Zusammenfassung
Die programmatische Abkehr der Religionssoziologie von ihrer Einengung auf Kirchensoziologie und die wachsende Auflösung eines relativ verbindlichen Religionsbegriffs, der zumindest seine Haftung am Christentum verliert, mag viele Gründe haben. Diese Vorgänge indizieren und reflektieren freilich auch auf ihre Weise, daß die traditionelle christliche Religion in ihren institutionell verfaßten und strukturierten Formen, also die Kirchen, in Europa als Lebensmacht marginalisiert werden und ihr Anspruch auf Monopolisierung der Heilswahrheiten und Heilsgüter immer mehr an faktischer Geltung eingebüßt hat, zumal im Zuge eines Wertewandels eine allgemein indifferente Stimmung gegenüber Institutionen jeglicher Art auch die Kirchen traf und trifft. Offensichtlich sind sie unter den Bedingungen einer strukturell, kulturell und individuell pluralisierten Gesellschaft immer weniger in der Lage, ihre Botschaft mit den existentiellen Fragen der Menschen von heute zu verbinden, als Legitimation ihres Leidens und Glücks zu kommunizieren und an die nachwachsenden Generationen zu tradieren. Immer weniger gelingt es ihnen beispielsweise, mit den Familien in dieser Angelegenheit zu koalieren. Zahlreiche Indikatoren weisen darauf hin, daß die traditionelle religiöse Arbeitsteilung zwischen Kirchen und Familien zum Auslaufmodell wird. Die verfaßten Kirchen verlieren zwar nicht ihre Verfassung, doch ihre „Passung“. Und hierzu gehört vermutlich auch, daß der Staat und andere gesellschaftliche Akteure nicht explizit religiöser Provenienz im Laufe der Zeit schrittweise viele Aufgaben überkommener Religion übernommen haben (Naturinterpretation zur Angstreduktion; Rechtssysteme und Moralkodizes; soziale Sicherung; Freizeit- und Erlebnissteigerung), die man vielleicht nicht zu den primären Leistungen von Religion zählen mag, die aber Religion für die Leute attraktiv machten und die Bindung an sie sogar für lebensnotwendig.
Erweiterte und überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 17. 9. 1998 in der ad-hoc-Gruppe: „Events und Event-Gemeinschaften“ auf dem 29. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, dem 16. Österreichischen Kongress für Soziologie und dem 11. Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i. Br. und zugleich gekürzte Fassung meiner Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Konstanz am 6. 7. 1999.
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Ebertz, M.N. (2000). Transzendenz im Augenblick. Über die „Eventisierung“ des Religiösen —dargestellt am Beispiel der Katholischen Weltjugendtage. In: Gebhardt, W., Hitzler, R., Pfadenhauer, M. (eds) Events. Erlebniswelten, vol 2. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95155-7_18
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