Hintergrund

Im Jahre 2015 wurde mit dem Hospiz- und Palliativgesetz der Anspruch auf eine vorausschauende Planung der letzten Lebensphase für Pflegeheimbewohner gesetzlich verankert (§ 132g Abs. 3 SGB V, [31]). Das Konzept des Advance Care Planning (ACP) gewinnt im letzten Jahrzehnt in Deutschland immer stärker an Bedeutung. Die Bestrebungen im deutschen Gesundheitssektor sind dennoch sehr jung und national nicht vereinheitlicht. So hat erst Ende des Jahres 2017 der GKV-Spitzenverband (Spitzenverband Bund der Krankenkassen) mit verschiedenen Trägern der deutschen gesundheitlichen Versorgungslandschaft eine Vereinbarung getroffen, welche die „Inhalte und Anforderungen der gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase“ formuliert [9, 10]. Auf der nationalen Ebene wird hierbei lediglich die Situation für eine Anwendung und Umsetzung von ACP in Pflegeheimen und der Eingliederungshilfe definiert. Aus der Vereinbarung entstanden vielerorts unterschiedliche Modelle von ACP; eine Vereinheitlichung der Dokumente und der Vorgehensweise gestaltet sich mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre als schwierig.

Advance Care Planning nur für Personen mit vorhandener Einwilligungsfähigkeit?

Das ACP-Konzept wird hingegen im internationalen Kontext so definiert, dass es grundsätzlich (alle) Individuen – unabhängig von Alter, Gesundheit und Lebensumständen – dazu befähigen soll, „to define goals and preferences for future medical treatment and care, to discuss these goals and preferences with family and health-care providers, and to record and review these preferences if appropriate“ [29, S. 546]. Hierbei handelt es sich um die Kurzfassung der ACP-Konsensus-Definition, die im Zuge einer internationalen Studie der Task Force Advance Care Planning der European Association for Palliative Care (EAPC) im Jahre 2017 erstellt wurde [29, 33].

In Deutschland wird der Begriff ACP in unterschiedlichen Übersetzungen verwendet: z. B. „Behandlung im Voraus planen (BVP)“ [16], „gesundheitliche Vorausplanung“ [7], „vorausschauende Versorgungsplanung“ [7], „Vorausplanung der gesundheitlichen Versorgung“[7], „vorausschauende Behandlungsplanung“ [37] oder auch „gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase (GVP)“ [10]. Im Verlauf dieses Artikels wird jedoch weiterhin von ACP gesprochen, da der Grundgedanke von ACP leitend sein und nicht ein spezielles deutsches Konzept inhaltlich im Fokus stehen soll.

Die Zahl der deutschen Studien zu ACP nimmt zu: Eine Recherche in den Datenbanken PubMed und LIVIVO ergibt, dass im ersten Halbjahr 2019 etwa 10 Studien erschienen sind. Vornehmlich wurden aber Themen zu Onkologie, Herzinsuffizienz, Organspende oder den weichen Faktoren von ACP, nämlich zu Wissen, Erfahrung und Haltung von Pflegeheimpersonal, diskutiert. Eine generelle Recherche zeigt, dass nach wie vor die Amerikaner und die Briten, gefolgt von den Holländern und Kanadiern, führend in der Forschung zu ACP in unterschiedlichen Kontexten sind. So erscheint die Evidenzlage im Hinblick auf Demenz in Verbindung mit ACP derzeit noch als sehr unzureichend.

Mit dem Fortschreiten einer demenziellen Erkrankung kann eine „intensive Auseinandersetzung mit Fragen der physischen, psychischen, sozialen und religiösen bzw. spirituellen Unterstützung sowie mit Fragen zu pflegerischen Maßnahmen und medizinischen Behandlungen in Vorbereitung auf die letzte Lebensphase“ [10, S. 1] von noch höherer Bedeutung sein als für ältere Menschen ohne kognitive Einschränkungen. Abhängig davon, in welchem Alter die Demenz ausbricht, welche Form vorliegt und wie schnell die erkrankte Person die einzelnen Demenzstadien durchläuft, kann die Lebenserwartung von 5 bis 20 Jahren reichen. Menschen mit einer Alzheimer-Demenz leben beispielsweise im Mittel nach Diagnosestellung noch 8 bis 10 Jahre, werden aber krankheitsbedingt zunehmend unerreichbarer für die begleitenden Personen. Dieser Umstand macht einen (frühzeitigen) Austausch über die bedeutsamen Themen des ACP umso wichtiger [5, 36].

In der erweiterten Definition von ACP der bereits erwähnten Task Force wird explizit die Entscheidungsfähigkeit des Individuums in den Fokus genommen, Menschen mit Demenz werden damit ausgeschlossen: Advance Care Planning „enables individuals who have decisional capacity to identify their values, to reflect upon the meanings and consequences of serious illness scenarios, to define goals and preferences for future medical treatment and care, and to discuss these with family and health-care providers“ [29, S. 546]. Die Erarbeitung eines Konsensuspapiers mit dem Schwerpunkt ACP und Demenz ist jedoch erst für 2021/2022 geplant; eine weitere Task Force zu diesem besonderen Thema der EAPC [34] wurde bestellt. Die Formierung dieser Task Force explizit für ACP und Demenz spiegelt die Notwendigkeit des besonderen Betrachtens und Einbeziehens der veränderten Umstände bei Demenz wider und unterstreicht die Intention und das Erfordernis der im Folgenden dargelegten Pilotstudie deutlich.

Ziel der Arbeit (Fragestellung)

Nach der Teilnahme an einer ACP-Gesprächsbegleiter-Fortbildung (Anfang 2017) auf der Grundlage des Konzepts von „beizeiten begleiten®“ (bb) hat die Erstautorin dieses Artikels die verwendeten Dokumente und deren Anwendung im Hinblick auf Menschen mit Demenz als unzureichend in der Anwendung eingeschätzt [16]. Dies insbesondere aus den folgenden Gründen:

Die deutschen Original-ACP-Dokumente von bb beinhalten einen Bogen zur Werteanamnese und konkretisieren anschließend in weiteren Dokumenten die Wünsche der betreffenden Person für spezifische Situationen (Akutsituation, Einwilligungsunfähigkeit von unklarer Dauer und bei dauerhafter Einwilligungsunfähigkeit). In den Dokumenten wird zwar ausdrücklich die Demenz benannt, jedoch als eine zu antizipierende und in der Zukunft liegende Situation. Sie sind nicht konzipiert für Personen, die bereits betroffen sind. Beizeiten begleiten® bietet hier lediglich die sog. Vertreterverfügung an, also ein „ACP by proxy“, womit ein Austausch mit und der Einbezug der betreffenden Person selbst aus dem Fokus geraten [18, S. 109].

Der Bogen der bb-Werteanamnese setzt sich ausschließlich aus dem Erfahrungswissen der bb-Autoren zusammen und kann somit als nichtevidenzbasiert gewertet werden. Die Autoren von bb sprechen für die Anwendung der Dokumente die dringende Empfehlung aus, dass aufgrund der Komplexität der Thematik und der dazugehörigen Dokumente der Entscheidungsfindungsprozess stets gemeinsam mit einem ausgebildeten Gesprächsbegleiter durchlaufen werden sollte [16]. Zum Zeitpunkt der Pilotstudie (2. Quartal 2017) galt das bb-Konzept als das bekannteste Modell in Deutschland, auch aufgrund einer Buchveröffentlichung und zahlreicher Artikel der Autoren. Die Entscheidung für die Fokuslegung auf bb resultierte auch aus dem gewonnenen Wissen durch den besuchten Gesprächsbegleiterkurs, der intensiven Auseinandersetzung mit den genutzten Dokumenten und der wahrgenommenen Inkompatibilität hinsichtlich Demenz.

Mit Blick auf kognitiv veränderte Personen lässt sich die Version von bb aus der Sicht der Autoren aufgrund der Komplexität der Dokumente sowie der Thematik nicht vollständig umsetzen. Die Komplexität und das erforderliche Antizipationsvermögen würde Menschen mit Demenz im Fortlauf der Erkrankung zunehmend überfordern, da es sich um erlebnisferne und abstrakte Entscheidungen handelt – bereits für Gesunde sind diese Überlegungen hochgradig komplex. Da die genannten Dokumente bis zum Zeitpunkt der Durchführung der vorgelegten Studie im März 2017 nicht evaluiert waren, hat sich die Autorin ausschließlich für die Modifikation der Werteanamnese, des Herzstücks des gesamten Prozesses, entschieden. So wurde der Fragebogen zu den Werten und Wünschen der vulnerablen Gruppe der Menschen mit Demenz zugänglich gemacht. Dieses Vorhaben basiert auf der Überzeugung, dass sich demenziell veränderte Personen trotz ihrer Erkrankung noch lange und differenziert zu den beschriebenen Themen äußern können. Daher ist das Vorgehen des sich wiederholenden Gesprächsprozesses von ACP besonders bei dieser Personengruppe zu begrüßen. Sie sollten aber in deutlich kürzeren Zeitabständen als vorgesehen durchgeführt werden.

Material und Methoden

In der Veröffentlichung des GKV-Spitzenverbands heißt es, dass der „Inhalt der gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase … ein individuelles, auf die Situation der Leistungsberechtigten … zugeschnittenes Beratungsangebot zur medizinisch-pflegerischen, psychosozialen und/oder seelsorgerlichen Versorgung“ darstellen soll [10, S. 1]. Im Hinblick auf Demenz sind nun veränderte Umstände in der Begleitung zu bedenken. Wenn sie nicht durch Multimorbidität anderweitig eingeschränkt sind, haben die Personen zumeist einen starken Bewegungsdrang. Sobald die Personen aufhören zu essen und zu trinken, versterben sie in kürzester Zeit [21, 22]. Eine Modifikation der ACP-Dokumente wird somit für unabdingbar gehalten und folgend dargelegt. Der Bogen zur Werteanamnese beinhaltet im Original von bb (Stand März 2017) 5 Fragen mit insgesamt 6 Unterfragen zu den folgenden Themen über Einstellung und Haltung gegenüber (1) dem Leben, (2) dem Sterben, (3) den lebensverlängernden Maßnahmen und (4) den religiösen, spirituellen und/oder persönlichen Überzeugungen [16].

Das Dokument wurde in dem hier beschriebenen Prozess in 11 Schritten modifiziert. Für diesen Veränderungsprozess wurde ein multiprofessionelles und mehrperspektivisches Vorgehen gewählt. Die ausgewählten Experten und Expertinnen haben entweder im beruflichen Kontext oder durch persönliche Betroffenheit mit dem Bereich der Alternsforschung und/oder der Demenz einen Berührungspunkt. Der so entstandene Expertenmix blickt individuell auf die Gesamtthematik Demenz im Zusammenspiel mit Fragen zum Leben und zum Lebensende.

In Tab. 1 wird die Vielfältigkeit der Disziplinen aller beteiligten Experten und Expertinnen ersichtlich, welche schrittweise zur Anpassung des Dokuments beigetragen haben:

Tab. 1 Übersicht über die 11 Modifikationsschritte mit Beschreibungen zu den Experten und Expertinnen mit Funktion und Qualifikation

Die ExpertInnengespräche und -interviews erfolgten in einem iterativen Prozess, angelehnt an die Grounded Theory [32]. Die Vielzahl an Professionen ermöglichte es, den Originalbogen differenziert aus unterschiedlichen Perspektiven im Hinblick auf die Anwendbarkeit bei Demenz zu betrachten.

Es wurden Gedächtnisprotokolle und Mitschriften angefertigt, um Ideen und Anmerkungen anschließend einarbeiten zu können. Der Ablauf der Expertengespräche verlief stets nach demselben Schema (diese Angaben gelten für die Schritte 1 bis 9, Tab. 1; [17]). Der Originalfragebogen von bb galt dabei stets als Referenzpapier [16]:

  1. a)

    Darlegen des Projektvorhabens,

  2. b)

    Vorstellen des Originalbogens von bb,

  3. c)

    Darlegen der Gründe für eine Veränderung des Originals mit Blick auf Demenz,

  4. d)

    Vorstellen des bis dahin veränderten Bogens,

  5. e)

    Diskussion über die veränderten Teilaspekte des vorangegangen Schritts,

  6. f)

    Frage für Frage durcharbeiten und Für und Wider abwägen,

  7. g)

    Veränderungsideen einarbeiten.

In den Entwicklungsschritten 10 und 11 wurden anschließend ältere Personen mit und ohne Demenz mithilfe des bis dahin erarbeiteten Fragenkatalogs interviewt:

  • Der erste Teil des Pretests (Schritt 10) fand mit 5 kognitiv nichteingeschränkten Personen im Alter von über 70 Jahren statt. Die Interviews wurden im häuslichen Kontext der Personen durchgeführt.

  • Der zweite Teil dieser Voruntersuchung (Schritt 11) fand mit 4 Personen statt, die eine diagnostizierte Demenz im frühen Stadium (nach ICD-10) aufwiesen.

Die Kontaktaufnahme zu den demenziell veränderten Personen fand in der Gedächtnisambulanz des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim statt; hierdurch war eine umfassende Diagnostik gewährleistet. Sie wurden anschließend in Absprache mit dem zuständigen Arzt vor Ort kontaktiert und zur Teilnahme angefragt. Bei der Kontaktaufnahme war stets ein/eine Angehöriger/Angehörige anwesend, zudem wurde die Einverständniserklärung von der betreffenden Person selbst und einem An- und Zugehörigen, der zugleich als rechtlicher Stellvertreter fungierte, eingeholt. Die Interviews fanden entweder in den Räumlichkeiten des Zentralinstituts oder im häuslichen Kontext statt, je nach Präferenz der betreffenden Person [2, 8, 11]. Die Experteninterviews aus den Schritten 10 und 11 wurden aufgezeichnet und transkribiert, um sie anschließend für die Überarbeitung des Fragebogens zugänglich zu machen. Der gesamte Fragebogen wurde per Augenschein durch die Experten validiert [23, 28].

Beide Schritte (10 und 11) schlossen jeweils nach den durchgeführten Pretest-Interviews mit einem Reflexionsgespräch gemeinsam mit der interviewten Person ab. Es wurden die folgenden Fragen gestellt:

  1. 1.

    Wie ist es Ihnen mit den Fragen ergangen?

  2. 2.

    Gibt es Fragen, mit denen Sie Schwierigkeiten gehabt haben?

  3. 3.

    Haben Sie Verbesserungsvorschläge?

Die Reflexion über den Fragebogen war mit den meisten Personen gut möglich. Der letzte Schritt erfordert allerdings eine grundsätzliche Reflexionsfähigkeit der jeweiligen Person.

Ergebnisse und Diskussion

Das modifizierte Papier beinhaltet nach wie vor die 4 Schwerpunkte aus dem Original, es haben sich aber der Inhalt und die Konzeption der Fragen grundlegend verändert. Entstanden sind 5 Fragen mit 14 Unterfragen. Hinzugekommen sind 3 weitere Themenschwerpunkte: Der Einstieg zum Gespräch wird über die „Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes“ gewählt, um der interviewten Person die generelle und aktuelle Wahrnehmung dessen zu vergegenwärtigen, aber auch um dem/der InterviewerIn einen Einblick in die Krankheitswahrnehmung (im Besonderen bei einer Demenz: Stichwort „Demenz-Paradoxon“) der Person zu verschaffen [3, S. 326]. Weiterhin sind die beiden Themen „letzte Lebensphase“ mit 3 Unterfragen und der „Generativitätsaspekt“ mit einer Unterfrage hinzugekommen. Ein umfassendes Bild der eigenen Werte und Wünsche kann so für die interviewte Person selbst und das Gegenüber aus unterschiedlichen Perspektiven entstehen.

Im Folgenden wird nun der Prozess exemplarisch an Frage 3 aus dem Original dargestellt (Stand März 2017; Tab. 2; Abb. 1). Anschließend sind lediglich die Schritte abgebildet, die eine bedeutende Veränderung im Verlauf kennzeichnen.

Tab. 2 Frage 3 aus der originären Werteanamnese mit Stand März 2017 von beizeiten begleiten®
Abb. 1
figure 1

Darstellung des Modifikationsprozesses exemplarisch an Frage 3 aus dem Original von beizeiten begleiten®

Der Veränderungsprozess des Fragebogens orientierte sich an Empfehlungen für die Kommunikation mit Menschen mit Demenz, insbesondere:

  • Vereinfachung der Sprache (Sätze und Fragen gekürzt);

  • Eliminieren von Zweideutigkeiten und Redewendungen;

  • Paraphrasieren schwieriger Worte (z. B. das Wort Wert wurde durch Einstellung, Überzeugung, Hoffnung ersetzt);

  • Fragen wurde ein einführender Satz vorangestellt, damit sich die Personen gedanklich auf die zu erfragende Situation einstellen konnten (Abb. 1);

  • bei Fragen zum Kontext Tod und Sterben wurde die Fragereihenfolge folgendermaßen verändert: Um sich die persönliche Vorstellung zum eigenen Tod bewusst machen zu können, wird der Interviewte zunächst in Bezug auf seine Erfahrungen zum Tod in seinem näheren Umfeld befragt. Im nächsten Schritt wird die persönliche Endlichkeit in den Mittelpunkt gestellt (Hinleiten von externer zur persönlichen Sicht);

  • Motivierung und Ermutigung zu konkreten Aussagen

  • weiterführende Literatur zum Thema Kommunikation und Demenz u. a. [13, 27, 35].

Die schrittweise Anpassung des Dokuments hat einen praktikablen, verständlichen und niedrigschwelligen Zugang geschaffen, der es auch der vulnerablen Gruppe der Menschen mit Demenz ermöglicht, sich mit Fragen zu Leben, Sterben und lebensverlängernden Maßnahmen umfassend auseinanderzusetzen und sich darüber auszutauschen [28]. Es ermöglicht somit Personen, obgleich z. T. weit fortgeschritten in ihrer Demenzerkrankung, ihre Wünsche und Werte weiterzutragen, die womöglich ansonsten nicht erfragt werden würden, da ihnen die Fähigkeit dazu häufig grundsätzlich bereits im Vorfeld abgesprochen wird.

Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum sollte das Unaussprechliche, das im Verborgenen Gehaltene und das dennoch Unausweichliche, nämlich der Tod, durch Worte zu persönlichen Wünschen, Werten, Einstellungen und Haltungen Gestalt erhalten [15, 25]. Die Werteanamnese nähert sich dieser Thematik über die Perspektivöffnung zu Fragen über das Leben und die Betrachtung von Lebensbindung. Zudem schafft im ersten Schritt die Betrachtung der Fremdperspektive eine persönliche Distanz, um anschließend die persönliche Ebene beleuchten zu können.

Die Gesprächsangebote mithilfe der Werteanamnese eröffnen einen Raum des Sich-nicht-Verpflichtens. Somit kann ein wahrgenommenes endgültiges Festlegen vermieden werden, welches zumeist zu einem Abwenden von dieser Thematik führt. Es kann den befürchteten folgenschweren Auswirkungen des eigenen Handelns bzw. Nicht-Handelns für die Zukunft hierdurch wirksam entgegengetreten werden. Somit kann in diesem Punkt auch die Angst genommen werden, dass dieses Dokument zu nichtgewünschten Behandlungen (Handeln oder Nicht-Handeln) führt. Das Dokument gibt solche Tendenzen wieder, die von betreuenden Dritten umgesetzt werden können. So wird die Selbstbestimmung der Person weiterhin hochgehalten und getragen, wenn auch die Personen in den intendierten Fokus dieser Gespräche eingeschlossen werden, die laut Patientenverfügungsgesetz (§ 1901a Abs. 1 Satz 1 BGB) als einwilligungsunfähig gelten [4].

In diesem Kontext ist das Konzept des Advance Care Dialogue (ACD) von Heller und Schuchter zu erwähnen [15]. Die bislang dargelegte Vorgehensweise dieser Pilotstudie greift Aspekte des Konzepts auf. Die Autoren von ACD geben zu bedenken, dass die Gesellschaft nicht in eine „Planungseuphorie“ hinsichtlich des Lebensendes verfallen sollte, da viel eher „zuhörende Menschen und keine Sterbeplanungsoptimierer“ [15, S. 43] benötigt werden. Zusätzlich wird in diesem Kontext nicht nur von einer Förderung der Dialoge, sondern der Trialoge gesprochen. Neben der engsten Familie sollte auch der erweiterte Kreis an Begleitenden eingebunden werden [15]. Petzold spricht gar von „Polylogen“, denn es sollten alle Parteien des sozialen Netzwerks und der begleitenden Institutionen mitgedacht werden, die eine betroffene Person in der Versorgung und darüber hinaus umgeben [26, S. 1].

Das eingebettete Gespräch mit bedeutsamen Dritten wird sowohl im ursprünglichen amerikanischen Konzept von ACP („respecting choices“, [14]) als auch im deutschen Programm von bb und in der Vereinbarung des GKV immer wieder hervorgehoben. Die notwendige Kommunikation aller Beteiligten stellt somit keinen neuen bzw. fehlenden Aspekt von ACP dar; dennoch und in besonderer Weise ist im Kontext Demenz dem Aspekt des verbalen und nonverbalen Austausches hohe Bedeutung zuzuweisen. Mit der Modifikation der Werteanamnese und der ausschließlichen Verwendung dieses Dokuments wird der Erkrankung Rechnung getragen.

Um die Selbstbestimmung eines Menschen in den Mittelpunkt zu stellen (und zu halten), sollte den betreffenden Personen weiterhin stets ihre Stimme gegeben werden.

So soll der Gesprächsprozess laut der Vereinbarung des GKV den „Leistungsberechtigten … ermöglichen, selbstbestimmt über Behandlungs‑, Versorgungs- und Pflegemaßnahmen entscheiden zu können und damit als Grundlage für eine Behandlung und Versorgung am Lebensende dienen, die den geäußerten Vorstellungen der Leistungsberechtigten/des Leistungsberechtigten entspricht“ [10, S. 1]. Zur Erfüllung dieses Anspruches des GKV sollte im Falle einer vorhandenen Demenzerkrankung im Besonderen auf die veränderten Umstände geachtet werden.

Um die Selbstbestimmung eines Menschen in den Mittelpunkt zu stellen (und zu halten), sollte den betreffenden Personen weiterhin stets ihre Stimme gegeben werden: „Wo der Demenzkranke seine Fähigkeit zur eigenen Disposition über sein Leben verliert, verpflichtet die Maxime [– die unveräußerliche Würde zu achten und jeden anderen in Freiheit entscheiden und handeln zu lassen –] dazu, dem Betroffenen so lange wie möglich die Chance zur Mitgestaltung seines Daseins einzuräumen“ [6, S. 53 f.]. In der Vereinbarung des GKV wird explizit darauf hingewiesen, dass „bei der Begleitung von Leistungsberechtigten mit einem hohen Unterstützungsbedarf (z. B. … kognitiven Einschränkungen) … Situationen auftreten [können], in denen Vertrauenspersonen die Leistungsberechtigten im Sinne assistierter Autonomie bei ihren Entscheidungen unterstützen“ [10, S. 6]. Es ist weiterhin wichtig, den Menschen mit Demenz selbst zu seinen Wünschen und Werten zu befragen und nicht an ihrer statt eine Person aus dem Sorge-Netzwerk zu wählen. Die An- und Zugehörigen aus dem nahen und entfernteren Umfeld sind für die Biografiearbeit gerade im Kontext von Demenz sehr bedeutsam, jedoch nicht ausschließlich [20, 21]. Das Modifikationsvorhaben folgt somit der Forderung des GKV-Spitzenverbands nach Übersetzungsleistungen im doppelten Sinne: Es ist wichtig, Vertrauenspersonen einzubinden, um den natürlichen bzw. mutmaßlichen Willen über Erfahrungen und Beobachtungen zu ermitteln – falls dies verbal nicht mehr möglich ist –, aber auch Übersetzung durch einen niedrigschwelligen Zugang über die Dokumente zu gestalten [10].

Eine demenzielle Erkrankung bedarf, gerade im fortgeschrittenen Stadium, einer veränderten Art bzw. einer Anpassung der Kommunikation, dennoch ist ein verbaler – und fortschreitend sich verstärkender nonverbaler – Austausch noch lange Zeit möglich. Es verliert sich beispielsweise bei Menschen mit Demenz zunehmend das Antizipationsvermögen oder die Fähigkeit der Person, Sinnzusammenhänge aktiv herzustellen [21]. Die Art und Weise der Darlegung einer Thematik muss entsprechend gestaltet werden: Bei Befragungen etwa sollten Wiederholungen der Fragen eingebaut und der rote Faden des Gesprächs immerfort vor Augen geführt werden [19]. So gilt es stets zu bedenken, dass sich die kognitiv nichteingeschränkten Menschen in die Welt der Menschen mit Demenz hineinversetzen müssen und deren Welt als gegeben und für sie richtig akzeptieren und annehmen. Dieser Aspekt sollte ebenso für Institutionen gelten, die ihre Abläufe an die gefühlte Wahrheit der Menschen mit Demenz anpassen sollten.

Schlussfolgerung

Mit Abschluss der Pilotstudie ist ein Papier entstanden, das sich aufgrund der erarbeiteten Niedrigschwelligkeit ebenso für andere Personengruppen eignet. Vor dem dargelegten Hintergrund mit Blick auf Demenz potenzieren sich aufgrund der Progredienz der Erkrankung die Notwendigkeit des genauen und empathischen Hinschauens und des sensiblen Umgangs insbesondere auf der zwischenmenschlichen Ebene. Hier entwickeln Menschen mit Demenz eine wachsende Feinsinnigkeit. Das Thema Tod und Sterben bekommt zudem aufgrund der wahrgenommenen Nähe zum Ende des Lebens eine größer werdende Gestalt [21]. Mit dem Angebot der Werteanamnese können Personen gedanklich zur Thematik Tod und Sterben angeregt werden. Während der Hauptstudie dieser Arbeit konnte eine hohe Bereitschaft festgestellt werden, über das Thema zu sprechen. Außerdem konnte eine Dankbarkeit im Sorge-Netzwerk des Betroffenen wahrgenommen werden.

Im Kontext Demenz kommt die besondere Hürde hinzu, dass häufig eine große Scham empfunden wird. Es ist zumeist der/die Betroffene selbst, solange die Person noch Fähigkeiten zur Krankheitsreflexion besitzt, da die Kognition nach wie vor ein hohes Gut der Gesellschaft darstellt. Aber auch aufseiten der Angehörigen benötigt es – aufgrund der veränderten Beziehung und Lebensumstände – das hohe Maß an Belastung mehr Raum des Austausches und/oder der Angebotsunterbreitung von Unterstützungsmöglichkeiten. Das Demenzsyndrom berührt zahlreiche Lebensbereiche der betroffenen Person und der Mitbetroffenen.

Was macht das modifizierte Papier im Kontext Demenz so bedeutsam?

Die AutorInnen betrachten die modifizierte Version von bb als ein modulares Angebot, das im Besonderen im Kontext Demenz eine gute Anwendung finden kann. Die Erfahrungen aus der Hauptstudie der Dissertation der Autorin zeigen, dass keine der wiederholt interviewten Personen die Fragen des modifizierten Fragebogens erinnerten (unveröffentlichtes Material: Dissertation von H.V.). Gleichwohl ließ sich eine wissende (emotionale) Ebene der Beziehung zwischen der Interviewerin und den interviewten Personen feststellen. Die Tatsache des krankheitsbedingten Nicht-Erinnerns gilt es sich insbesondere im Kontext von ACP stets zu vergegenwärtigen: Es kann die These aufgestellt werden, dass eine medizinisch-pflegerische Aufklärung hinsichtlich ACP (z. B. lebensverlängernde Maßnahmen) durch einen qualifizierten Gesprächsbegleiter bei dieser Personengruppe (fast) nicht möglich ist, abhängig vom jeweiligen Krankheitsstadium. Die Einwilligungsfähigkeit einer Person muss bei der medizinischen Aufklärung per Gesetz gegeben sein. Im Kontext Demenz eröffnet sich aufgrund der Vielschichtigkeit der Einschätzung von Einwilligungsfähigkeit ein hochkomplexes Themenfeld, dessen Erörterung nicht den Fokus der Arbeit darstellte, aber divers diskutiert wird [1, 12].

Ziel der hier beschriebenen Pilotstudie war die Entwicklung eines kompatiblen Instruments, um sich den Fragen zu Leben, Sterben und lebensverlängernden Maßnahmen zu nähern. So ist mit der Modifikation keine wirksame Patientenverfügung entwickelt worden, wie es der Gesetzgeber anstrebt. Dennoch kann Menschen, deren Einwilligungsunfähigkeit im juristischen Sinne das Abschließen eben dieser Dokumente verhindert, hiermit eine Möglichkeit geboten werden: Dritte werden durch den partizipativen Ansatz bestärkt und sind somit befähigt, im Sinne des Betroffenen zu handeln und zu entscheiden.

Eine weitere Definition von ACP eignet sich erneut, um die Notwendigkeit einer Modifikation zu unterstreichen, denn ACP wird hier als ein Prozess verstanden: „that supports adults at any age or stage of health in understanding and sharing their personal values, life goals, and preferences regarding future medical care …“ [33, S. 826]. Genau der Aspekt at any age or stage of health lässt die Frage aufkommen, warum dieses Konzept in Deutschland bislang der Gruppe der demenziell veränderten Personen auf der Grundlage aller Argumente noch nicht zugänglich gemacht wurde.

Außerdem gilt es stets zu bedenken, dass Personen durchaus auch bewusst nicht entscheiden können, wenn es um ihr Lebensende geht. (Un‑)Planbares nicht zu planen und es so kommen zu lassen, wie es sein wird, erscheint ebenso als ein wichtiges vorläufiges Ergebnis der Dissertation der Autorin. Der Aspekt bestehender Unsicherheit bleibt immerfort vorhanden und wird in der Literatur unter dem Stichwort Theory of Uncertainty in Illness umfassend untersucht. Es wird immer Momente der Unsicherheit auf allen Seiten geben, und so werden auch Ärzte und Pflegende lernen müssen, sich dieser Unsicherheit zu stellen und sie als solche anzunehmen [24].

Eine neue Perspektive auf Advance Care Planning

Advance Care Planning erstellt ein formales Netzwerk zwischen den professionellen Institutionen, um die Umsetzung der verfügten Dokumente zu garantieren. Der Grundgedanke des hier entwickelten Papiers ist eher angelehnt an die Idee der Polyloge, um ein Weitertragen der Gedanken gegenüber seinen Nächsten zu ermöglichen. So haben sie das Potenzial „to create a web of caring relationships among people concerned and between the formal and informal care system. … Care Dialogs are suited to open up a narrowing focus on medical treatment in favour of a public health approach, when people try to get along with severe illness, old age, dying and mourning“ [30, S. 60]. Natürlich muss hier auch die Frage gestellt werden, warum es erst der bezahlten ACP-Begleiter bedarf, um die Thematik Tod und Sterben zu konkretisieren. Das modifizierte Dokument könnte beispielsweise ebenso in Arztpraxen Einzug erhalten, um Gespräche dieser Art zu initiieren – im Besonderen im Kontakt mit Menschen mit Demenz.

Der entwickelte Fragenkatalog gilt als Basisdokument für die anschließende Hauptstudie (Studienvorhaben der Dissertation der Autorin). Das Ziel der Dissertation liegt darin, das Konzept der Lebensbindung bei Menschen mit Demenz mithilfe des modifizierten Fragebogens zu explorieren. Es sollen daraus resultierend Empfehlungen (im Hinblick auf ACP und Lebensbindung von Menschen) für begleitende Personen von Menschen mit Demenz entwickelt werden. Die Erkenntnisse können zukünftig in die Arbeit mit dieser Personengruppe einfließen, sodass Begleitende aktiv die herausgearbeiteten Aspekte von Lebensbindung gemeinsam mit der betreffenden Person erörtern können. Dadurch, dass Menschen mit Demenz (uns) mehr und mehr entschwinden, ist es umso wichtiger, dass Wünsche und Werte, die einer Person wichtig sind und waren, durch Dritte gewahrt und umgesetzt werden.

Fazit für die Praxis

  • Es gilt, sich in die Welt der Menschen mit Demenz zu begeben und ihre gefühlte Wahrheit anzunehmen.

  • Kommunikation ist trotz der Erkrankung noch sehr lange, eingeschränkt zwar, möglich.

  • Es gilt, den Menschen mit Demenz selbst eine Stimme zu geben und somit ihre Selbstbestimmung zu wahren.

  • Das Anregen von Trialogen, wenn nicht sogar von Polylogen, sollte gestärkt werden.

  • Sprache, Inhalt und Intention von Dokumenten, die für Menschen mit Demenz konstruiert werden, müssen in besonderer Weise angepasst werden.

  • Die Gestaltung eines kompatiblen Instruments mit Fragen zu Leben, Sterben und lebensverlängernden Maßnahmen ermöglicht Menschen mit Demenz, sich diesen Themen angemessen zu nähern.

  • Personen, die laut Gesetz nicht mehr einwilligungsfähig sind und dementsprechend aus juristischer Perspektive nicht mehr befragt werden sollten, kann die modifizierte Werteanamnese die Möglichkeit bieten, sich dennoch der Thematik Tod und Sterben zu nähern.