Gesundheitsbehörden investieren offensichtlich viel zu wenige Ressourcen, um mit den psychosozialen Veränderungen im Kontext einer Pandemie angemessen umzugehen. Entsprechend werden psychologische Faktoren vernachlässigt, obwohl sie bei den Präventionsmaßnahmen und im Kontext von Public Health eine zentrale Bedeutung haben. Da viele dieser Faktoren längst bekannt sind, hätte man möglicherweise sehr viel besser für die durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) ausgelöste Pandemie gerüstet sein können. Wie vielfältig die Einschränkungen der Lebensbedingungen durch COVID-19 sind, welche unterschiedlichen Gruppen wie betroffen sind, sowie die sich daraus ergebenden Risiken und psychosozialen Konsequenzen der Pandemie, wird im Folgenden gezeigt.

Hintergrund

In Anlehnung an die Feststellung von Spitzer (2020a) in einem bei Beginn des Lockdowns erschienenen Editorial zu COVID-19 könnte man auch für diese Übersicht vorhersagen, dass etliche Inhalte womöglich überholt oder veraltet sind, wenn der Text endgültig erschienen ist. Der Umfang an wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema COVID-19 ist seit dem Bekanntwerden der Pandemie exponentiell angestiegen. Eine Recherche mit dem Stichwort „COVID-19“ ergab (Zugriffe am 11.11.2020) in der Datenbank PubMed bereits 72.996 Ergebnisse, in MEDLINE 48.749 und in PsychINFO immerhin auch schon 2282. Es könnte aber auch sein, dass die Befunde der intensiven psychosozialen Forschung im Kontext der Pandemie möglicherweise gar nicht viel Neues erbringen, da bezüglich der „Psychologie von Pandemien“ eigentlich schon viele Erkenntnisse vorliegen.

Der amerikanische Psychologe Steven Taylor hat interessanterweise schon 2019 ein Buch publiziert, mit dem Titel The Psychology of Pandemics. Preparing for the next global outbreak of infectious disease (Fettauszeichnung durch die Verfasser; Taylor 2020: dt.: Die Pandemie als psychologische Herausforderung). Darin gibt er an, dass die Fachwelt spekuliere, dass künftige Pandemien unvermeidlich und gravierend seien. Laver und Webster (2001) werden mit der Vorhersage zitiert, dass die Weltbevölkerung „keine Immunität gegenüber diesem ‚neuen‘ Virus“ besäße, „aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse und bei den modernen Möglichkeiten des schnellen Transports würde sich die Epidemie wie ein Lauffeuer ausbreiten und jeden Winkel der Erde erreichen. Viele Millionen Menschen würden krank werden, es würde mit Sicherheit viele Todesfälle geben.“

Es ist bestürzend, wie diese Vorhersage sich in den letzten Monaten angesichts der COVID-19-Verbreitung verwirklicht hat. Dabei wissen wir um die Geschichte der Pandemien (Spitzer 2020b) und somit auch darüber, dass schon früh in unserer Zeitrechnung Epidemien größeren Ausmaßes immer wieder vorkamen. Prägnante Beispiele sind eine Pockenepidemie mit bis zu 10 Mio. Toten im Römischen Reich in der Zeit zwischen 165 und 180 n. Chr. (Spitzer 2020b) und Pandemien auch in jüngster Zeit (z. B. durch verschiedene Formen der Influenza, Infektionskrankheiten, ausgelöst vom Ebola- und vom Zikavirus, sowie das „severe acute respiratory syndrome“ [SARS]). Aufgrund der Tatsache, dass Pandemien schon seit vielen Jahrhunderten die Menschheit beschäftigen, ist es nicht überraschend, dass Taylor (2020) in seinem „Präcorona-Buch“ die wesentlichen Aspekte des psychologischen Umgangs mit einer Pandemie schon ausführlich darstellt. Das, was auf uns zukam, ist also offenbar gar nichts Neues. Taylor weist darauf hin, dass im Pandemiefall Impfungen – soweit sie überhaupt vorhanden sind – und Verhaltensmethoden die primären Interventionsmöglichkeiten seien, um die Zunahme an Erkrankungen und Sterbefällen zu reduzieren. Zu den Verhaltensmethoden gehören lange schon Hygienepraktiken und Methoden der sozialen Distanzierung, also das, was heute als AHA-Regel (Abstand halten, Hygiene beachten und im Alltag Maske tragen) vermittelt wird.

Hier werden also vorrangig psychosoziale Aspekte sichtbar, wobei auch Taylor darauf hinweist, dass Gesundheitsbehörden offensichtlich viel zu wenig Ressourcen investieren und verfügbar haben, um mit den psychosozialen Faktoren im Kontext einer Pandemie angemessen umzugehen. Entsprechend werden psychologische Faktoren vernachlässigt, obwohl sie bei den Präventionsmaßnahmen und im Kontext von Public Health eine zentrale Bedeutung haben.

Spitzer verwies in seinem „veralteten“ Editorial auf eine Reihe wichtiger psychologischer Aspekte, die in der Folge auch in der Forschung in den Vordergrund gerückt sind. Hierzu zählen das Auftreten von Angst und Misstrauen, Denunziation und Verleugnung, die Zusammenhänge von physischer Distanzierung, sozialer Isolation und Einsamkeit sowie die vorhersagbaren Folgen der COVID-19-Pandemie für die individuelle, soziale und gesellschaftliche Gesundheit. Er geht auch auf den Teufelskreis ein, der darin besteht, dass die Infektionskrankheit zu sozialen und individuellen Auswirkungen führt, die mit Stress verbunden sind, wobei Stress bekanntermaßen die Immunität drastisch reduziert und damit wieder die Vulnerabilität für die Infektionskrankheit erhöht.

Das amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup führt seit Langem tägliche Befragungen in der Erwachsenenbevölkerung der USA durch, die u. a. nach dem Ausmaß an Besorgnis („worry“) und Stress fragen. Aus Abb. 1 geht hervor, dass tatsächlich der frühe März des Jahres 2020 eine einschneidende und bisher auch anhaltende Veränderung der Besorgnis und des Stresslevels der Menschen in den USA zur Folge hatte. Mit diesen Veränderungen gehen deutliche Anstiege von Angst- und Depressionssymptomen einher (s. Abschn. „Epidemiologie psychischer Probleme im Kontext von COVID-19“).

Abb. 1
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Verlauf der Alltagserfahrungen mit Stress und Besorgnis in der US-amerikanischen Erwachsenenbevölkerung. Die Daten von Januar 2008 bis April 2019 basieren auf dem Gallup National Health and Well-Being Index; die Daten vom 30.09.2019 bis 14.10.2019 und vom 06.03.2020 bis 20.03.2020, 21.03.2020 bis 05.04.2020, 07.04.2020 bis 14.04.2020, 15.04.2020 bis 22.04.2020 und 23.04.2020 bis 26.04.2020 sind vom Gallup-Panel. (Aus Gallup Inc. 2020)

Psychologische Faktoren sind gleichermaßen wichtig für die Art und Weise, wie mit der pandemiebedingten Bedrohung und deren Folgen (z. B. Einsamkeit, Verluste etc.) umgegangen wird, für psychische Symptome, die infolge der Pandemie und ihrer Konsequenzen beobachtbar sind und für das Verständnis „allgemeinerer gesellschaftlicher Probleme, die mit Pandemien verknüpft sind“ (Taylor 2020, S. 16). Hierzu gehören beispielsweise die Furcht vor einschneidenden Lebensveränderungen oder fehlangepasste Abwehrreaktionen (z. B. Stigmatisierung und Ausgrenzung).

Eigentlich hätte man also möglicherweise sehr viel besser gerüstet sein können für die psychosozialen Konsequenzen der Pandemie, die in den folgenden Abschnitten zusammengefasst werden.

Die Taxonomie in Abb. 2 ist ein Versuch der Gliederung psychosozialer Folgen der COVID-19-Pandemie aus dem Blickwinkel betroffenen Gruppen der Bevölkerung. In der zweiten und dritten Spalte der Abb. 2 sind die verschiedenen diskutierten bzw. in empirischen Beobachtungen und Studien bereits festgestellten Probleme im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Pandemie im privaten und im öffentlichen Raum sowie entsprechende Annahmen zu deren Entstehung zusammengefasst. Die Spalte „Hypothesen positive Folgen“ wurde bewusst aufgenommen, um den Fokus auch auf diesen Aspekt der Pandemie zu lenken. Dies geschieht insgesamt sowohl in der medialen Berichterstattung als auch der Forschung eher selten. Eine Umfrage von YouGov und Statista (Suhr 2020) unter 2076 Personen im Alter ab 18 Jahren in Deutschland vom Mai 2020 offenbarte jedoch, dass in der Bevölkerung auch durchaus positive Aspekte, wie etwa positive Auswirkungen auf das Klima, Entschleunigung des Alltags, weniger Verkehr, mehr Solidarität und mehr Hilfsbereitschaft der Coronakrise wahrgenommen wurden. Insgesamt bewerteten 10 % der Befragten die Krise eher positiv, 36 % eher negativ, und 42 % sahen gleichermaßen positive und negative Aspekte. In der letzten Spalte sind exemplarische Quellen aufgeführt, in denen die psychosozialen Folgen der durch eine Infektion mit dem „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“ (SARS-CoV-2) verursachten Pandemie aus dem Blickwinkel der jeweiligen Bevölkerungsgruppen untersucht wurden.

Abb. 2
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Taxonomie gruppenspezifischer psychosozialer Folgen der durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) ausgelösten Pandemie. PTBS posttraumatische Belastungsstörung, SARS-CoV‑2 „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“. Grau Allgemeinbevölkerung; grün situativ vulnerable Gruppe; rot Risikogruppe

Die Betrachtung der Pandemiefolgen aus dem Blickwinkel verschiedener Bevölkerungsgruppen offenbart einige Überschneidungen. So sind Angst, Unsicherheit sowie Herausforderungen durch soziale Isolation sicherlich für alle Gruppen kennzeichnend, wenngleich nicht immer in derselben Weise und im selben Ausmaß. Bei Kindern und Jugendlichen z. B. sind die Folgen von fehlender Kitabetreuung, Bildungsdefiziten aufgrund von eingeschränktem Schulunterricht oder die Gefahr, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden, größer als bei Älteren. Von den Älteren hingegen sind besonders jene gefährdet, die ohnehin bereits psychisch beeinträchtigt sind, und bei denen das Auftreten oder die Verstärkung depressiver Episoden durch die soziale Isolation noch verstärkt wird (wenngleich auch Kinder und Jugendliche natürlich unter dem eingeschränkten Kontakt zu Freunden und allgemein Gleichaltrigen leiden; Ravens-Sieberer et al. 2020). Sowohl spezifische als auch gemeinsame Aspekte der jeweiligen Konsequenzen der Pandemie bringt z. B. auch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (MNS) mit sich. So ist der Aspekt, sich aufgrund der Unlesbarkeit des Gesichtsausdrucks durch maskentragende Erwachsene bedroht zu fühlen, spezifisch für Kinder. Allerdings erleben auch Erwachsene eine Einschränkung ihrer Lebensqualität und körperlichen Leistungsfähigkeit zumindest durch das Tragen der besser schützenden Masken der „Filtering-face-piece“(FFP)-Klasse 2 (Fikenzer et al. 2020).

Epidemiologie psychischer Probleme im Kontext von COVID-19

Den bisher umfassendsten Überblick über die Epidemiologie psychischer Probleme im Rahmen der COVID-19-Pandemie liefert die systematische Übersicht und metaanalytische Zusammenfassung von Luo et al. (2020). In diese Arbeit wurden 62 Studien mit 162.639 Teilnehmern aus 17 Ländern (vorrangig aus Asien, 74 %) eingeschlossen, die die psychische Belastung durch COVID-19 in der Allgemeinbevölkerung, bei Beschäftigten im Gesundheitswesen und bei Patienten mit Vorerkrankungen oder mit SARS-CoV-2-Infektion untersuchten. Angst- bzw. Depressionssymptome wurden in den eingeschlossenen Studien mithilfe validierter Messinstrumente erhoben. Über alle Studien hinweg wies jede dritte befragte Person klinisch relevante Angst- und etwa jede vierte klinisch relevante Depressionssymptome auf (Tab. 1). Die Prävalenzraten waren in der Subgruppe der Patienten mit Vorerkrankungen oder COVID-19 am höchsten.

Tab. 1 Metaanalytische Prävalenzschätzungen für klinisch relevante Angst- und Depressionssymptome. (Aus Luo et al. 2020)

Darüber hinaus wurden in den Studien, die in die Übersichtsarbeit eingeschlossen wurden, die Häufigkeiten für eine allgemeine psychische Belastung (Disstress) auf 35 % (95 %-Konfidenzintervall [95 %-KI] 23–47 %; 11 Studien), für Stress auf 40 % (95 %-KI 20–60 %; 12 Studien) und für Schlafstörungen (Insomnia) auf 32 % (95 %-KI 25–39 %; 8 Studien) geschätzt. Hierbei konnten keine Unterschiede zwischen Beschäftigten im Gesundheitswesen und in der Allgemeinbevölkerung festgestellt werden. Die Prävalenz einer posttraumatischen Belastungssymptomatik/-störung (PTBS) wurde über 7 Studien aggregiert und war bei von COVID-19 Betroffenen mit 93 % (95 %-KI 92–95 %) deutlich höher als bei Beschäftigten im Gesundheitswesen oder in der Allgemeinbevölkerung (Prävalenz zwischen 3 % [95 %-KI 2–4 %] und 16 % [95 %-KI 15–17 %]; Luo et al. 2020).

Die erhöhte Prävalenz psychischer Probleme unter COVID-19-Patienten wird von Ergebnissen einer großen Kohortenstudie untermauert. Taquet et al. (2020) zeigten, dass die Inzidenz der Diagnose einer psychischen Störung im Zeitraum von 14 bis 90 Tagen nach COVID-19 18,1 % (95 %-KI 17,6–18,6 %) betrug, worunter 5,8 % (95 %-KI 5,2–6,4 %) Erstdiagnosen waren. Die Inzidenz war damit deutlich höher als bei Patienten mit Influenza oder anderen Atemwegserkrankungen (s. Abschnitt Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit).

Neben den erwähnten Studien ist mittlerweile eine ganze Reihe von Originalarbeiten veröffentlicht worden (initial in China, z. B. Huang und Zhao 2020; gefolgt von Italien und anderen Ländern, in denen die Pandemie die Gesundheitssysteme früh belastete, z. B. Mazza et al. 2020; Moghanibashi-Mansourieh 2020), die primär auf affektive Symptome (Angst und Depression) fokussierten. Weitere Studien ergaben Hinweise auf eine Zunahme von Alkohol- und Internetkonsum; Letzteres wurde insbesondere bei Jugendlichen sehr ausgeprägt deutlich (DAK-Gaming-Studie, https://www.dak.de/dak/gesundheit/dak-studie-gaming-social-media-und-corona-2295548.html#/).

Andere Studien weisen neben dem ansteigenden Substanzmissbrauch auf häufigere Suizidgedanken hin (Czeisler et al. 2020), aber auch auf ein erhöhtes Risiko der Verschlimmerung schizophrener Störungen (Cowan 2020). Zusammengefasst kann man also davon ausgehen, dass die Pandemie und ihre Begleitumstände ein allgemeines Risiko für die Entwicklung jedweder psychischer Störung mit sich gebracht hat sowie zur Verschlimmerung von psychischen und auch körperlichen Erkrankungen beitragen kann.

Insgesamt liegen bislang jedoch nur sehr wenige Längsschnittstudien vor, die die Entwicklung psychischer Gesundheit im zeitlichen Verlauf vor und während der Pandemie betrachten. Ein Vergleich der psychischen Belastung vor der Pandemie und während des ersten Lockdowns im April in Großbritannien mit mehr als 17.000 Teilnehmer*innen zeigte, dass die Prävalenz klinisch bedeutsamer psychischer Belastung von 18,9 % (95 %-KI 17,8–20,0 %) in den Jahren 2018 und 2019 auf 27,3 % (95 %-KI 26,3–28,2 %) im April 2020 anstieg (Pierce et al. 2020). Längerfristige Entwicklungen können aufgrund der bisherigen Datenlage noch nicht abgeschätzt werden, ebenso wenig wie die Entwicklung der Prävalenz psychischer Störungen infolge der Pandemie.

Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit

Die Frage, welche Faktoren während der COVID-19-Pandemie einen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben, ist mittlerweile in sehr vielen internationalen Studien adressiert worden. Einige systematische Zusammenfassungen liegen derzeit bereits vor (Gilan et al. 2020; Vindegaard und Benros 2020; Krishnamoorthy et al. 2020; Luo et al. 2020; Xiong et al. 2020). Zudem sind spezifische Reviews zur psychischen Belastung bei Beschäftigten im Gesundheitswesen publiziert worden (z. B. Salazar de Pablo et al. 2020; Muller et al. 2020; Mulfinger et al. 2020).

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die besonderen Umstände, Einschränkungen und Belastungen während der COVID-19-Pandemie für viele Menschen ein kritisches Lebensereignis bzw. einen (länger andauernden) Stressor darstellen, der eine entsprechende Anpassungsleistung erfordert. Eine gelungene, positive Adaptation an eine solch widrige Situation wird in verschiedenen theoretischen Modellen als Resilienz beschrieben (für einen Überblick: Fletcher 2013). Eine positive Bewältigung ist nicht nur von individuellen, sondern auch von sozialen, sozioökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst, die im positiven Sinne als Schutzfaktoren und im negativen Sinne als Risikofaktoren angesehen werden können.

In einer methodisch originellen Studie versuchten Prout et al. (2020), mithilfe eines „Machine-learning“-Ansatzes Prädiktoren für psychische Belastungen während COVID-19 zu identifizieren. In der Studie (mit 2787 Teilnehmerinnen) waren insgesamt Angst‑, Depressions- und PTBS-Symptome deutlich erhöht, besonders bei jüngeren Teilnehmenden (<45 Jahre), bei Frauen und bei nichtbinären Personen. Als beste Prädiktoren für die Belastung erwiesen sich eine Somatisierungsneigung und wenig adaptive Abwehrmechanismen, was die Autoren als Hinweis dafür werten, die körperlichen Erfahrungen von psychischem Stress und die Strategien der Emotionsregulation im Hinblick auf Interventionen besonders zu berücksichtigen.

Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (2020) beschreiben verschiedene Gruppen von Menschen, die möglicherweise stärker auf den Stress einer Krise wie der COVID-19-Pandemie reagieren. Dazu gehören (Abb. 2):

  • Personen, bei denen ein höheres Risiko für schwere Erkrankungen durch COVID-19 besteht (z. B. ältere Menschen und Personen jedes Alters mit bestimmten medizinischen Grunderkrankungen),

  • Kinder und Jugendliche,

  • Menschen, die Familienmitglieder oder Angehörige pflegen,

  • Mitarbeiter an „vorderster Front“, wie z. B. Gesundheitsdienstleister und Ersthelfer,

  • unverzichtbare Arbeitskräfte, die in der Lebensmittelindustrie arbeiten,

  • Menschen mit bestehenden psychischen Störungen,

  • Personen, die Substanzen konsumieren oder an einer Störung des Substanzkonsums leiden,

  • Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, deren Arbeitszeit verkürzt wurde, oder bei denen andere wichtige Veränderungen in ihrem Beschäftigungsverhältnis eingetreten sind,

  • Menschen, die Behinderungen oder Entwicklungsverzögerungen haben,

  • Menschen, die von anderen sozial isoliert sind, einschließlich Menschen, die allein leben, und Menschen in ländlichen Gebieten oder Grenzregionen,

  • Menschen in ethnischen Minderheitengruppen,

  • Menschen, die keinen Zugang zu Informationen in ihrer Muttersprache haben,

  • Menschen, die in Obdachlosigkeit leben sowie

  • Menschen, die in Gruppen-Settings leben.

Ergebnissen systematischer Reviews zufolge (Krishnamoorthy et al. 2020; Luo et al. 2020) ist die psychische Belastung bei COVID-19-Patienten am höchsten ausgeprägt, gefolgt von Beschäftigten im Gesundheitswesen und der Allgemeinbevölkerung. Über alle Gruppen hinweg scheinen Menschen, die bereits an psychischen Störungen leiden, besonders betroffen zu sein (De Hert et al. 2020).

COVID-19-Patienten

Einer der bedeutsamsten Risikofaktoren für eine eingeschränkte psychische Gesundheit besteht im Vorliegen der Erkrankung selbst. Entsprechende Ergebnisse zeigt eine große US-amerikanische Kohortenstudie mit mehr als 60.000 Patienten, die im Zeitraum vom Ende Januar bis zum Anfang August 2020 an COVID-19 erkrankt waren. Bei Patienten ohne psychiatrische Vorgeschichte war die Diagnose COVID-19 im Vergleich zu anderen Erkrankungen (z. B. Influenza, andere Atemwegsinfektionen) mit der erhöhten Inzidenz einer ersten Diagnose einer psychischen Störung in den folgenden 14 bis 90 Tagen verbunden (Taquet et al. 2020; Abb. 3). Im Vergleich zu Influenza-Erkrankten hatten COVID-19-Patienten ein mehr als doppelt so hohes Risiko, eine psychische Störung zu entwickeln („hazard ratio“ [HR] 2,1; 95 %-KI 1,8–2,5). Im Vergleich zu anderen Atemwegsinfektionen war das Risiko um den Faktor 1,7 erhöht (95 % KI 1,5–1,9).

Abb. 3
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Kaplan-Meier-Kurven für alle (ersten oder wiederkehrenden) Diagnosen psychischer Störungen nach COVID-19 im Vergleich zu Influenza und anderen Atemwegsinfektionen. (Aus Taquet et al. 2020)

Beschäftigte im Gesundheitswesen

Ergebnisse systematischer Reviews deuten darauf hin, dass insbesondere die Beschäftigten, die im Gesundheitswesen in „vorderster Front“ arbeiten, ein erhöhtes Risiko für psychische Belastung aufweisen (Vindegaard und Benros 2020; Muller et al. 2020; Mulfinger et al. 2020). Galli et al. (2020) berichten auf der Basis von 15 Studien zu psychopathologischen Symptomen nach SARS und „Middle East respiratory syndrome“ (MERS) bei Beschäftigten im Gesundheitswesen eine Spannweite von 10–51 % für PTBS, für psychische Symptome von 20–75 % je nach Risikogruppe, d. h., auch die Verbreitung psychischer Probleme hätte auf der Grundlage von Studien zu früheren Pandemien antizipiert werden können. Neben der Arbeit im Gesundheitswesen ganz allgemein, beschreiben Übersichten den direkten Kontakt mit Patienten, Quarantäneerfahrungen und das wahrgenommene eigene Gesundheitsrisiko als besonderen Risikofaktor für psychische Störungen (Mulfinger et al. 2020). Weitere Risikofaktoren sind weibliches Geschlecht, jüngeres Alter, größere Sorgen, sich oder andere zu infizieren, sowie der Berufsstand eines Pflegenden (höheres Risiko in Studien ausschließlich mit Pflegepersonal vs. ausschließlich ärztliches Personal; Salazar de Pablo et al. 2020; Muller et al. 2020). Soziale Unterstützung erwies sich als Schutzfaktor für die psychische Gesundheit (Muller et al. 2020), ebenso wie die Teilnahme an Interventionsstudien (Mulfinger et al. 2020).

Allgemeinbevölkerung

Risiko- und Schutzfaktoren hinsichtlich der psychischen Belastung der Allgemeinbevölkerung, die in verschiedenen Reviews identifiziert wurden, sind in Abb. 4 dargestellt. Die größte Evidenzbasis findet sich in der bereits oben genannten Übersicht von Luo et al. (2020).

Abb. 4
figure 4

Risiko- und Schutzfaktoren hinsichtlich psychischer Belastung während der durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) ausgelösten Pandemie, basierend auf den Ergebnissen systematischer Reviews

Auf individueller Ebene konnten neben einer vorliegenden COVID-19 konsistent jüngeres Alter und weibliches Geschlecht sowie eine vorbestehende psychische bzw. körperliche Erkrankung als Risikofaktoren identifiziert werden. Darüber hinaus haben Menschen mit (längerer) Quarantäneerfahrung, mit höherer Neurotizismus- bzw. Extraversionsausprägung sowie mit erhöhtem Konsum (sozialer) Medien ein höheres Risiko für eine eingeschränkte psychische Gesundheit. Als Schutzfaktoren erwiesen sich Resilienz, Selbstwirksamkeit, positive Coping-Stile sowie ein sicherer bzw. vermeidender gegenüber einem ängstlichen Bindungsstil. Ein geringeres wahrgenommenes Infektionsrisiko, (aktuelle) Informationen über Infektions- und Genesungsraten sowie das individuelle Ergreifen von Schutz- bzw. Vorsichtsmaßnahmen (Händewaschen, Tragen von MNS) wirken ebenfalls protektiv.

Auf sozialer Ebene werden ein Angehöriger mit COVID-19 (bzw. mit dem Verdacht auf COVID-19) und wahrgenommene Einsamkeit als Risikofaktoren beschrieben. Zudem weisen Alleinlebende, Eltern (Kinder im Haushalt) sowie Alleinerziehende eine höhere psychische Belastung auf, wohingegen eine feste Partnerschaft, eine gute soziale Vernetzung und die wahrgenommene soziale Unterstützung als Schutzfaktoren nachgewiesen wurden.

Auf sozioökonomischer Ebene gelten, Studien zufolge, insbesondere finanzielle Einbußen bzw. Sorgen, Arbeitsplatzverlust und die Zugehörigkeit zu einer (ethnischen) Minderheit als Risiken für psychische Belastung, dagegen wird eine höhere Bildung als Schutzfaktor beschrieben.

Auf gesellschaftlicher Ebene ist ein schwerer regionaler Ausbruch häufig mit einer psychischen Belastung der Allgemeinbevölkerung assoziiert, ausreichend vorhandene medizinische Ressourcen wirken dagegen protektiv.

Spezifische Rolle und spezifische Themen der Psychotherapie

Diverse Fachgesellschaften, Berufsverbände und Gesundheitsorganisationen haben sehr früh im Zusammenhang mit der Pandemie auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung psychischer Probleme hingewiesen. Zu nennen sind z. B. die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN 2021), das Inter-Agency Standing Committee (IASC 2020), die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK 2020) und die World Health Organization (WHO 2021). Berichtet wurde über „psychosoziale Gebrechlichkeit“, wie z. B. Stresserleben und Einsamkeit (Cerami et al. 2020), und es wurde gefordert, entsprechende Hilfsangebote bereitzustellen (Fiederowicz 2020; Galea et al. 2020).

Zu dieser Thematik gibt es vergleichsweise noch wenig Literatur. Inchausti et al. (2020) haben versucht, spezielle Gruppen zu definieren, die einerseits besonderer Unterstützung bedürfen, andererseits aber auch möglicherweise sowohl psychotherapeutisch als auch im Hinblick auf die Organisation der Versorgung besondere Herausforderungen bedeuten. Zu diesen Gruppen gehören:

  • Personen, die im Gesundheitssystem tätig sind und (s. oben), die eine besonders vulnerable Gruppe auch für psychosoziale Probleme darstellen, was auch gilt für

  • von COVID-19 betroffene Menschen.

Hinzu kommen:

  • Personen, die aufgrund einer eigenen COVID-19-Diagnose oder aufgrund von Verlusten nahestehender Personen oder aber auch als Folge der sozialen Isolation/Distanzierung erstmalig psychische Probleme entwickeln und

  • Personen mit bestehenden psychischen Störungen, deren Erfahrungen mit der Erkrankung zu einer Verschlimmerung von Symptomen führen, wobei vermutlich spezifische Symptome besondere „Kandidaten“ für eine Exazerbation infolge der Umstände einer Pandemie sind, wie z. B. Zwangssymptome und hypochondrische Ängste, aber auch paranoide Gedanken und Überzeugungen, sowie schließlich

  • Personen, die nur mittelbar von der Pandemie betroffen sind und außergewöhnliche Belastungen und Stress erleben, assoziiert mit unklaren Empfehlungen der Politik, Angst vor Ansteckung und Erkrankung bei sich und anderen, Einsamkeit und Isolation, moralischen Konflikten, sozialen und finanziellen Einschränkungen/Folgen und daraus resultierenden Ängsten, aber auch Diskriminierungserfahrungen und Stigma.

Für die meisten genannten Gruppen ist eine notfallpsychotherapeutische Versorgung notwendig, wie sie beispielsweise für „heath care workers“ in Kliniken als Modell eines „Resilienz-Coachings“ entwickelt wurde (Rosen et al. 2020). Diese bedient sich verschiedener psychotherapeutischer Prinzipien (angefangen von bindungsbezogenen Konzeptionen von Teams bis hin zu Elementen des Fertigkeitentrainings aus der Dialektisch-behavioralen Therapie [DBT] und der spezifischen Berücksichtigung von Gruppenprozessen). Optimalerweise sollten psychotherapeutische Angebote möglichst niedrigschwellig sein, weswegen z. B. rasch eine Umstellung auf telemedizinische Formate und Onlinetherapien im Kontext der Richtlinientherapie (zumindest im Einzelsetting; Strauß et al. 2021), aber auch von Ambulanzen und Beratungsstellen erfolgt ist. In den Kliniken wurden Konsiliar- und Liaisondienste auf die Anforderungen der genannten Gruppen umgestellt. Über die Auswirkungen der Hygienemaßnahmen (Psychotherapie mit dem Tragen von MNS und unter Einhaltung größerer Distanz) und des Setting-Wechsels auf die Effekte und die Qualität der Therapie sind derzeit noch keine verlässlichen Aussagen möglich.

Bell et al. (2020) beschreiben als besondere Aufgabe in der Psychotherapie, mit der „Infodemie“ (i. e. der Flut vielfältiger, teilweise widersprüchlicher Informationen) umzugehen. Andere Autoren empfehlen den Fokus zu legen, auf Diskriminierung und die spezifischen Probleme von Minderheiten und sozial Schwachen, die ohnehin nur schwer Zugang zum psychosozialen, geschweige denn psychotherapeutischen Versorgungssystem finden (Strauß 2015). Einige Publikationen beziehen sich explizit auf besonders vulnerable Gruppen, wie die Opfer häuslicher Gewalt, Alleinerziehende, Arbeitslose oder ältere Menschen (Bering und Eichenberg 2020).

Psychotherapie in Zeiten von COVID-19 kann durch die Erkrankung durchaus bestimmt werden, wenn pandemiebezogene Themen für Patient*innen von besonderer Relevanz sind oder durch die Geschehnisse relevante Themen reaktualisiert werden. Dadurch „formt“ COVID-19 die Psychotherapie und kann sie naturgemäß auch stören (Shadbolt 2020; spricht vom „COVID Third“).

Ansonsten finden sich in der bisher noch vorwiegend konzeptuellen Literatur zur Psychotherapie im Pandemiekontext Empfehlungen, den spezifischen Anforderungen entsprechend, Ansätze aus unterschiedlichen Methoden und Verfahren anzuwenden. Swartz (2020) beispielsweise legt nahe, sich spezifischer Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie zu bedienen, um automatische negative Gedanken, spezifische Ängste und Hoffnungslosigkeit zu verändern, angenehme Aktivitäten zu aktivieren und den Aufbau von allgemeinen Aktivitäten anstatt einer Aufgabe täglicher Routinen zu fördern. Techniken der Interpersonalen Therapie (IPT) eignen sich zur Entwicklung neuer Skills der Kontaktaufnahme (einschließlich der Nutzung von Technik für soziale Zwecke) und zur Erarbeitung von Lösungsansätzen für negative Erfahrungen in aktuellen Beziehungen (Prävention von Aggression, Begreifen der Pandemie als Erfordernis einer neuen Rolle). Eine psychodynamische Sichtweise liegt nahe, bei der Exploration von Abwehrmechanismen gegenüber Verlusten und Todesfällen sowie dem Verständnis von Reaktionen auf der Grundlage der eigenen Persönlichkeit und Entwicklung. Dies – so Swartz (2020) – sollte in eine supportive und humanistische Haltung mit der Offenbarung der eigenen Betroffenheit eingebettet sein und eine systemische Perspektive auf die psychosoziale Gesundheit mit Blick auf Paar- und Familiendynamiken umfassen.

Fazit für die Praxis

  • Die durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) ausgelöste Pandemie hat unzweifelhaft dazu geführt, dass Menschen vermehrt psychische Probleme entwickeln bzw. sich ihr seelischer Zustand verschlimmert.

  • Die bisher vorliegende Literatur zeigt, dass für unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Risiken bestehen.

  • Besonders betroffen von psychischen Belastungen sind die COVID-19-Patienten, Beschäftigte im Gesundheitswesen sowie Menschen, die bereits an psychischen Erkrankungen leiden.

  • Der Psychotherapie kommt in Pandemiezeiten insofern eine spezifische Rolle zu, als spezifische Gruppen auch spezifische Interventionsansätze benötigen.

  • Insbesondere eine notfallpsychotherapeutische Versorgung scheint für Menschen, die unmittelbar im Gesundheitssystem tätig sind, von besonderer Bedeutung.