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„Evidenzbasierte Ethik“? – Über hypothetische und kategorische Handlungsnormen in der Medizin

“Evidence-based ethics”?—On hypothetical and categorical norms in medicine

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Im Zuge des „empirical turn“ der Medizin- und Bioethik ist von verschiedenen Autoren in den vergangenen Jahren die Idee einer „evidenzbasierten Ethik“ diskutiert worden. Die Analogie zwischen evidenzbasierter Medizin und „evidenzbasierter Ethik“ soll in diesem Beitrag kritisch diskutiert und dabei gezeigt werden, dass der Ausdruck „evidenzbasierte Ethik“ irreführend ist. Zentraler Ausgangspunkt der Kritik ist die unterschiedliche Bedeutung, die empirische Informationen für das medizinisch-klinische Urteil zum einen und das ethische Urteil in der Medizin zum anderen haben. Im medizinisch-klinischen Urteil können mit Hilfe empirischer Informationen hypothetische Handlungsnormen generiert werden, welche auf den der Medizin inhärenten Zwecksetzungen basieren. Bei Fragen der Ethik in der Medizin hingegen sind die Handlungsziele selbst Gegenstand des Urteils; diese aber können allein aus empirischem Wissen heraus nicht zureichend bestimmt werden. Die Diskussion um die Möglichkeit einer „evidenzbasierten Ethik“ eröffnet weiterhin aufschlussreiche Perspektiven in Bezug auf empirische Forschung und den Umgang mit empirischen Informationen in der Angewandten Ethik und das Aufgabenfeld der Medizinethik.

Abstract

Definition of the problem In the context of the so-called “empirical turn” in bioethics, the idea of “evidence-based ethics” has been discussed by several authors in recent years. This article will critically discuss the analogy between evidence-based medicine and “evidence-based ethics” to show that “evidence-based ethics” is a misleading concept. Arguments The criticism will be based on the different significance which empirical information has for clinical judgments, on the one hand, and ethical judgments in medicine, on the other. In clinical judgments, empirical information can be used to generate hypothetical practical norms which are based on the inherent aims of clinical medicine. In contrast to this, ethical judgments in medicine are concerned with the aims of action themselves. These aims cannot be determined sufficiently by empirical knowledge alone. Conclusion The discussion about “evidence-based ethics” opens further perspectives regarding empirical research and the integration of empirical information in applied ethics as well as regarding the central tasks of medical ethics as a scientific discipline.

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Notes

  1. Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Terminus „turn“ im Anschluss an Thomas Kuhn Ausdruck eines Paradigmenwechsels innerhalb einer Wissenschaft ist, was aber auf den sogenannten „empirical turn“ der Bioethik nicht zutrifft ([28], S. 149). In diesem Fall wurde die normativ-theoretische Analyse nicht durch empirische Forschungsansätze ersetzt, sondern das Methodenspektrum der Bioethik um Letztere erweitert, so dass der Ausdruck „turn“ hier nicht im klassischen Sinne zutrifft.

  2. Für einen aktuellen Überblick über die Entwicklung des „empirical turn“ und die damit verbundenen konzeptuellen Herausforderungen vgl. [26].

  3. Aus Gründen der Kürze und Lesbarkeit wird in diesem Text bei gemischtgeschlechtlichen Gruppen nur die männliche Form genannt; gemeint sind aber stets beide Geschlechter, hier also Patientinnen und Patienten.

  4. Der Ausdruck „Evidenz“ meint in diesem Kontext also nicht das im Deutschen assoziierte, sich unmittelbar Erschließende, sondern verweist der englischen Wortverwendung von „evidence“ folgend auf Behauptungen oder Umstände, die einen bestimmten Sachverhalt belegen ([23], S. 12).

  5. Der Ausdruck „Evidenz“ kann jedoch insbesondere bei Laien im Sinne von „Objektivität“ missverstanden werden, so dass der Hinweis wichtig erscheint, dass die evidenzbasierte Medizin keine „objektive Realität“ abbildet, sondern vielmehr auf Basis bestimmter Vorannahmen Verfahren zur Datengenerierung, -präsentation und -verwendung vorschlägt.

  6. Daneben ist aber auch der Versuch unternommen worden, die implizite Normativität, welche der Produktion und Präsentation wissenschaftlicher Daten in der evidenzbasierten Medizin innewohnt, in positiver Absicht zu rekonstruieren und für sogenannte „integrativ empirisch-ethische Forschung“ fruchtbar zu machen [20].

  7. Es wird dabei zum Zwecke der Verdeutlichung von „idealtypischen“ medizinisch-klinischen bzw. ethischen Urteilen ausgegangen; de facto sind die Grenzen zwischen beiden nicht immer eindeutig bestimmbar und ein und dieselbe Situation kann sowohl Anlass für ein medizinisch-klinisches als auch für ein ethisches Urteil bieten. Weiterhin bleiben beide Urteile stets eng aufeinander bezogen und sind wechselseitig voneinander abhängig, wie im Folgenden noch verdeutlicht wird.

  8. Welche Aufgaben jedoch insgesamt zu den der Medizin inhärenten Zielen zu zählen sind, ist nicht selten umstritten, wie etwa die gegenwärtige Diskussion um das Enhancement psychischer und körperlicher Eigenschaften zeigt.

  9. Die Bedeutung der empirischen Wissenschaften für den Bereich der Moralpragmatik ist von Dieter Birnbacher hervorgehoben worden [3, 4].

  10. Kant spricht hier von „technisch“ ([15], S. 40).

  11. Kant untergliedert die hypothetischen Imperative weiter in solche von problematischem und assertorischem Charakter, je nachdem, ob sie die Mittel zu einer nur möglichen oder aber einer wirklichen Absicht angeben ([15], S. 37). Diese weitergehende Differenzierung wird in der folgenden Darstellung außer Acht gelassen, da allein Kants Unterscheidung zwischen hypothetisch-instrumentellen und kategorischen Handlungsnormen nutzbar gemacht werden soll. In diesem Sinne wird auch von Kants spezifischer Begründung moralischer Normen abgesehen, welche jedoch in engem Zusammenhang mit deren kategorischem Charakter steht.

  12. Vgl. hier etwa den hermeneutischen Ansatz von Widdershoven et al. [35] oder auch Studien, welche auf Theorien des Reflexionsgleichgewichts aufbauen [12, 34].

  13. Damit soll nicht ausgeschlossen sein, dass die Medizinethik als angewandte Wissenschaft sich in vielen Bereichen auch instrumentellen Fragen, etwa der Umsetzung ethischer Normen, widmet; der Bezug zum „Kerngeschäft“ sollte jedoch stets deutlich bleiben.

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Danksagung

Die Autorin dankt Herrn Prof. Dr. Dr. Jochen Vollmann und Herrn Dr. Jan Schildmann sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum für wichtige Hinweise und Anregungen bei der Entstehung dieser Arbeit. Ein weiterer Dank gilt den Mitgliedern der AEM-Arbeitsgruppe „Ethik und Empirie“ für viele aufschlussreiche Diskussionen. Diese Arbeit wurde gefördert durch das Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen: NRW-Nachwuchsforschergruppe „Medizinethik am Lebensende: Norm und Empirie“ (Aktenzeichen: 334).

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Correspondence to Sabine Salloch M.A..

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Die vorliegende Arbeit erhielt den Nachwuchspreis 2011 der Akademie für Ethik in der Medizin e. V.

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Salloch, S. „Evidenzbasierte Ethik“? – Über hypothetische und kategorische Handlungsnormen in der Medizin. Ethik Med 24, 5–17 (2012). https://doi.org/10.1007/s00481-011-0153-9

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