Zusammenfassung
Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan stößt bei den Deutschen seit geraumer Zeit auf mehrheitliche Ablehnung. Diese Diskrepanz zwischen Elitenentscheidungen und öffentlicher Meinung deutet auf Defizite im politischen Repräsentationsprozess hin. Der Beitrag zeigt, dass kaum Versuche politischer Führung unternommen wurden und Bürger politischen Akteuren bei Wahlen keine starken Anreize zu Responsivität gegenüber der einsatzkritischen öffentlichen Meinung gaben. Das gilt auch für die Wahl 2009, die kurz nach dem blutigen Zwischenfall in Kundus stattfand. Dennoch deutet einiges darauf hin, dass die einsatzkritische öffentliche Meinung die Entscheidungen politischer Akteure beeinflusste. Folglich scheint der Prozess politischer Repräsentation besser zu funktionieren, als der erste Eindruck nahelegt.
Abstract
For a considerable period, the ISAF mission of the German army to Afghanistan has been opposed by a majority of German citizens. This discrepancy between elite decisions and public opinion suggests that the process of political representation does not work smoothly. This paper shows that political elites hardly engaged in political leadership concerning this issue. Moreover, voters did not give strong incentives for elite responsiveness by casting policy votes on the Afghanistan issue. Even in the 2009 election, the Afghanistan issue did not play a major role in voting choice. At the same time, public opinion appears to have affected elite decisions. Accordingly, the process of political representation appears to work more smoothly than suggested at a first glance.
Notes
Sofern nicht anders vermerkt, handelt es sich um Ergebnisse der Politbarometerbefragungen der Forschungsgruppe Wahlen und der Deutschlandtrend-Erhebungen von Infratest dimap. Aus Platzgründen können diese nicht einzeln zitiert werden. Ich danke Rebecca Glaab und Heiner Heiland für ihre Recherchen.
In der telefonischen Vorwahlbefragung wurden die 6008 Respondenten (annähernd) zufällig auf die 60 Erhebungstage verteilt, so dass Unterschiede zwischen den Tagesergebnissen als Veränderungen in der öffentlichen Meinung interpretiert werden können. In rund 67 % der Fälle gelang es, die Teilnehmer nach dem Wahltag nochmals zu befragen. Die Daten, die in diesem Beitrag verwendet werden, wurden von GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften zugänglich gemacht. Die Daten der Umfrage wurden im Rahmen der German Longitudinal Election Study (GLES) (Komponente 2) erhoben von Prof. Dr. Hans Rattinger (Universität Mannheim), Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher (Universität Frankfurt), Prof. Dr. Rüdiger Schmitt-Beck (Universität Mannheim) und PD Dr. Bernhard Weßels (Wissenschaftszentrum Berlin). Sie wurden von GESIS für die Analyse aufbereitet und dokumentiert. Weder die genannten Personen noch die Institute tragen Verantwortung für die Analyse oder Interpretation der Daten in diesem Beitrag.
Die berichteten Anteilswerte dürften Aufmerksamkeit und Anteilnahme der Bürger eher überschätzen. Sieht man vom Fragestimulus ab (Wlezien 2005; Johns 2010), liegt dies daran, dass die RCS-Befragten überdurchschnittlich stark politisch involviert zu sein scheinen. Eine Ursache dafür liegt in Stichprobenproblemen, die sich exemplarisch am zu hohen Anteil formal hochgebildeter Personen ablesen lassen. In den Analysen wurde auch nach der formalen Bildung gewichtet, was jedoch nicht alle Stichprobenprobleme beseitigen dürfte.
Nach der Bewertung des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr wurde in der Vorwahlbefragung ab dem 9. September 2009 gefragt, in der Nachwahlwelle wurde sie durchgängig erhoben.
Wenngleich mit etwas anderen Instrumenten, führten Befragungen der Forschungsgruppe Wahlen und von Infratest dimap im September 2009 wie auch die kurz nach der Wahl 2009 durchgeführte Erhebung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (vgl. Bulmahn 2010, S. 40) zu ähnlichen Ergebnissen.
Das schließt nicht aus, dass von Eliten (und Massenmedien) offerierte Angebote der Realitätsdeutung bei der Urteilsbildung eine Rolle spielten.
Es wurden logistische Regressionsmodelle gerechnet, in denen die Wahlentscheidung auf die wahrgenommene Nähe in der Afghanistanfrage zurückgeführt wurde. Um Effekte afghanistanbezogener Bewertungen nicht zu überschätzen, wurden Parteiidentifikation, Bewertungen führender Politiker sowie die zugeschriebene Kompetenz zur Lösung der beiden wichtigsten Probleme (bereinigt um Bezüge zur Afghanistanfrage) als Kontrollvariablen berücksichtigt (siehe dazu den Online-Anhang).
Dies gilt auch dann, wenn nur Personen analysiert werden, die in den ersten Tagen nach der Wahl interviewt wurden. Dabei ist zu bedenken, dass es sich dabei infolge von Selbstselektionsprozessen vermutlich nicht um eine Zufallsstichprobe aus allen Nachwahlbefragten handelt.
Regional disaggregierte Analysen stützen diese Schlussfolgerung für Ost- und Westdeutschland. Die Schlussfolgerung stützen zusätzlich Selbstauskünfte der Respondenten in einer vor und nach der Wahl im Rahmen der GLES durchgeführten persönlich-mündlichen Befragung einer (annähernd) repräsentativen Stichprobe aus dem Elektorat. In der Vorwahl- und Nachwahlerhebung gab jeweils weniger als ein Prozent der Befragten den Bundeswehreinsatz als Motiv an.
Mit den vorliegenden Daten können indirekte Wirkungen von Einstellungen zur Afghanistanfrage auf das Wahlverhalten nicht analysiert werden. Daher muss beispielsweise ungeklärt bleiben, inwieweit diese Einstellungen Bewertungen von Kanzlerkandidaten und anderer Spitzenpolitiker beeinflussten oder im Laufe der Jahre Parteiloyalitäten erodieren oder entstehen ließen, die in das Stimmverhalten 2009 einflossen. Insoweit unterschätzt die vorliegende Analyse die Wirkungen von Einstellungen zum Afghanistaneinsatz auf das Wahlverhalten.
Der Kundus-Zwischenfall hat gezeigt, dass die vorhersehbare Unvorhersehbarkeit militärischer Auslandseinsätze hohe Anforderungen an die Kommunikations- und Managementfähigkeiten politisch verantwortlicher Akteure stellt. So kosteten fragwürdige Reaktionen auf das Bombardement von Kundus Franz Josef Jung sein Amt als Arbeits- und Sozialminister. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg geriet wegen widersprüchlicher Wertungen und politisch umstrittener Personalentscheidungen in schwere Wasser. Das Risiko, infolge von Auslandseinsätzen und deren innenpolitischen Managements skandalisiert zu werden oder gar die politische Karriere beenden zu müssen, spricht ebenfalls für Zurückhaltung politisch verantwortlicher Akteure bei der Entscheidung über militärische Auslandseinsätze.
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Schoen, H. Ein Bericht von der Heimatfront. Polit Vierteljahresschr 51, 395–408 (2010). https://doi.org/10.1007/s11615-010-0026-8
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