Die Versorgung von Patienten mit definierten seltenen Erkrankungen und unklaren Diagnosen ist seit je her eine Aufgabe, die vorwiegend von der universitären Kinder- und Jugendmedizin wahrgenommen wird. Die überwiegende Anzahl der Erkrankungen hat eine genetische Ursache und wird bereits im Kindesalter symptomatisch. Nicht ausreichend auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit seltenen Erkrankungen ausgerichtete Strukturen, unzulänglich definierte und strukturierte Behandlungspfade sowie eine unzureichende disziplin- und sektorenübergreifende Betreuungsqualität unseres Gesundheitssystems führen bisher zu Fehl- und Unterversorgung der betroffenen Patienten. Dringliche Desiderate von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen betreffen Verbesserungen nicht nur in der Diagnostik, sondern insbesondere auch in der Vorhaltung einer kontinuierlichen Expertise in den Bereichen der spezifischen Therapiemaßnahmen und der Langzeitbetreuung, die gerade in der Universitätsmedizin sichergestellt werden müssen.

Hintergrund

Die sektorenübergreifende Sicherstellung der Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen stellt eine der großen aktuellen Aufgaben unseres Gesundheitssystems dar. Jede einzelne Erkrankung stellt spezifische Anforderungen an die Früherkennung, die gezielte Diagnostik, die Diagnosesicherung sowie die Einleitung und die Durchführung der Therapie. Sie setzt definierte Behandlungspfade, interdisziplinäre Teams und ein hochspezialisiertes Expertenwissen voraus. Signifikante Beschleunigung der Diagnostik und qualifiziertere kontinuierliche Versorgung sollen entsprechend dem im August 2013 durch die Bundesregierung angenommenen Konzept „Nationaler Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ [1] ermöglicht werden. Hierzu soll insbesondere die Bündelung der Kompetenz in universitären Zentren beitragen, die sowohl Methoden innovativer Spezialdiagnostik wie auch interdisziplinäre und multiprofessionelle Versorgung umfasst.

Der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) hat aktuell das Konsortium TRANSLATE-NAMSE im Themenfeld „Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen (Kinder und Erwachsene)“ als förderungswürdig anerkannt [2]. Damit wird ermöglicht, dass ab April 2017 zentrale Maßnahmenvorschläge des vom Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE; http://www.namse.de/) erarbeiteten nationalen Aktionsplans umgesetzt, in der Praxis erprobt und bewertet werden. Ziel ist, diese Maßnahmen bei positiver Evaluation durch Übernahme in die Regelversorgung zu verstetigen.

Inhalte und Ziele des Projekts

Der Verbund besteht aus 12 Partnern (9 Universitätsklinika, 2 Krankenkassen (AOK Nordost und Barmer GEK) sowie der Allianz Chronischer seltener Erkrankungen – ACHSE e. V.; Tab. 1).

Tab. 1 Partner des Verbundes von Zentren für seltene Erkrankungen

Das Projekt wird von 4 weiteren Krankenkassen als Kooperationspartner unterstützt (AOK PLUS, AOK Bayern, AOK Baden-Württemberg, Siemens-Betriebskrankenkasse [SBK]). Es wird von der Berlin School of Public Health (BSPH; Prof. Dr. Kurth) gemeinsam mit dem Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (ZEGV) der TU Dresden begleitet und evaluiert.

Orientiert an den Förderkriterien des Innovationsfonds, d. h. der Entwicklung und Erprobung von Maßnahmen zur Verbesserung der sektorenübergreifenden Versorgung [2], wendet sich das Konsortium an folgende 2 komplementäre Patientengruppen:

Gruppe 1 umfasst Patienten mit zumeist komplexen Krankheitszeichen und Symptomen sowie bislang noch unklaren Diagnosen, bei denen der Verdacht auf eine seltene Krankheit besteht. Ziel ist es, durch effektive und effiziente Planung und Durchführung diagnostischer Maßnahmen, einschließlich innovativer Diagnostik, eine gesicherte Diagnose zu stellen.

Gruppe 2 beinhaltet Patienten mit Indikatorerkrankungen der im Neugeborenenscreening erfassten Störungen des Stoffwechsels und des endokrinen Systems, Patienten mit gesicherter Diagnose oder konkreter Verdachtsdiagnose aus den Bereichen der angeborenen Hämoglobinopathien (insbesondere die Sichelzellerkrankungen), der schweren kombinierten Immundefekte und der Autoinflammationssyndrome bei Kindern sowie Erwachsene mit seltenen neurologischen Bewegungsstörungen.

Vielen durch das Screening identifizierten Kindern und der überwiegenden Anzahl der Kinder mit anderen seltenen angeborenen Erkrankungen und ihren Familien werden bislang keine belastbaren Diagnostik-, Behandlungs- und Betreuungsstrukturen mit ausreichender personeller Kontinuität und Expertise im Rahmen einer regionalisierten, qualitätsgesicherten ambulanten und stationären Versorgung angeboten. Wesentliche Gründe hierfür sind, dass die Versorgung bislang zumeist stark personenabhängig organisiert ist und es keine ausreichende langfristige und sektorenübergreifende Absicherung der Expertise gibt.

IT-gestützte, strukturierte und koordinierte Behandlungsprogramme sollen alle Beteiligten verknüpfen

Ziel ist es, durch den Aufbau IT-gestützter, strukturierter und koordinierter Behandlungsprogramme alle an der diagnostischen und therapeutischen Versorgung des Patienten beteiligten Disziplinen und Sektoren zu verknüpfen. Das Verbundprojekt umfasst somit die ambulante und die stationäre Versorgung von Patienten mit gesicherter oder konkreter Verdachtsdiagnose in NAMSE-B-Zentren sowie die Versorgung von Patienten mit unklarer Diagnose in NAMSE-A-Zentren. Eine prozessuale Strukturierung entsprechend dem Berliner Transitionsmodell [3] soll bei den Patienten insbesondere auch die Transition von der Pädiatrie in die Erwachsenenversorgung verbessern und dazu beitragen, dass die Expertise für die einzelne angeborene seltene Erkrankung im Bereich der Erwachsenenmedizin entwickelt werden kann.

In der Abb. 1 sind Ziele und Aufgaben des Konsortiums, in 4 Leistungskomplexe unterteilt, dargestellt. Für jede der beiden Patientengruppen sind 2 primäre Leistungskomplexe vorgesehen. Die durch das Konsortium zu erarbeitenden Innovationen bestehen im Aufbau von Strukturen, die für die beiden Patientengruppen sowie an deren Diagnostik und Behandlung beteiligten Personen und Institutionen zu deutlich optimierten Prozessen und damit auch zu besseren Ergebnissen der Versorgung führen sollen (Tab. 2).

Abb. 1
figure 1

Die 4 Leistungskomplexe des Konsortiums werden von der IT-gestützten Vernetzung der beteiligten Sektoren, genetischen Registern und einem unabhängigen Evaluationssystem flankiert

Tab. 2 Innovationen und Ergebniserwartungen

Die Förderdauer des Konsortiums beträgt 3 Jahre; Projektbeginn ist am 01.04.2017. Die bereits schon jetzt etablierte Zusammenarbeit mit den beteiligten Krankenkassen kann substanziell dazu beitragen, dass effektive und effiziente Maßnahmen in die Regelversorgung überführt werden.

Das Projekt wird durch 2 flankierende und unterstützende Maßnahmen ergänzt.

  • Elektronische Vernetzung der beteiligten universitären Versorgungseinheiten untereinander sowie mit kontinuierlich mitbehandelnden niedergelassenen Ärzten durch IT-gestützte standardisierte Behandlungsprogramme. Das System beinhaltet Behandlungspläne, Notfallausweise und Module zu Erinnerungs- und Rückmeldefunktionen sowie Arztbrieferstellung. Es ermöglicht darüber hinaus Evaluation der Anwendung der Algorithmen für Diagnostik, Therapie und Versorgung.

  • Im Rahmen innovativer genetischer Diagnostik anfallende Daten werden unter Einhaltung der Datenschutzregelungen in einer Datenbank zusammengefasst, und dadurch für die Diagnostik weiterer unklarer Fälle nutzbar gemacht. Die Verknüpfung mit Phänotypdaten soll dazu beitragen, dass das Verständnis der inzwischen auf molekularer Ebene definierten Ursachen in gezielte und präzise Therapiestrategien umgesetzt werden kann.

Durch eine Strukturierung eines hochkomplexen Bereichs der Medizin sollen nichtgerechtfertigte Untersuchungen und Therapien reduziert (Vermeidung von Überdiagnostik und Überbehandlung) sowie gleichzeitig zeitnahe entscheidungsfähige Diagnostik in evidenzbasierte notwendige und wirksame Therapie umgesetzt werden (Vermeidung von Unterdiagnostik und Unterbehandlung).

Fazit für die Praxis

  • Die modellhafte Implementierung eines Netzwerks von Zentren für seltene Erkrankungen sowie die strukturierte sektorenübergreifende Diagnostik und Versorgung sollen eine verbesserte und kostendeckende Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit seltenen Erkrankungen bis in das Erwachsenenalter sicherstellen.

  • In den Zentren für seltene Erkrankungen entstehen Koordinationsstellen für unklare Diagnosen. Diese führen unter Anwendung von Algorithmen und strukturierten Vorgehensweisen Patienten mit dem Verdacht auf eine seltene Erkrankung einer qualitätsgesicherten multidisziplinären Diagnostik zu. Menschen mit somatoformen Störungen wird der Zugang zu wohnortnahen Hilfsangeboten ermöglicht.

  • In mehreren, sich ergänzenden Pilotzentren und Regionen werden die Entwicklung und die Optimierung der Versorgung von Kindern und Erwachsenen vorangetrieben. Dies macht das Projekt zu einem geeigneten Modellvorhaben zur Evaluation verbesserter Versorgungsstrukturen für Patienten mit seltenen Erkrankungen, mit dem Ziel der Implementierung in der Regelversorgung.