Auszug
Voltaires Worten mag Verschiedenes zugrunde gelegen haben: Geringschätzung, Überheblichkeit, aber auch schiere Verachtung, die den Verachteten nicht einmal mehr Beachtung gönnt. Eine solche, kalte Verachtung schlägt schließlich in völlige Vergleichgültigung um: das Verachtete „interessiert“ nicht mehr, ist „ohne Belang“ und hört in gewisser Weise, moralisch nämlich, auf zu existieren. Ihm kommt als Gegenstand der Verachtung kein Anspruch mehr zu; und es kann keinen Anspruch mehr erheben, der den Verächter noch zu erreichen vermöchte. Demgegenüber schlägt intensive, heiße Verachtung sehr leicht in Hass um, dem vom Gehassten her Gegenhass entgegenschlägt, so dass zunächst einseitige Verachtung alsbald in eine Symmetrie des Hasses mündet, der sich der Verächter kaum zu entziehen vermag. Während die aus Verachtung gespeiste Vergleichgültigung die Beziehung zum Verachteten und damit die Verachtung selbst aufzuheben neigt, mündet die in Hass umschlagende Verachtung ohne weiteres in eine Gegenseitigkeit, die die Asymmetrie zerstört, in der allein die Verachtung erreichen könnte, worauf sie Anspruch erhebt: den Anderen einseitig moralisch zu vernichten, ohne selbst das gleiche Schicksal zu erleiden. Zwischen Vergleichgültigung und Hass lässt sich die Verachtung ihrem Sinn nach als der — unmögliche, stets scheiternde — Versuch verstehen, eine moralisch absolut asymmetrische Beziehung zu etablieren, in der das bzw. der Verachtete moralisch nicht mehr „zählt“. So gesehen ist Verachtung eine Form moralischer Gewalt, deren vielfältige Erscheinungsformen (darunter so flüchtige wie das verächtliche Lächeln, aber auch so dauerhafte und endgültige wie die irreversible moralische Diskreditierung) bislang bei weitem nicht die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, die ihnen als Spielarten einer intendierten Vernichtung Anderer gebührt, die sie nur als moralisch zerstörte am Leben lässt.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Adorno, Theodor, W. (111975): Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Arendt, Hannah (2003): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaünchen, Zürich: Piper.
Buck, Günther (1976): Selbsterhaltung und Historizität, in: H. Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 208–302.
Buck, Günther (1984): Rückwege aus der Entfremdung, München, Paderborn: Fink.
D’Aguiar, Fred (1997): Die längste Erinnerung, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Derrida, Jacques (2003): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2005): Schriften in vier Bänden, Band IV, 1980–1988, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Frank, Niklas (2001): Der Vater. Eine Abrechnung, München: Goldmann.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1967): System der Sittlichkeit [1802/1803], Hamburg: Meiner.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1969): Jenaer Realphilosophie [1806/1806], Hamburg: Meiner.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Systeme der spekulativen Philosophie, Hamburg: Meiner.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (41980): Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Honneth, Axel (21998): Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Honneth, Axel (2000): Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Kant, Immanuel (1977): Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Liebsch, Burkhard (1995): Von der Wahrheit moralischer Normalität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), Nr.1, 173–176.
Liebsch, Burkhard (1999): Indifferenz und Gleichgültigkeit, in: ders.: Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br./München: Alber, Kap. V.
Liebsch, Burkhard (2001): „‚Endlösungen ‘ohne Ende“, in: ders.: Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit — Differenz — Gewalt, Berlin: Akademie, Kap. 11.
Liebsch, Burkhard (2004/2005): Verletzung in und mit Worten. Fragen nach dem Verhältnis von Sprache und Gewalt, in: Scheidewege 34 (2004/2005), 243–263.
Liebsch, Burkhard (2005a): Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit? Zur Kritik vorgreifender Macht über das Leben Anderer: Kant, Levinas und Habermas in bio-politischer Perspektive, in: U. Kadi / G. Unterthurner (Hg.): sinn macht unbewusstes. unbewusstes macht sinn, Würzburg: Königshausen & Neumann, 230–264.
Liebsch, Burkhard (2005b): Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Liebsch, Burkhard (2005c): Widerstreit und Dissens. Kritische überlegungen zum polemos bei Jacques Rancière, in: H. Vetter / M. Flatscher (Hg.): Hermeneutische Phänomenologie — phänomenologische Hermeneutik, Frankfurt/M.: Lang, 135–155.
Liebsch, Burkhard (2005d): Lebensformen des Selbst unter dem Druck der Bio-Politik. Kritische Überlegungen zu späten Denkwegen Michel Foucaults, in: Philosophischer Literaturanzeiger 58 (2005), Nr. 3, 285–307.
Liebsch, Burkhard (2006): Das Versprechen im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie. Zwischen Hobbes und Nietzsche, in: Philosophisches Jahrbuch 116/I, 143–166.
Liebsch, Burkhard (2007a): Zwischen aristotelischer und radikaler Ethik. Hannah Arendt — Emmanuel Levinas — Paul Ricoeur, in: H. R. Sepp (Hg.): Bildung und Politik im Spiegel der Phänomenologie, Würzburg: Königshausen & Neumann (i. E.).
Liebsch, Burkhard (2007b): Leidenschaft des Un-Möglichen? Anti-politische Bemerkungen mit Blick auf Kierkegaard und Derrida, in: I. U. Dalferth / P. Stoellger (Hg.): Unmöglichkeiten. Zur Hermeneutik des Außerordentlichen, Tübingen: Mohr (i. E.).
Liebsch, Burkhard (2007c): Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit — mit Blick auf Goldschmidt, Rousseau und Merleau-Ponty, in: A. Schäfer (Hg.): Kindliche Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit, Paderborn: Schöningh (i.E.).
Liebsch, Burkhard / Dagmar Mensink (Hg., 2003): Gewalt Verstehen, Berlin: Akademie.
Loraux, Nicole (1994): Das Band der Teilung, in: J. Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 31–64.
Luhmann, Niklas (1978): Soziologie der Moral, in: ders. / S. H. Pfürtner (Hg.): Theorietechnik und Moral, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli, M. Montinari), München: dtv (zit. als KSA).
Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Rancière, Jacques (2003): Politisches Denken heute. Die normale Ordnung der Dinge und die Logik des Dissenses, in: Lettre International 5 (2003), 5 ff.
Ricken, Norbert (2007): Über die Verachtung der Pädagogik. Eine Einführung, in: ders. (Hg.): Über die Verachtung der Pädagogik. Analysen — Materialien — Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag (in diesem Band).
Ricken, Norbert / Rieger-Ladich, Markus (Hg., 2004): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS Verlag.
Schopenhauer, Arthur (1986): Parerga und Paralipomena, Sämtliche Werke, Bd. 5 (Hg. W. Frhr. v. Löhneysen), Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Simmel, Georg (1992): Soziologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Sternberger, Dolf (1989): Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Stolleis, Michael (2004): Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München: C. H. Beck.
Todorov, Tzvetan (1993): Angesichts des Äußrsten, München: Fink.
Tugendhat, Ernst (1993): Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2007 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Liebsch, B. (2007). Spielarten der Verachtung. In: Ricken, N. (eds) Über die Verachtung der Pädagogik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90737-6_2
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-90737-6_2
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-14829-8
Online ISBN: 978-3-531-90737-6
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)