Zusammenfassung
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1.
Als koordinierte Bewegung ist der rhythmisch-schlagende Kopfnystagmus der Küken voll angeboren; schon gleich nach dem Schlüpfen läuft er ebenso ab wie bei erwachsenen Tieren. Auch im Dunkeln oder in optisch homogener Helligkeit aufgewachsene Tiere zeigen nach dieser optischen Isolierung sofort einen normalen Nystagmus.
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2.
Frequenz, Winkelgeschwindigkeit und zum Teil auch die Steuerungsweise des Nystagmus sind vom Alter und von den Aufzucht-bedingungen abhängig. Im Laufe der normalen Individualentwicklung steigt die Nystagmusfrequenz bei langsam wandernden Streifenzäunen, bei schnell wandernden sinkt sie. Dunkeltiere und in optisch homogener Umgebung aufgewachsene Küken zeigen denselben Effekt in verstärktem Maße, wobei jedoch eine mittlere Winkelgeschwindigkeit des Streifenzylinders von 135°/sec ebenso wie bei Normaltieren stets gleichbleibende Nystagmusfrequenzen ergibt.
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3.
Die Winkelgeschwindigkeit des Kopfes in der langsamen Phase relativ zu der des Streifenzylinders ändert sich ebenfalls im Laufe der normalen Individualentwicklung; mit steigendem Lebensalter vermögen die Tiere innerhalb gewisser Grenzen immer höhere Winkelgeschwindigkeiten des Zylinders mit ebenso schneller Kopfbewegung in der langsamen Phase des Nystagmus zu beantworten, so daß das Bild der Streifen auf der Netzhaut „am Ort“ bleibt. Bis zum 12. Lebenstag optisch isoliert aufgewachsene Dunkel- und Homogentiere erlangen diese Fähigkeit ebenfalls, wenn auch zeitlich verspätet, erst nach dem Wiederherstellen normaler Umweltbedingungen. Optische Gliederung der Umgebung und wachsende „optische Erfahrung“, wobei retinale Verschiebungen und eigene Körperbewegungen zentral miteinander koordiniert werden, bedingen die volle quantitative und qualitative Koordination des Nystagmus.
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4.
Das Kükenauge steuert in den ersten Lebenstagen voll zweisinnig und stellt sich mit dem Wachstum allmählich auf die einsinnige Steuerung um, die bei erwachsenen Tieren allein bestehen bleibt. Diese Umstimmung scheint vorwiegend endogner Natur zu sein; optisch isoliert aufgezogene Küken verhalten sich ebenso wie Normaltiere. Durch einäugiges Sehen wird jedoch die Umstimmung beschleunigt und zwar bei älteren Tieren allein auf dem sehenden Auge, bei jungen auf beiden.
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5.
Bei allen frei von optisch gegliederten Reizen lebenden Tieren tritt ein rhythmisch schlagender Spontannystagmus auf, dessen Frequenz im Laufe der Individualentwicklung stetig absinkt. Er ist dem Leerlauf bei den Instinkthandlungen vergleichbar.
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6.
Beidseitig blinde Tiere zeigen vielfach völligen Ausfall der Statoreflexe, einseitig sehende Schieflagen des Kopfes und des Körpers, sowie Anomalien beim Flug. Demnach beeinflussen die Augen den Tonus der verantwortlichen Zentren stark.
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7.
Viele Ergebnisse lassen sich zwanglos unter Zuhilfenahme des Reafferenzprinzips v. Holsts und Mittelstaedts deuten und physiologisch begründen.
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Dissertation: Naturwissenschaftlich-mathematische Fakultät der Universität Freiburg i. Br.
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Simon, M.E. Der optomotorische Nystagmus während der Entwicklung normaler und optisch isoliert aufgewachsener Küken. Z. Vergl. Physiol. 37, 82–105 (1954). https://doi.org/10.1007/BF00298170
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