Zusammenfassung
Robert Gaupp, Ernst Kretschmer und die Tübinger psychiatrische Schule nehmen durch ihr spezielles Verständnis psychischer Störungen eine Sonderstellung innerhalb der deutschen Psychiatrie ein. Sie haben die deutsche Psychiatrie in einer Zeit, als diese Weltgeltung hatte, entscheidend beeinflusst. In ihrer Arbeit haben sie nicht nur grundlegende Probleme der Psychopathologie, insbesondere der Pathogenese des Wahns, auf beispielhafte, bis heute nicht übertroffene Weise behandelt, sondern sie haben auch den Weg geebnet für eine neue, „mehrdimensionale“ Betrachtungsweise in der Psychiatrie. Kretschmer war der erste überhaupt, der 1919 den Begriff der „Mehrdimensionalität“ gebrauchte; sein Kollege Alfred Storch sprach, moderne Begriffe vorwegnehmend, bereits 1925 von der „psychobiologischen Struktur“ der Schizophrenie [31]. Als zentrale Einsichten der Tübinger Schule können gelten: die Hypothese vom Ineinandergreifen von somatischer Vulnerabilität und psychischer Belastung, die prinzipielle Verstehbarkeit psychotischer Erkrankungen, die Bedeutung der Persönlichkeit für die Entstehung der Psychose und — damit zusammenhängend — die Vorstellung eines Kontinuums zwischen gesund und krank. Die Leistung Robert Gaupps und Ernst Kretschmers liegt ferner darin, dass sie in ihrer wissenschaftlichen und klinischen Arbeit ständig um eine Integration der biologischen und psychologischen Aspekte psychiatrischer Störungen bemüht waren, statt sich mit einfachen, monokausalen, aber in sich widerspruchsfreien Erklärungen zufrieden zu geben.
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Leonhardt, M. (2004). Mehrdimensionale Psychiatrie: Robert Gaupp, Ernst Kretschmer und die Tübinger psychiatrische Schule. In: Hippius, H. (eds) Universitätskolloquien zur Schizophrenie. Steinkopff, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-7985-1957-2_48
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