Einleitung

Aufgrund der steigenden Infektionen mit der neuartigen Atemwegserkrankung Coronavirus-disease-2019 (COVID-19) in China hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 30.01.2020 eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ ausgerufen [17]. Gegen Ende Februar stiegen die Fallzahlen auch in Europa. Insbesondere in Norditalien kam es zu einem sprunghaften Anstieg an COVID-19-Patienten und auch in Deutschland gab es erneut Fälle von Infektionen mit SARS-CoV‑2, nachdem es bereits im Januar nur einen Eintrag in der Region München gab [3].

Am 11.03.2020 wurde vonseiten der Weltgesundheitsorganisation der COVID-19-Ausbruch offiziell zu einer Pandemie erklärt [16]. Die nationale Seuchenschutzbehörde, das Robert Koch-Institut, bewertete die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland am 17.03.2020 insgesamt als „hoch“ [7]. Analog hierzu hat die Bayerische Staatsregierung am 16.03.2020 den Katastrophenfall ausgerufen und Ausgangsbeschränkungen erlassen, die ab dem 21.03.2020 bis zum 05.05.2020 galten und am 06.05.2020 durch Kontaktbeschränkungen ersetzt wurden [1, 4, 6, 11]. Im Zusammenhang mit dem Katastrophenfall haben das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration sowie das Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege am 24.03.2020 eine Allgemeinverfügung erlassen, in der unter anderem die Organisation der Krankenhausbelegung, Neukonzeption der IT-Steuerung und Meldepflichten, Schaffung zusätzlicher Kapazitäten, COVID-19-Koordinierungsgruppen der Krankenhäuser sowie organisatorische Maßnahmen für Krankenhäuser angeordnet wurden [5].

Entsprechend der vorhandenen Pandemie- und Notfallpläne wurden im Raum München schon nach dem Auftreten der ersten COVID-19-Fälle Vorkehrungen im Gesundheitswesen getroffen. Auch aufgrund der Berichterstattung aus Italien, Frankreich und Spanien wurden Krankenhauskapazitäten umfunktioniert und Intensivbetten geschaffen, um einem möglicherweise bevorstehenden großen Ansturm an Patienten gerecht zu werden [2].

Im Rahmen dieser Vorhaltemaßnahmen wurden Betten in Fachbereichen, die hauptsächlich elektive Medizin betreiben, reduziert, um andere Bereich, wie z. B. die Notaufnahmen, zu stärken. Mit dem Sonderlagenmodul IVENA (mainis IT-Service GmbH, Offenbach am Main, Deutschland) melden die Kliniken mehrmals täglich den Ist-Stand der Betten an die Sicherheits- und Gesundheitsbehörden.

Die COVID-19-Fälle stiegen täglich weiter an, aber aufgrund der deutlichen und strikten Ausgangsbeschränkungen verlängerte sich auch die Verdopplungszeit der Viruserkrankungen, sodass es erfreulicherweise zu keiner Überlastung der Krankenhäuser in Deutschland gekommen ist.

Alle Vorhaltemaßnahmen, die in den Monaten getroffen wurden, hatten zum Nebeneffekt, dass die medizinische Versorgung auf einen Notbetrieb umgestellt wurde. Die hierdurch entstandenen gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Schäden sind noch nicht absehbar. Diese Arbeit soll das Patientenaufkommen zu Beginn und nach Abflachen der wohl ersten COVID-19-Welle in Deutschland aufzeigen und kann für weitere Pandemieplanungen im Bereich der Notaufnahmen miteinbezogen werden.

Methoden

Zentrale Notaufnahme des Klinikums rechts der Isar im Kontext

Das Klinikum rechts der Isar (RDI) der Technischen Universität München weist gemäß § 136c Absatz 4 des 5. Buches, Sozialgesetzbuch (SGB V) die Voraussetzungen für eine Klinik der „umfassenden Notfallversorgung – Stufe 3“ auf [9]. Die zentrale Notaufnahme (ZNA) des Klinikums gehört zu den größten im Rettungsdienstbereich München. Jährlich werden mehr als 40.000 Notfälle in der ZNA behandelt. Sie ist für jegliche Notfälle ausgerüstet und verfügt über einen Schockraumbereich mit Computertomographie, für den ein interdisziplinäres Team aus den Fachbereichen Chirurgie, innere Medizin, Neurologie, Anästhesie und Radiologie vorgehalten wird. Hauptsächlich werden in der ZNA Patienten aus den Fachbereichen Chirurgie, innere Medizin sowie Neurologie behandelt. Zusätzlich stehen am Klinikum Spezialambulanzen der Bereiche Urologie, Gynäkologie, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Augenheilkunde zur Verfügung.

Im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie erfuhr die ZNA eine grundlegende Umstrukturierung in einen räumlich getrennten infektiösen und nichtinfektiösen Bereich. Die Patienten werden analog eines an die Gegebenheiten des Klinikums angepassten COVID-19-Algorithmus anhand ihrer Symptome und Temperatur in die jeweiligen Bereiche getrennt [15, 18].

Manchester Triage System

Bei Vorstellung der Patienten in der ZNA erfolgt nach personeller Identifikation eine medizinische Ersteinschätzung, auch „Triage“ genannt, gemäß einem validierten System, dem Manchester Triage System (MTS; [10]). Anhand von insgesamt 50 Beschwerdebildern und entsprechenden Präsentationsdiagrammen wird die Dringlichkeit des Notfalls festgestellt. Hierdurch wird die maximale Zeit bis zum ersten Arztkontakt definiert und nach einem Ampelprinzip von „blau“ für nichtdringend bis „rot“ für akute Lebensgefahr eingeteilt (Tab. 1).

Tab. 1 Übersicht über die einzelnen Dringlichkeitsstufen gemäß MTS

Fachbereiche

Die verschiedenen Fachdisziplinen wurden hinsichtlich einer besseren Übersicht in übergeordnete Fachbereiche zusammengefasst. „Chirurgie“ beinhaltet alle chirurgischen Subdisziplinen wie Unfall‑, Viszeral‑, Thorax‑, Gefäß‑, Mund-Kiefer-Gesichts‑, Neurochirurgie und plastische Chirurgie. Die Fachbereiche innere Medizin und Neurologie werden im Folgenden als „Konservativ“ zusammengefasst. Aufgrund der geringen Fallzahlen werden zur besseren Übersicht alle anderen Fachbereiche, wie Psychiatrie, Urologie, Pädiatrie, Gynäkologie und Geburtshilfe, im Folgenden als „Andere“ aufgeführt.

ERPath

In der ZNA des Klinikums RDI werden alle patientenbezogenen Daten mittels eines Notaufnahmeninformationssystem (ERPath, eHealth-Tec Innovations GmbH, Berlin, Deutschland) erhoben und gespeichert [8]. Das Produkt ermöglicht eine vereinfachte und an die Notaufnahme angepasste Prozessteuerung inklusive Ersteinschätzung und Dokumentation. Es werden alle personenbezogenen Daten erhoben und gesichert. Das Triageergebnis wird mit Beschwerdebild, dessen Dringlichkeit und genauem Zeitstempel dokumentiert. Dies gilt auch für alle erhobenen Vitalparameter, verabreichte Medikamente und Therapien. Zudem werden alle administrativen Prozesse und klinische Untersuchungsbefunde, wie Anamnese, körperliche Untersuchung, Diagnostik und Konsile, systematisch erfasst.

Datenerhebung

Im Rahmen einer deskriptiven epidemiologischen Studie wurden in dem Zeitraum vom 01.02.2019 bis zum 30.04.2019 sowie 01.02.2020 bis 30.04.2020 die in ERPath erhobenen Daten ausgewertet. Die Daten der im Beobachtungszeitraum erhobenen Notfälle wurden anonymisiert aus dem IT-System ERPath extrahiert und ausgewertet. Eine Signifikanz wird durch p-Werte <0,05 angezeigt. Es wurde keine Korrektur für mehrfache Tests vorgenommen. Für das Alter wurde der Mann-Whitney-U-Test, für alle anderen Faktoren der χ2-Test angewendet (SPSS Statistics for Windows, Version 25.0., IBM, Armonk, NY, USA; Microsoft Excel 2019; Microsoft Office, Redmond, WA, USA).

Ergebnisse

Basischarakteristika

In Tab. 2 sind die Baseline-Charakteristika der Patienten im Beobachtungszeitraum Februar bis März für die Jahre 2019 und 2020 aufgeführt. Das Alter der Patienten lag im Mittel bei 48 ± 21 bzw. 50 ± 21 Jahre. Der Anteil an männlichen Patienten lag bei 52 % respektive 53 %. Der Großteil der Notfallpatienten stellte sich selbstständig vor. Die Stufen grün und gelb waren in beiden Jahren erwartungsgemäß die am häufigsten im Rahmen der Triage gewählten Dringlichkeiten.

Tab. 2 Basischarakteristika der untersuchten Fälle im Beobachtungszeitraum 2019 und 2020

Bezüglich der Fachbereiche in den Jahren 2019 und 2020 hatte Chirurgie mit 65 % bzw. 53 % den größten Anteil, gefolgt von Konservativ mit 34 % bzw. 45 % und Andere mit 1 % bzw. 2 %.

Patientenzahlen gesamt

Im Februar 2019 wurden in der zentralen Notaufnahme (ZNA) insgesamt 2941 Patienten behandelt. Im Mittel entspricht dies in etwa 105 Patientenkontakten täglich. Im Februar 2020 wurden insgesamt 3796 (davon 0 COVID-19-)Patienten versorgt, das entspricht also durchschnittlich etwa 131 Patientenkontakte pro Tag. Somit zeigt sich im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr ein Mehraufkommen von 26 %.

Im März 2019 wurden insgesamt 3333 Patienten in der ZNA behandelt (108 Patienten pro Tag). Im März des Folgejahrs waren es 3101 (davon 97 COVID-19-)Patienten (100 Patienten pro Tag). Demnach kam es im März 2020 im Vergleich zum Vorjahr sogar zu einem Abfall der Notfallpatienten um etwa 7 %.

Im April 2019 wurden in der ZNA insgesamt 3521 Patienten behandelt (117 Patienten pro Tag). Im April des Jahrs 2020 beliefen sich die Zahlen auf 2665 (davon 56 COVID-19-)Patienten (89 Patienten pro Tag), was einem Rückgang an Notfallpatienten von etwa 24 % entspricht.

Die Patientenzahlen im untersuchten Zeitraum 2019 waren weitgehend konstant mit einer Abweichung von etwa 3 Patienten pro Tag und zeigten von Februar bis April einen Anstieg von etwa 12 Patienten pro Tag. Im Jahr 2020 dagegen zeigt sich von Februar bis April ein deutlicher Abfall der Patienten um etwa 42 Patienten pro Tag, was einem Rückgang von etwa 32 % pro Tag entspricht (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Entwicklung des Patientenaufkommens und der COVID-19(Coronavirus-disease-2019)-Fälle in der zentralen Notaufnahme des Klinikums rechts der Isar von Februar bis April in den Jahren 2019 und 2020. Die gestrichelte orangefarbene Linie entspricht dem täglichen Patientenaufkommen im Jahr 2019, die blaue Linie dem im Jahr 2020. Graue Säulen entsprechen den bestätigten COVID-19-Fällen, die über die ZNA aufgenommen wurden

Fachbereiche

Im Fachbereich „Konservativ“ wurden im Zeitraum Februar bis April 2019 insgesamt 3326 Patienten behandelt, im selben Zeitraum 2020 waren es insgesamt 4345 Patienten, was einem signifikanten Mehraufkommen von 31 % entspricht (p < 0,001).

Im Vergleich der Monate Februar, März und April im Jahr 2019 waren die Patientenzahlen weitestgehend konstant und es zeigte sich eine leichte Schwankung von maximal etwa 3 Patienten pro Tag. Demgegenüber kam es im Jahr 2020 zu einem deutlichen Abfall von Februar zu März und weiter zu April, nämlich um etwa 11 bzw. 15 Patienten pro Tag, was einem relativen Rückgang von 27 % entspricht.

Dies betrifft insbesondere den untergeordneten Fachbereich „innere Medizin“. Während das Patientenaufkommen im Bereich „innere Medizin“ insgesamt gesehen im Verlauf der Jahre also stieg, fielen die Patientenzahlen im Jahr 2020 von Februar bis April deutlich ab, während sie im Vorjahr weitgehend konstant blieben (Abb. 2a).

Abb. 2
figure 2

Entwicklung der Patientenzahlen für den Fachbereich innere Medizin (a) und den Fachbereich Unfallchirurgie (b) von Februar bis April in den Jahren 2019 und 2020. Die gestrichelte Linie entspricht dem täglichen Patientenaufkommen in 2019, die durchgezogene Linie dem in 2020

Im Fachbereich „Chirurgie“ wurden im untersuchten Zeitraum 2019 insgesamt 6391 Patienten behandelt, wohingegen im selben Zeitraum 2020 insgesamt 5051, also signifikant weniger Patienten gesehen wurden (p < 0,0001). Von Februar auf März bis April desselben Jahrs zeigte sich für 2019 ein Anstieg der Patientenzahlen um etwa 6 bzw. 7 Patienten pro Tag. Im Jahr 2020 fielen die täglichen Patientenkontakte von Februar auf März und bis April stark ab, um etwa 20 bzw. 27 Patienten pro Tag.

In der Subdisziplin Unfallchirurgie wurden im Beobachtungszeitraum 2019 insgesamt 5136 Patienten versorgt. Im gleichen Zeitraum des Jahrs 2020 waren es 3944 Patienten. Dies entspricht einem Abfall des Patientenaufkommens um etwa 23 % bzw. 14 Patienten pro Tag. Umso deutlicher wird dies, wenn man die Änderung der Patientenzahlen im Monatsvergleich betrachtet (Abb. 2b). Hier zeigt sich für das Jahr 2019 ein leichter Anstieg des Patientenaufkommens von Februar auf März um etwa 4 Patienten pro Tag, bis April um etwa 10 Patienten pro Tag. Im Jahr 2020 stellt sich stattdessen ein deutlicher Abfall von Februar auf März um etwa 16 Patienten pro Tag, bis April sogar um etwa 21 Patienten pro Tag dar.

Im Fachbereich „Andere“ wurden im beobachteten Zeitraum des Jahrs 2019 insgesamt 78 Patienten behandelt, während es im Jahr 2020 etwa 166 Patienten waren. Von Februar bis April desselben Jahrs blieben die Zahlen sowohl in 2019 als auch in 2020 weitgehend konstant mit einer maximalen Schwankung von etwa 0,3 Patienten pro Tag.

Bezogen auf die 2 wichtigen Fachbereiche „Konservativ“ und „Chirurgie“ zeigt sich, dass im Jahr 2020 von Februar bis April ein zum Vorjahr überproportional deutlicher Rückgang der Patientenzahlen zu verzeichnen ist.

Dringlichkeit

Vergleicht man das Patientenaufkommens der Jahre 2019 und 2020 miteinander, ist klar zu erkennen, dass die Dringlichkeitsstufe „gelb“ zugewinnt, wohingegen die Patientenzahlen für „blau“ und „grün“ zurückgingen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Direkter Vergleich des Patientenaufkommens für die Jahre 2019 und 2020 gentrennt nach den Dringlichkeitsstufen nach MTS (Manchester Triage System)

Beschwerdebilder

In Tab. 3 ist die Verteilung der Notfälle anhand der 51 Beschwerdebilder gemäß MTS für den Beobachtungszeitraum 2019 und 2020 aufgeführt. Die häufigsten 3 Beschwerdebilder in den Monaten Februar bis April für die Jahre 2019 und 2020 waren demnach „Extremitätenprobleme“ (2350 vs. 2005 Patienten), „Unwohlsein bei Erwachsenen“ (1171 vs. 1745 Patienten) und „Abdominelle Schmerzen bei Erwachsenen“ (1019 vs. 915 Patienten).

Tab. 3 Verteilung der Patientenzahlen auf die einzelnen Beschwerdebilder je Monat

Um die Auswirkung der COVID-19-Pandemie auf die einzelnen Beschwerdebilder zu untersuchen, haben wir diese im März 2020, dem Monat mit dem höchsten Aufkommen von COVID-19-Patienten (Abb. 1), mit dem Vorjahr verglichen (Abb. 4). Hier zeigt sich eine deutliche Zunahme von „Unwohlsein bei Erwachsenen“ (+47 % zum Vorjahr), „Atemprobleme bei Erwachsenen“ (+36 % zum Vorjahr), während „Rückenschmerz“ (−41 % zum Vorjahr), „Wunden“ (−29 % zum Vorjahr) und „Thoraxschmerz“ (−24 % zum Vorjahr) im Vergleich zum Vorjahr deutlich abgenommen haben.

Abb. 4
figure 4

Relative Veränderung der Fallzahl pro Beschwerdebild nach MTS (N ≥ 50 pro Monat) im März 2020 im Vergleich zum Vorjahr in Prozent

Diskussion

Am Klinikum rechts der Isar stellen sich jedes Jahr mehr als 40.000 Patienten in der zentralen Notaufnahme vor. Vergleicht man die Patientenzahlen im untersuchten Zeitraum der Jahre 2019 und 2020 sind die Notfälle auf vergleichbarem Niveau mit einer leicht steigenden Tendenz in 2020 (Abb. 1). Es zeigt sich jedoch über alle Fachbereiche hinweg ein deutlicher Abfall an Notfallpatienten von Februar bis April 2020. Das tägliche Patientenaufkommen von 131 Patienten pro Tag im Februar fällt ab dem 10. März auf etwa 88 Patienten, also um etwa 32 %, für den restlichen Monat und hält bis einschließlich April an (Abb. 1). Zeitgleich mit den sinkenden Zahlen an Notfallpatienten stiegen die bestätigten COVID-19-Fälle im Münchener Raum und auch am Klinikum rechts der Isar. Ab dem 20. März werden über die ZNA täglich mindestens 4 bestätigte COVID-19-Fälle aufgenommen (Abb. 1).

Für den starken Einbruch an Notfallpatienten in der 2. Märzhälfte müssen mehrere Faktoren in Betracht gezogen werden. Hauptursächlich scheint jedoch der spürbare Beginn der COVID-19-Pandemie in Deutschland zu sein.

Betrachtet man die Fachbereiche getrennt voneinander, ist zu erkennen, dass die Anzahl der Notfallpatienten mit unfallchirurgischen Krankheitsbildern im Vergleich zu den konservativen Notfallpatienten mit Erkrankungen aus anderen Fachbereichen deutlich abgefallen ist (Abb. 2). Ursächlich hierfür könnte unter anderem die in Bayern ab dem 21.03.2020 verfügte Ausgangssperre sein [1]. Die Mobilität und sportlichen Aktivitäten sind hierdurch für die Bevölkerung deutlich eingeschränkt worden. Alle öffentlichen Spielplätze und Sportstätten, wie Fitnessstudios, Freizeitbäder, etc., wurden geschlossen und Mannschaftssportarten, wie Fußball, Basketball, etc., durften nicht mehr stattfinden. Ein Rückgang der Mobilität und sportlichen Aktivität könnte somit zu weniger Fällen mit unfallchirurgischen Krankheitsbildern führen.

Bestätigt wird dies durch eine deutliche Umverteilung der Beschwerdebilder, die im Rahmen der Triage erhoben werden. Wie in Abb. 4 zu erkennen haben im Vergleich zum Jahr 2019 im März 2020 beispielsweise Atemwegsprobleme deutlich zugenommen und demgegenüber Kopfverletzungen und Rückenschmerzen deutlich abgenommen. Derartige Schwankungen können ebenfalls saisonal bedingt sein, insbesondere durch die jährlich auftretende Influenza- und Respiratory-Sinzytial-Virus(RSV)-Welle. Diese fiel im Jahr 2020 im Vergleich zu den vergangenen 5 Jahren mit einer Dauer von 11 Wochen allerdings deutlich kürzer aus und endete am 22.03.2020 [13]. Ebenso sind die Todeszahlen im Jahr 2020 mit 518 influenzabedingten Todesfällen um etwa 54 % niedriger als im Vorjahr [13, 14].

Ein weiterer Grund für den Rückgang an Notfallpatienten könnte die sinkende Zahl an Selbsteinweisungen sein. Infolge der medialen Präsenz der COVID-19-Pandemie und des erhöhten Ansteckungsrisikos in Krankenhäusern wäre es denkbar, dass sich derartige Bedenken auf die Konsultationsfrequenz der Patienten auswirken. Die Bekanntgabe der ersten Todesfälle in Deutschland am 09. März könnte ebenfalls dazu beigetragen haben [12]. Denkbar wäre ebenso, dass Beschwerden hierdurch länger ausgehalten werden bzw. ganz auf einen Arztbesuch verzichtet wird.

Auch durch unterschiedliche Empfehlungen einzelner Fachgesellschaften, des RKI, der WHO, der Bundesländer und der EU-Staaten, herrscht unter der Bevölkerung Unsicherheit über den richtigen Umgang mit Schutzmaßnahmen im Rahmen der Pandemie. Durch fehlende soziale Kontakte könnten auch Faktoren wegfallen wie z. B. ein freundschaftlicher Rat, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Bei Fehlen dieser laienbasierten Unterstützung wird so der Gang ins Krankenhaus verzögert.

Auch die veränderte Verteilung der Dringlichkeit von „blau“ und „grün“ hin zu „gelb“, also zu einer zeitkritischeren Vorstellung, sowie die signifikante Zunahme der stationären Aufnahmen um 5 % im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr sprechen ebenfalls dafür, dass Patienten mit einer vermutlichen Bagatelle eher zu Hause bleiben und sich eher solche mit schwerwiegenderen Krankheitsbildern vorstellen. Es bleibt allerdings ungewiss, ob Patienten möglicherweise aufgrund dieser Bedenken so lange gewartet haben, bis eine ernstzunehmende Erkrankung erwachsen ist. Daten, die diese Vermutung erhärten könnten, wie z. B. die Verweildauer oder Dauer der ggf. nötigen intensivmedizinischen Behandlung, liegen leider nicht vor.

Ein sinnvoller Ansatz, um derartige Kollateralschäden, die möglicherweise durch einen verzögerten oder ausgesetzten Krankenhausbesuch entstehen, zu vermeiden, wäre, der Bevölkerung Ängste zu nehmen, die Kommunikation über Schutzausrüstung und Ansteckungsgefahr im Krankenhaus zu verbessern und auf die gute Infrastruktur des deutschen Gesundheitssystem zu verweisen. Denn trotz eines hohen Aufkommens an COVID-19-Patienten bestanden zu jedem Zeitpunkt ausreichende Kapazitäten, um alle Notfälle adäquat behandeln zu können.

Limitationen

Im Rahmen der Auswertung des IT-Systems ERPath wurden keine weiterführenden Basisdaten zu den Patienten erhoben, daher kann auch keine Aussage zur tatsächlichen Krankheitsschwere der einzelnen Notfälle gemacht werden. Die Auswertung gibt auch keine Information über den weiteren Verlauf der Patienten. Daten zur Entlassart oder zum stationären Verlauf liegen nicht vor. Ebenso haben wir keinen Zugriff auf Daten aus dem ambulanten Sektor, die Aufschluss über die Auslastung der Hausarztpraxen geben könnten.

Warum die Patientenzahlen mit Beginn der Behandlung der ersten COVID-19-Fälle gesunken sind, kann nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden.

Weiterführende Daten wie ICD-10-Hauptdiagnose oder stationäre Behandlungsdauer wären zur weiteren Bestimmung von möglichen Kollateralschäden von erheblicher Bedeutung.

Fazit für die Praxis

  • Das Patientenaufkommen in der Notaufnahme ist zur Zeit der COVID-19(Coronavirus-disease-2019)-Pandemie gesunken.

  • Ursächlich könnten unseres Erachtens auch unbegründete Ängste in der Bevölkerung über eine mögliche Infektion im Krankenhaus sein.

  • Bessere Kommunikation auf allen Kanälen könnte den Patienten die Sicherheit geben, sich im Notfall in ein Krankenhaus zu begeben.

  • Bei bestehenden Krankenhauskapazitäten müssen Kollateralschäden der COVID-19-Pandemie vermieden werden.