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Polymythie und Monomythie um 1800 – und welche Schlüsse man daraus vielleicht ziehen könnte: für Kunst, Kultur, Gesellschaft und Politik

Mit einer Interpretationsskizze zu Goethes Gedicht Gingo biloba

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Religionspolitik und politische Religion in Japan und Europa

Part of the book series: Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion ((STLIRE,volume 8))

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Zusammenfassung

Über die Bedeutung aufklärerischer Religions- und Mythologiekritik wird am Ende des 18. Jahrhunderts intensiv diskutiert. Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands z. B. feiert die Buntheit und Vielfalt der Götterwelt Griechenlands gegenüber dem christlichen Monotheismus, der sie verdrängt habe. Die Aufgabe, lebendige Vielgestalt zu bewahren und so den ‚Monotheismus aufgeklärter Vernunft‘ zu korrigieren, dabei aber doch einen neuen Zusammenhang der Gesellschaft zu stiften, wird um 1800 der Kunst übertragen. Hier zeigt sich ein Problem, das grundlegend bleibt für Religion, Kultur, Gesellschaft und Politik in der Moderne: das der Einheit in der Vielfalt, der Vielfalt in der Einheit. Das aber ist zentrales Axiom klassischer Kunsttheorie um 1800 und ein wesentlicher Grund dafür, warum dem Kunstwerk ein so hoher symbolischer Rang für Gesellschaft, Bildung und Kultur zugesprochen werden konnte. – Der Aufsatz will zeigen, dass es hier nicht nur um ein historisches Problem bürgerlich-westlicher Gesellschaft geht, sondern ebenso um ein systematisches, das anthropologisch weitreichende Geltung beanspruchen kann.

Überarbeiteter Text meines Vortrags, den ich im Oktober 2022 bei der Konferenz ‚Monotheism and Polytheism: Political Religion in Japan and Europe, 1600–1925‘ gehalten habe; der Vortragsduktus wurde beibehalten. Michael Mandelartz danke ich für die Einladung; Kim Lara Quost und Luca Manitta, beide Universität Bielefeld, danke ich für ihre freundliche Kritik und Hilfe. Manfred Frank, Bielefeld, Anton Bierl, Basel, und Jutta Golawski-Braungart danke ich für kritische Nachfragen und sehr hilfreiche Hinweise.

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Notes

  1. 1.

    Über den mysteriösen Traktat De tribus impostoribus wurde seit dem Mittelalter spekuliert; die Spuren seiner These lassen sich durch die europäische Radikalaufklärung (vgl. Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002; ders.: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Göttingen 2018) bis hin zu Lessing verfolgen (vgl. Friedrich Niewöhner: Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern. Heidelberg 1988).

  2. 2.

    Genau dies geschieht z. B. in Rilkes Elegien mit dem lyrischen Subjekt und den Engeln. S. dazu das Rilke-Kapitel in: Vf.: Literatur und Religion in der Moderne. Studien. München 2016, Zweiter Teil, II (zum Stundenbuch) und III (zu den Duineser Elegien).

  3. 3.

    Die bedeutende hermeneutische Leistung des islamischen Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide kann man von hier aus kaum genug würdigen.

  4. 4.

    Es gibt aber keinen Grund, sich immer von vornherein begeistert auf die Seite der Ordnungsstörung zu schlagen und z. B. der Kunst von vornherein diese Funktion zentral zuzuschreiben. Das gilt auch für die Literaturwissenschaft von heute.

  5. 5.

    Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a. M. 2007 (frz. 1912), S. 61, unterscheidet, meiner Unterscheidung strukturell ähnlich, zwischen „Glaubensüberzeugungen“ und „Riten“. Ich versuche aber, die Frage nach dem Glauben möglichst zu vermeiden, weil das, wovon man – im Sinne eines ‚Glaubens an etwas‘ – in besonderer Weise überzeugt ist, eben individuell ganz verschieden ausfallen und mit ganz verschiedenen Vorstellungen im Subjekt verbunden sein kann. Wie soll man etwas Sinnvolles über diesen individuellen Glauben sagen können? Das können nur die Individuen selbst: in ihren autobiographischen Bekenntnissen, in mystischen Erfahrungs- und Bekehrungsberichten etc. Am Beginn der Erfolgsgeschichte des Christentums steht Augustinus!

  6. 6.

    Noch immer klassischer Text: William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Frankfurt a. M. 2022 (engl. 1902). – Zum großen Forschungsgebiet ‚Religion und Moderne‘ sei besonders auf die zahlreichen Publikationen Detlev Pollacks hingewiesen.

  7. 7.

    Zur kulturellen Evolution von Religion s. das stupende Werk von Robert Bellah: Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit. Hg. von Hans Joas. Freiburg/Br. 2021. Vgl. jetzt auch die Einführung von Volkhard Krech: Die Evolution der Religion. Ein soziologischer Grundriss. Bielefeld 2021. Ganz ausgezeichnet, auf systemtheoretischer Grundlage vom selben Autor: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft. Bielefeld 2011. – Und jetzt natürlich unbedingt zu erwähnen: Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen; Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Berlin 2019.

  8. 8.

    Damit streife ich das Problem einer Ästhetik des Politischen, das ich vor einiger Zeit ebenfalls thesenhaft umrissen habe: Vf.: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen. Göttingen 2012.

  9. 9.

    Georg Simmel bringt den Begriff des Religioiden, unter dem er die ‚religiösen Halbprodukte‘ versteht, eher beiläufig ins Spiel, baut ihn theoretisch aber nicht weiter aus. Dabei ist am Beispiel des in den Kulturwissenschaften so gerne herangezogenen Fußballspiels offensichtlich, dass es sinnvoll ist, Kultur und Politik der säkularen Welt durch die religionswissenschaftlich getönte Brille anzuschauen. Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität. Frankfurt a. M. 2020. – Aus den vielen Publikationen zu den Erscheinungsformen von Religion in der Moderne vgl. Charles Taylor: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2002, grundlegend.

  10. 10.

    Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religion. München 2017.

  11. 11.

    Vgl. Jürgen Goldstein: Charles Taylor und die Unversöhntheit der Moderne. In: Information Philosophie (2008), H. 4, S. 38–43. – Zur zeitgenössischen Subjekttheorie vgl. Andreas Reckwitz: Subjekt. Bielefeld 42021; ‚zeitgenössisch‘ heißt auch für Reckwitz: Im Zeitalter der „Dezentrierung“ des Subjekts (s. ebd., Teil I).

  12. 12.

    Vgl. Alfred Lorenzer: Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt a. M. 1981.

  13. 13.

    Vgl. Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation. Berlin/New York 2009.

  14. 14.

    Vgl. Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Freiburg/Br. 2012; vgl. auch Charles Taylor: A secular age. Cambridge/Mass. 2007 (dt.: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a.M. 2009).

  15. 15.

    Äußerst anregend ist ein Sammelband, den schon 1995 Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst herausgegeben haben. Er nimmt die Debatte um Gemeinschaft und Gesellschaft wieder auf und enthält Beiträge von Autoren, die im Zusammenhang meiner Fragestellung besonders wichtig sind (Hans Joas, Charles Taylor, Axel Honneth, Manfred Frank, Martha Nussbaum, Gérard Raulet). Vgl. Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt 1993.

  16. 16.

    Vgl. Hans Küng: Projekt Weltethos. München 1990.

  17. 17.

    Genau dieses motivationale Defizit der reinen Verstandesaufklärung hat Habermas in Auch eine Geschichte der Philosophie (Anm. 7) im Blick.

  18. 18.

    Vgl. Christoph Jamme/Gerhard Kurz (Hg.): Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik in Philosophie und Poesie um 1800. Stuttgart 1988, eine der ersten Publikationen, die dieser Frage nachgingen.

  19. 19.

    Die grundlegenden Forschungen zu diesem Thema, an die viele später angeschlossen haben, stammen von Manfred Frank; s. hier vor allem: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a. M. 1982.

  20. 20.

    Zu diesem Forschungsfeld, das ich hier nur andeute, Vf.: Ritual und Literatur. Tübingen 22016 (zuerst 1996); sehr anregend: Christian Klein: Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen. Göttingen 2014.

  21. 21.

    Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz, Bd. 2. Gedichte und Epen II. München 121982, S. 66.

  22. 22.

    Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Stuttgart 1997, S. 120.

  23. 23.

    Ebd., S. 155.

  24. 24.

    Wie sehr man mit dem Problem und Konzept der Offenbarung theologisch ins Zentrum von Hölderlins Poetik gelangen kann, hat kürzlich Jakob Helmut Deibl gezeigt: Abschied und Offenbarung. Eine poetisch-theologische Kritik am Motiv der Totalität im Ausgang von Hölderlin. Berlin 2019. Vgl. auch: Moritz Strohschneider: Neue Religion in Friedrich Hölderlins später Lyrik. Berlin/Boston 2019. – Im Sommer 2024 wird die Bielefelder Dissertation von Eveline Quentmeier abgeschlossen, die zu einer neuen und das ‚Religionsprojekt‘ Hölderlins, wenn man den ganzen Komplex so nennen will, umfassend in den Blick nehmenden Interpretation des späten hymnischen Fragments An die Madonna führen wird.

  25. 25.

    Das Problem, das ich hier nur andeuten kann, hat soeben auch eine neue Publikation aufgegriffen: Alexander J. B. Hampton: Transzendenz für ein Zeitalter der Immanenz. Die romantische Neuerfindung der Religion. Heidelberg 2023 (engl. 2019).

  26. 26.

    Vgl. etwa Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/New York 2005; Charis Goer/Michael Hofmann (Hg.): Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. München 2008.

  27. 27.

    Friedrich Hölderlin: Andenken. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jochen Schmidt, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1992, S. 361.

  28. 28.

    Vgl. einführend Hannah Grosse Wiesmanns Artikel ‚Blume‘. In: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.): Lexikon literarischer Symbole. Berlin 32021, S. 82–84. S. a. Daniel Randaus Artikel ‚Blumenkranz‘. In: ebd., S. 84f., und Anna Ananievas Artikel ‚Garten‘. In: ebd., S. 209–213, bes. S. 212f.

  29. 29.

    Vgl. Heidi E. Faletti: Die Jahreszeiten des Fin des siècle. Eine Studie über Stefan Georges Das Jahr der Seele. Bern/München 1983.

  30. 30.

    Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982.

  31. 31.

    Goethe hat Heraklit gekannt. Aber wie gut?

  32. 32.

    Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981.

  33. 33.

    Es ist ein schwieriger Streitpunkt, wann man die Entstehung dieses ‚inneren Gerichtshofes‘ (Kant) ‚Gewissen‘ historisch ansetzen will: nicht schon in Athen und Rom? Man kann wohl die These wagen, dass die ‚gewissenhafte‘ Selbstreflexion, die innere moralische Unterscheidungsfähigkeit dort eher auf die Polis bzw. die ‚res publica‘ bezogen ist, nicht primär auf das Subjekt in seiner komplexen selbstreflexiven Subjektivität, also auf das Subjekt mit seiner Frage: Wer bin ich? Und wer bin ich im Angesicht der Transzendenz? Sokrates’ Daimonion, diese antreibende innere Stimme, ist etwas anderes – aber vielleicht schon auf dem Weg dorthin?

  34. 34.

    Detailliert zu Burkerts Kulturanthropologie vgl. Anton Bierl/Wolfgang Braungart (Hg.): Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert. Berlin/New York 2010. – Die weitreichende literaturgeschichtliche Bedeutung der Entdeckung des Gewissens wird in der Forschung inzwischen gesehen; vgl. etwa die grundlegende Studie von Franz Fromholzer: Gefangen im Gewissen. Evidenz und Polyphonie der Gewissensentscheidung auf dem deutschsprachigen Theater der Frühen Neuzeit. München 2013. Vgl. auch Heinz Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1991. – Die Kultur-Theorien Burkerts und Girards sind in den Altertumswissenschaften und in der Theologie intensiv rezipiert worden. Für viele gräzistische Einblicke und Diskussionen während der letzten Jahre danke ich Anton Bierl, Basel, der das Augenmerk seiner Forschung ganz stark auf die ‚dunklen Seiten‘ des Griechentums, die nicht klassizistisch überformte griechische Antike, gerichtet hat.

  35. 35.

    Zu Girard grundlegend sind die Forschungen Wolfgang Palavers, zuletzt: Transforming the Sacred into Saintliness. Reflecting on Violence and Religion with René Girard. Cambridge 2020; vgl. auch seinen Beitrag im Sammelband von Bierl/Braungart: Gewalt und Opfer (Anm. 34); weitere Beiträge in diesem Band nehmen auch auf Girard Bezug.

  36. 36.

    So beginnt die vierte von Rilkes Duineser Elegien: „O Bäume Lebens, o wann winterlich? / Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug- / vögel verständigt.“ Das Enjambement „Zug- / vögel“ ist noch schroffer als Goethes „Baums Blatt“. Rainer Maria Rilke: Gedichte. 1910–1926. In: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe. Hg. von Manfred Engel u. a., Bd. 2. Frankfurt a. M. 1996, S. 211.

  37. 37.

    Aurelius Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Hg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart 2016, S. 35 (I,1).

  38. 38.

    Zit. nach der Elberfelder Bibel. Witten 22009, S. 763f.

  39. 39.

    So kann man Kafkas Prozeß-Roman auch lesen: K. scheitert an der Eingabe, die er dem Gericht gegenüber zu machen hat, an diesem Rechenschaftsbericht über sein ganzes Leben.

  40. 40.

    Inwiefern die Gottebenbildlichkeit des Menschen (eines jeden!), diese grundsätzliche anthropologische Aussage des Alten Testaments, die Würde des Menschen begründen kann, ist eine theologisch intensiv diskutierte Frage. Diese leitende Idee von der Würde des Menschen wird dann verrechtlicht in den grundlegenden Menschenrechten; dieser Prozess der Verrechtlichung beginnt im 18. Jahrhundert. Vgl. Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Frankfurt a. M. 2011. Diese Genese der Menschenrechte im Europa des 18. Jahrhunderts relativiert nicht deren universalistischen Geltungsanspruch. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Genese und Geltung sind zu unterscheiden; Geltungsansprüche müssen freilich rational geprüft werden.

  41. 41.

    Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979, eröffnet seine monumentale Untersuchung mit diesem Kapitel: Archaische Gewaltenteilung. – Ausdrücklich sei hingewiesen auf Christoph Jamme/Stefan Matuschek (Hg.): Handbuch der Mythologie. Darmstadt 2014. Die Einleitung Welten des Mythos sortiert ganz ausgezeichnet die verschiedenen Theorien und Diskurse des Mythos; das Kapitel über Asien geht aber leider nicht auf Japan ein.

  42. 42.

    Was ich meine, versteht man an der Votivmalerei sofort; die Geschichte dieser populären Malerei im rituellen Kontext reicht bis ins 20. Jahrhundert hinein! Vgl. etwa Lenz Kriss-Rettenbeck: Ex voto. Zeichen, Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum. Zürich u. a. 1972; Klaus Beitl: Votivbilder. Zeugnisse einer alten Volkskunst. Salzburg 1973; Edgar Harvolk: Votivtafeln. Bildzeugnisse von Hilfsbedürftigkeit und Gottvertrauen. München 1979.

  43. 43.

    Über diese Genauigkeit hat man sich natürlich schon früh gewundert und der Zahl deshalb allerlei symbolische Bedeutungen zugeschrieben (Quersumme neun = drei mal drei; drei Primzahlen, als Ganze eine Primzahl usw.).

  44. 44.

    Die Metapher der Sattelzeit, die sich inzwischen eingebürgert hat, geht bekanntlich auf Reinhart Koselleck zurück, der sie für die geschichtliche Übergangszeit vor, um und nach 1789 einführt, in der die Moderne gewissermaßen in den Sattel steigt (man kann die Metapher auch anders verstehen, z. B. geologisch für die Senke zwischen zwei Gipfeln).

  45. 45.

    Zu Hölderlins religiösem Synkretismus vgl. Strohschneider: Neue Religion (Anm. 24).

  46. 46.

    Vermutlich bezieht sich die Histoire des Sévarambes des Denis Veiras d’Allais von 1677/79 bereits auf Spinozas Traktat. In diesem, zehn Jahre später schon ins Deutsche übersetzten utopischen Roman, der für die Geschichte der literarischen Utopie in Deutschland wichtig ist, spielt der staatlich inszenierte und organisierte religiöse Kult eine große Rolle. Ausführlich wird er dargestellt; der seinerzeit intensiv diskutierte Vorwurf des ‚Priestertrugs‘ und der betrügerischen Religionsstiftung (die Stifter der monotheistischen Religionen seien Betrüger) schwingt unverkennbar mit. Vgl. Denis Veiras: Eine Historie der Neu = gefundenen Völcker Sevarambes genannt. 1689. Hg. von Wolfgang Braungart und Jutta Golawski-Braungart. Tübingen 1990, Nachwort S. 59ff., hier v. a. S. 61. Vgl. hierzu auch Vf.: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1989, v. a. S. 199ff.

  47. 47.

    Franz Rosenzweig (Hg.): Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund. Heidelberg 1917. Vgl. Christoph Jamme/Helmut Schneider (Hg.): Mythologie der Vernunft. Hegels ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 1984. – Der folgende Schlussteil meines Aufsatzes stützt sich auf verschiedene Aufsätze, die ich bereits veröffentlicht habe.

  48. 48.

    Zum philosophischen Kontext vgl. Manfred Frank/Gerhard Kurz (Hg.): Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Frankfurt a. M. 1975; in dem Band, der den Text des Systemprogramms ebenfalls bringt, findet sich auch ein Aufsatz des Schelling- und Idealismus-Kenners Xavier Tilliette zur Frage der Verfasserschaft. Er ist der „Ansicht, dass innere Gründe immer noch stark für Schelling sprechen“. – Schelling als Verfasser des Systemprogramms? In: ebd., S. 193–211, hier S. 193.

  49. 49.

    Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister. München 2019, zum Systemprogramm, für Otts Polemik ein zentraler Text, s. S. 14ff. Ott hat aber, scheint mir, zu wenig Sinn dafür, dass es in jeder Epoche immer auch kühne, hochfahrende Geister geben muss, die zur kulturellen Belebung gebraucht werden.

  50. 50.

    Von diesem Befund aus, dass sich die stratifikatorisch geordnete Gesellschaft in der Wahrnehmung der Zeitgenossen ab ca. 1770 in eine Gesellschaft funktional differenzierter Teilsysteme umbaue, entwickelt Dirk von Petersdorff den jüngsten Versuch einer Konzeptualisierung der Makroepoche ‚Literarische Moderne‘. Vgl. ders.: Kann man produktiv von literaturgeschichtlicher ‚Moderne‘ sprechen? Ein Vorschlag zur Neubestimmung des Begriffs. In: Euphorion 116 (2022), S. 105–127. – Für die Fortführung der Monotheismus-Problematik in der Literatur der Moderne ist jetzt besonders wichtig: Matthias Löwe: Dionysos versus Mose. Mythos, Monotheismus und ästhetische Moderne 1900–1950. Frankfurt a. M. 2022; das Buch setzt aber mit der Mythos-Debatte um 1800 ein.

  51. 51.

    Friedrich Hölderlin: Über Religion. In: ders.: Werke (Anm. 27), Bd. 2, S. 562–569, hier S. 564; Nachweise künftig im Text als: ‚Über Religion‘.

  52. 52.

    Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1984.

  53. 53.

    Vgl. Manfred Frank: Der kommende Gott (Anm. 19); später dann Christoph Jamme, aber rationalistischer: Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991.

  54. 54.

    Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 19. Vgl. aber auch schon Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution (Anm. 52).

  55. 55.

    Vgl. dazu Verf.: Subjekt Europa, Europas Subjekt. Novalis’ katholische Provokation Die Christenheit oder Europa. In: Sinn und Form 63 (2011), H. 4, S. 544–558.

  56. 56.

    Vgl. zur politischen Metaphorik allg. Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München 1978; Herfried Münkler: Politische Bilder. Politik der Metaphern. Frankfurt a. M. 1994.

  57. 57.

    So wunderbar die Verse dieser Ode schwingen: Sie bleibt doch seltsam abstrakt; die Bilder (der ‚grüne Halm‘, der ‚einsame Vogel‘) sind eigentümlich formelhaft. Die Ode zeigt damit gewissermaßen das, was fehlt.

  58. 58.

    Friedrich Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 22), S. 36.

  59. 59.

    Zu den Kontexten von Schleiermachers theologischer Ästhetik vgl. Anne Käfer: „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels. Tübingen 2006.

  60. 60.

    Vgl. Vf.: Georg Heym: Versuch einer neuen Religion (1909). Mit einem Blick auf Hölderlin (Über Religion, Ältestes Systemprogramm). In: literatur für leser 18/3 (2021), S. 225–237.

  61. 61.

    Auch das Selbstgefühl braucht Erfahrung. Zum weiteren Zusammenhang dieses hier angedeuteten Problems grundlegend: Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a. M. 2002.

  62. 62.

    Manfred Frank: Hölderlin über den Mythos. In: Hölderlin-Jahrbuch 27 (1990/1991), S. 1–31, hier S. 16; der Aufsatz ist grundlegend für Hölderlins Religionsschrift.

  63. 63.

    Auf das ‚Religion-Machen‘ aus Verantwortungsbewusstsein für den Menschen selbst stelle ich besonders ab in: Vf.: Literatur und Religion (Anm. 2), Einleitung.

  64. 64.

    Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2004 (frz. 1998).

  65. 65.

    Vgl. Vf.: Romantische Mythopoesie, Georges Mythopoesie. Oder: Kann man Mythen machen? Zur Einführung. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion. Berlin/Boston 2015, S. 1–26.

  66. 66.

    Vgl. Dirk von Petersdorff: Moderne (Anm. 50).

  67. 67.

    Vgl. Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. Darmstadt 22009; ders.: Heimat Mensch. Was uns alle verbindet. Hamburg 2009.

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Braungart, W. (2024). Polymythie und Monomythie um 1800 – und welche Schlüsse man daraus vielleicht ziehen könnte: für Kunst, Kultur, Gesellschaft und Politik. In: Mandelartz, M., Weiß, D. (eds) Religionspolitik und politische Religion in Japan und Europa. Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, vol 8. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-68773-4_2

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