Einleitung

Seit mehreren Jahren steht die Notfallversorgung aufgrund steigender Patientenzahlen in den Notaufnahmen und Rettungsdiensten im Fokus gesundheitspolitischer Diskussionen [1, 13, 14, 19]. Dieser Anstieg erklärt sich aber nicht nur durch eine Zunahme kritisch kranker bzw. verletzter Notfallpatienten, vielmehr haben sich die Inanspruchnahme der Ressourcen sowie das Alarmierungs- und Ausrückverfahren verändert [5]. Während im Jahr 2005 deutschlandweit ca. 8,32 Mio. Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Krankentransportwagen (KTW), Rettungswagen (RTW) und Notarztarzteinsatzfahrzeug (NEF) in Anspruch genommen haben, stieg dieser Anteil auf 14,04 Mio. GKV-Versicherte im Jahr 2018 an [4]. Der demographische Wandel und seine Folgen, eingeschränkte Gesundheitskompetenz, lange Wartezeiten in der Primärversorgung, abnehmende Verfügbarkeit alternativer Versorgungsstrukturen und ein erhöhtes Anspruchsdenken der Bevölkerung führen dazu, auch bei geringerer Krankheitsschwere Hilfe durch den Rettungsdienst zu beziehen. In Zweifelsfällen entsenden die Leitstellendisponenten einen RTW oder ein Mehrzweckfahrzeug. Häufig erfolgt dann eine ambulante Versorgung vor Ort ohne nachfolgenden Transport zur Weiterversorgung im Krankenhaus [6, 8]. Eine nichtzweckmäßige Ressourcenbindung von Einsatzmitteln und Personal sind die Folge.

Um das steigende Einsatzaufkommen im Bereich der nicht vital bedrohlichen Notfälle zu begegnen, hat sich in den USA, Kanada und Großbritannien bereits der Einsatz von Rettungsdienstmitarbeitern und -mitarbeiterinnen mit Weiterbildung in der primären Gesundheitsfürsorge, „community paramedics“, etabliert [11]. Dieses Community-paramedic-System diente 4 benachbarten Rettungsdienstträgerschaften im Oldenburger Land als Vorbild, um das an die Rahmenbedingungen des deutschen Rettungsdiensts angepasste Pilotprojekt „Gemeindenotfallsanitäter“ (G-NFS) für nicht lebensbedrohliche Notfälle zu entwickeln. Das Ziel des Pilotprojekts ist, die Versorgung von Bürgern sicherzustellen, bei denen es sich „nicht um bereits in der Leitstelle identifizierte Notfalleinsätze handelt“. Dies soll sowohl den Rettungsdienst als auch die Notaufnahmen von ambulant zu versorgenden Patienten entlasten [3]. Das niedersächsische Innenministerium und die Kostenträger haben dieser neuen Leistungsform des Rettungsdiensts für eine projektgebundene Laufzeit zunächst bis zum 31.08.2020 zugestimmt. Bei den Rettungsdienstträgerschaften handelt es sich um 4 benachbarte Kommunen mit rund 600.000 Einwohnern, die sowohl urbane als auch rurale Charakteristika vorweisen. In den zuständigen Leitstellen wurden im Jahr 2019 rund 85.600 Einsätze „Notfallrettung“ für das Gebiet erfasst.

Die beteiligten Organisationen haben ein Weiterbildungsprogramm für die G‑NFS entwickelt [3].

Seit dem 02.01.2019 werden G‑NFS von den beteiligten Leitstellen eingesetzt. Die Alarmierung durch den Leitstellendisponenten erfolgt, wenn nach Notrufabfrage durch die Leitstellendisponenten eine Erkrankung oder Verletzung erwartet wird, die keiner ärztlichen Intervention bedarf und voraussichtlich keinen Transport nach sich zieht. Anstatt eines RTW wird ein G‑NFS alarmiert. Die G‑NFS fahren alleine ohne Sonderrechte zum Einsatzort und werden am Ort des Hilfeersuchens tätig. Als Rettungsmittel kommt ein Fahrzeug zum Einsatz, das einem NEF ähnelt. Die Ausstattung wurde jedoch auf den Bedarf der G‑NFS adaptiert. Diese fungieren als „Auge der Leitstelle“ und können durch die erweiterten Kompetenzen dringlich von nichtdringlich zu behandelnden Fällen differenzieren. Nach Erstkontakt, Anamnese und Untersuchung entscheiden die G‑NFS über das weitere Vorgehen anhand speziell für dieses Projekt entwickelter Algorithmen, die durch die ärztlichen Leiter der beteiligten Rettungsdienste freigegeben wurden. Somit können erste pflegerisch-medizinische Maßnahmen im häuslichen Umfeld durchgeführt und bei Bedarf mit dem Hilfesuchenden über die Notwendigkeit einer Versorgung z. B. im ärztlichen Bereitschaftsdienst oder die Nachforderung eines Rettungsmittels gesprochen werden. Durch eine Kontaktaufnahme zur Telemedizinzentrale der Universitätsklinik für Anästhesiologie (AINS) im Klinikum Oldenburg ist eine ärztliche Mitbeurteilung rund um die Uhr gewährleistet. Wird vor Ort ein Notfall festgestellt, erfolgt die weitere Versorgung nach den lokalen Algorithmen für Notfallsanitäter und die Alarmierung weiterer Rettungsmittel. Je Kommune steht ein entsprechendes Einsatzfahrzeug für die G‑NFS zur Verfügung.

Neben der Dokumentation im DIVI-Einsatzprotokoll werden alle Einsätze in einem zusätzlichen G‑NFS-Einsatzprotokoll erfasst. Die Studie wurde nach dem Vorliegen eines positiven Ethikvotums begonnen (Medizinische Ethikkommission der Universität Oldenburg, Votum-Nr. 2019-030).

Ziel der Arbeit

Ziel der vorliegenden Arbeit war, die ersten 12 Monate der praktischen Phase des Projekts G‑NFS hinsichtlich der Inanspruchnahme von G‑NFS und Versorgung von nicht lebensbedrohlich erkrankten Patienten mittels Auswertung der G‑NFS-Einsatzprotokolle zu untersuchen.

Methodik

Studiendesign und erhobene Variablen

Die Studie wurde als retrospektive Beobachtungsstudie durchgeführt. Es wurden die G‑NFS-Einsatzprotokolle für alle Patienten, die vom 02.01.2019 bis einschließlich 31.12.2019 von den G‑NFS in den beteiligten Kommunen versorgt wurden, ausgewertet. Ausgeschlossen wurden alle G‑NFS-Einsatzprotokolle, bei denen die Patienten von den G‑NFS außerhalb der primären Bestimmung, z. B. als „first responder“, versorgt wurden.

Die G‑NFS-Einsatzprotokolle wurden gemeinsam von den rettungsdienstlichen Projektpartnern und Wissenschaftlern des Oldenburger Forschungsnetzwerks Notfall- und Intensivmedizin entwickelt.

Die Angaben waren als Einfach- oder Mehrfachauswahl zu beantworten (Tab. 1). Die Behandlungspriorität wurde mithilfe der Software IVENA (webbasierter interdisziplinärer Versorgungsnachweis; [12]) durch einen 6‑stelligen Patientenzuweisungscode (PZC) codiert.

Tab. 1 Angaben G‑NFS-Protokoll

In den Kategorien Maßnahmen und Empfehlung stand zusätzlich je ein Freitextfeld zur Verfügung.

Datenmanagement und statistische Analyse

Die G‑NFS-Einsatzprotokolle wurden auf den Rettungswachen gescannt. Dabei wurde eine Maske verwendet, um Einsatznummer und alle personenbezogenen Daten mit Ausnahme von Geburtsjahr und Geschlecht zu verdecken.

Die als PDF gespeicherten und anonymisierten Protokolle wurden monatlich von den Leitern der Rettungsdienste auf einem gesicherten Weg an die Universität Oldenburg übermittelt. Die Protokolle wurden mithilfe der Erfassungssoftware TeleForm (Electric Paper Informationssysteme, Lüneburg, Deutschland) Version 16.5 eingelesen und auf Übereinstimmung von Original und eingescannter Version überprüft. Von der Software nicht korrekt erfasste Auswahl- und Freitextfelder wurden manuell korrigiert. Um die Inhalte der Freitextfelder automatisiert auswerten zu können, wurde das Programm Talend Open Studio for Data Integration, Version 7.1.1 eingesetzt. Zunächst wurden Kategorien festgelegt, in denen die Inhalte der Freitextfelder zusammengefasst werden konnten. Die automatisierte Zuweisung der Inhalte der Freitextfelder zu den Kategorien wurde durch das Codieren von Kontexten erreicht, mit deren Hilfe die Texte nach Schlüsselbegriffen durchsucht wurden. Durch wiederholte Probecodierungen und Anpassen der Codes wurde die Qualität der Automatisierung sichergestellt. Nicht automatisch in Kategorien zugewiesene Textfelder wurden manuell in Kategorien eingeteilt.

Für die Auswertung der Daten wurden 20 Altersgruppen in 5‑Jahres-Schritten und für die Angaben zur Einsatzdauer 15-Minuten-Kategorien gebildet.

Die deskriptive Datenanalyse erfolgte mithilfe der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics for Windows Version 26.0.

Ergebnisse

Im Zeitraum vom 02.01. bis zum 31.12.2019 waren 25 G-NFS bei den beteiligten Rettungsdiensten im Einsatz und leisteten 3848 Einsätze. In die Auswertung konnten 3703 G-NFS-Einsatzprotokolle eingeschlossen werden. 1784 (49,4 %) Patienten waren männlich, das Durchschnittsalter betrug 62,2 ± 24,7 Jahre. Über die Hälfte (n = 1970, 55,5 %) der Patienten war älter als 65 Jahre, 1072 (30,2 %) waren älter als 80 Jahre. Inklusive An- und Abfahrt betrug die durchschnittliche Einsatzdauer 63,3 ± 27,46 min.

Dringlichkeit der Versorgung

Es wurde bei 3577 (96,6 %) G‑NFS-Einsatzprotokollen die letzte PZC-Ziffer, die der Einordnung der Behandlungspriorität dient, dokumentiert (Abb. 1). Bei 2186 (61,1 %) Patienten war keine dringliche Versorgung erforderlich (PZC 0). Eine sofortige Intervention im Krankenhaus (PZC 1) war bei 237 (6,6 %) der Patienten notwendig. Bei 586 (16,4 %) Patienten bestand kein unmittelbarer Handlungsbedarf, aber eine stationäre Aufnahme war wahrscheinlich erforderlich (PZC 2). Die Notwendigkeit einer ambulanten Behandlung (PZC 3) im Krankenhaus oder beim niedergelassenen Arzt wurde bei 568 (15,9 %) Patienten dokumentiert.

Abb. 1
figure 1

Dringlichkeit der Versorgung. PZC Patientenzuweisungscode, PZC 0 keine Dringlichkeit, PZC 1 sofortige Intervention im Krankenhaus, PZC 2 stationäre Aufnahme wahrscheinlich, aber kein unmittelbarer Handlungsbedarf, PZC 3 vermutlich ambulante Behandlung ausreichend oder Ausschlussdiagnostik

Durchgeführte Maßnahmen

Insgesamt wurden 5270 Maßnahmen dokumentiert, Mehrfachantworten waren möglich. Durchschnittlich wurden pro Patient 1,8 Maßnahmen durchgeführt. Am häufigsten wurden Beratungen (n = 3109, 84,0 %), Hilfe bei Selbstmedikation (n = 699, 18,9 %) und Medikamentengaben (n = 654, 17,7 %) bei den Patienten durchgeführt. Bei 1512 (40,8 %) G‑NFS-Einsatzprotokollen wurde das Freitextfeld „Sonstiges“ genutzt. Hier wurden überwiegend Maßnahmen wie Anamnese, Diagnostik und Monitoring (EKG, SpO2, Blutdruck- und Pulsmessung, Temperatur) beschrieben und verabreichte Arzneimittel aufgeführt. Einen intravenösen Zugang erhielten 345 (9,3 %) Patienten und bei 226 (6,1 %) Patienten wurden Dauerkatheter angelegt bzw. entfernt oder ein liegender Katheter gespült oder gewechselt. Die am häufigsten dokumentierten medikamentösen Therapien waren intravenöse Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr (n = 46; 1,2 %), Auftragen eines schmerzlindernden Gels (n = 36; 1,0 %) und Sauerstoffgabe (15; 0,4 %).

Einsatz von Telemedizin

Der Einsatz von Telemedizin wurde in 3647 (98,5 %) G‑NFS-Einsatzprotokollen dokumentiert. Bei 34 (0,9 %) Einsätzen wurde eine telemedizinische Beratung in Anspruch genommen. Bei 10 (29,4 %) Patienten wurde die Telemedizin in Ermangelung des Hausarztes oder kassenärztlichen Bereitschaftsdiensts konsultiert. Drei (8,8 %) Patienten wurden von den G‑NFS in die PZC 1, 7 (20,6 %) Patienten in die PZC 2, 5 (14,7 %) Patienten in die PZC 3 und 19 (55,9 %) Patienten in die PZC 0 eingeordnet. Für 11 (32,4 %) Patienten wurde ein RTW und für einen (2,9 %) Patienten ein KTW nachgefordert. Bei 2(5,9 %) Patienten wurde die Verabreichung von Azetylsalizylsäure, Heparin und Nitroglyzerin im Freitextfeld dokumentiert.

Bei den verbliebenen Einsätzen wurde die Telemedizin nicht hinzugezogen.

Transport

In 3614 (97,6 %) G‑NFS-Einsatzprotokollen wurde das nachgeforderte Transportmittel dokumentiert. 2134 (59,0 %) Patienten benötigten kein weiteres Transportmittel (Abb. 2). Ein RTW wurde bei insgesamt 511 (14,1 %) Patienten von den G‑NFS nachgefordert. Bei 613 (17,0 %) Patienten war ein KTW für den Transport in die weiterversorgende Einrichtung ausreichend. Ein privater Transport erfolgte bei 304 (8,4 %) Patienten, für 48 (1,3 %) Patienten wurde ein Taxi/Mietwagen gerufen und bei 4 (0,1 %) Patienten war ein Rollstuhltransport erforderlich. Eine nähere Betrachtung der Transporte im Vergleich zur Behandlungspriorität zeigt, dass von den 568 Patienten, bei denen der PZC 3 (ambulante Behandlung ausreichend) dokumentiert wurde, 74 (13,3 %) mit dem RTW und 245 (44,1 %) mit dem KTW ins Krankenhaus transportiert wurden.

Abb. 2
figure 2

AnzahlTransporte. RTW Rettungswagen, KTW Krankentransportwagen

Empfehlungen

Es wurden 4042 Empfehlungen erfasst, Mehrfachantworten waren möglich (Abb. 3). 1422 (38,4 %) Patienten wurde empfohlen, sich beim Hausarzt vorzustellen. Weiteren 1222 (33,0 %) Patienten wurde eine Vorstellung in der Notaufnahme angeraten. Eine Information der Angehörigen (n = 471, 12,7 %) oder des ambulanten Pflegediensts (n = 90, 2,4 %) erfolgte bei 561 Patienten. Das Aufsuchen des (kinder-)ärztlichen Bereitschaftsdiensts wurde 269 (7,3 %) Patienten empfohlen. Bei 559 (15,1 %) Patienten wurde das Freitextfeld „Sonstiges“ ausgefüllt, aufgeführt wurden u. a. die Vorstellung beim Facharzt (n = 212, 37,9 %) in einer Klinik (n = 105, 18,8 %) oder in psychiatrischen Einrichtungen (n = 75, 13,4 %).

Abb. 3
figure 3

Von den Gemeindenotfallsanitätern ausgesprochene Empfehlungen (Mehrfachantworten möglich). ÄBD ärztlicher Bereitschaftsdienst

Vorstellung in der Notaufnahme

Von den 1222 Patienten, die von den G‑NFS eine Empfehlung zur Vorstellung in der Notaufnahme erhielten, lagen Daten bei 1208 (98,9 %) Patienten zum Transportmittel vor. 467 (38,7 %) dieser Patienten wurden mit dem RTW und 496 (41,1 %) mit dem KTW in die Notaufnahme gebracht. Ein Transport per Taxi reichte bei 24 (2,0 %) Patienten, ein Rollstuhltransport bei 2 (0,2 %) Patienten und ein privater Transport bei 176 (14,6 %) Patienten aus. Bei 43 (3,6 %) Patienten war kein Transport notwendig.

Bei 1191 (97,5 %) Patienten mit Empfehlung zur Vorstellung in der Notaufnahme wurde eine Einschätzung der Dringlichkeit vorgenommen. Eine sofortige Intervention (PZC 1) war bei 209 (17,5 %) Patienten erforderlich. Bei weiteren 512 (43,0 %) Patienten war eine stationäre Aufnahme wahrscheinlich, aber es bestand kein unmittelbarer Handlungsbedarf (PZC 2). Die Notwendigkeit einer ambulanten Behandlung im Krankenhaus (z. B. Ausschlussdiagnostik) wurde bei 370 (31,1 %) Patienten dokumentiert (PZC 3). Bei 100 (8,4 %) Patienten bestand keine Dringlichkeit der Versorgung (PZC 0).

Kontaktaufnahme zum Hausarzt oder ärztlichen Bereitschaftsdienst

Vor Inanspruchnahme der Notrufnummer 112 und der darauf basierenden Alarmierung der G‑NFS haben 92 (2,5 %) Patienten den Hausarzt bzw. 151 (4,1 %) Patienten den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst kontaktiert, davon haben 73 (79,3 %) bzw. 83 (55,0 %) Patienten die jeweilige Institution nicht erreicht. 118 (48,6 %) Patienten gaben an, dass sie vom Hausarzt bzw. ärztlichen Bereitschaftsdienst an die Notrufnummer 112 verwiesen wurden. Im Anschluss an die medizinische Versorgung von 286 (7,7 %) Patienten kontaktierten die G‑NFS den Hausarzt oder ärztlichen Bereitschaftsdienst, um Befunde oder durchgeführte Maßnahmen mitzuteilen. Bei 36 (1,0 %) Patienten wurde vergeblich versucht, den Hausarzt zu erreichen. Bei 2974 (80,3 %) Patienten war eine Kontaktaufnahme zum Hausarzt oder ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht erforderlich. Bei 407 (11,0 %) Patienten erfolgte keine Dokumentation zur Kontaktaufnahme.

Kategorisierung der Einsätze durch die Leitstellen

Von den 3610 (97,5 %) vorliegenden Angaben zur Einschätzung der G‑NFS wurden 3058 (84,7 %) Einsätze aus Sicht der G‑NFS durch die Leitstellen richtig kategorisiert. Demgegenüber stehen 494 (13,7 %) Einsätze, die durch die Leitstelle zu niedrig, und 58 (1,6 %) Einsätze, die zu hoch kategorisiert wurden (Abb. 4). Die Frage, ob bei richtiger Kategorisierung eine telefonische Fachberatung ausreichend gewesen wäre, wurde bei 110 (3,6 %) mit Ja beantwortet, während dies bei 775 (25,3 %) Patienten verneint wurde und für die verbleibenden 2173 (71,1 %) Patienten keine Angaben dazu gemacht wurden.

Abb. 4
figure 4

Einschätzung der Gemeindenotfallsanitäter (G‑NFS) zur Kategorisierung durch die Leitstelle

Diskussion

In der vorliegenden Studie mit Daten von 3703 G-NFS-Einsatzprotokollen wurden erstmals Zahlen zur ambulanten Notfallversorgung durch die neu geschaffene Ressource G‑NFS ermittelt. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen, dass 77 % der Patienten, die die Notrufnummer 112 wählten und von G‑NFS versorgt wurden, einer niedrigen Behandlungspriorität (PZC 0 und 3) zugeordnet wurden und folglich eine ambulante Versorgung ausreichend war.

Anzahl von Transporten

Während bei rund 31 % der versorgten Patienten ein Rettungsmittel (RTW oder KTW) nachgefordert wurde, benötigten 59 % der Patienten kein weiteres Transportmittel. Beratung und Versorgung durch die G‑NFS vor Ort reichten häufig aus und ein Transport in eine weiterführende Versorgungseinheit war nicht erforderlich. Folglich konnten die damit verbundenen Folgekosten eingespart und die weiterversorgenden Einrichtungen entlastet werden. Eine Studie zu ambulanten Kontakten mit dem Rettungsdienst in der Stadt Braunschweig zeigt ähnliche Ergebnisse: Bei einer Stichprobe der „ambulanten Kontakte Rettungsdienst“ konnte bei 65 % der ambulant behandelten Patienten auf einen Transport verzichtet werden [6]. Hier führte der Transportverzicht zwar zu einer Entlastung der Notaufnahmen, aber die Ressourcen des Rettungsdiensts standen während der ambulanten Versorgung nicht für vital bedrohliche Notfälle zur Verfügung. Je nach Krankheitsbild profitieren bestimmte Patientengruppen auch von einer ambulanten Versorgung vor Ort. Besonders bei pflegebedürftigen Patienten, die in stationären Langzeitpflegeeinrichtungen leben, führt der Transport in ein Krankenhaus nicht selten zu längeren Hospitalisierungen und einer Verschlechterung des Gesundheitszustands [9].

G-NFS als Alternative und Brücke zum Hausarzt

Mehr als einem Drittel (38,4 %) der Patienten wurde empfohlen, sich beim Hausarzt vorzustellen, d. h.: Bei diesen Patienten bestand aus Sicht der G‑NFS nicht die Notwendigkeit einer unverzüglichen ärztlichen Versorgung im Krankenhaus. So führten die G‑NFS nach erfolgter Anamnese und Untersuchung bei 84 % der Patienten Beratungsgespräche durch oder leisteten Hilfe bei Selbstmedikation, um die Wartezeit bis zur Vorstellung in der Hausarztpraxis überbrücken zu können. Ursächlich für die Inanspruchnahme der Notrufnummer 112 könnte bei diesen Patienten aus Sicht der Autoren die eingeschränkte Verfügbarkeit der hausärztlichen Versorgung sein. In unserer Studie haben von den Patienten, die versuchten, den Hausarzt bzw. kassenärztlichen Bereitschaftsdienst zu kontaktieren, mehr als zwei Drittel die jeweilige Institution nicht erreicht. Diese Problematik wird auch in Studien zur Inanspruchnahme der Notaufnahmen bei niedriger Behandlungsdringlichkeit von Patienten thematisiert, hier beträgt der Anteil jedoch nur ca. 15–29 % [16,17,18]. Darüber hinaus gibt es in Deutschland derzeit keine einheitliche Definition, die die Versorgung von Notfallpatienten im vertragsärztlichen Bereich klar beschreibt [7]. Es fehlen Definitionen zur Abgrenzung der unterschiedlichen ambulanten Notfallversorgungseinrichtungen, um die Patienten in die entsprechende Versorgungseinheit zu lenken und die Leistungserbringer bei Ablehnung der Versorgung im Zweifelsfall auch vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323c StGB zu entlasten. Weiterhin zeigen verschiedene Studien zur Gesundheitskompetenz in Deutschland, dass beinahe jeder Zweite Schwierigkeiten hat, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen und umzusetzen [10, 15]. Laut US-amerikanischen Studien führt eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz u. a. auch zu einer häufigeren Inanspruchnahme der Notfallversorgung [2].

Retrospektive Analyse der Rettungsmitteldisposition

Die Frage, ob die Leitstellendisponenten aus Sicht der G‑NFS richtig kategorisiert hatten und damit die Versorgung durch die G‑NFS als angemessen eingeschätzt wurde, konnte bei rund 85 % der Einsätze bejaht werden und deutet aus Sicht der Autoren auf eine gelungene Umsetzung der Abfragealgorithmen hin. 14 % der Einsätze wurden von den G‑NFS als zu niedrig kategorisiert bewertet. Während die Leitstellendisponenten nur aufgrund der telefonischen Angaben der Anrufer das aus ihrer Sicht geeignete Rettungsmittel einsetzen können, sind die G‑NFS vor Ort in der Lage, eine konkretere Einschätzung vorzunehmen und ggf. Bedarf für ein höherwertiges Rettungsmittel festzustellen. Gleichzeitig können sie als „first responder“ erste Maßnahmen durchführen, um z. B. bei vital bedrohlichen Notfällen die Zeit bis zum Eintreffen von RTW und/oder Notarzt adäquat zu überbrücken.

Limitationen

Die vorliegende Studie unterliegt einigen Limitationen. First-responder-Einsätze konnten nicht vollständig ausgeschlossen werden, da nur die G‑NFS-Einsatzprotokolle separiert wurden, die einen Hinweis zu „first responder“ enthielten. Aufgrund des breiten Spektrums an dokumentierten Maßnahmen und Empfehlungen konnten nicht alle Freitextfelder den Kategorien zugeordnet werden. Des Weiteren geben die G‑NFS-Einsatzprotokolle lediglich den subjektiven Eindruck der G‑NFS wieder. Ebenso erfolgte in Zweifelsfällen trotz vorgegebener Algorithmen die Alarmierung der G‑NFS aufgrund der subjektiven Einschätzung der Leitstellendisponenten. Die untersuchte Stichprobe stellt nur einen kleinen Teil der Bevölkerung in Niedersachsen dar und lässt insofern nur bedingt Aussagen der Übertragbarkeit auf Gesamtdeutschland zu. Ferner können keine Aussagen über den weiteren Verlauf nach Inanspruchnahme der G‑NFS gemacht werden. Es wäre denkbar, dass die Patienten nicht in jedem Fall der Empfehlung des G‑NFS gefolgt sind. Um den weiteren Weg des Patienten durch das Gesundheitssystem zu verfolgen, ist weitere Forschung notwendig. Denkbar wäre z. B. ein Vergleich der Einschätzung des G‑NFS und die Übereinstimmung mit der von der weiterversorgenden Einrichtung gestellten Diagnose.

Schlussfolgerung

Mit dem G‑NFS wurde ein Projekt ins Leben gerufen, dass eine Alternative zum Einsatz des RTW bietet und die Einsatzzahlen nichtdringlicher Notfälle verringern kann. Die erste Zwischenauswertung zeigt, dass durch die gezielte Alarmierung der neu geschaffenen Ressource G‑NFS die Einsatzzahlen der Notfallrettungsmittel reduziert und folglich die verschiedenen Institutionen der Notfallversorgung entlastet werden können. Unter Berücksichtigung etwaiger Lerneffekte bleibt abzuwarten, wie sich der Anteil an G‑NFS-Einsätzen in der verbleibenden Projektzeit entwickeln wird und welche Auswirkungen dies auf die Einsatzmittel im Rettungsdienst hat.

Fazit für die Praxis

Diese Studie bietet erstmals einen Überblick über die Inanspruchnahme und Versorgung von nicht lebensbedrohlich erkrankten Patienten durch die neu geschaffene Ressource Gemeindenotfallsanitäter (G-NFS).

  • Bei über der Hälfte der Patienten konnte auf einen Transport in die Notaufnahme verzichtet werden.

  • Folglich führte die Vor-Ort-Versorgung durch die G‑NFS zu einer Entlastung der weiterversorgenden Einrichtungen.

  • Der Einsatz von Telemedizin ist nur selten erforderlich.

  • Die 24/7-Bereitschaft der G‑NFS bietet den Leitstellendisponenten eine Alternative zu den klassischen Einsatzmitteln im Rettungsdienst.

  • Es bedarf weiterer Analysen, um die Versorgungsprozesse und deren Angemessenheit zu analysieren.