Auszug
Im Denken Bergsons nimmt die Zeit eine herausragende Stellung ein. Verstanden als permanente Bewegung und qualitative Veränderung bildet sie das Wesen des inneren wie des äußeren Lebens. Das Leben macht Bergson „(⋯) entschlossen zum Ersten und Zentralen, stellt es in den Absolutheitspunkt des Daseins; alles was nicht den Charakter des Lebens, d.h. der Einheit des fortwährend sich Wandelnden hat, ist sekundäres Gebilde“ (Simmel 1922: 144). Damit stellt er sich der platonischen Tradition entgegen, welche den Variationen und Ausdifferenzierungen der Wirklichkeit konstante Gesetzmäßigkeiten zugrunde legt.13 Gegenüber der Existenz unveränderlicher Ideen erachtet Bergson Bewegung, Werden und Entwicklung als primär — „die Zeit (⋯) ist ein Werdendes und sogar der Grund von allem übrigen Werden“ (Bergson 2000: 23), sie gilt ihm nicht als Schleier der Ewigkeit, sondern als Wirkungsprinzip des lebendigen Seins. Nichts geringeres als dieses steht also auf dem Spiel, wenn Bergson sich daran begibt, Irrtümer auszuräumen, die sich in exaktnaturwissenschaftliche und philosophische Zeitbetrachtungen eingeschlichen haben. In beiden Fällen wird Temporalität methodisch und thematisch reduziert auf eine quantitative Sukzession (homogene Zeit). Von diesem Zeitverständnis grenzt Bergson die wahre Zeit als qualitative Veränderung ab (Dauer). Tatsächlich handelt es sich bei der messbaren, homogenen Zeit um eine räumlich imprägnierte Vorstellung, die auf die unzulässige Analogsetzung von Zeit und Raum zurückgeht:
„Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch sind Zeit und Raum auf die gleiche Ebene gestellt und wie Dinge derselben Art behandelt worden. Man untersucht dann eben nur den Raum, bestimmt seine Natur und seine Funktion und überträgt die gefundenen Ergebnisse auf die Zeit“ (Bergson 2000: 24).
„Aber in Wahrheit hat die Philosophie niemals diese fortgesetzte Schöpfung von unvorhersehbar Neuem offen anerkannt. Die Alten sträubten sich schon dagegen, weil sie sich, — die alle mehr oder weniger Platoniker waren, — das Sein ein für alle Mal vollständig und vollkommen im unveränderlichen System der Ideen gegeben dachten: die Welt, die vor unseren Augen abrollt, konnte dem also nichts hinzufügen; sie war im Gegenteil nur eine Verminderung oder Entartung; (⋯). Die Zeit war es, die alles verdorben hatte. Die Modernen stellten sich allerdings auf einen völlig anderen Standpunkt. Sie behandelten die Zeit nicht mehr als einen Eindringling, einen Störenfried der Ewigkeit; aber sie möchten sie gern zu einem reinen Scheindasein reduzieren. Die Zeit ist nur die verworrene Form des Rationellen. Was wir als eine Folge von Zuständen wahrnehmen, begreift unsere Intelligenz, wenn die Nebel einmal gefallen sind, als ein Bezugssystem. Das Wirkliche wird wiederum zum Ewigen mit diesem einzigen Unterschied, daß an die Stelle der Ewigkeit der Ideen, die den Erscheinungen zum Muster dienen, hier die Ewigkeit der Gesetze tritt, in die sie sich auflösen.“ (Bergson 2000: 124–125).
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Bergson, Henri (2000): Denken und schöpferisches Werden. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
Bergson, Henri (1912): Schöpferische Entwicklung. Jena: Eugen Diederichs.
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(2009). Zeit als schöpferischer Wandel: Bergsons Dauer. In: Zeitspieler. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91420-6_3
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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