Die in der Praxis von Medizin und Pflege drängende ethische Frage ist in aller Regel jene nach dem richtigen Handeln: Ärzte, Ärztinnen oder Pflegefachkräfte, die darüber entscheiden müssen, wie ein Patient oder eine Patientin zu behandeln und zu pflegen ist, fragen zu Recht danach, was moralische Kriterien sind, an denen sie sich orientieren können. Die Medizinethik hat sich dementsprechend darauf konzentriert, solche Kriterien des richtigen Handelns zu formulieren und danach zu fragen, wie diese Kriterien in unterschiedlichen Anwendungskontexten zu spezifizieren und zu gewichten oder wie sie in praktikable Entscheidungsverfahren zu übersetzen sind. Auf die Frage danach, welche normativen Regeln einschlägig sind, gibt dabei einerseits der Principlism eine Antwort (Beauchamp und Childress 2013), andererseits wird insbesondere im europäischen Kontext auf Menschenwürde und Menschenrechte verwiesen (Joerden et al. 2013).

Dieser Fokus auf Fragen nach dem richtigen Handeln hat sicher auch damit zu tun, dass die Medizinethik sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere unter dem Dach der medizinischen Fakultäten professionalisiert und zu einer eigenständigen Fachdisziplin entwickelt hat. Insofern dort in erster Linie Ärztinnen und Ärzte die Adressaten von Ethik sind, stehen die ganz praktischen Fragen dieser Berufsgruppe nachvollziehbarerweise im Vordergrund. Der Beitrag von Vertreterinnen und Vertretern anderer wissenschaftlicher Fachdisziplinen in der Medizinethik kann angesichts dessen auch darin liegen, daran zu erinnern, dass sich medizin- und pflegeethische Fragen sehr viel mehr Personengruppen stellen als nur Ärztinnen und Ärzten. Dass auch die Pflegenden dazugehören, hat die sich ebenfalls professionalisierende Disziplin der Pflegewissenschaft zu Recht ins Bewusstsein gerufen (Kohlen et al. 2019; Riedel und Linde 2018). Aber natürlich werden ethische Fragen rund um Medizin und Pflege auch in anderen Berufsgruppen wie der Sozialen Arbeit oder der Seelsorge im Gesundheitswesen diskutiert (Moos et al. 2016; Coors 2015; Haker et al. 2014). Und schliesslich stehen natürlich auch alle (potenziellen) Patientinnen und Patienten und damit jeder Mensch vor diesen ethischen Fragestellungen.

Für Patientinnen und Patienten ist die vordringliche Frage in aller Regel nicht jene, was sie tun dürfen (so sehr auch dies eine Frage ist), sondern was sie eigentlich wollen. „Müssen alle etwas wollen sollen?!“, so fragte die Band „Wir sind Helden“ in ihrem Lied „Müssen nur wollen“ aus dem Jahr 2003. Für Patientinnen und Patienten gilt eindeutig: Ja, sie müssen etwas wollen sollen. Weil in normativer Hinsicht gilt, dass ihre Selbstbestimmung zu respektieren ist, sind sie aufgefordert, sich selbst zu bestimmen. Denn auch nichts zu entscheiden heißt unter den Bedingungen der modernen Medizin immer, sich für etwas zu entscheiden. Von daher ist das Recht auf Selbstbestimmung für die Patientinnen und Patienten immer auch die Aufgabe, selbst zu entscheiden, was sie denn wollen.

In den traditionellen Begriffen der Ethik ausgedrückt heißt dies, dass sich für Patientinnen und Patienten die Frage danach stellt, was sie als das moralisch Gute erstreben. Das, was aus Sicht der behandelnden Ärztinnen und Ärzte die zu respektierende Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten ist, impliziert für Patientinnen und Patienten die Aufgabe, sich ein eigenes ethisches Urteil darüber zu bilden, was für sie ein gutes Leben ist und was das für die konkrete Situation, z. B. bei einer schweren Erkrankung, bedeutet.

Schon Daniel Callahan war klar, dass das normative Prinzip des Respektes vor Selbstbestimmung nicht die abschließende Antwort auf ethische Probleme ist, sondern für die Betroffenen nur der Anfang des ethischen Fragens (Callahan 2007, S. 176). Selbstbestimmung eröffnet einen Raum für das individuelle ethische Urteilen, das sich dann aber wiederum an irgendetwas wird orientieren müssen. Woran? Darauf bietet eine ausschliesslich am liberalen Paradigma von normativen Prinzipien orientierte Ethik keine Antworten. Dafür braucht es vielmehr eine ethische Reflexion, die über die Fragen der normativen Verpflichtungen hinaus nach moralischen Gütern in all ihrer Diversität fragt (Coors 2019): Es braucht auch in der Medizinethik die Frage nach einer Ethik des guten Lebens (Kipke 2013).

Diese Perspektive einer Ethik des guten Lebens berührt zahlreiche ethische Diskussionen der gegenwärtigen Medizin- und Pflegeethik. Sie betrifft die Frage, wie Patientinnen und Patienten von Ärztinnen und Ärzten bei Entscheidungen über Therapieziele in ihrer ethischen Urteilsbildung unterstützt werden können, gerade auch in der Vorausplanung und der Dokumentation von Vorausplanung (Advance Care Planning). Damit verbindet sich die Frage, welche Beiträge zur Unterstützung der ethischen Urteilsbildung andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen leisten können. Zu diskutieren ist, wie sich solche güterethischen Urteilsprozesse vollziehen und in welche Kontexte sie eingebettet sind: Wie sind diese Urteilsprozesse geprägt von sozialen und kulturellen Vorstellungen des guten Zusammenlebens? In den Fokus rücken damit Fragen nach der kulturellen Diversität von Moral, nach dem Zusammenhang von Moral, Religion und Spiritualität, aber auch die Frage nach gemeinschaftlich oder gesellschaftlich verfolgten moralischen Gütern. Schließlich stellen sich Fragen nach einer Ethik des guten Lebens immer dann, wenn Perspektiven des Lebensverlaufs im Blick sind, wie bei ethischen Fragen nach dem Altern oder auch Fragen nach der Gestaltung des Sterbens als einem Prozess am Ende des Lebens: Was kann gutes Leben am Ende des Lebens sein? Und auch mitten im Leben ist dies eine relevante Frageperspektive: Was kann gutes Leben sein angesichts von Krankheit und Behinderung, angesichts von Gebrechlichkeit, Leid und Verletzlichkeit des menschlichen Lebens?

Auf all diese Fragen gibt das unbestrittene normative Recht auf Selbstbestimmung keine Antwort, sondern eröffnet überhaupt erst die ethische Frageperspektive. Eine Medizinethik, die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt stellt, wird daher nicht darum herumkommen, Fragen einer Ethik des guten Lebens zum Gegenstand der ethischen Forschung zu machen. Das wird sicher nicht so gehen, dass die Ethik eine verbindliche Antwort darauf entwickeln könnte, was das gute Leben sei –, wie es noch der Anspruch bei Aristoteles war (Aristoteles 2007), aber die Medizin- und Pflegeethik wird der Frage nach dem moralisch Guten in seiner Pluralität und Diversität nicht ausweichen können. Denn wenn alle etwas wollen sollen, dann braucht es auch eine ethische Reflexion darauf, wie dieses Wollen sich in der Vielzahl möglicher moralischer Güter orientieren kann.