Einleitung

Haben Eltern die moralische Pflicht, eine genetische Erkrankung oder gesundheitliche Beeinträchtigung ihrer (zukünftigen) Kinder zu vermeiden? Sind sie deshalb moralisch verpflichtet, sich schon vor einer Schwangerschaft auf rezessive genetische Anlagen für eine schwerwiegende Krankheit testen zu lassen? Rechtfertigt ein genetisches Risiko, das durch einen solchen Test festgestellt werden könnte, sogar eine direktive Beratung des künftigen Elternpaares im Sinne der Krankheitsprävention – was bedeuten würde, die Geburt eines beeinträchtigten Kindes zu vermeiden? Solche Fragen werden gegenwärtig in der internationalen ethischen Diskussion über eine Implementierung des sogenannten erweiterten Anlageträger*innen-Screenings oder expanded carrier screening (ECS) in öffentliche Gesundheitssysteme aufgeworfen – und von einigen Ethiker*innen positiv beantwortet (van der Hout et al. 2019). Andere betonen dagegen, das Ziel eines öffentlichen Angebots von ECS müsse in der Steigerung der reproduktiven Autonomie von Elternpaaren bestehen und nicht in der Prävention genetischer Erkrankungen (exemplarisch: Henneman et al. 2016).

In der Bundesrepublik Deutschland wird die international geführte ethische Diskussion um ECS bislang kaum wahrgenommen; dies könnte sich jedoch schon bald ändern, da Ende 2019 ein kommerzielles Unternehmen einen neuartigen Test („Unity-Test“) auf den deutschen Markt gebracht hat, der ein carrier screening für schwangere Frauen auf Mukoviszidose und vier andere rezessive Gesundheitsbeeinträchtigungen mit einem nicht-invasiven Pränataltest (NIPT) auf diese Erkrankungen kombiniert. Spätestens wenn die Kassenzulassung für diesen Test beantragt wird (was nach Aussage des Firmenchefs schon Mitte 2020 der Fall sein soll), wird auch in Deutschland über die ethische Begründung und Zielsetzung von Anlageträger*innen-Screening diskutiert werden müssen.Footnote 1

Erweitertes Anlageträger*innen-Screening ist eine relativ neue genetische Technologie, die Paare mit einem Kinderwunsch darüber informieren soll, ob beide Partner*innen „Träger*innen“ (oder carrier) der genetischen Anlage für die gleiche autosomal-rezessiv vererbte, zumeist seltene gesundheitliche Beeinträchtigung sind. In diesem Fall bestünde für ein Kind des Paares eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, von jedem Elternteil homozygot jeweils die krankheitsbedingende Genvariante zu erhalten. Heterozygote Anlageträger*innen selbst haben dagegen keine Symptome und kein Erkrankungsrisiko, weil sie lediglich eine rezessive genetische Anlage für die Gesundheitsbeeinträchtigung aufweisen. Das Testen auf Anlagen für rezessive Erkrankungen ist nicht völlig neu, sondern wird bereits seit den 1970er Jahren praktiziert, zunächst noch mit biochemischen Methoden (vgl. Wehling 2019a). Diese ersten Tests waren beschränkt auf einzelne rezessive Erkrankungen, die in bestimmten, durch ihre ethnische oder geographische Herkunft definierten „Risikogruppen“ relativ häufig auftraten. Neu ist, dass aufgrund von technischen Fortschritten bei der Gensequenzierung seit etwa zehn Jahren auf mehrere Hundert rezessive genetische Anlagen gleichzeitig getestet werden kann. Dieses sogenannte expanded carrier screening wurde ab dem Jahr 2010 zunächst nur von (vorwiegend US-amerikanischen) kommerziellen Labors „direct-to-consumer“ beworben und über kooperierende ärztliche Praxen angeboten. Die gesamte Bevölkerung im „reproduktionsfähigen Alter“ wurde dabei zur Zielgruppe, so dass sich ein potentiell äußerst lukrativer Markt eröffnete. Denn der Humangenetik zufolge trägt fast jeder Mensch eine, wenn nicht sogar mehrere rezessive genetische Anlagen; deshalb kann niemals ausgeschlossen werden, dass in einem Paar beide Partner*innen durch Zufall – und ohne dies zu wissen – die Anlage für die gleiche Beeinträchtigung aufweisen. Nach Schätzungen liegt die kumulierte statistische Wahrscheinlichkeit, ein solches „Träger*innen-Paar“ oder „carrier couple“ zu bilden, bei etwa einem bis zwei Prozent (Ropers 2012).

Nachdem die kommerziellen Labors ECS auf dem Markt etabliert hatten, haben seit etwa 2015 medizinische und gesundheitspolitische Institutionen in den USA und Europa begonnen, sich für die neue Testmöglichkeit zu interessieren und Perspektiven einer Implementierung in öffentliche Gesundheitssysteme auszuloten. Hierfür sind jedoch in sehr viel höherem Maß als bei kommerziellen, marktorientierten Angeboten ethisch reflektierte Begründungen und Zielsetzungen erforderlich; dies gilt besonders, wenn es sich um ein bevölkerungsweites Screening auf genetische Variationen handelt, die zu Gesundheitsbeeinträchtigungen führen können. Wie wir noch darstellen werden, wurde vor allem in der europäischen bioethischen Diskussion die Steigerung der reproduktiven Autonomie von Paaren zum primären Ziel der Implementierung von ECS erklärt. Die eingangs zitierten Fragen und Positionen aus einem aktuellen Beitrag prominenter niederländischer Bioethiker*innen (van der Hout et al. 2019)Footnote 2 markieren dagegen einen Bruch mit dieser bisher vorherrschenden ethischen Zielsetzung und Begründung von ECS. Die von van der Hout et al. eingeführte Figur der „verantwortlichen Elternschaft“ (responsible parenthood) ebenso wie ihr Plädoyer für die moralisch verpflichtende Teilnahme am Screening, für eine moralische Pflicht zur Prävention und eine direktive genetische Beratung nach einem positiven Befund, stellen nicht nur die ethische Rechtfertigung von ECS erneut zur Disposition. Ihre Argumentation könnte darüber hinaus weitreichende Auswirkungen auf die Debatten auch um andere reproduktionsmedizinisch-genetische Technologien und Testverfahren haben.

Im Folgenden wollen wir kurz die besonderen Charakteristika von erweitertem Anlageträger*innen-Screening erläutern und dabei deutlich machen, dass eine Integration des Testverfahrens in öffentliche Gesundheitsleistungen eine ganze Reihe bisher ungeklärter Fragen und ungelöster Probleme aufwirft. Vor diesem Hintergrund werden wir sodann die wichtigsten Ergebnisse der europäischen bioethischen Diskussion um eine „verantwortliche Implementierung“ (Henneman et al. 2016) von ECS rekapitulieren. Im Anschluss daran analysieren wir die kontrastierenden Zielsetzungen und ethischen Begründungen für ECS, die van der Hout et al. (2019) vorschlagen. In einem abschließenden Fazit möchten wir verdeutlichen, dass zwar beide ethischen Begründungen: die Anrufung des „autonomen Paares“, das eine durch genetisches Risikowissen informierte Entscheidung zu treffen habe, wie auch die mit weitreichenden moralischen Pflichten versehene „verantwortliche Elternschaft“, auf fragwürdigen Prämissen beruhen und der Etablierung eines keineswegs unproblematischen genetischen Screenings dienen. Dennoch erweist sich das Modell der verantwortlichen Elternschaft als besonders kritikwürdig, weil es ein Leben mit schwerer Krankheit und Behinderung massiv abwertet („schlimmer als die Nicht-Existenz“) und die Entscheidungsfreiheit von Frauen oder Paaren sowie ihr Recht auf Nichtwissen moralisch diskreditiert und durch Präventionserwartungen unter Druck setzt.

Besonderheiten eines neuen Testverfahrens

Tests auf rezessive genetische Anlageträgerschaften wurden, wie erwähnt, noch bis vor wenigen Jahren nur bei solchen Individuen oder Paaren vorgenommen, die aufgrund ihrer familiären Vorgeschichte, regionalen Herkunft oder ethnischen Zuordnung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweisen, eine bestimmte autosomal-rezessive Anlage zu tragen. Dies gilt etwa auf Zypern für Beta-Thalassämie oder für Jüdinnen und Juden mittel- und osteuropäischer Herkunft (Ashkenazim), bei denen die Anlage für die bisher unheilbare Tay-Sachs-Krankheit verbreiteter ist als in anderen Bevölkerungsgruppen. Seit mehr als zehn Jahren ist es jedoch technisch möglich, in einem einzigen Testvorgang Hunderte von rezessiven genetischen Variationen zu analysieren; Kosten und Zeitaufwand hierfür sind inzwischen nicht höher als zuvor für einen Einzeltest. Solche erweiterten Screenings sind nicht mehr auf einzelne Risikogruppen zugeschnitten, sondern nehmen die gesamte Bevölkerung ins Visier – daher die Bezeichnungen „pan-ethnic“, „universal“ oder „expanded carrier screening“.

ECS impliziert in dreifacher Hinsicht eine wesentliche Erweiterung und Entgrenzung bisheriger Modelle und Routinen vorgeburtlichen genetischen Testens:

  1. 1.

    Ausweitung der Zielgruppe: Alle Paare mit Kinderwunsch, letztlich sogar alle Menschen im sogenannten reproduktionsfähigen Alter, werden mit ECS zur Zielgruppe von genetischer Risikokontrolle – auch ohne Hinweis auf ein bereits bekanntes erhöhtes Risiko. Da die meisten Menschen nicht wissen, welche rezessiven Anlagen sie tragen, kann nur durch genetisches Screening festgestellt werden, ob in einem Paar beide (reproduktiven) Partner*innen die Anlage für die gleiche Gesundheitsbeeinträchtigung tragen. Damit das Screening aussagekräftig ist, müssen somit die Partnerin und der Partner getestet werden.

  2. 2.

    Entgrenzung des Gegenstandsbereichs präventiver Risikokontrolle: Der Interventionsbereich reproduktionsmedizinischer Prävention wird durch ECS erheblich ausgeweitet. Die derzeit umfassendsten auf dem Markt verfügbaren Screening-Angebote testen auf die Anlagen für mehr als 600 rezessiv vererbbare gesundheitliche Beeinträchtigungen und eröffnen hierfür Möglichkeiten der Prävention. Einbezogen sind keineswegs nur schwere, früh ausbrechende und unheilbare Erkrankungen, sondern auch zahlreiche variabel oder relativ mild verlaufende, gut behandelbare und/oder spät manifestierende gesundheitliche Beeinträchtigungen, die bis vor kurzem kaum im Blickfeld vorgeburtlicher Prävention waren.Footnote 3

  3. 3.

    Zeitliche Ausdehnung der reproduktiven Verantwortung: Durch ECS wird die genetische Risikovorsorge und -verantwortung in bislang ungekannter Weise auf die Zeit vor einer Schwangerschaft ausgeweitet. Nach der vorherrschenden Sicht in Medizin und Bioethik soll auf rezessive Anlagen idealerweise vor einer „Empfängnis“ („präkonzeptionell“) getestet werden. Bei einem positiven Befund verfüge ein carrier couple dann über mehr „reproduktive Optionen“, um die Geburt eines Kindes mit einer rezessiv vererbten Erkrankung zu vermeiden. Zu diesen Optionen gehören (neben dem Wechsel der Partner*in): der Verzicht auf Kinder, Adoption, Samen- oder Eizellspende sowie In-vitro-Fertilisation (IVF) mit Präimplantationsdiagnostik (PID) und Einsetzung eines genetisch „unauffälligen“ Embryos. Während einer Schwangerschaft ist dagegen lediglich Pränataldiagnostik (PND) des Fötus mit eventuell folgendem Schwangerschaftsabbruch möglich oder, in bislang nur sehr wenigen Fällen, eine pränatale Therapie.Footnote 4

Der Blick auf diese drei Expansionstendenzen lässt erkennen, dass Anlageträger*innen-Screening nicht lediglich ein weiteres Testverfahren in bereits eingespielten Bahnen und Routinen darstellt. Es erfordert vielmehr neue, spezifische Organisationsformen und Rahmenbedingungen des Testens und wirft eine ganze Reihe neuartiger Probleme auf: Wann soll getestet werden, und wie können Individuen oder Paare, die nicht familiär „vorbelastet“ sind, schon vor einer Schwangerschaft für eine genetische Untersuchung interessiert werden? Wie sollen die Ergebnisse mitgeteilt werden: Soll nur das Paar als „reproduktive Einheit“ darüber informiert werden, ob beide Partner*innen die gleiche rezessive Anlage aufweisen oder nicht?Footnote 5 Oder soll jede Person individuell über ihre Anlagen in Kenntnis gesetzt werden, mit allen womöglich negativen psychischen oder sozialen Folgen, die dies haben könnte? Und schließlich: Soll auf alles getestet werden, was technisch machbar ist, oder nur auf schwere und nicht behandelbare Krankheiten oder nur auf die relativ häufigsten unter den seltenen rezessiven Erkrankungen? Wer soll darüber nach welchen Kriterien entscheiden?

Bei den Angeboten kommerzieller Labore blieb die Beantwortung solcher Fragen faktisch der Marktdynamik überlassen; das Ziel ist letztlich der wirtschaftliche Erfolg in Gestalt hoher Verkaufszahlen und Firmengewinne. Dagegen müssen (oder sollten) die genannten Probleme bei den Versuchen einer „verantwortlichen Implementierung“ von ECS in öffentliche Gesundheitssysteme in einer medizinisch, ethisch, rechtlich und gesellschaftlich reflektierten Weise thematisiert und geeignete organisatorische Lösungen vorgeschlagen werden. Hierauf können wir angesichts der Vielzahl der im Detail sehr unterschiedlichen Implementierungsmodelle beziehungsweise bereits laufenden Pilotprojekte (vgl. z. B. Edwards et al. 2015; Henneman et al. 2016; Plantinga et al. 2016; ACOG 2017; SHC 2017; Delatycki et al. 2020), nicht im Einzelnen eingehen. Stattdessen wollen wir uns in den beiden folgenden Kapiteln auf eine mit den oben erwähnten Detailaspekten eng zusammenhängende und sie zugleich fundierende, übergreifende Fragestellung konzentrieren: Was ist oder was soll das vorrangige Ziel einer „verantwortlichen Implementierung“ von ECS sein? Soll eine möglichst starke Reduzierung rezessiver genetischer Erkrankungen erreicht oder zumindest eine hohe Beteiligung der Zielgruppe (alle Paare mit Kinderwunsch) am Screening angestrebt werden? Oder soll durch das Angebot genetischen Wissens in erster Linie den Paaren eine informierte und autonome reproduktive Entscheidung ermöglicht werden? In diesem Spannungsfeld möglicher Zielsetzungen wollen wir zunächst darstellen, wie und weshalb sich im europäischen ethischen Diskurs zu ECS anfangs eine starke Orientierung an der „reproduktiven Autonomie“ der Paare herausgebildet hat. Anschließend zeigen wir, wie diese Leitorientierung durch das Begründungsmodell der „verantwortlichen Elternschaft“ in Frage gestellt wird.

Reproduktive Autonomie als ethische Begründung für bevölkerungsweites Screening

Als kommerzielle Labore in den USA um das Jahr 2010 die ersten erweiterten Tests auf rezessive genetische Anlagen über das Internet – und damit bevölkerungsweit – anboten, stand dies im Widerspruch zu den damals geltenden Empfehlungen der beiden zuständigen medizinischen Fachgesellschaften ACOG und ACMG.Footnote 6 Diese hielten ein bevölkerungsweites Screening nur bei zwei Erkrankungen für angezeigt, nämlich Mukoviszidose (ACOG und ACMG) und Spinale Muskelatrophie (nur ACMG). Ab etwa 2015 ist jedoch ein Umschwenken zu erkennen, ECS erschien jetzt als „akzeptable Strategie“ (ACOG 2017, S. e35), und viele medizinische Institutionen begannen, sich damit zu beschäftigen, ob und unter welchen Bedingungen ECS in öffentliche Gesundheitssysteme integriert werden könnte. Eine Arbeitsgruppe der European Society of Human Genetics (ESHG) prägte für solche Bestrebungen den Leitbegriff der „responsible implementation“ (Henneman et al. 2016). In der Tat sieht sich ein bevölkerungsweites, öffentlich finanziertes Screening-Angebot auf eine Vielzahl von genetisch bedingten Beeinträchtigungen mit einer besonderen Verantwortung und einem erhöhten Begründungsbedarf konfrontiert: Es muss Befürchtungen entgegentreten, vorgeburtliche Selektion und eugenische Praktiken könnten zunehmen (so schon Henn 1999), und sich zugleich sowohl von profitorientierten Angeboten als auch von den früheren Formen „ethnizitäts-basierten“ Screenings abgrenzen, die, wie etwa das Thalassämie-Screening auf Zypern, de facto obligatorisch waren und auch dem Ziel dienten, die öffentlichen Gesundheitskosten zu begrenzen.

Neben dem Anspruch, die im Screening erfassten Beeinträchtigungen nach medizinisch reflektierten Kriterien auszuwählen,Footnote 7 wurde in der europäischen Debatte die entscheidende ethische Begründung für eine Implementierung auf der Ebene der Zielsetzung von ECS formuliert: Das vorrangige Ziel ist, so argumentiert beispielhaft die Arbeitsgruppe der ESHG, nicht die Reduzierung rezessiver genetischer Beeinträchtigungen, sondern die Steigerung der reproduktiven Autonomie von Paaren mit Kinderwunsch: „The primary objective of carrier screening in individuals or couples without a known family risk of recessive disorders should be to inform them of possible genetic disease risks in future offspring and of the reproductive options available in order to enable autonomous choices“ (Henneman et al. 2016, S. e9). Aus dieser Festlegung auf reproduktive Autonomie als Ziel von ECS ergeben sich weitere wichtige Implikationen: Die Testteilnahme muss freiwillig sein (Henneman et al. 2016, S. e10), die genetische Beratung darf nicht direktiv sein, und weder eine verringerte Prävalenz rezessiver Beeinträchtigungen noch eine hohe Beteiligung am Screening, sondern allein die Ermöglichung informierter Entscheidungen (sei es für oder gegen Prävention) kann der Erfolgsmaßstab einer verantwortlichen Implementierung sein: „As the primary objective is to strengthen reproductive choices and decision making of couples, the effectiveness of carrier screening programmes should be measured by assessing the extent to which it optimises informed choice and reproductive decision making and not by demonstrating how much it reduces the birth prevalence of affected children“ (Henneman et al. 2016, S. e9).

Darüber hinaus spielt bei der „verantwortlichen Implementierung“ der Zeitpunkt, zu dem das Screening angeboten und möglichst auch durchgeführt wird, eine zentrale Rolle. Die größere Zahl reproduktiver Optionen, die dem Paar bei positivem Befund (zumindest theoretisch) zur Verfügung stehen, begründet die Zeit vor einer Schwangerschaft als idealen Testzeitpunkt (Henneman et al. 2016, S. e3): Ein Mehr an reproduktiven Optionen vergrößere die Wahlfreiheit des Paares und steigere so dessen reproduktive Autonomie. Demgegenüber kann in der Schwangerschaft bei positivem Testergebnis unter hohem Zeitdruck nur eine Ja-Nein-Entscheidung über den Abbruch getroffen werden.

Die genannten Aspekte (Freiwilligkeit der Teilnahme, nicht-direktive Beratung, informierte Entscheidung als Erfolgskriterium, Testangebot vor der Schwangerschaft) stellen die Schlüsselelemente eines liberalen, autonomieorientierten ethischen Begründungsrahmens für ein bevölkerungsweites ECS-Angebot dar. Autonomie ist bekanntlich ein grundlegendes Prinzip der Medizinethik, das nicht zuletzt als Reaktion auf die Nürnberger Prozesse und die dort verurteilten medizinischen Praktiken entwickelt wurde. Der Respekt vor der Autonomie, wie Beauchamp und Childress (2009) das Prinzip bezeichnet haben, fordert von dem medizinischen Personal, die Möglichkeit einer selbstbestimmten Entscheidung der Patient*innen nach deren persönlichen Werten zu wahren. Während das ethische Prinzip ursprünglich auf ärztliches Handeln zielte, wird Autonomie in der Debatte (nicht nur) um ECS zu einer an die betroffenen Paare gerichteten Erwartung: Reproduktive Autonomie muss über eine medizinisch-rationale Pfadlogik erst gewonnen werden, die das Paar mit Informationen (durch Tests und durch professionelle Beratung) als (vermeintlich) notwendigen Ressourcen für eine autonome Entscheidungsfindung versorgt. Daneben gilt Wahlfreiheit als die zweite entscheidende Bedingung von Autonomie: Wahlfreiheit wie Autonomie nähmen zu, je höher die Zahl der Handlungsalternativen ist, zwischen denen gewählt werden kann. Am Ende wägt das Paar idealerweise die Informationen über die Risiken rezessiver Anlageträgerschaft und die verfügbaren reproduktiven Optionen rational und nach den je eigenen Präferenzen gegeneinander ab (vgl. Henneman et al. 2016, S. e9): Eine „neutrale“ reproduktionsmedizinische Technologie trifft auf „informierte“ Paare, die „autonom“ entscheiden.

So verstandene reproduktive Autonomie wurde nach 2015 zum dominierenden ethischen Leitprinzip einer „verantwortlichen Implementierung“ von ECS. Dennoch war diese Festlegung nie ganz frei von Ambivalenzen, denn es blieb nicht verborgen, dass bei aller Rhetorik der Autonomie in den meisten Fällen Prävention, die Verhinderung der Geburt von beeinträchtigten Kindern, das Ergebnis der reproduktiven Entscheidungen war. Daraus resultiert ein Spannungsverhältnis, auf das der belgische Superior Health Council (SHC) in seiner Stellungnahme zu ECS hinweist: „Speaking of prevention in the context of reproductive decision-making is inappropriate or at least controversial, as the objective is not as such the prevention of certain conditions, but the provision of genetic risk information, informed choice and reproductive options. The final outcome based on the parent’s choice may however be the prevention of the birth of an affected child“ (SHC 2017, S. 8). Vereinzelt hat dies im bioethischen Diskurs zu Problematisierungen des Autonomie-Ziels geführt: Der schwedische Bioethiker Ulrik Kihlbom betrachtete es als ethisch fragwürdig, wenn eine zu große Diskrepanz auftrete zwischen Autonomie als dem „official aim“ der Implementierung von ECS und dem faktischen „Motor“ der Entwicklung, der Vermeidung von Krankheiten beziehungsweise kranken oder behinderten Kindern (Kihlbom 2016, S. 298). Davit Chokoshvili und Ko-Autor*innen folgern daraus, dass Information und Wahlfreiheit nicht per se schon ausreichen, um reproduktive Autonomie zu garantieren: Denn diese existiere nicht im luftleeren Raum, und reproduktive Entscheidungen würden immer auch durch externe Faktoren wie die Ansichten von Familienmitgliedern, Arbeitskolleg*innen oder Nachbar*innen beeinflusst. Diese Einflüsse könnten mit den Werten eines Paares in Konflikt stehen und unter Umständen zu der paradoxen Situation führen, dass ECS die Autonomie des Paares eher begrenze statt fördere (Chokoshvili et al. 2018, S. 993). Auch befürchten die Autor*innen, Paare könnten glauben, ein Routineangebot von ECS beinhalte die moralische Verpflichtung, am Screening teilzunehmen. Deshalb gelte es, in ein bevölkerungsweites ECS-Angebot Maßnahmen zu integrieren, die es Paaren ermöglichten, „truly autonomous decisions“ zu treffen (Chokoshvili et al. 2018, S. 994). Bei van der Hout et al. (2019) dagegen werden die mit reproduktiver Autonomie als „offiziellem“ Ziel von ECS einhergehenden Ambivalenzen in genau entgegengesetzter Absicht aufgegriffen: Propagiert wird eine weitreichende Einschränkung von Autonomie zugunsten eines moralischen Gebots der Leidvermeidung mittels reproduktionsmedizinischer Präventionsmaßnahmen.

„Verantwortliche Elternschaft“ als konkurrierender ethischer Begründungsrahmen

In ihrem Beitrag konstatieren Sanne van der Hout, Guido de Wert und Wybo Dondorp zunächst, das Ziel größerer reproduktiver Autonomie stimme zwar mit der ethischen Begründung für nicht-invasive Pränatal-Tests auf Trisomien überein (Dondorp et al. 2015). Es weiche aber ab von den früheren Formen ethnizitäts-basierten Anlageträger*innen-Screenings, die darauf ausgerichtet gewesen seien, die „Krankheitslast“ in der jeweiligen Population zu verringern (van der Hout et al. 2019, S. 568 f.). Hieraus folgern die Autor*innen, in der ethischen Debatte um die Implementierung von ECS sei dem Ziel, die reproduktive Autonomie von Paaren mit Kinderwunsch zu steigern, unreflektiert („without much reflection“) der Vorrang gewährt worden (van der Hout et al. 2019, S. 576). Zentrale Bedeutung für die Argumentation von van der Hout und Kollegen besitzt – ähnlich wie im Autonomie-Modell, aber mit gegensätzlichen Schlussfolgerungen – die Differenzierung zwischen Screenings vor und in der Schwangerschaft: Während einer Schwangerschaft sei die Steigerung reproduktiver Autonomie das geeignetste Ziel von ECS, weil in dieser besonderen Situation Forderungen nach Prävention durch eine Abtreibung unangemessen seien (van der Hout et al. 2019, S. 569). Vor einer Schwangerschaft gelte dies jedoch nicht in gleicher Weise: „Although we support the criticism of ‘prevention through selective abortion’, it does not follow, in our view, that ‘prevention through preconception reproductive choices’ is equally problematic“ (van der Hout et al. 2019, S. 572). Das Ziel von Prävention sehen die Autor*innen dabei in der Vermeidung von Leid für zukünftige Kinder des betroffenen Paares, nicht in der Realisierung allgemeiner gesundheitspolitischer Vorgaben (Reduktion von Behandlungskosten u.Ä.) (van der Hout et al. 2019, S. 572).

Als entscheidenden Grund für die unterschiedliche Zielsetzung und ethische Bewertung von ECS vor und in der Schwangerschaft nennen van der Hout und ihre Ko-Autoren die besseren technischen Möglichkeiten, „präkonzeptionell“ die Weitergabe rezessiver genetischer Anlagen zu verhindern. Dies verlange den künftigen Eltern keine „unverhältnismäßigen Kosten“ ab und könne ihnen deshalb zugemutet werden: „Passing on a genetic disorder to one’s offspring increasingly becomes a controllable factor in a sense that would not entail emotional and morally sensitive decision making concerning abortion“ (van der Hout et al. 2019, S. 572). Galt im liberalen Modell die höhere Zahl „reproduktiver Optionen“ vor einer Schwangerschaft als Grundlage besonders großer Autonomie des Paares, wird sie jetzt als Begründung für die Einschränkung von Autonomie zugunsten einer „verantwortlichen Elternschaft“ herangezogen, die mit moralischen Pflichten zur Prävention verknüpft wird. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die (nur) während einer Schwangerschaft noch zugestandene reproduktive Autonomie einer Frau oder eines Paares: Durch die Eingrenzung auf eine bestehende Schwangerschaft wird körperliche Selbstbestimmung der Frau auf eine prekäre temporäre Ausnahme von einer übergreifenden Präventionspflicht reduziert: Nur die angenommene psychische und emotionale Unzumutbarkeit einer Abtreibung überwiege die übergeordneten moralischen Pflichten verantwortlicher Elternschaft. Konsequenterweise halten es die Autor*innen für äußerst fragwürdig, wenn „Träger*innen-Paare“ trotz eines positiven Screening-Befundes dennoch eine „natürliche Schwangerschaft“ eingehen wollen. Moralisch vertretbar sei ein solcher „wait-and-see approach“ nur dann, wenn diese Paare bereit seien, gegebenenfalls die „Bürde“ einer medizinisch induzierten Abtreibung zu tragen. Andernfalls hätten sie die moralische Verpflichtung, sich vor der Schwangerschaft auf einen „PID-Pfad“ zu begeben (van der Hout et al. 2019, S. 572 f.).

Wie werden die moralischen Pflichten konkretisiert, die bei ECS mit „verantwortlicher Elternschaft“ verbunden seien? Um diese Frage zu beantworten, greifen die Autor*innen das medizinethische Prinzip des Nicht-Schadens oder der Schadensvermeidung (principle of non-maleficience/PNM) auf. Ursprünglich für das ärztliche Handeln geltend, um Patient*innen vor schädigenden Interventionen zu schützen, wird es, ebenso wie das Prinzip der Autonomie, im bioethischen Diskurs in eine moralische Verpflichtung der Patient*innen, in diesem Fall künftiger Eltern, umgedeutet. Es sei moralisch geboten, keine Kinder mit hohem genetischen Risiko zu zeugen beziehungsweise verfügbare Technologien zu nutzen, um die Geburt erkrankter Kinder zu verhindern. Diese Verpflichtung zur Prävention gelte, sobald es Indizien dafür gebe, dass die Lebensqualität betroffener Kinder ein bestimmtes Maß unterschreite: „According to PNM, it is morally wrong to bring children into the world when there is good reason to think that their quality of life will fall below an acceptable threshold. For carrier couples, this would most likely imply they have a moral duty to avoid conceiving an affected child if the disease under consideration can be expected to make the resultant child’s life intolerable“ (van der Hout et al. 2019, S. 573).Footnote 8

Die Autor*innen erläutern weiter, es gehe hierbei um Beeinträchtigungen „in which a person suffers from a combination of profound cognitive and physical disabilities“ (van der Hout et al. 2019, S. 573), und greifen die von der Bioethikerin Henriikka Clarkeburn im Jahr 2000 verwendete Kategorie des „life worse than non-existence“ auf (Clarkeburn 2000). Clarkeburn (2000, S. 402) verstand darunter „the combination of continuous and non-palliative pain and lack of opportunities to develop a continuous self“, hegte aber Zweifel, ob überhaupt genetische Erkrankungen existieren, die diese Kriterien eines Lebens „schlimmer als die Nicht-Existenz“ erfüllen (Clarkeburn 2000, S. 403). Sie eröffnete gleichwohl einen argumentativen Raum, der den Wert des Lebens verhandelbar macht und gefährlich nah an der fatalen Kategorie des „lebensunwerten Lebens“ liegt oder damit identisch ist. Van der Hout et al. führen nicht nur den Begriff „worse than non-existence“ in die Diskussion um ECS ein, sie gehen, anders als Clarkeburn, auch davon aus, dass zumindest eine „begrenzte Zahl“ rezessiver Beeinträchtigungen unter diese Kategorie falle, beispielsweise die Tay-Sachs- und die Canavan-Krankheit (van der Hout et al. 2019, S. 573).Footnote 9

Aus dem Prinzip der Schadensvermeidung folgt für van der Hout et al. (2019, S. 573), dass alle „Träger*innen-Paare“ der „most severe recessive disorders“ die moralische Pflicht haben, die Empfängnis eines Kindes mit einer solchen Krankheit zu vermeiden. Dies wirft die Frage auf, ob deshalb alle Paare, die sich Kinder wünschen, moralisch zur Teilnahme am Anlageträger*innen-Screening verpflichtet seien, oder nur solche Paare, bei denen aufgrund ihrer Familiengeschichte oder geographischen Herkunft ein erhöhtes Risiko für eine entsprechende Anlageträgerschaft besteht. Die Autor*innen halten hier zwei unterschiedliche Auslegungen von PNM für möglich, die sie abkürzend als PNM 1 und PNM 2 bezeichnen. PNM 1, die „schwächere“ Variante des Prinzips, berücksichtigt die in der Regel statistisch geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Paar „Träger*innen-Paar“ der gleichen rezessiven Variation ist. Deshalb lasse sich nach PNM 1 keine allgemeine, bevölkerungsweite moralische Pflicht zur Testteilnahme legitimieren. Diese gelte nur für diejenigen Paare, die Grund zur Annahme haben, dass sie ein erhöhtes Risiko aufweisen, eine schwere rezessive Erkrankung weiterzugeben. Dieser Ansatz ähnelt dem ethnizitätsbasierten Screening in sogenannten Risikogruppen, das wir oben erwähnt haben.

Die „starke“ Interpretation der Pflicht zur Schadensvermeidung (PNM 2), mit der van der Hout et al. erkennbar sympathisieren, geht dagegen nicht von der statistischen Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern von der Schwere der Erkrankung aus. Bei den „schlimmsten“ rezessiven Erkrankungen haben deshalb nach PNM 2 alle zukünftigen Elternpaare die Pflicht, sich testen zu lassen und bei positivem Testergebnis die Empfängnis eines beeinträchtigten Kindes zu vermeiden (van der Hout et al. 2019, S. 575). Und nicht nur die werdenden Eltern müssen bei den schweren rezessiven Erkrankungen ihre Verantwortung wahrnehmen. Auch die genetische Beratung wird dazu aufgerufen, Paare so zu informieren und anzuleiten, dass sie dieser Verantwortung gerecht werden können: PNM mache deutlich „that the preventive options created by new genomic testing possibilities are not morally indifferent, but bring along new parental responsibilities. Instead of ignoring these responsibilities, the screening and counselling process should enable and motivate prospective parents to live up to them“ (van der Hout et al. 2019, S. 575). Propagiert wird also eine offen direktive Form genetischer Beratung, die künftige Eltern mit ihrer angeblichen moralischen Pflicht zur Prävention konfrontiert und die Legitimität reproduktiver Autonomie vor der Schwangerschaft und bei den „Schlimmer-als-die-Nicht-Existenz“-Krankheiten bestreitet.Footnote 10

Von den Kernelementen des Autonomie-Modells bleibt somit nur die Phase vor einer Schwangerschaft als idealer Zeitpunkt für das Screening übrig – aber nicht, um Autonomie zu steigern, sondern um sie zu beschneiden. Dennoch bringen die Autor*innen am Ende ihres Beitrags die reproduktive Autonomie noch einmal ins Spiel: Ausgehend von der Unterscheidung zwischen sehr schweren und milderen rezessiven Beeinträchtigungen schlagen sie eine Differenzierung in ein präventions- und ein autonomieorientiertes ECS-Angebot vor (van der Hout et al. 2019, S. 575). Das präventionsorientierte Screening soll die „worst genetic diseases“ erfassen, es wäre (nach PNM 2) moralisch bindend für alle Paare mit Kinderwunsch und beinhaltete bei positivem Befund eine Pflicht zur Prävention. Demgegenüber soll das autonomieorientierte ECS-Panel „comparatively milder diseases“ einbeziehen. Hier stünde es den künftigen Eltern frei, ob und auf welche dieser Erkrankungen sie sich testen lassen und welche reproduktiven Entscheidungen sie auf der Grundlage ihrer eigenen Wertvorstellungen treffen wollen. Auch wenn unklar bleibt, welche und wie viele Beeinträchtigungen hierbei als „milder“ eingestuft werden, dürfte der Bereich vorschwangerschaftlicher und vorgeburtlicher Risikokontrolle dadurch deutlich ausgeweitet werden. Vor allem wäre zu erwarten, dass auch bei weniger schweren Erkrankungen viele, wenn nicht die meisten Paare reproduktionsmedizinische Präventionsmaßnahmen ergreifen würden (vgl. mit Blick auf Mukoviszidose Cannon et al. 2019).

Zugute halten könnte man den Autor*innen immerhin, dass sie sich von dem noch weiter gehenden, umstrittenen Prinzip der „reproduktiven Wohltätigkeit“ (procreative beneficence, PB) abgrenzen, wie es maßgeblich von Julian Savulescu formuliert worden ist. Bekanntlich postuliert dieses Prinzip, Eltern hätten eine moralische Verpflichtung, unter allen möglichen Kindern, die sie haben könnten, dasjenige zu wählen, das die besten Chancen auf das beste Leben habe (Savulescu und Kahane 2009). Falls man dieses Prinzip akzeptiert, bietet es zweifellos eine ethische Begründung für die moralisch verpflichtende Beteiligung an einem möglichst umfassenden ECS. Van der Hout et al. halten das PB-Prinzip jedoch nicht für eine überzeugende Rechtfertigung dafür, dass Eltern die moralische Pflicht hätten, an einem präventionsorientierten ECS-Programm teilzunehmen. PB impliziere, dass alle Paare sich auf sämtliche genetischen Besonderheiten testen lassen müssten, die unter Umständen negative Auswirkungen auf ein zukünftiges Kind haben könnten (van der Hout et al. 2019, S. 574). Dies habe nur noch wenig zu tun mit dem, was Eltern ihren Kindern moralisch „schuldig“ seien, und es sei nicht zu sehen, weshalb zukünftige Eltern entsprechend dem PB-Prinzip agieren sollten (van der Hout et al. 2019, S. 575). Doch bei aller berechtigten Kritik am Postulat der „reproduktiven Wohltätigkeit“, auf die wir hier nicht im Detail eingehen können (vgl. dazu z. B. Sparrow 2007; de Melo-Martin 2017, S. 97 ff.), halten wir die Position, die van der Hout et al. einnehmen, ebenfalls für höchst problematisch. Denn die von ihnen vorgeschlagene Fassung des Nicht-Schadens-Prinzips weist deutliche Überschneidungen mit PB auf: Sobald die Vermeidung von „Schaden“ für ihre Kinder zur allgemeinen moralischen Pflicht von Eltern erklärt ist (und nicht mehr ihrem jeweiligen moralischen Ermessen unterliegt), wird die Einschränkung auf die „schlimmsten“ genetischen Erkrankungen zu einer aus dem Prinzip selbst nicht begründbaren (und von van der Hout et al. auch nicht wirklich begründeten) und deshalb immer angreifbaren Setzung. Nicht nur wird stets umstritten sein, welche rezessiven Beeinträchtigungen zu den „schlimmsten“ gehören und welche nicht. Darüber hinaus kann, beispielsweise von Vertreter*innen von PB oder Anbieter*innen von ECS, jederzeit problematisiert werden, weshalb die elterliche Pflicht zur „Schadensvermeidung“ nicht auch bei weniger schweren Beeinträchtigungen zum Tragen kommen sollte und weshalb (entsprechend der Argumentation von Savulescu) nicht auch der Verzicht auf Enhancement-Maßnahmen eine zu verhindernde Schädigung eines zukünftigen Kindes darstelle. Als allgemeine moralische Pflicht von Eltern verstanden weist PNM somit eine ähnlich expansive Tendenz auf wie PB, so dass die Abgrenzung zwischen den beiden Prinzipien letztlich zu verschwimmen droht. Es ist kein Zufall, dass Savulescu und seine Ko-Autoren bei ihrer Abwägung der verschiedenen Möglichkeiten zur Prävention und Behandlung von Spinaler Muskelatrophie (SMA), gestützt auf PB, aber auch auf die Prinzipien der Autonomie und Gerechtigkeit, zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen kommen wie van der Hout et al.: Es bestehe ein „moralischer Imperativ“, vorgeburtlichen Präventionsmaßnahmen (vor allem PID nach Anlageträger*innen-Screening) den Vorrang vor therapeutischen Ansätzen nach der Geburt zu geben (Gyngell et al. 2019).

Fazit

Der Beitrag von van der Hout und Kollegen markiert einen Einschnitt in der noch jungen bioethischen Diskussion über ECS, und indirekt auch über andere reproduktionsmedizinisch-genetische Technologien. Offen und explizit wird darin die Ablösung des liberalen ethischen Begründungsrahmens der reproduktiven Autonomie durch ein direktives, im Kern autoritäres Modell übergeordneter moralischer Präventions-Pflichten von (künftigen) Eltern propagiert. Zwar war unausgesprochen auch im Autonomie-Modell die Erwartung an Frauen oder Paare immer schon präsent, eine „verantwortliche“, durch medizinisches Risiko-Wissen informierte Entscheidung zu treffen. Doch bei van der Hout und Kollegen werden der Anspruch und das moralische Recht von Elternpaaren, reproduktive Entscheidungen „autonom“, nach eigenen Wertvorstellungen und Zielen treffen zu können, grundsätzlich zugunsten eines moralischen Imperativs der Leidvermeidung außer Kraft gesetzt – jedenfalls für die Zeit vor einer Schwangerschaft und die „schlimmsten“ genetischen Krankheiten betreffend.

Dieser neue Begründungsrahmen für ECS ist, wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt, aus mehreren Gründen höchst problematisch: Die Autor*innen behaupten eine moralische Verpflichtung aller Paare mit Kinderwunsch zur Teilnahme am Screening, sie plädieren für eine direktive genetische Beratung, die den „Träger*innen-Paaren“ ihre moralische Pflicht zur Prävention zu verdeutlichen habe, und sie führen die dubiose Kategorie der Erkrankungen, die „schlimmer als die Nicht-Existenz“ seien, in die ethische Debatte um ECS ein.Footnote 11 Darüber hinaus weist das Modell der „verantwortlichen Elternschaft“ problematische Implikationen für den Umgang auch mit anderen reproduktionsmedizinischen Technologien sowie für das Verständnis von Kinderwunsch, Schwangerschaft und Elternschaft im Allgemeinen auf: Wenn alle Paare moralisch verpflichtet sind, vor der Schwangerschaft am „präventionsorientierten“ Screening teilzunehmen, müssten dieser Logik folgend „ungeplante“ Schwangerschaften, bei denen diese Möglichkeit nicht besteht, als unverantwortlich angesehen werden. Zu den Pflichten „verantwortlicher Elternschaft“ würde es deshalb bereits gehören, solche Schwangerschaften zu vermeiden. Die Zeit vor einer Schwangerschaft, die „Vorschwangerschaft“ (pre-pregnancy), würde sich in einen medikalisierten und moralisierten Raum umfassender reproduktiver Risiko-Verantwortung verwandeln, die künftigen Elternpaaren, vor allem aber Frauen zugeschrieben wird (vgl. Waggoner 2017): Frauen müssten dafür Sorge tragen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Partner sich „rechtzeitig“ einem Test auf Anlageträgerschaften unterziehen (vgl. Wehling et al. 2018).

Damit korrespondiert, dass die körperliche Selbstbestimmung von Frauen bei van der Hout und Kollegen auf eine temporäre Ausnahme von einem generellen Gebot der Leidvermeidung zusammenschrumpft. Denn auch die vermeintlich zumutbare Prävention mittels IVF und PID stellt eine nicht geringe körperliche Belastung für Frauen dar. Gänzlich naiv (oder aber zynisch) wirkt schließlich die Annahme, Frauen könnten ihre reproduktive Rest-Autonomie während der Schwangerschaft auch dann ungehindert von moralischem Druck ausüben, wenn gleichzeitig im bioethischen Diskurs und der genetischen Beratung bestimmte Erkrankungen als „schlimmer als die Nicht-Existenz“ bezeichnet werden. Welches Paar, welche Frau würde unter diesen Bedingungen den Mut haben, auf Präventionsmaßnahmen zu verzichten?

Angesichts der problematischen Implikationen des responsible parenthood-Modells scheint es nahezuliegen, sich die liberale Begründung reproduktionsmedizinischer Technologien zu eigen zu machen und die reproduktive Autonomie von Frauen und Paaren gegen solche moralisch autoritären Tendenzen zu verteidigen. Doch wie oben bereits angedeutet, wird reproduktive Autonomie (auch) in der Debatte um ECS eingeengt auf eine medizinisch vordefinierte „rationale“ Pfadlogik mit den Schritten Information, Beratung und „informierte“ Entscheidung.Footnote 12 Als „wirklich“ autonom gelten reproduktive Entscheidungen in der Regel nur dann, wenn die handelnden Personen diese Sequenz durchlaufen haben und zu „rationalen“ und „verantwortlichen“ Entscheidungssubjekten geworden sind. Auch wo ECS lediglich als Informationsmöglichkeit für Paare zum Zweck erhöhter reproduktiver Autonomie angeboten wird, besteht in der Regel die Erwartung, das genetische Wissen in die eigenen Entscheidungen einfließen zu lassen. Es ist kaum ein Zufall, dass auch im liberalen Rahmen der reproduktiven Autonomie zumeist für Prävention entschieden wird. Bei ECS kann dies neben der Problematik selektiver Schwangerschaftsabbrüche zur Folge haben, dass Paare (bei erfolgloser IVF) ungewollt kinderlos bleiben; überdies wären die aufwändigen und belastenden Präventionsmaßnahmen statistisch gesehen in drei von vier Fällen „unnötig“ gewesen, weil das Paar auch ohne reproduktionsmedizinische Technologien ein nicht-beeinträchtigtes Kind bekommen hätte. Im medizinischen und bioethischen Diskurs wird dies eher selten thematisiert.

Im Rahmen der in Deutschland bevorstehenden Debatte über Anlageträger*innen-Tests werden ethische Positionen wie sie van der Hout et al. formulieren, vermutlich auf wenig Zustimmung stoßen. Es ist dennoch von entscheidender Bedeutung, solche Auffassungen kritisch zu analysieren, weil sich an ihnen exemplarisch ablesen lässt, wie durch neue biomedizinisch-technische Möglichkeiten (Feststellung genetischer Risiken bereits vor der Schwangerschaft; PID als vermeintlich zumutbare Form der Prävention) überwunden geglaubte Positionen, in diesem Fall eine mitleidsethisch fundierte negative Eugenik, in veränderter Gestalt wieder auf den Plan gerufen werden. Die Ablehnung derartiger Positionen darf dennoch nicht dazu führen, die konkurrierende Zielsetzung der „reproduktiven Autonomie“ kritiklos zu übernehmen und dadurch ein bevölkerungsweites Angebot von ECS pauschal zu legitimieren. Die Ambivalenzen dieses Ziels erfordern angesichts des expansiven Charakters von ECS eine differenzierte und reflektierte Auseinandersetzung sowohl mit den Gefährdungen und Einschränkungen von Autonomie durch das gesellschaftliche Umfeld und die Routinisierung von Testangeboten als auch mit der Verengung reproduktiver Autonomie auf ein durch genetisches Risikowissen vorgeprägtes „informiertes“ Entscheiden.