Zusammenfassung
„Das Leben muss vorwärts gelebt werden, aber es kann nur rückwärts verstanden werden“ (Kierkegaard, zitiert nach O’Rand 1996: 74). Das „I“ — das im Nominativ stehende, handelnde Ich — lebt „vorwärts“; es handelt auf Ziele hin und versucht, sich seine Zwecke und Mittel so gut als möglich zu verdeutlichen, aber es muss auch dann handeln, wenn noch so gewissenhaftes Überlegen eine bestimmte Entscheidung nicht nahe legt. Nach der Entscheidung aber versucht das Ich, sich „rückwärts“ zu vergegenwärtigen, was die getroffene Entscheidung bedeutet und warum sie getroffen wurde; es ruft das „Me“ hervor — das im Akkusativ stehende, reflektierte Ich (Mead 1934: 173–178). Der Rückblick deckt auf, was am vollzogenen Leben besonders war, und die entdeckte Besonderheit kann eine Leitlinie für das zukünftige Handeln sein. „I“ und „Me“, Handeln und Reflexion sind „Phasen des Selbst“ (Mead 1934: 192), einander ablösende Schritte in der Lebensgeschichte. Der Lebenslauf, die Abfolge langfristig bindender Entscheidungen, wird von der biografischen Selbstreflexion begleitet. Aber während der Lebenslauf durch die Institutionen Ausbildung, Beruf und Familie als eine Folge aufeinander aufbauender Phasen der beruflichen Karriere und des Aufbaus einer eigenen Familie vorgezeichnet ist, löst die biografische Selbstreflexion sich von der Skala der Institutionen des Lebenslaufs, die sie betrachtet, und verfolgt ein gleichbleibendes Ziel: das bisherige Leben insgesamt zu überschauen, zu resümieren, kurzum: zu bewerten. Die Währung aber, in der sich das Leben insgesamt, der berufliche wie der private Lebenslauf, bewerten lässt, ist der Erfolg.
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Literatur
Der Anstieg kann zudem methodische Ursachen haben. Erstens kann die Teilnahme an der zweiten Wiederbefragung im 43. Lebensjahr auf der Selbstselektion nach dem Interesse am Thema der Befragung resultieren; unter den Ausfällen befinden sich überproportional viele mit einem geringeren Maß an biografischer Selbstreflexion im 30. Lebensjahr (Birkelbach 1998b). Zweitens produziert die telefonische Befragung im 43. Lebensjahr allgemein eine höhere Antwortbereitschaft als die direkte Befragung durch Interviewer im 30. Lebensjahr, wie sich am deutlichsten am Anstieg der Antwortbereitschaft auf die Beteiligung an den politischen Wahlen zwischen 1976 und 1982 einerseits sowie 1986 und 1994 anderseits ablesen lässt (Perings 1999: 17). Gerade weil die telefonische Befragung distanzierter ist als die „persönliche“, erlaubt sie mehr Offenheit in „heiklen“ Fragen wie der politischen Wahl oder der Bewertung des eigenen Lebens. Das gilt besonders für die Frage nach Ereignissen. Während hier das kompakte Frageformat aus drei Mal drei Fragen in der mündlichen Befragung Interviewer und Befragten belastet hat, konnte es in der telefonischen Befragung schrittweise abgearbeitet werden; zudem wird die größere Distanz durch das Telefon Offenheit gerade bei der am meisten zudringlichen Teilfrage nach dem „Einfluss auf Ihr Leben“ ermöglicht haben. Bei allen drei Fragen schließlich können die Antworten auf der Tastatur vor dem Bildschirm durch besonders eingeübte studentische Interviewer ausführlicher und besser protokolliert werden als „im Feld“ mit „Bleistift und Papier”.
Die Spalte für die 30jährigen der Tabelle 12.2 und der folgenden Tabellen 12.3 und 12.4 entspricht der Tabelle in Meulemann (1995: 569) mit einer Reduktion der Stichprobe von 1989 auf 1596, durch die keine systematischen Diskrepanzen entstanden sind. — Um den Einfluss der Mehrfachnennungen zu kontrollieren, wurde die folgenden Tabelle auch mit Durchschnittswerten der Nennungen berechnet; da sich keine inhaltlichen Diskrepanzen zur Darstellung der Prozentwerte ergaben, wird auf die Darstellung verzichtet.
Das widerspricht nicht der ersten Hypothese einer rückläufigen Intensität; denn es wird ja nur der Modus der biografischen Selbstreflexion betrachtet, der sich auf die Einwirkung der Umwelt auf das Leben bezieht. Ein Blick zurück auf Tabelle 12.4 zeigt, dass die Intensität der biografischen Selbstreflexion insgesamt zwischen dem 30. und 43. Lebensjahr zurückgeht und dass die Nennungen positiv bewerteter Ereignisse ebenso leicht zunehmen, wie die negativ bewerteter Ereignisse abnehmen. Dieses Patt findet sich in der Konstanz der Begründungen für die Ereignisse insgesamt wieder.
Allerdings kann auch die telefonische Befragungsform im 43. Lebensjahr, die generell die Antwortbereitschaft steigert, bewirkt haben, dass die Nachfrage nach dem „besonderen Einfluss” fast von allen beantwortet wurde, die überhaupt ein „Ereignis” genannt hatten (siehe Tabelle 12.1). Wenn man als kooperativer Partner am Telefon sich einmal auf die Angabe eines Ereignisses eingelassen hat, aber eigentlich keinen „besondere Einfluss” mit ihm verbindet, dann nimmt man Zuflucht dazu, die Tatsache der Veränderung oder das Ereignis zu wiederholen, also inexplizit zu antworten. Aber auch dieser methodische Effekt deutet noch auf ein nachlassendes Interesse an der biografischen Selbstreflexion.
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Meulemann, H., Birkelbach, K. (2001). „Biografizität“ ist das Privileg der Jugend. In: Meulemann, H., Birkelbach, K., Hellwig, JO. (eds) Ankunft im Erwachsenenleben. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09269-8_12
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-09269-8_12
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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Online ISBN: 978-3-663-09269-8
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