Zusammenfassung
Die individuellen und gesellschaftlichen Folgen des demographischen Wandels rücken moralische Fragen, die den angemessenen Umgang mit älteren Menschen und die sinnvolle Gestaltung des Lebens im Alter betreffen, verstärkt in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit sowie medizin- bzw. pflegeethischer und gesundheitspolitischer Auseinandersetzungen. Allerdings wird das Altern als Prozess und das höhere Alter als Lebensphase in vielen dieser medizin- bzw. pflegeethischen und gesundheitspolitischen Debatten zumeist lediglich unter dem spezifischen Gesichtspunkt der jeweils erörterten Praktiken, Fragestellungen und Problemlagen thematisiert. Eine Betrachtung, die diese verschiedenen konkreten Praxis- und Diskussionskontexte übergreift, das in ihnen jeweils vorausgesetzte Verständnis des Alter(n)s als solches thematisiert und in seiner Bedeutung für die ethische Fachdiskussion grundsätzlich reflektiert, findet dagegen kaum statt. Die Arbeitsgruppe „Altern und Ethik“ in der Akademie für Ethik in der Medizin soll zur Entwicklung einer solchen grundlegenderen und umfassenderen Betrachtungsweise beitragen. Der vorliegende Beitrag gibt einen ersten orientierenden Überblick über die zentralen Themenschwerpunkte, Problemstellungen und Kontroversen in den aktuellen medizin- bzw. pflegeethischen und gesundheitspolitischen Diskursen um das Alter(n) und markiert offene Fragen und Forschungsdesiderate. Wie sich dabei zeigt, kann eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Alter(n) nicht nur den einschlägigen alter(n)sbezogenen Fachdebatten zu fundierteren Perspektiven verhelfen, sondern auch der ethischen Diskussion insgesamt wichtige Impulse im Hinblick auf ihre anthropologischen Grundlagen und ihren normativen Bezugsrahmen vermitteln.
Abstract
Definition of the problem
Due to the individual and societal consequences of demographic change, moral questions regarding old age and elderly persons are moving into the focus of public attention and of ethical debates in medicine, nursing and public health. In many of these debates, however, ageing as a process and old age as a phase of life is primarily considered from the angle of the respective practices, questions and problems discussed. What is missing is a perspective that comprises the different practical contexts, makes the underlying conceptions of age(ing) explicit and reflects their meaning for the ethical debate.
Arguments
The working group “Ageing and Ethics” in the Academy for Ethics in Medicine was established to contribute to such a more comprehensive perspective. This paper gives an overview of the central topics, problems and arguments in the contemporary medical, nursing and public health ethics discourses on age(ing) and marks open questions and desiderates.
Conclusions
A more intensive consideration of age(ing) can not only improve the theoretical basis of the pertaining debates in applied ethics but also shed light on some of the anthropological foundations and normative frameworks of ethical reasoning as such.
Notes
Wo nicht ausdrücklich anders angemerkt, wird das Maskulinum im Folgenden generisch verwendet.
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Danksagung
Die Autorinnen und Autoren danken den Mitgliedern der AG Altern und Ethik, die durch ihre Diskussionsbeiträge die Entstehung dieses Textes maßgeblich unterstützt haben, insbesondere PD Dr. Hans-Jörg Ehni (Tübingen), Prof. Dr. Jan Schildmann (Bochum/Fürth) und Prof. Dr. Susanne Wurm (Erlangen-Nürnberg).
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Interessenkonflikt
M. Schweda, M. Coors, A. Mitzkat, L. Pfaller, H. Rüegger, M. Schmidhuber, U. Sperling und C. Bozzaro geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Ethische Standards
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Neben den Autorinnen und Autoren haben die folgenden Mitglieder der Arbeitsgruppe „Altern und Ethik“ in der Akademie für Ethik in der Medizin diesen Text mit erarbeitet und unterstützen ihn: Regine Bölter (Heidelberg), Karl-Bertram Brantzen (Mainz), Corinna Hektor (Augsburg), Wolfgang Heinemann (Bonn), Timo Jahnke (Gießen), Axel Kreutzmann (Hannover), Christiane Mahr (Düsseldorf), Jan Schildmann (Fürth/München), Ronald Treiber (Sonthofen), Susanne Wurm (Nürnberg).
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Schweda, M., Coors, M., Mitzkat, A. et al. Ethische Aspekte des Alter(n)s im Kontext von Medizin und Gesundheitsversorgung: Problemaufriss und Forschungsperspektiven. Ethik Med 30, 5–20 (2018). https://doi.org/10.1007/s00481-017-0456-6
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