arbeitsstandards zumindest für die Kernbelegschaften sichern. Im Hinblick auf die neuen Konkurrenzverhältnisse und digitalisierungsvermittelten Innovationen besteht ein großer Forschungsbedarf, dahingehend herauszufinden, wie sich diese auf die Arbeitsbeziehungen im Automobilbau und auf das „Modell Deutschland“ auswirken (Blöcker 2015; Streeck 2016).

Drittens stellt sich die Frage nach der materiell-stofflichen Basis des Wirtschaftens im Zuge der verstärkten Elektrifizierung und Digitalisierung neu. Während in der Modell-Deutschland-Literatur davon weitgehend abstrahiert wird, ist eine massive Rohstoffimportabhängigkeit konstitutiv für die deutsche Ökonomie. Die Elektroautos sorgen für neue Abhängigkeiten, erfordern neue Lieferbeziehungen und institutionelle Absicherungen in einer zunehmend unsicheren Weltlage (Brunnengräber und Haas 2018; Groneweg et al. 2017; Groneweg und Weis 2019; Groneweg und Reckordt 2020). Insofern sollte eine verstärkte Auseinandersetzung mit rohstoffpolitischen Fragen stattfinden und in Bezug gesetzt werden zum „Modell Deutschland“.

Viertens stellt sich die Frage nach der Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse neu. Die Automobilbranche ist zentral für das „Modell Deutschland“ und sowohl materiell als auch symbolisch Ausdruck einer imperialen Lebensweise, die auf vielfache Weise vermittelt ist mit globalen Ungleichheitsverhältnissen und einer voranschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen (Brand und Wissen 2017). Vor diesem Hintergrund wird sich auch wesentlich im Bereich der Mobilität entscheiden, ob ein Übergang von einer imperialen hin zu einer solidarischen Lebensweise gelingen wird und wie dann das „Modell Deutschland“ aussehen wird.

Fünftens wird die Corona-Krise zu einem massiven Einbruch der globalen wie der deutschen Wirtschaftsleistung führen, von dem auch die Automobilindustrie stark betroffen sein wird. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Juli 2020) ist nur schwer abzusehen, inwieweit das „Modell Deutschland“, das Lohnverhältnis, die Unternehmensformen und die internationale Einbettung sowie die Zukunft der Mobilität davon betroffen sein werden. Dies zu analysieren, wird die Aufgabe zukünftiger Forschungsarbeiten sein.

6 Verzeichnis der zitierten Interviews

  • BMU – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (26. November 2018)

  • BMW – Bayerische Motoren Werke AG (30. November 2018)

  • Bosch (12. November 2018)

  • BUND – Bund für Umwelt und Naturschutz (22. März 2018)

  • Bundesverband Deutsche Startups (18. Oktober 2018)

  • Daimler – Daimler AG (3. Dezember 2018)

  • DUH – Deutsche Umwelthilfe (9. November 2018)

  • IG Metall – Industriegewerkschaft Metall (7. Februar 2019)

  • NABU – Naturschutzbund Deutschland (23. April 2018)

  • NPE – Nationale Plattform Elektromobilität/Mitglied der Redaktionsgruppe (12. November 2018)

  • VDA – Verband der Deutschen Automobilindustrie (21. März 2018)

  • VW – Volkswagen AG (8. November 2018)