Um das analytisch-empirische Potenzial eines normativen Begriffes von Praktiken genauer zu bestimmen, will ich diskutieren, wie ein solcher Begriff sich zur praxistheoretischen Programmatik verhält (5.1), wie er mit Einwänden und Limitationen umgehen kann (5.2) und welche methodischen Implikationen er mit sich bringt (5.3).
Informalität, Materialität, Routine: Ein normativer Begriff von Praktiken und die praxistheoretische Programmatik
Wird ein normativer Blickwinkel auf Praktiken praxistheoretischen Grundpositionen – Informalität, Materialität, Routine/Offenheit – gerecht? Oder müsste gegen eine solche Perspektive eingewendet werden, dass sie hinter wesentliche theoretische Einsichten zurückfällt oder gar mit ihnen unvereinbar ist?
Herauszustellen ist, dass die praxistheoretische Betonung von Informalität weder von Rouse noch von Schatzki zurückgenommen wird. Bei Ersterem ist das offensichtlich. Aber auch Schatzki, der explizite Regeln als ein wichtiges, wenngleich nicht alleiniges oder unabdingbares Integrationsmoment für Praktiken begreift, verpflichtet sich grundsätzlich einer Wittgenstein’schen Perspektive auf Regeln (Schatzki 1996). Zwar führen explizite Regeln ein Moment von Formalität ein, doch können sie Praktiken nicht bestimmen. Sie bleiben stets interpretationsbedürftig, und es ist genau diese Eigenschaft, die es erlaubt, zwischen der Form der Regel und der Situiertheit des praktischen Vollzugs zu vermitteln. Praktiken bleiben so informal; sie sind nicht restlos zu formalisieren. Jedoch regen die von Schatzki und Rouse dargelegten Ansätze dazu an, Informalität und Form, das Implizite und das Explizierte, zueinander in Beziehung zu setzen. Die explizite Regel ist in vielen Praktiken präsent. Wann und wie es sie zu mobilisieren gilt, ist eine Frage des Know-hows, des praktischen Geschicks.
Auch die Position, dass Materialität eine entscheidende Rolle in der Begründung sozialer Ordnung spielt, kann auf fruchtbare Weise in einen normativen Blick auf Praktiken integriert werden. Es lässt sich untersuchen, wie sich ver-antwortende Bezüge materiell vermitteln, wie sie sich in materiellen Arrangements entfalten (Schatzki 2002, 2016) und „Partizipanden“ unterschiedlichster Konstitution adressieren (Hirschauer 2016, S. 45), dabei Artefakte als Instrumente der Prüfung einbeziehen (Potthast 2017) und Körper affizieren (Reckwitz 2016). Katz‘ Beobachtungen des Verkehrsgeschehens in Los Angeles zeigen deutlich, wie verkörpertes, affiziertes Ver-Antworten in die Praktiken des Autofahrens eingeschrieben ist und sich in Arrangements von Gegenständen (im Auto, zwischen Autos) seinen Weg bahnt. Ohne Scham und Wut geht es nicht, obwohl – oder weil – lautstarke, obszöne Anschuldigungen selten den gut abgeschirmten Innenraum des Autos verlassen. Katz berichtet etwa von Mike, einem 30-jährigen Rechtsanwaltsgehilfen, der „die anderen Fahrer meistens aus seinem Wagen heraus anschreit. Dann lachte er über sich selbst und bemerkte, dass er wisse, sie könnten ihn nicht hören.“ (Katz 2015, S. 14) Andere Autofahrer*innen bedienen sich betont aggressiver Fahrmanöver und nehmen auch Kratzer und abgeknickte Spiegel in Kauf, um auf die Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer*innen zu antworten. Immer ist für das Autofahren das Zusammenwirken verschiedener Artefakte und Körper entscheidend: Asphalt, Reifen, Bremsassistent, Airbag, Knautschzone… Dabei dienen Bremsspuren und Alkoholmessgeräte zur Prüfung und Bewertung, während der Bordcomputer fast aller Wagen inzwischen so programmiert ist, dass er ein unerträgliches Piepen vernehmen lässt, wenn eine im Auto sitzende Person nicht angeschnallt ist – eine Protestnote, die auf komplexer und weitreichender materieller Vermittlung beruht (Latour 1996).
Zur Diskussion des Spannungsverhältnisses von Routine und Offenheit kann ein normativer Begriff von Praktiken ebenfalls beitragen, sofern er Normativität als sich auf eine offene Zukunft hin entfaltend denkt und den Bezug auf Regeln nicht als rigide und starr versteht. Eine solche Begriffsanlage schärft den Blick dafür, wie normative Bezugnahmen dem sich vollziehenden Geschehen sowohl Kontinuität verleihen als auch eine neue Richtung geben können, es sowohl fortsetzen als auch stören oder kritisch transformieren können. In der Art und Weise, wie auf Regeln – zum Beispiel Verkehrsregeln – rekurriert wird, können Konformität und Kritik durchaus Hand in Hand gehen. Denn praktisches Geschick besteht auch darin, „mit der Regel des Spiels bis zum Allerletzten, bis zur Übertretung gar zu spielen und gleichzeitig doch im Rahmen der Regeln zu bleiben“ (Bourdieu 1992, S. 102). Noch ein Beispiel von der Straße: Wenn Hamburger Radfahrer*innen sich jeden letzten Freitag im Monat zu einer „critical mass“ treffen und gemeinsam durch die Innenstadt fahren, verursachen sie mitunter längere Verkehrsstaus mitten im wochentäglichen Feierabendverkehr. Sie ziehen den Unmut vieler Autofahrer*innen auf sich. Es hupt. Sie werden von der Fahrradstaffel der Polizei begleitet. Die „critical mass“, die sie versammeln, ist „kritisch“, weil sie genügend Teilnehmer*innen hat, um sich um Ampelsignale nicht scheren zu müssen. Denn wer im Verband von 16 oder mehr Fahrzeugen fährt, darf Kreuzungen als Kolonne überqueren. Die Radfahrer*innen passieren also rote Ampeln, ohne gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen zu müssen. Dennoch haben sie es auf den vermeintlichen Regelbruch angelegt, mit dem sie den Protestcharakter ihrer gemeinsamen Fahrt unterstreichen möchten. Denn Hamburgs „kritische Masse“ kritisiert die Norm der „Auto-Mobilität“, will sie „entnaturalisieren“, „den Straßenraum materiell wie diskursiv umdefinier[en]“ und sich dafür einsetzen, das Fahrradfahren in Hamburgs Innenstadt zu verändern (Strüver 2015, S. 45, mit Bezug auf Butler 1991). Die „critical mass“ gab/gibt es inzwischen in vielen deutschen Städten; das Format wird immer wieder aufgenommen, weitergegeben, dabei verändert und schließlich verlassen, wenn sich nicht mehr genügend Teilnehmer*innen rekrutieren lassen (Shove und Pantzar 2007). Zumindest in Hamburg, so steht zu vermuten, kommen städtische Verwaltung und Lokalpolitik nicht umhin, auf die „critical mass“ zu reagieren, und es entspinnt sich ein Netz von Bezugnahmen zwischen Radfahrer*innen, Verkehrspolizei, Stadtverwaltung, Autofahrer*innen und Lokalpolitik, das bestimmte Praktiken sowohl eine Zeit lang stabilisieren (die Fahrradkolonne jeden letzten Freitag im Monat) als auch zukünftig verändern könnte (Fahrradfahren in der Hamburger Innenstadt).
Einwände und Limitationen
Mindestens drei Einwände lassen sich gegen einen normativen Begriff von Praktiken vorbringen. Diese betreffen den Stellenwert nicht-menschlicher Beteiligung an Praktiken, den Stellenwert von Regelmäßigkeit und die Verschiedenartigkeit von Praktiken:
-
a.
Einem normativen Begriff von Praktiken gelingt es nicht, menschliche Individuen zu dezentrieren; er bleibt anthropozentrisch.
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b.
Weil die Ein- und Ausübung dessen, was Schatzki „practical understanding“ nennt, Regelmäßigkeit braucht, kann auch ein normativer Begriff von Praktiken sich nicht gänzlich vom Begriff der Regelmäßigkeit verabschieden.
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c.
Die Praktik der Überquerung einer signalisierten Kreuzung kann nicht als Paradigma dienen. Zu sehr unterscheidet sie sich von künstlerischen Praktiken oder Selbstpraktiken wie der Meditation, für die normative Verweiszusammenhänge nicht gleichermaßen relevant zu machen sind. Denn insbesondere letztere Praktiken integrieren sich nicht über Korrektur. Aussagen wie „Du malst/meditierst falsch“ sind kein konstitutiver Teil dieser Praktiken.
Jedem dieser Einwände kann ein normativer Begriff von Praktiken begegnen; zugleich verweist die Diskussion der Einwände auf die Limitationen eines solchen Begriffes.
Ad a.
Ein normativer Begriff von Praktiken kann das Individuum dezentrieren. Weder Rouses noch Schatzkis Bestimmung davon, was Praktiken ausmacht, rekurriert auf Individuen, sondern stattdessen auf „accountability“ bzw. praktisches Verständnis, teleoaffektive Strukturen und Regeln. Diese Begrifflichkeiten beziehen beide Autoren aber auf menschliches Tun – verteiltes menschliches Tun. Stärker als Rouse stellt Schatzki diesen Umstand in den Vordergrund, wenn er Praktiken als „geordnete, raum-zeitliche Vielfalt menschlicher Aktivität“ definiert und, anders als Rouse, Praktiken begrifflich von den sie umgebenden „materiellen Arrangements“ unterscheidet (Schatzki 2016, S. 69; vgl. Rouse 2002, S. 163). Ausgehend von Rouses „accountability“ habe ich mit Katz in Abschnitt 5.1 zu zeigen versucht, wie normative Verweiszusammenhänge verkörpert und artefaktisch vermittelt sein können. Mit den frühen Arbeiten Bruno Latours lässt sich zudem zeigen, wie explizite Regeln als Skripte in Artefakte einzuschreiben versucht werden. Man denke hier an das „moralische Gewicht“ eines klobigen Schlüsselanhängers, der in der Hosentasche gegen das Bein schlägt und dort vielleicht einen blauen Fleck hinterlässt (Latour 1996). Oder man denke an die Bodenwelle, die allen Fahrzeugen bei mehr als 20 km/h einen empfindlichen Dämpfer verpasst (Latour 2000). Die Frage ist, ob und wie genau ein normativer Begriff von Praktiken nicht-menschliche und insbesondere materielle Handlungsträgerschaft („material agency“) berücksichtigen kann. Weder Rouse noch Schatzki diskutieren diese Frage offensiv. Zwar verweist Rouse in seinen Arbeiten immer wieder auf die Performativität des Materiellen, doch er hebt auch die Besonderheit menschlicher Handlungsfähigkeit hervor (Rouse 2016). Aber sind komplexe Regime des Ver-Antwortens nicht auch in den Affordanzen und Widerständigkeiten verschiedener Materialien zu sehen, in ihrer Nachgiebigkeit, Brüchigkeit, Resonanzfähigkeit und Reaktivität – darin gar, wie Dinge und menschliche Akteur*innen sich gegenseitig zum Handeln befähigen (Pickering 1993)?
Ad b.
Ein weiterer Einwand gegen einen normativen Begriff von Praktiken, der sich abzugrenzen sucht von einem „regularist“, d. h. auf Regelmäßigkeit abstellenden Begriff von Praktiken (Rouse 2007a, S. 47), lautet: Die Ein- und Ausübung dessen, was Schatzki „practical understanding“ nennt (2001, S. 58), brauche Regelmäßigkeit – genauer: das Erkennen von Regelmäßigkeit. Schatzki selbst charakterisiert „practical understanding“, praktisches Verständnis, als jene Fähigkeiten, die zum Ausführen einer Praktik nötig sind. Dazu zählt „knowing how to x“, „knowing how to identify x‑ings“ sowie „knowing how to prompt as well as to respond to x‑ings“ (Schatzki 2001, S. 59). Schatzki zufolge ist nun praktisches Verständnis nur ein Integrationsmoment, das nicht für die Integration aller Praktiken gleich wichtig sein muss. Die anderen von Schatzki identifizierten Integrationsmomente – teleoaffektive Strukturen und explizite Regeln – beruhen nicht in gleicher Weise auf dem Erkennen von Regelmäßigkeiten. Regelmäßigkeiten haben daher selbst für Schatzki, der anders als Rouse „practical understanding“ prominent in seinem Begriff von Praktiken berücksichtigt, keinen zentralen Stellenwert.
Ad c.
Am schwersten gegen die hier ausgeführten Argumente für einen normativen Begriff von Praktiken wiegt wohl der Einwand, dem falschen Paradigma aufzusitzen. Das Überqueren einer signalisierten Kreuzung, so der Einwand, könne nicht als paradigmatisches Beispiel für eine Praktik gelten, weil es sich zu stark von künstlerischen Praktiken wie der abstrakten Malerei oder Selbstpraktiken wie der Meditation unterscheide, für die normative Verweiszusammenhänge nicht gleichermaßen relevant zu machen seien. Denn letztere Praktiken integrierten sich nicht über Korrektur; daher seien Aussagen wie „Du malst/meditierst falsch“ kein konstitutiver Teil dieser Praktiken. Ich will auf diesen Einwand antworten, indem ich die normativen Verweiszusammenhänge – so subtil, so wortkarg, so vermittelt, so reflexiv sie sein mögen – aufzeige, die auch für künstlerische oder Selbstpraktiken konstitutiv sein können. Dafür möchte ich aber zunächst herausarbeiten, inwiefern für einige künstlerische, Selbst- oder andere Praktiken bestimmte korrektive Verweise („So machst du es falsch“) irrelevant sind und warum sie sich deswegen einem normativen Begriff von Praktiken, und insbesondere Rouses „accountability“, auf den ersten Blick scheinbar entziehen.
Malen, meditieren, oder auch in eine Pfütze springen, lachen, in Gedanken eine Melodie summen und dabei an der Kreuzung auf eine grüne Ampel warten – das sind alles Praktiken, die ich in Anlehnung an Jaeggi (2014) „lebensförmig“ nennen möchte. Für alle diese Praktiken gilt: Wie sie ausgeführt werden, ist egal. Hauptsache, sie funktionieren. Daher sind Ausführungen dieser Praktiken schlecht als richtig oder falsch zu bewerten. Ein „falsches Warten“ gibt es nicht, denn es wäre kein Warten mehr. Es würde „seinem Begriff nicht entsprechen“ (Jaeggi 2014, S. 182). Ähnlich verhält es sich mit künstlerischen Praktiken der abstrakten Malerei oder Selbstpraktiken der Meditation, wobei allerdings auffällt, dass diese Praktiken sich durch eine Reihe von Besonderheiten auszeichnen: Sowohl künstlerische Praktiken als auch Meditation wollen sich dem Bewerten ja gerade ein Stück weit entziehen; sie stellen darauf ab, Bewertungen einzudämmen, aufzuschieben oder aufzuheben. Zudem haben sie keinen oder keinen starken Ethos. Während die „gute Familie“ oder das „gute Autofahren“ auch auf eine ethische Dimension rekurriert (Fürsorge, Rücksicht), braucht weder die Malerei noch die Meditation in einem ethischen Sinne gut zu sein. Malende und Meditierende sind anderen nicht verpflichtet. Malerei und Meditation sind in obigem Einwand dezidiert nicht als kollaborative Praktiken angelegt und haben keine Koordinationsprobleme zu lösen – zumindest keine Koordinationsprobleme zwischen Menschen (oder anderen Lebewesen), zwischen Ego und Alter. Ein Anderer ist dem Malenden und Meditierenden nicht präsent. Daher kann auch kein anderer sagen: „Du malst/meditierst falsch.“ Was diese Praktiken also auszeichnet ist die Abwesenheit eines spezifischen korrektiven Verweises, adressiert von Alter an das in die Ausführung einer Praktik verstrickte Ego.
Andere ver-antwortende Bezüge sind aber sehr wohl auch bei künstlerischen oder Selbstpraktiken nicht nur auszumachen, sondern als wichtiges Integrationsmoment für diese Praktiken zu verstehen. Beginnen wir mit der Meditation, einer hochgradig selbstbezüglichen Praktik, die an das Beispiel des aufmerksamen Bergsteigers erinnert, der bei der praktischen Ausübung seiner Fähigkeiten diese reflexiv erweitert und vertieft (Hirschauer 2016, S. 57; Ryle 1987, S. 50). Hinzu kommt, dass auch Meditierende sich nicht gänzlich ihrer Umwelt entledigen können. Zur Meditation gehört eben doch auch ein Körper, eine Sitz‑, Stand- oder Liegefläche und eine Umgebung. Sie alle können die Ausführung einer Meditation unterstützen, behindern oder herausfordern und reflexives Anpassungshandeln notwendig machen: „So geht es nicht… aber so sollte es gehen“. Und mit etwas „Zoom“ lässt sich die Meditation als Teil größerer praktischer Zusammenhänge – Lebens- oder Gemeinschaftspraktiken – begreifen, für deren Zusammenhang die Korrektur durch andere menschliche Partizipanden bedeutsam sein kann: „Du meditierst zu wenig“ oder „Könntest du bitte nach dem Küchendienst meditieren?“
Ähnlich verhält es sich mit künstlerischen Praktiken abstrakter Malerei. Selbst wenn diese nur ein Minimum an Konvention mobilisieren (Becker 2008, S. 40 ff.), selbst wenn sie meditativ sind, bleiben sie doch reflexiv. Sie involvieren Reflexionspraktiken, die in der künstlerischen Ausbildung aufwendig eingeübt werden (Thornton 2008, S. 41 ff.). Die künstlerische Reflexion muss unter anderem die Materialien künstlerischen Arbeitens auswählen und berücksichtigen, was diese Materialien mit sich machen lassen. Diese Materialien können spezifische Formen künstlerischen Schaffens ermöglichen oder unmöglich machen (Schürkmann 2016). Mit „Zoom“ und dem Wechsel in einen größeren Bezugsrahmen lassen sich auch hier wieder integrative ver-antwortende Bezüge erkennen, die von menschlichen Partizipanden ausgehen. Man denke an die Galeristin, die der Künstlerin nach Monaten intensiver Arbeit telefonisch mitteilen muss: „Geht so nicht. Erstens passt das Format nicht durch den Liefereingang meiner Galerie, zweitens ist es so nicht zu verkaufen.“ Beides mag für großformatige Malerei nicht das Aus bedeuten, aber beides gehört zu jenen normativen Bezüglichkeiten, über die sich künstlerische Praktiken – verstanden als ein Komplex aus künstlerischem Schaffen, Präsentation, Kritik und Sammlung – integrieren (Becker 2008, Thornton 2008).
Auch die Praktiken der Malerei und Meditation, um meine Antwort auf obigen Einwand zusammenzufassen, beruhen also auf normativen Verweiszusammenhängen. Die Bezüge des Ver-Antwortens, die diese Praktiken zusammenhalten, sind dabei nicht unbedingt verbalisierte Korrekturen, adressiert von Alter an Ego. Diese Bezüge zeichnen sich vielmehr durch ihre Vielfältigkeit aus – durch unterschiedliche Grade an Explizität, unterschiedliche Weisen körperlich-artefaktischer Vermittlung, unterschiedliche Modi (korrektiv oder unterstützend), unterschiedliche Figurationen der Adressierung (selbstbezüglich oder nicht) und unterschiedliche Bezugsrahmen („Zoom“). Sollten normative Verweiszusammenhänge, die Praktiken zusammenhalten können, nicht auszumachen sein, handelt es sich nicht um eine Praktik. Dann stimmt der „Zoom“ nicht. Und dann sind die analytischen Grenzen eines normativen Begriffes von Praktiken erreicht.
Methodische Implikationen
In Anbetracht der „Notwendigkeit einer genuin praxissoziologischen Methodendiskussion“ (Schäfer et al. 2015b, S. 8) kann ein normativer Begriff von Praktiken die bisherige methodologische Diskussion um den empirischen Zugang zu Praktiken sinnvoll ergänzen. Wer Praktiken in ihrer Regelmäßigkeit oder Iterabilität verstehen will, wird versuchen, sie anhand von Wiederholungen, Bewegungen und Übergängen – gleichsam „transitiv“ – zu beobachten (Schäfer 2016a). Ausgehend von Rouse und Schatzki bietet es sich jedoch an, methodisch stärker darauf Acht zu geben, wo und mit welchen Formen des normativen Verweisens wer oder was an Praktiken teilnimmt, sich ver-antwortet: Wie entfaltet sich ein normativer Verweiszusammenhang in seiner situativen Dynamik? Wo bricht dieser Zusammenhang ab, wo stellt er überraschende Verknüpfungen her? Wie rekurriert er auf Regeln, und durch welche Praktiken wird der Geltungsanspruch dieser Regeln gestützt? Welche Rechtfertigungen und Maßstäbe werden in solchen Verweiszusammenhängen in Anschlag gebracht, welche verschwiegen? Auf welche Formen von Reflexivität bzw. Präreflexivität wird in solchen Verweiszusammenhängen zurückgegriffen (Pettenkofer 2017)? Auch: Wie zeigen sich normative Verweiszusammenhänge in ihrer „materiellen Vollzugswirklichkeit“ (Schäfer und Daniel 2015, S. 43)? Wie konstituieren sich Bezugnahmen im körperlich-artefaktischen „Miteinandertun“ (Hörning und Reuter 2004b, S. 12)? Und in welchem Bezug steht das Inkorporierte zum Expliziten? Wie greifen Bourdieus zwei Modi der „Objektivierung“, institutionalisiert und einverleibt (Bourdieu 1987, S. 106), ineinander?
Teil einer Praktik zu sein, so Diana Lengersdorf, erfordere immer eine spezifische „Stromlinienform“. Dementsprechend sei die Frage, „ob etwas oder jemand in Praktiken involviert wird, […] eine Frage des Passend-seins“ (Lengersdorf 2015, S. 192). Ein normativer Begriff von Praktiken fordert dazu auf, diesen Ansatz zu erweitern und auch die Spannungen und Reibungen – die „friction“ (Tsing 2005, Korn und Wagenknecht 2017) – in jenen Bezugnahmen zu betrachten, die sich in fehlenden Passungsverhältnissen und Widerständen artikulieren. Praktiken konstituieren sich dann nicht mehr nur in einem Mit-, sondern möglicherweise auch in einem Gegeneinandertun und Sichwidersetzen. Demzufolge gilt es mit einem normativen Begriff von Praktiken nicht allein nach weichen Korrekturen, wohlwollenden Begutachtungen und Bestätigungen zu fragen. Sondern auch danach, welche Antagonismen, welche Kontroversen, welche spröden Brüche den Nexus von Praktiken ausmachen. Wie verhält sich das Gegen- zum Miteinandertun? Wie verhält sich die Widerständigkeit und Nachgiebigkeit zueinander? Wie bestehen Regeln in solch spannungsreichen Verweiszusammenhängen?
Methodisch wichtig ist Rouses (2007a, S. 51) Hinweis darauf, dass Forschung immer Teil der normativen Bezüglichkeiten ist, die Praktiken zusammenhalten. Forschung, selbst praktisches Geschehen, kann sich nicht auf einen entrückten Beobachtungsposten zurückziehen. Rouses normativer Begriff von Praktiken muss als Aufforderung dazu gelesen werden, Forschungshandeln und Beobachtungsgegenstände noch offensiver in Zusammenhang zu betrachten.Footnote 8 Das schlagen auch Robert Schmidt und Jörg Volbers vor, denen zufolge praxisanalytische Beobachtungsverfahren „nicht ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ auf die Praxis als ihr Anderes [blicken], sondern […] Binnendifferenzierungen einer gemeinsam geteilten Welt [nutzen], um in Perspektivierungspraktiken andere Praktiken in ein neues Licht zu setzen“ (Schmidt und Volbers 2011, S. 36). Forschung kann demnach „keine statische Sicht von einem Nirgendwo aus an[streben], sondern situiert sich, als Praktik unter Praktiken, mitten im Geschehen“ (ebd.). So verstanden muss die Beforschung von Praktiken dem Umstand Rechnung tragen, dass Normativität prospektiven Charakter besitzt, sich normative Bezüge dynamisch entfalten und damit das, was die Kohärenz einer Praktik ausmacht, immer im Fluss bleibt. Praktiken lassen sich schlecht fest- oder vorschreiben; ihre Beschreibung muss zukunftsoffen bleiben. Für die empirische Untersuchung von Praktiken kann es sich daher als lohnenswert erweisen, stärker als bisher den Blick über den Horizont der Gegenwart zu heben und auch mögliche Zukünfte – Utopien (Levitas 2013) – in praxistheoretisch fundierter Forschung zu berücksichtigen.
Sich als Teil eines zukunftsoffenen, zukunftsorientierten normativen Verweiszusammenhanges zu verstehen, muss für sozialwissenschaftliche Forschung allerdings nicht bedeuten, sich mit sozialpolitischen Forderungen an die Öffentlichkeit zu wenden. Wie ein solches Selbstverständnis auf subtile Weise proaktiv sein kann, zeigen Sören Groth, Jakob Hebsaker und Lucas Pohl (2017) in einer stadtgeografischen, „interventionistischen“ Studie darüber, wie kollektive Fußgängerquerungen das Primat der Automobilität zu irritieren vermögen. Ort der Studie ist die Frankfurter Hansaallee, eine Zufahrtsstraße zu einer großen Kreuzung nahe einem Frankfurter Universitätsgelände, über die täglich mehrere tausend Studierende und Universitätsmitarbeiter*innen strömen. Viele der Passant*innen überqueren, oft in großen Gruppen, die Straße abseits der nahe gelegenen Ampelanlage (und verstoßen damit gegen die Straßenverkehrsordnung). Im Rahmen der Studie wurden im Juni 2015 ihre Fußwege markiert. Es ergab sich ein Strang aus Kreidespuren, der quer über die Fahrbahn lief und die Straße als „Konfliktfeld“ kennzeichnete (Groth et al. 2017, S. 257). „Infolge medialer Aufmerksamkeit kam es unmittelbar im Anschluss an die Intervention vor Ort zu einer adaptiv-planerischen Reaktion des städtischen Verkehrsdezernats“ (ebd.): Noch im gleichen Jahr markierte die Stadtverwaltung die Fläche mit einem „Schachbrett“ – einer Markierung, die von der Straßenverkehrsordnung nicht definiert wird und den Autoren zufolge nur einer „vermeintlichen Re-Konfiguration“ (ebd., S. 263) gleichkommt, die aber den Konflikt zwischen motorisiertem Verkehr und Fußquerung intensivierte. Auch der „rote Teppich“, der die Fläche seit Herbst 2016 bedeckt, konnte daran nichts ändern: „Zufußgehende sehen sich in ihrem Handeln bestätigt und Autofahrer_innen beharren weiterhin auf dem Gesetz des Ortes“ (Groth et al. 2017, S. 264). Wie sollte sich daran grundsätzlich auch etwas ändern, könnte man fragen, denn die (wörtlich zu nehmende) Auseinander-Setzung zwischen Fußgänger- und Autofahrer*innen ist für ihre Mobilitätspraktiken wohl konstitutiv. Der Intervention ist es immerhin gelungen, die Praktik fußläufiger Querung jenseits der Ampel zu bestärken – wenn auch nur vorläufig und hochgradig lokal, denn eine Verknüpfung mit den Praktiken der städtischen Verkehrsplanung auch in anderen Städten, der nationalen Verkehrsgesetzgebung etc. ist nicht erreicht. Weder das „Schachbrett“ noch der „rote Teppich“ werden anderswo konsistent als Kreuzungsregel mobilisiert.