Aufgrund der Komplexität des Gegenstandsbereichs sowie der Interdisziplinarität des Forschungsfelds ist die Verbraucherinformatik von einem Theorie- und Methodenpluralismus geprägt. Daher sollen in diesem Kapitel verschiedene Konsumtheorien vor dem Hintergrund der Verbraucherwissenschaften diskutiert werden. Dabei beginnen wir mit markttheoretischen Betrachtungen, bei denen der Mensch als rationales Wesen gesehen wird und innerhalb von Angebot/Nachfrage agiert und wobei Konsum zur Befriedigung weitestgehend als gegeben betrachteter Bedürfnisse verstanden wird. Darauf aufbauend betrachten wir psychologische Ansätze, die sich stärker mit den Bedürfnissen und ihrer Befriedigung durch Konsum beschäftigen, wobei jedoch gesellschaftliche Aspekte weitgehend ausgeblendet werden. Zuletzt wenden wir uns daher den kulturwissenschaftlichen Ansätzen zu, bei denen Konsum durch gesellschaftliche Normen und Rollenbilder geprägt und die symbolische Bedeutung in den Vordergrund gestellt wird. Hier gehen wir vor allem auf die Praxistheorien ein, die innerhalb der Verbraucherinformatik stark rezipiert worden sind, da sie ein besonders umfassendes Bild des Verbraucher:innenverhaltens erlauben, wobei sowohl individuelles Handeln als auch gesellschaftliche Strukturen und Handlungsmuster berücksichtigt werden.

Je nach gewählter Theorie und Methodik bekommt der:die Forscher:in einen anderen Zugriff auf den Forschungsgegenstand. Jede Theorie und jede Methode heben jeweils bestimmte Aspekte hervor, während andere in den Hintergrund treten. Um den Leser:innen eine Orientierung zu geben, werden daher die verschiedenen theoretischen Ansätze vorgestellt und diskutiert. Dabei gehen wir bei jedem Ansatz sowohl darauf ein, welche Aspekte hervorgehoben werden, als auch darauf, welche Blindflecken durch die Wahl der Perspektive unvermeidlich erzeugt werden. Dies soll dazu beitragen, Verbraucher:innen und ihr Handeln aus verschiedenen theoretischen Linsen zu verstehen bzw. zu erklären. Ziel dieses Kapitels ist es, zentrale Konsumtheorien und ihre Anwendung im Bereich der Verbraucherinformatik vorzustellen und durch praktische Anwendungsbeispiele zu vertiefen. Dabei ist für unsere Betrachtung als Konsumtheorie insbesondere die Frage relevant, inwiefern die gewählten Theorien „Konsum“ konzipieren und erklärbar machen.

FormalPara Lernziele

Im Rahmen dieses Kapitels werden Ihnen folgende Inhalte vermittelt:

  • Sie haben einen Überblick über theoretische Ansätze aus verschiedenen Disziplinen, die Konsum und das Verhalten von Verbraucher:innen erklären, und lernen deren jeweilige Stärken und Schwächen kennen.

  • Sie sehen den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Konsumtheorien und ihre Anwendung in der Verbraucherinformatik.

2.1 Markttheoretische Ansätze

In der neoklassischen Wirtschaftstheorie spielen die Verbraucher:innen als Marktteilnehmende eine zentrale Rolle, indem sie Güter und Dienstleistungen erwerben, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen.

Der neoklassischen Sichtweise liegt das Modell des vollkommenen Marktes zugrunde, über den eine Reihe von Annahmen gemacht werden (siehe Tab. 2.1). Analog zum Dorfplatz werden den Kund:innen auf diesem idealen Marktplatz von einer Reihe von Händler:innen Waren angeboten. Der Austausch von Waren gegen Geld findet auf freiwilliger Basis und im Rahmen rechtskonformen Handelns statt. Alle Marktteilnehmenden verfügen dabei über eine Menge von Ressourcen (in Form von Geld oder Waren), die sie einsetzen können, um zu handeln. Der Markt funktioniert auf Basis von Angebot und Nachfrage. Wenn die Nachfrage nach einer bestimmten Ware steigt, steigt auch ihr Preis, da die Anbietenden mehr Geld für ihre Ware verlangen können. Wenn die Nachfrage sinkt, sinkt auch der Preis, da die Anbietenden gezwungen sind, ihre Waren zu niedrigeren Preisen anzubieten, um sie loszuwerden. Aufgrund der Vielfalt der Akteur:innen und der Waren, die auf dem Markt angeboten werden, entsteht ein dynamisches und komplexes System, das sich ständig verändert und weiterentwickelt. Die neoklassische Wirtschaftstheorie geht dabei davon aus, dass die beteiligten Marktakteur:innen dabei generell nach dem Wirtschaftlichkeitsprinzip bzw. dem Nutzungsmaximierungsprinzip handeln (Jung 2016): „Mittels minimalen Mitteleinsatzes soll ein vorgegebenes Ziel erreicht werden (Minimalprinzip) oder mit gegebenen Mitteln der größtmögliche Ertrag erreicht werden (Maximalprinzip).

Tab. 2.1 Voraussetzungen für das Vorliegen vollkommener Märkte und rational handelnder Marktakteure. (Piekenbrock und Hennig 2012; Pollert et al. 2016)

Die vollständige Markttransparenz umfasst nicht nur, dass sämtliche Informationen zu den relevanten Gütern, deren Preise und Verfügbarkeit bekannt sind. Die neoklassische Sichtweise geht ferner davon aus, dass die Verbraucher:innen rational handeln, ihnen ihre Präferenzstruktur (in Gestalt der Nutzenfunktion und der Optimierung des erreichbaren Nutzens) bewusst und diese in sich widerspruchsfrei ist (Berndt 2013).

Diese Vorstellung vom Menschen als rationalem Marktakteur wird auch als das Modell des Rational Choice bzw. Homo oeconomicus bezeichnet. Arnswald (2017) beschreibt ihn als Menschen, der ausschließlich rational denkt und nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten handelt. Er orientiert sich ausschließlich an seinen eigenen Interessen, kennt nur ökonomische Ziele und reagiert auf Beschränkungen, indem er uneingeschränkt rational handelt, um seinen Nutzen zu maximieren. Er hat feste Präferenzen und kennt sowohl alle verfügbaren Entscheidungsoptionen als auch alle relevanten Marktinformationen. Die Voraussetzungen für rational handelnde Marktakteure sind in Tab. 2.1 zusammengefasst.

Kritik

In den Verbraucherwissenschaften und der Konsumenten-Verhaltensforschung sind markttheoretische Ansätze vielfach kritisiert worden:

  • Reale Märkte sind durch Machtasymmetrien und Monopoltendenzen geprägt; so neigen z. B. digitale Märkte zur Ausbildung einiger großer Plattformen (siehe Kap. 3).

  • Die Vergleichbarkeit von Waren und Gütern ist meist nicht gegeben. Durch versteckte Produkteigenschaften, Pseudoinnovationen und komplexe Preisstrukturen ist für die Verbraucher:innen ein Vergleich der Angebote nicht möglich.

  • Bei der Beschaffung, Verarbeitung und Bewertung von Informationen fallen Kosten an, die Einfluss auf Konsumentscheidungen haben.

  • Verbraucher:innen handeln in den seltensten Fällen ausschließlich rational. Durch begrenzte kognitive Ressourcen zur Informationsverarbeitung und Verzerrung in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen kann es zu nicht-rationalen Entscheidungen kommen.

Insgesamt zeigt sich, dass das Modell des Homo oeconomicus die Lebenswirklichkeit von Verbraucher:innen nicht hinreichend abdeckt. Dennoch bietet es weiterhin eine wichtige Grundlage für eine Reihe theoretischer Modelle und Gestaltungskonzepte, da es eine mathematische Modellierung von Märkten und Marktverhalten der Teilnehmenden erlaubt. Des Weiteren bilden Annahmen zur Nutzungsmaximierung die Grundlage für normative bzw. rationale Entscheidungstheorien (s. u.), während Annahmen zur Markttransparenz und Marktvielfalt Eingang in Ansätze der Informationsökonomie und der Plattformökonomie gefunden haben. In ihrer Einfachheit helfen sie ferner in der Analyse von Konsumentenentscheidungen. So merken Eisenführ et al. (2010) an: „Nur wenn wir wissen, wie sich Verbraucher unter rationalen Gesichtspunkten verhalten sollten, können wir herausfinden, warum sie dies in bestimmten Situationen nicht tun.

Abweichungen vom Ideal vollkommener Märkte und rationaler Entscheidungen müssen aus Sicht der Verbraucherwissenschaften empirisch bestimmt werden, um z. B. hieraus Empfehlungen an die Verbraucherpolitik abzuleiten, sei es zum Schutz des Verbrauchers oder um ihn in die „richtige“ bzw. sozial erwünschte Richtung zu leiten (Kollmann 2012).

2.1.1 Rational Choice

Der Homo oeconomicus stellt für viele Konsumtheorien ein grundlegendes Denkmodell dar. So wurde die Vorstellung des rationalen Akteurs z. B. in der Mikroökonomie, aber auch in bestimmten Zweigen der Psychologie aufgegriffen, um Konsumentscheidungen zu erklären. Im Folgenden sollen einige dieser Spielarten solcher am Homo oeconomicus orientierten Konsumtheorien vorgestellt werden.

2.1.1.1 Nutzwertbasierte Ansätze

Nutzwertbasierte Ansätze fokussieren auf die Produkte bzw. Produkteigenschaften und dei Nutzwerte, die diese stiften. Diese Ansätze werden in der Mikroökonomie auch als Haushaltstheorie bezeichnet, da das nutzenmaximierende Verhalten die Budgetrestriktionen berücksichtigen muss: Ein- und Ausgaben müssen bei Entscheidungen jeweils gegeneinander abgewogen werden.

In der einfachsten Form wählen Verbraucher:innen beim Marktangebot diejenige Ware aus, die

  • innerhalb der Budgetrestriktionen liegt und die

  • relativ zu den anderen Waren und bezogen auf den Mitteleinsatz den höchsten Nutzen bzw. die höchste Gratifikation verspricht.

Dabei treten die Waren dem:der Verbraucher:in als geschlossene Einheiten gegenüber, die isoliert betrachtet werden. Die Zusammensetzung von Produkten und die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Konsumentscheidungen werden dabei in der Modellierung ausgeblendet.

Bei der Kosten-Nutzen-Analyse spielt in der Mikroökonomie der Begriff des Grenznutzens eine wichtige Rolle (Wölfle 2013). Der Grenznutzen ist dabei definiert als der zusätzliche Nutzen, den eine Person aus dem Konsum einer zusätzlichen Einheit eines Gutes erhält. Dem sind die Grenzkosten gegenübergestellt, definiert als die zusätzlich entstehenden Kosten, wenn eine zusätzliche Einheit eines Gutes gekauft bzw. konsumiert wird.

In der Mikroökonomie geht man davon aus, dass grundsätzlich der Grenznutzen mit zunehmender Konsummenge abnimmt. Das bedeutet, dass jede zusätzliche Einheit eines Gutes oder einer Dienstleistung weniger Nutzen oder Befriedigung stiftet als die vorherige. Dieses Phänomen wird als das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens (auch als erstes Gossensches Gesetz) bezeichnet.

Fallbeispiel: Grenznutzen des Internetkonsums

figure a

Sarah steht vor der Entscheidung, einen neuen Vertrag abzuschließen. Hierbei kann sie zwischen verschiedenen Tarifen wählen. Bei ihrer Entscheidung wägt sie dabei den Nutzen und die Kosten der verschiedenen Optionen miteinander ab.

Nutzen des mobilen Internets: Sarah verwendet das mobile Internet für verschiedene Zwecke, wie das Surfen im Web, das Senden von E-Mails, das Verfolgen von sozialen Medien und das Ansehen von Videos. Der Nutzen, den sie aus dem mobilen Internet zieht, variiert je nachdem, wie viel sie es verwendet.

Kosten des mobilen Internets: Sarahs aktueller Vertrag kostet 10 € pro Monat und beinhaltet 0,5 GB mobilen Internets (Option A). Sie kann optional entweder 2 GB zusätzlich für 10 € kaufen (Option B) oder ihren Tarif für 20 € um 10 GB erweitern (Option C).

Abwägung Grenznutzen und Kosten: Um ihre Entscheidung zu treffen, muss Sarah den Grenznutzen mit den Kosten vergleichen. Der Grenznutzen bezieht sich hierbei auf den zusätzlichen Nutzen oder die Zufriedenheit, die Sarah aus der Nutzung einer zusätzlichen Einheit mobilen Internets ziehen würde. So reicht Option A aus, um E-Mails zu verschicken, die Option B deckt zusätzlich ihren Bedarf der Soziale-Medien-Nutzung ab. Bei Option C kann sie ferner ab und zu noch Video streamen.

Wenn der Grenznutzen aus der Nutzung einer zusätzlichen Einheit mobilen Internets höher ist als die Kosten, dann sollte sie die zusätzliche Einheit erwerben. Wenn die Kosten höher sind als der Grenznutzen, sollte sie auf die zusätzliche Nutzung verzichten. Aufgrund dieser Abwägung entscheidet sie sich für Option B, weil der zusätzliche Nutzen gegenüber Option A die Mehrkosten übersteigt. Sie entscheidet sich aber gegen Option C, weil der zusätzliche Nutzen die Mehrkosten nicht rechtfertigt.

Selbstkontrolle:

Beim Festnetz-Internet handelt es sich in der Regel um Flat-Tarife mit unbegrenztem Datenvolumen, bei denen der:die Nutzer:in eine feste monatliche Gebühr zahlt und uneingeschränkten Zugang zum Internet erhält. Bei solchen Flat-Verträgen sind die Grenzkosten null.

  • Wie viel wird in diesen Fall vom „Gut“ Internet konsumiert? Berücksichtigen Sie hierbei das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens.

Eine Weiterentwicklung der nutzwertbasierten Ansätze stellt die Haushaltstheorie von Lancaster (1966) dar. Sie geht davon aus, dass Waren ein Bündel von Eigenschaften in sich vereinen. Der Gesamtnutzen für den:die Verbraucher:in setzt sich dabei aus der Summe der Teilnutzen zusammen. Ein Beispiel stellt die Verkehrsmittelwahl dar (Hensher 1994). Hierbei vereinigt ein Transportmittel verschiedene Eigenschaften, wie z. B. Reisezeit, Komfort, Flexibilität, Kosten etc. (Pakusch et al. 2018). Bei der Entscheidung muss der:die Verbraucher:in all diese Eigenschaften berücksichtigen und gewichten, um aus der Betrachtung der jeweiligen Teilnutzen das Verkehrsmittel zu wählen, das den höchsten Gesamtnutzen verspricht.

Die Haushaltstheorie geht ferner davon aus, dass einzelne Produkte nur die „Zutaten“ sind, die von Verbraucher:innen komponiert werden, um hieraus einen Mehrwert für sie zu schaffen. Berndt (2013) veranschaulicht dies am Beispiel von Lebensmitteln. Diese werden gekauft, um sie im Haushalt zur Herstellung von Speisen zu verwenden. Die so hergestellten Güter lassen sich wiederum mittels eines Bündels von Eigenschaften beschreiben (z. B. Kalorienzahl, Fett, Eiweißmenge, Geschmack). Ein anderes Beispiel ist der Kauf von Einrichtungsgegenständen, die erst durch die richtige Komposition und die richtige Anordnung im Raum ein stimmiges Bild und damit einen Gesamtnutzen stiften.

Die sogenannten Random-Utility-Modelle (RUM) sind eine Familie von Theorien, welche die Haushaltstheorie weiterentwickeln (Baltas und Doyle 2001). Wie bei der Haushaltstheorie wird davon ausgegangen, dass der wahrgenommene Gesamtnutzen U (Utility) sich aus den Teilnutzen der Eigenschaften des Gutes zusammensetzt. RUM versuchen aber den empirisch auftretenden Zufälligkeiten Rechnung zu tragen (Baltas und Doyle 2001), indem ein weiterer zufallsverteilter Störfaktor angenommen wird, der sich z. B. aus Messungenauigkeiten, nicht beobachteten Einflüssen, Präferenzschwankungen etc. ergibt. Einzelne Konsumentscheidungen stellen deshalb in den Random-Utility-Modellen einen stochastischen, d. h. durch Zufall bestimmten, Prozess dar: Wenn ein:e Verbraucher:in zwei Biersorten in allen relevanten Eigenschaften als gleich empfindet, wird sie beide Biersorten im Mittel gleich häufig kaufen. Andersherum lässt sich nur mit 50 % Wahrscheinlichkeit voraussagen, welche Biersorte sie beim nächsten Mal einkaufen wird.

Random-Utility-Modelle: diskrete Konsumentscheidungen als Zufallsereignis

Sei I Anzahl der Verbrauchenden, J Anzahl der Alternativen. Sei Vij die „wahre“ Nützlichkeit der Alternative j für den:die Verbraucher:in i und εij die Zufallskomponente.

Die empirische Nützlichkeit ergibt sich dann aus der wahren Nützlichkeit plus Zufallskomponente:

$$ {U}_{ij}={V}_{ij}+{\varepsilon}_{ij}\ \left(\mathbf{systematischer}\ \mathbf{Nutzen}\ \mathbf{plus}\ \mathbf{zuf}\ddot{a}\mathbf{lligem}\ \mathbf{Anteil}\right) $$

Der:Die Verbraucher:in i wird dann die Alternative j wählen, wenn sie gegenüber den anderen Alternativen die höchste Nützlichkeit hat (relativer Vorteil). Bei Alternativen j bzw. j’, deren „wahre“ Nützlichkeit VijVij sehr ähnlich ist, wird die Auswahl dagegen durch die Zufallskomponente εij bestimmt.

Der Zufall wird dabei meist so definiert, dass nicht weiter über den Grund der Varianz in den Daten spekuliert wird (Train 2009). Man spricht hier auch von ontologischer Indifferenz, weil keinerlei Aussagen über die Existenz oder die Art der Realität der Zufallskomponente gemacht werden. Die RU-Modelle klammern also die Frage aus, ob Verbraucher:innen bei jedem Einkauf würfeln, im psychologischen Wahrnehmungsprozess zufällige Effekte auftreten oder bei der Modellierung bzw. Messung bestimmte Umweltbedingungen nicht berücksichtigt werden, die dann als „unerklärte“ Varianz in empirischen Studien auftreten. Damit sind Random-Utility-Modelle keine psychologischen Theorien, sondern ökonomisch motivierte Modellierungsansätze, um das empirisch beobachte Konsumverhalten zu beschreiben, zu messen und vorherzusagen. Die einzelnen RU-Modelle unterscheiden sich darin, welche Annahmen z. B. über die Verteilung der Zufallskomponente und die Homogenität der Verbraucher:innen und ihrer Präferenzstruktur getroffen werden.

Eine praktische Anwendung der Random-Utility-Modelle sind Conjoint-Analysen (Baier und Brusch 2009). Sie werden verwendet, um die Präferenzen der Verbraucher:innen für bestimmte Produkte oder Dienstleistungen zu messen. Dabei werden den Befragten verschiedene Kombinationen von Produktprofilen präsentiert, aus denen sie eine präferierte Kombination auswählen sollen. Aus den Entscheidungen der Befragten kann dann der Teilnutzen der einzelnen Produktattribute geschätzt werden.

2.1.1.2 Erwartungsbasierte Ansätze

Erwartungsbasierte Ansätze gehen von den individuellen Subjekten und den Nutzwerten aus, den sie ihren Kaufentscheidungen zuschreiben. Im Folgenden werden verschiedene Varianten der erwartungsbasierten Ansätze vorgestellt.

Das VIE-Modell (Valenz-Instrumentalität-Erwartung) geht z. B. davon aus, dass Verbraucher:innen bei Kaufentscheidungen die Kosten und den Nutzen dieser Entscheidung abwägen (Kauffeld 2014). Die sogenannte Valenz (bzw. Wertigkeit) bezieht sich dabei auf die subjektive Bedeutung, die den Bedürfnissen und ihrer Befriedigung zugeschrieben wird. Instrumentalität bezieht sich darauf, dass die Kaufentscheidung als ein Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse gesehen wird. Die Erwartung bezieht sich abschließend auf die subjektiv wahrgenommene Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidung zu einem positiven Ergebnis führt. Nach der VIE-Theorie handeln Menschen in dem Sinne rational, in dem sie die Entscheidungen treffen, die den höchsten erwarteten Gewinn erzielen. Nach dem VIE-Modell kann der Kauf eines neuen Smartphones z. B. durch die Erwartung motiviert sein, ein stylisches Produkt zu erwerben, deren Besitz ihr soziales Prestige erhöhen wird.

Ähnliche Annahmen über die Bedeutung eines wahrgenommenen bzw. tatsächlichen Ertrags einer Handlungsentscheidung liegen auch der verhaltenspsychologischen Handlungstheorie überlegten Handelns (Theory of Reasoned Action bzw. TRA) und deren Weiterentwicklung zur Theorie des geplanten Handelns (Theory of Planned Behavior bzw. TPB) zugrunde (Fishbein und Ajzen 1975; Ajzen 2005).

Der Grundgedanke hier ist, dass Akteur:innen ihr Konsumverhalten auf Basis von Kosten-Nutzen-Abwägungen planen. Während bei dem:der rationalen Marktakteur:in die Bedürfnisse als gegeben angenommen werden, gehen verhaltenspsychologische Ansätze stärker auf die psychologischen Aspekte der Kosten-Nutzen-Abwägungen bei Entscheidungen ein. Analog zur Erwartungstheorie betrachtet die TRA bzw. TPB nicht den objektiven Mehrwert, sondern den subjektiv wahrgenommenen Ertrag einer Handlungsentscheidung.

Die Wahrnehmung und Bewertung einer Entscheidungssituation speist sich im Sinne dieser Theorien aus drei Überzeugungsbereichen (vgl. Abb. 2.1):

  1. 1)

    Verhaltensüberzeugungen beeinflussen die Abschätzung der subjektiv wahrgenommenen positiven und negativen Folgen einer anstehenden Entscheidung. Resultiert hieraus ein positiver Gesamtnutzen, ist man der Entscheidung gegenüber positiv eingestellt. Analog zur Haushaltstheorie wird hier von einem summativen Modell ausgegangen, bei dem die Einstellung zum Verhalten auf der Gesamtheit der einzelnen Verhaltensüberzeugungen basiert (Graf 2007).

  2. 2)

    Normative Überzeugungen speisen sich aus dem jeweiligen Umfeld (z. B. Familie, Freund:innen, Arbeitskolleg:innen etc.) und den dort herrschenden Normen und Regeln für angemessenes Verhalten. Steht die Entscheidung im Einklang mit diesen Normen, wird sie verstärkt, ansonsten wird sie gehemmt. Dabei wird die Wirkung noch dadurch gewichtet, wie stark man sich selbst der Gruppe zugehörig fühlt, in der diese Norm vorherrscht.

  3. 3)

    Kontrollüberzeugungen beziehen sich auf die Wahrnehmung von Faktoren, welche die Durchführung einer Handlung befördern oder behindern können. Bei der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle werden Entscheidungen danach bewertet, inwieweit man das fragliche Verhalten auch tatsächlich erfolgreich durchführen kann; als unrealistisch wahrgenommene Entscheidungsoptionen werden dagegen verworfen.

Abb. 2.1
figure 1

Theorie des geplanten Verhaltens

Aus der Gesamtbetrachtung dieser drei Überzeugungsbereiche resultiert eine positive oder negative Verhaltensabsicht. Je stärker die resultierende Verhaltensabsicht ist, desto größer werden demnach die Anstrengungen, die Handlung auch auszuführen. Die Verhaltensabsicht stellt deshalb den wichtigsten Prädiktor (Vorhersageparameter) für die Ausführung einer Handlung dar (Graf 2007). Eine Handlung kann jedoch gehemmt bzw. verhindert werden, wenn man keine aktuelle Verhaltenskontrolle über sie besitzt (z. B. kann die Absicht, Müll zu trennen, im Urlaub dadurch gehemmt werden, dass im Hotel keine Vorrichtung dafür existiert).

Ein prominentes Beispiel in der Wirtschafts- und Verbraucherinformatik stellt das Technologieakzeptanzmodell (TAM) nach Davis (1987) dar. Nach dieser Theorie haben zwei Hauptfaktoren einen Einfluss auf die Intention, ein Produkt zu nutzen (Behavioral Intention to Use): die wahrgenommene Nützlichkeit (Perceived Usefulness) und die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (Perceived Ease of Use).

Fallbeispiel: Technikakzeptanz

Jane liest sich den Testbericht im FinanzMagazin über verschiedene Steuerprogramme durch. Der Test lobt das Programm TaxMake, mit dem sich die höchste Steuerersparnis erzielen lässt. Jane probiert das Programm aus, kommt aber nicht damit zurecht.

Deshalb entscheidet sie sich für EasyTax, das im Bericht für die einfache Bedienung gelobt wird.

Selbstkontrolle:

Erklären Sie Janes Verhalten mithilfe des VIE-Modells, der Theorie des geplanten Handelns und der TAM-Theorie.

Abschließend lässt sich festhalten, dass es einen engen Bezug zwischen der Technikakzeptanztheorie und dem VIE-Modell gibt. Die wahrgenommene Nützlichkeit bei TAM kann als Valenzfaktor des VIE-Modells betrachtet werden, da sie Auskunft darüber gibt, wie wichtig eine Person die Nutzung der Technologie für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse und Ziele einschätzt. Die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit kann als Erwartungsfaktor des VIE-Modells betrachtet werden, da sie Auskunft darüber gibt, wie sicher und zuversichtlich eine Person ist, dass sie die Technologie nutzen kann. Die Nutzungsintention kann mit der Instrumentalität des VIE-Modells in Verbindung gebracht werden, da die Nutzung des Produkts als ein Instrument zur Zielerreichung betrachtet wird.

2.1.1.3 Verhaltensökonomische Ansätze

Verhaltensökonomische Ansätze stellen eine Weiterentwicklung des neoklassischen Rational-Choice-Modells dar, welche die Existenz vollkommener Märkte voraussetzt (vgl. Abschn. 2.1) Bei diesem Rational-Choice-Modell handelt es sich um einen präskriptiven Ansatz, weil er beschreibt, wie Menschen rational entscheiden sollten. Demgegenüber versteht sich Verhaltensökonomie als eine deskriptive Entscheidungstheorie, da sie beschreibt, wie Menschen Entscheidungen in Experimenten faktisch treffen (Hoffmann und Akbar 2019). In diesen Experimenten zeigen sich systematische Abweichungen vom Idealmodell der rationalen Entscheidung. Die Verhaltensökonomie erklärt diese Abweichungen damit, dass Verbraucher:innen aufgrund von begrenzter Rationalität, begrenzter Willenskraft und begrenztem Wissen keine optimalen, nutzenmaximierenden Entscheidungen treffen können.

In vielen Fällen haben Verbraucher:innen nicht genügend Zeit oder Informationen, um alle verfügbaren Optionen umfassend zu bewerten. Stattdessen spielen Gewohnheiten, kognitive Verzerrungen sowie die Gestaltung der Entscheidungssituation eine wichtige Rolle. Hierbei werden häufig Faustregeln bzw. Abkürzungen herangezogen, die als so genannte „Heuristiken“ als Grundlage für Entscheidungsprozesse dienen. Einige der untersuchten Heuristiken sind (Hoffmann und Akbar 2019):

  • Verlustaversion: Mögliche Verluste werden tendenziell stärker gewichtet als mögliche Gewinne, so dass Risiken überbewertet werden.

  • Bestätigungsfehler: Informationen, die bestehende Überzeugungen oder Annahmen bestätigen, werden tendenziell stärker wahrgenommen bzw. eher geglaubt.

  • Framing-Effekt: Entscheidungen werden tendenziell durch die Art und Weise beeinflusst, wie Informationen präsentiert werden (und nicht nur durch deren Inhalt).

  • Repräsentativitätsheuristik: Neue Situationen werden tendenziell aufgrund bestehender Interpretationsschemata bzw. ihrer Ähnlichkeit zu bestehenden Stereotypen gedeutet und beurteilt.

Heuristiken garantieren Konsument:innen nicht immer das optimale Ergebnis, sie stellen jedoch eine einfache Möglichkeit dar, um die Komplexität von Entscheidungssituationen zu reduzieren und so bei effizientem Ressourceneinsatz tragbarere Entscheidungen zu treffen (Hoffmann und Akbar 2019).

Sie können aber von Marktakteuren auch gezielt ausgenutzt werden. In der Verhaltensökonomie wird hierbei auch häufig von der Gestaltung von Entscheidungsarchitekturen gesprochen. Unter einer Entscheidungsarchitektur versteht man die äußeren Bedingungen, die Einfluss auf die Entscheidung von Personen haben. Eine wesentliche Gestaltungsstrategie ist dabei das sogenannte Nudging. Thaler und Sunstein (2009) verstehen darunter „alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern“.Footnote 1

In der Verbraucher- und Wirtschaftsinformatik wurde das Konzept unter dem Begriff des digitalen Nudging (Weinmann et al. 2016) übernommen. Ähnliche Konzepte findet man auch bei Ansätzen zum Persuasive Design, das darauf zielt, Nutzer:innen zu einem bestimmten Verhalten zu motivieren (z. B. als EcoFeedback zur Reduktion von CO2-Emissionen durch Visualisierung der Einsparungen und deren Effekten in einer App).

Die gesellschaftliche Akzeptanz von Nudging und Persuasive Design hängt dabei stark von den verfolgten Zielen ab. Während in den Bereichen Nachhaltigkeit und Gesundheitsvorsorge Nudging als legitime Designstrategie angesehen wird, wird die Anwendung im Bereich Nutzereinwilligungen und Marketing eher als kritisch eingestuft. So steht dort der Vorwurf im Raum, die Verbraucher:innen sollten zu einem Verhalten motiviert werden, das nicht ihren eigentlichen Interessen entspricht (s. a. „Dark Patterns“, Kap. 4).

2.1.2 Informationsökonomik

Gegenüber anderen Produkten zeichnen sich digitale Systeme dadurch aus, dass sie schnell große Mengen von Daten bzw. Informationen transportieren, speichern, verarbeiten und darstellen können. Sie adressieren damit ein wichtiges Axiom der Theorie vollkommener Märkte, nämlich das Vorliegen vollständiger Marktinformation.

Die Forschung zu diesem Axiom hat zur Ausbildung eines weiteren Zweigs von Konsumtheorien geführt, die der Annahme Rechnung tragen, dass Kaufentscheidungen in der Regel unter unvollständiger Information getroffen werden müssen. Insbesondere hat man in der neoklassischen Wirtschaftstheorie nur die Preise der Waren berücksichtigt, die Informationskosten demgegenüber aber vernachlässigt.

Dass Informationen einen Wert und einen Preis haben und somit ein eigenes ökonomisches Gut darstellen, wird in den informationsökonomischen Ansätzen aufgegriffen (Stigler 1961; Nelson 1970; Schoenheit 2004; Adler 2013). Aus dieser Perspektive untersucht Informationsökonomik die monetären, zeitlichen und mentalen Kosten, die bei der Beschaffung, Verarbeitung und Nutzung von Informationen entstehen. Diese hängen auch von der Art des Produkts ab. So kann man bei Produkten und Produkteigenschaften unterscheiden, ob die Informationen dazu bereits vor dem Kauf vorliegen (z. B. Aussehen eines frischen Lebensmittels), erst durch Erfahrung nach dem Kauf gewonnen werden (z. B. Geschmack eines Lebensmittels) (Berkholz, Esau-Held, und Stevens 2022) oder ob man auf die Herstellerangaben vertrauen muss (z. B. Nachhaltigkeit eines Lebensmittels). Nelson (1970) illustriert das Informationsproblem dabei wie folgt:

„Das Informationsproblem besteht darin, die Nützlichkeit jeder Kaufentscheidung zu überprüfen. Wir definieren die Suche [nach Informationen] so, dass sie jede Art dieser Überprüfung einschließt und dabei zwei Einschränkungen unterliegt: (1) Konsument:innen müssen die verfügbaren Optionen prüfen, und (2) diese Überprüfung muss vor dem Kauf der Güter stattfinden. Verbraucher:innen können sowohl nach Menge als auch nach Preis suchen. […] Aber es wird Güter geben, für die diese Suche nicht angemessen ist – bestimmte Güter können erst durch den Kauf bewertet werden. […] Um Marken von Dosentunfisch zu prüfen, würden Verbraucher:innen diese mit Sicherheit zum Verzehr kaufen. […] Wir nennen diesen Informationsprozess ‚Erfahrung‘“. (Nelson 1970), Übers. durch Verfasser)

Die Informationsökonomik weist insbesondere darauf hin, dass im Gegensatz zum idealen Markt in der Realität ungleiche Macht- und Informationsverteilungen zwischen Marktteilnehmern vorliegen. Meist hat der Anbieter hinsichtlich seiner Waren einen Informationsvorsprung gegenüber dem Nachfrager (Akerlof 1970). So weiß ein:e Autoverkäufer:in in der Regel besser über versteckte Schäden, Zustand der Verschleißteile, Vorgeschichte des Autos etc. Bescheid als der:die Käufer:in. Dieser Wissensvorsprung fördert opportunistisches Verhalten, bei der die besser informierten Partner:innen unvollständige oder irreführende Falschinformationen sowie die Unwissenheit des anderen zu ihrem eigenen Vorteil nutzen können (Darby und Karni 1973).

Verbraucher:innen sind aufgrund von Asymmetrien in einer schwächeren Position, woraus sich auch ein besonderer Schutzbedarf ableitet, der seinen Niederschlag z. B. in diversen Verbraucherschutzgesetzen und -verordnungen findet. Um der genannten Informationsasymmetrie entgegenzuwirken, sollten sich Verbraucher:innen vor Vertragsabschluss umfassend über die Leistung und die Vertragsbedingungen informieren. Dies erhöht jedoch die Kosten für die Informationsbeschaffung (sog. Transaktionskosten), da diese mit Aufwand verbunden ist (Williamson 2005).

Die neuere Informationsökonomik betont dabei, dass nicht nur die Kosten der Informationsverarbeitung eine Rolle spielen, sondern auch verhaltensökonomische Erkenntnisse zu berücksichtigen sind. Diese zeigen nämlich, dass Menschen nur begrenzt in der Lage sind, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und rational zu bewerten (Tversky und Kahneman 1981).

Aus Sicht der Informationsökonomik leistet die Digitalisierung einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung von Marktbedingungen, die dem in Abschn. 2.1 beschriebenen Ideal der vollkommenen Märkte näherkommen.

Dem lässt sich entgegenhalten, dass eine reine Zunahme von Markt- und Informationsangeboten nicht automatisch dazu führt, dass Verbraucher:innen besser informiert sind (Strünck 2011). So gilt es zum einen, bei der Aufbereitung von Informationen die kognitiven Fähigkeiten von Verbraucher:innen zu berücksichtigen (Hagen 2010). Zum anderen muss sichergestellt werden, dass Empfehlungssysteme fair, transparent und neutral sind (Dautzenberg et al. 2016). Des Weiteren hat die Forschung zur Internet-Ökonomie (Clement und Schreiber 2016) gezeigt, dass es neben den in Tab. 2.2 aufgelisteten Kräften, auch Gegenkräfte gibt, die zu neuen Marktkonzentrationen und Marktbarrieren führen (siehe auch Kap. 3).

Tab. 2.2 Einfluss der Digitalisierung auf Markt- und Wettbewerbskräfte (vgl. Laudon et al. 2010)

2.2 Psychologische Ansätze

Einige der in Abschn. 2.1 behandelten Theorien ließen sich durchaus auch in der Psychologie verorten (wie z. B. die Theorie des geplanten Handels oder die Verhaltensökonomien). Wir haben sie jedoch unter markttheoretischen Theorien gefasst, weil es auch bei diesen Theorien darum geht, das Marktverhalten von Verbraucher:innen zu erklären, wobei der Homo oeconomicus als Referenzmodell dient.

Im Folgenden werden Konsumtheorien vorgestellt, die sich mit dem Wesen der Verbraucher:innen selbst befassen. Das Modell des Homo psychologicus geht dabei vom Menschen als psychologischem Wesen aus. Im Zentrum stehen dabei das menschliche Verhalten, das Erleben und die kognitiven Prozesse.

2.2.1 Stimulus-Response-Modelle

Ein früher Ansatz in der Psychologie war es, menschliches Verhalten als Reaktion auf äußere Umweltreize zu verstehen. In den Anfängen wurde Verhalten als einfache Reizreaktion bzw. als Stimulus-Response(SR)-Schema modelliert, bei dem Verbraucher:innen gleichsam wie ein Tier auf Anreize reagieren, die von außen geboten werden (Hellmann 2017; Meffert et al. 2018). Die mechanistische Sicht ist stark vom Behaviorismus beeinflusst, der das Verhalten von Menschen und Tieren aufgrund von beobachtbaren Korrelationen zwischen Reizen (Stimuli) und Reaktionen (Response) zu erklären versucht (Meffert et al. 2018). Diese einfachen Stimulus-Response-Modelle (SR-Modelle) wurden zu erweiterten Stimulus-Organism-Response-Modellen (SOR-Modelle) weiterentwickelt, um die Varianz des beobachteten Verhaltens und die Eigeninitiative von Verbraucher:innen besser erklären (Meffert et al. 2018) und die inneren Prozesse besser einbeziehen zu können. So reagieren verschiedene Menschen unterschiedlich auf verschiedene Reize, was im klassischen Behaviorismus ausgeblendet wird.

Ziel der SOR-Modelle ist es, die psychisch-kognitiven Prozesse, die bei Kaufentscheidungen zwischen Reiz und Reaktion wirksam werden, im Detail zu rekonstruieren (Rennhak und Opresnik 2016). Die Hinwendung zu internen Verarbeitungsprozessen ist dabei stark vom Kognitivismus bzw. von der Kognitionspsychologie beeinflusst, die sich mit der Untersuchung der kognitiven Prozesse des menschlichen Geistes und der intelligenten Systeme befasst und den klassischen Behaviorismus in der Psychologie weitestgehend abgelöst hat.

Im Gegensatz zum klassischen Behaviorismus wird stärker betont, dass der Mensch ein Individuum ist, das nicht mechanisch durch Reize fremdgesteuert wird, sondern selbstständig Reize der Umgebung kognitiv verarbeitet und entsprechend individuell reagiert.

Das Marshmallow-Experiment (Pfister et al. 2016)

Das Experiment wurde in den späten 1960er-Jahren von dem Psychologen Walter Mischel durchgeführt, um die Selbstkontrolle von Kindern zu untersuchen.

In dem Experiment wurde jedes Kind allein in einem Raum mit einem Marshmallow gelassen. Dabei wurde den Kindern gesagt, dass sie entweder das Marshmallow sofort essen oder warten könnten, bis der Versuchsleiter zurückkehrt. Falls sie es schaffen würden zu warten, würden sie zwei Marshmallows bekommen.

Da das Marshmallow direkt vor ihnen lag, schafften viele Kinder es nicht zu warten, sondern aßen es unmittelbar. Andere dagegen schafften es durchzuhalten und bekamen das zweite Marshmallow.

Selbstkontrolle:

  • Erklären Sie das Experiment sowohl aus Sicht der Rational-Choice-Theorien als aus Sicht der Stimulus-Response-Theorien.

  • Wie würden Sie sich als rationale:r Verbraucher:in bei dem Experiment verhalten?

Die SOR-Theorie ist weithin verwendet worden, um das Verbraucherverhalten zu verstehen (Meffert et al. 2018). In der Forschung wurden dabei unterschiedliche Reize und Reaktionen sowie auch unterschiedliche interne Faktoren untersucht. So können Reize z. B. von kommerziell angebotenen Waren, Produkten oder Dienstleistungen auf dem Markt ausgehen (vgl. Marshmallow-Experiment), auch von der sozialen Umgebung wie der Familie oder Freund:innen oder auch anderen Umweltfaktoren, wie z. B. der Architektur und Raumgestaltung von Märkten (Hill 1972). Die messbare Reaktion kann z. B. die resultierende Kaufentscheidung, die Preisgabe von Informationen oder die Nutzung von Geräten und Systemen sein.

Es lassen sich auch eine Reihe von internen Faktoren berücksichtigen, die Einfluss auf das Verhalten haben, wie Einstellungen, Erwartungen, Persönlichkeitsmerkmale und Ähnliches. Hieraus ergeben sich Bezüge zur Theorie des geplanten Verhaltens. Während aber die Theorie des geplanten Verhaltens den Eigenantrieb und die Motivation des Menschen als Ursache menschlichen Verhalten betont, hebt das Stimulus-Response-Modell die Bedeutung von Umweltreizen hervor.

Aktuelle Weitereinwicklungen des SOR-Ansatzes findet man beispielsweise im Neuromarketing, bei dem neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden herangezogen werden, um die biologisch-neurologisch geprägten Verarbeitungsprozesse bei Kaufentscheidungen besser zu verstehen (Kenning et al. 2014; Meffert et al. 2018)

2.2.2 Arbeits- und Erlebnistheorien

Die digitalen Systeme zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie Information verarbeiten, sondern auch dadurch, dass sie interaktiv sind. Computersysteme werden im klassischen Sinne nicht verbraucht, sondern gebraucht. Dabei wird der Gestaltung der Bedienschnittschelle zur Mensch-Computer-Interaktion eine besondere Bedeutung beigemessen (s. Kap. 6). Hierbei fungiert der Computer als Werkzeug, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Psychologische Theorien, die diesen Werkzeugcharakter von Software berücksichtigen, entstammen meist der Arbeitspsychologie (Hacker und Sachse 2023; Helander 2014).

Handlungsregulationstheorie

Die Handlungsregulationstheorie (Hacker und Sachse 2023) begreift zielgerichtetes Handeln als einen Regelkreis. Der Theorie zufolge regulieren die Nutzer:innen ihre Handlung so, dass sie zunächst die erforderlichen Schritte zur Zielerreichung planen, diese dann umsetzen und dabei den Verwirklichungsvorgang ständig kontrollieren, um ggf. die Schritte bzw. deren Umsetzung anzupassen. Das Werkzeug sollte diesen Regelkreis aus Planung, Umsetzung, Kontrolle optimal unterstützen, sodass die Nutzer:innen ihr Ziel effektiv und effizient erreichen. Schlechte Gestaltung zeigt sich darin, dass den Nutzer:innen unklar ist, welche Schritte sie ihrem Ziel näherbringen, bzw. dass sie nicht kontrollieren können, ob die Schritte den erwünschten Erfolg hatten. Dies kann auch als die Kluft der Ausführung (Gulf of Execution) bzw. Kluft der Kontrolle (Gulf of Evaluation) beschrieben werden (siehe Abb. 2.2). Die Gestaltung von Bedienschnittstellen sollte die Kluft der Ausführung und der Kontrolle verringern. Der Designer Norman (1986, 2013) spricht hier auch davon, dass gutes Design Brücken baut, um die Kluft zu überwinden.

Abb. 2.2
figure 2

Verhalten als Regulation von Handlungen zur Erreichung vorgegebener Ziele

Design ist schlecht, wenn es schlecht zu nutzen ist

Norman (2013) hat seine Theorie am Beispiel schlecht gestalteter Türen illustriert, die zu Frustration, Verwirrung und sogar Unfällen führen können. Beispiele für schlechte Gestaltung sind:

  • Türen ohne klare Kennzeichnung, ob sie zum Ziehen oder Drücken gedacht sind.

  • Türen mit unklarer Anordnung von Griffen oder Türklinken, wodurch nicht klar ist, welcher zum Öffnen oder Schließen verwendet werden sollte.

  • Türen mit versteckten Scharnieren oder anderen Mechanismen (z. B. Schiebetüren), deren Funktionsweise nicht ersichtlich ist.

Selbstkontrolle:

figure b

Analysieren Sie die Gestaltung der Tür aus Sicht der Handlungsregulationstheorie. Wie könnte die Tür besser gestaltet werden?

Ein weiterer wichtiger Punkt der Arbeitspsychologie ist, dass die Gestaltung des Werkzeugs nicht isoliert betrachtet wird, sondern dass es eigentlich um die Gestaltung der Arbeit geht, in der das Werkzeug genutzt wird. Die Gestaltung muss deshalb nicht nur den Nutzer mit seinen Motiven, Präferenzen und Kompetenzen im Blick haben, sondern genauso die Analyse des Arbeitskontexts: In welchen Umgebungen wird die Arbeit erledigt? In welche Prozesse ist die Arbeit eingebunden? Wie sieht die Zusammenarbeit mit anderen aus?

Die Arbeitspsychologie betont zudem, dass Arbeit nicht allein dem Lohnerwerb dient, sondern sinnstiftend ist bzw. sein sollte (Hacker und Sachse 2023). Deshalb gilt es, die Leitprinzipien der humanen Arbeitsplatzgestaltung zu berücksichtigen (Hamborg et al. 2007). So sollten Arbeitsaufgaben ganzheitlich sein, genügend Spielraum bieten, die Persönlichkeit und Autonomie fördern sowie Über- und Unterforderung, Monotonie und Stress vermeiden. Diese Leitprinzipien sind unter anderen auch in die Normvorgaben für gute Gebrauchstauglichkeit (ISO 9241 Teil 10) eingegangen (Hamborg et al. 2007).

Positives Nutzungserlebnis

Computer sind heute nicht allein Werkzeuge, um Ziele effektiv und effizient zu erreichen. Die Dinge des Lebens sollen auch zum Wohlbefinden beitragen. Dabei geht es nicht immer um den Nutzen, den Dinge stiften, sondern um die Erlebnisse, die man mit ihnen hat.

Diese Perspektive findet man in der Marktforschung schon länger unter dem Begriff des hedonischen Konsums, bei dem Produkte nicht als objektive Dinge, sondern vielmehr als subjektive Symbole betrachtet werden (Hirschman und Holbrook 1982). Die hedonische Dimension erfasst dabei die immateriellen und subjektiven Produkteigenschaften, die auf den emotionalen und fantasievollen Erfahrungen und Erlebnissen mit dem Produkt beruhen (Diefenbach und Hassenzahl 2017).

Für die Analyse und Gestaltung positiver Nutzungserlebnisse sind dabei Erlebnisse, Wohlbefinden und Bedürfnisse als theoretische Konstrukte von besonderer Relevanz.

2.2.2.1 Erlebnisse

Erlebnisse sind theoretisch schwer zu fassen, da sie sich gegenüber Produkteigenschaften durch ihren flüchtigen, präkognitiven und verkörperten Charakter auszeichnen (Schroer und Schmitt 2017). Sobald wir über ein Erlebnis nachdenken und es sprachlich zu repräsentieren versuchen, verändert dies bereits die Wahrnehmung desselben. Ein bekanntes Beispiel ist das sogenannte Flow-Erlebnis (Csikszentmilhalyi 1982), das auftritt, wenn die Fähigkeiten einer Person mit deren Aktivität/Aufgabe in perfektem Einklang sind. So kann man als Leser:in eines spannenden Romans ganz in diesem Erlebnis versinken; wenn der Text jedoch zu kompliziert oder zu banal geschrieben ist, wird dieser Zustand gestört und verschwindet. Das Erlebnis von Flow kann zu erhöhtem Wohlbefinden führen und wird meist als angenehm, erfüllend und befriedigend beschrieben. Diefenbach und Hassenzahl (2017) sprechen auch davon, dass Erlebnisse quasi konsumiert werden und daraus Wohlbefinden entsteht. Umgekehrt könnte man sagen: „Wenn sich im Konsum kein Erlebnis einstellt, dann entsteht kein Wohlbefinden.

Erlebnisse sind in ihrer Unmittelbarkeit prinzipiell nicht direkt erfassbar, sondern können nur introspektiv reflektiert und artikuliert werden: Im Handeln bilden Gefühle und Erleben eine Einheit. Erst in der bewussten Reflexion lassen sich die Emotionen vom Inhalt des Erlebten trennen. Unser Wissen über ein Erlebnis beruht jedoch immer auf unseren Erinnerungen (Rheinberg et al. 2003). Die Beschreibung des Flow-Erlebnisses ist jedoch etwas anderes, als ein Flow-Erlebnis zu haben.

Für die Konsumforschung sind beide Aspekte wichtig, weshalb verschiedene Methoden entwickelt wurden, um möglichst unmittelbar sowohl die mit einem Erlebnis verbundenen Emotionen (z. B. positives bzw. negatives Nutzungserlebnis) als auch den Inhalt des Erlebten (z. B. ob man gerade joggt, am Computer spielt oder Hausarbeit macht) zu erfassen. Hierbei spielen auch sogenannte Erlebnis-Prototypen eine wichtige Rolle, um ein Erlebnis auch körperlich in seiner Flüchtigkeit zu erzeugen und zu empfinden bzw. nachzuempfinden (Buchenau und Suri 2000).

Erfasse den Augenblick

Erlebnisse sind nicht nur passive Empfindungen oder Wahrnehmungen, sondern aktive Handlungen, die dem Erlebten eine Bedeutung geben. Der Erlebnisstrom ist dabei ein immerwährender Prozess, der aus Handlungen, Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken besteht, die miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen.

Durch die Reflexion werden Erlebnisse zu Erfahrungen, die artikuliert und miteinander geteilt werden können.

Selbstkontrolle:

  • Während Sie diese Zeilen lesen, reflektieren Sie kurz und versuchen Sie, möglichst genau zu beschreiben, was Sie gerade denken und fühlen. Wie verändert sich das Erlebnis dadurch, dass Sie es auszudrücken/messbar zu machen versuchen?

2.2.2.2 Wohlbefinden

Weitere zentrale Begriffe im Zusammenhang mit positiven Nutzungserlebnissen sind Wohlbefinden und Glück, wie sie z. B. in der Glücksforschung bzw. in der Positiven Psychologie (Seligman und Csikszentmihalyi 2000) untersucht werden. Im Gegensatz zur traditionellen Psychologie, die sich oft auf psychische Krankheiten und Störungen konzentriert, untersucht diese Strömung menschliches Wohlbefinden, positive Emotionen, positive Beziehungen und Flow-Erleben. Analog untersucht die Glücksforschung die subjektive Erfahrung von Glück sowie die Faktoren, die das Glück beeinflussen, und die Auswirkungen, die Glück auf das Leben der Menschen hat.

Im Produktdesign wurde diese Sicht z. B. in Gestaltungsansätzen wie Positives Design (Desmet und Pohlmeyer 2013) oder Wohlbefinden-orientierte Gestaltung (Diefenbach und Hassenzahl 2017; Burmester et al. 2015) aufgegriffen, deren primäres Ziel es ist, durch Dinge positive und bedeutungsvolle Momente im Alltag zu erzeugen. Beim positiven Design ist das Erlebnis jedoch kein Selbstzweck, sondern dient dem Wohlbefinden der Nutzer:in. Die Grundthese hierbei ist, dass ein Erlebnis nur dann zum Wohl der Nutzer:in beiträgt, wenn damit auch psychische Bedürfnisse befriedigt werden.

2.2.2.3 Bedürfnisse

Bedürfnis ist deshalb der dritte zentrale Begriff erlebnisorientierter Konsumtheorien. Der Mensch hat demnach unzählige, historisch gewachsene Bedürfnisse und Handlungsmotive. In der Psychologie versucht man jedoch, diese auf einige wenige Universalbedürfnisse zu reduzieren, um sie vergleichbar und für die systematische Forschung handhabbar zu machen.

Eines der ältesten und bekanntesten Modelle in diesem Zusammenhang ist die Maslow’sche Bedürfnistheorie, bei der die Befriedigung von Bedürfnissen eine wesentliche Handlungsmotivation darstellt. Maslow unterscheidet dabei zwischen Defizit- und Wachstumsbedürfnissen. Erstere werden durch einen Mangel ausgelöst, z. B. durch Hunger, Gefahr oder Einsamkeit, während letztere durch ein Streben nach persönlichem Wachstum, Selbstverwirklichung und Entfaltung entstehen. Maslow unterscheidet eine Reihe verschiedener Bedürfnisse (siehe Abb. 2.3), die eine gewisse Hierarchie dergestalt bilden, dass die Befriedigung der Defizitbedürfnisse dringender und damit vorrangiger ist als die der Wachstumsbedürfnisse.

Abb. 2.3
figure 3

Landkarte menschlicher Bedürfnisse

Auch wenn eine solche Hierarchie, die oft als Pyramide dargestellt wurde, logisch schlüssig erscheint, bedeutet dies jedoch nicht, dass jedes Bedürfnis in jedem Moment für jeden Menschen gleich wichtig ist. Der relative Stellenwert der Bedürfnisse kann von Person zu Person und in verschiedenen Situationen unterschiedlich sein. Ferner fällt die Art und Weise der Bedürfnisbefriedigung situativ und kulturell unterschiedlich aus (z. B. Musik im Konzert gemeinsam hören oder per Kopfhörer in der Bahn). Des Weiteren befriedigt der Konsum meist mehr als ein einziges, klar abgrenzbares Bedürfnis. So wird z. B. durch ein Luxus-Smartphone gleichzeitig das Bedürfnis nach Kommunikation und nach Anerkennung adressiert.

Dieser Ansatz wurde in der Folge von vielen Forscher:innen aufgegriffen und weiterentwickelt. So greifen z. B. Diefenbach und Hassenzahl (2017) neuere Arbeiten aus der Bedürfnis- und Motivationspsychologie auf, um ihren Ansatz der am Wohlbefinden-orientierten Produktgestaltung psychologisch zu fundieren. Insbesondere greifen sie die Selbstbestimmungstheorie (Deci und Ryan 1993) auf, die im Streben nach und Erleben von Autonomie, Kompetenz und sozialer Verbundenheit drei psychologische Universalbedürfnisse sieht, die Menschen angeboren sind. Diese drei Bedürfniskategorien werden in diesem Ansatz um vier weitere (Stimulation, Popularität, Sicherheit und Bedeutsamkeit) ergänzt. Diese zusätzlichen Kategorien wurden aus der Bedürfnisforschung von Sheldon et al. (2001) übernommen, die auf Grundlage empirischer Studien insgesamt zehn Bedürfniskategorien identifiziert haben (Tab. 2.3).

Tab. 2.3 Die „sieben Freuden“ des positiven Designs (Diefenbach & Hassenzahl)

Diefenbach und Hassenzahl (2017) betonen dabei, dass diese Kategorisierung für die Produktgestaltung nur eine heuristische Funktion hat, um zum einen Nutzerstudien und die Analysen von Nutzerbedarfen anzuleiten und zum anderen einen Katalog von Praxisbeispielen gelungener Gestaltung aufzubauen, die das Produktdesign inspirieren und informieren sollen.

In ihrer Gestaltungstheorie gibt es zu den genannten Bedürfnissen entsprechende Produktqualitäten, die analog zur Lancaster’schen Haushaltstheorie (siehe Abschn. 2.1.1) als Teilwertnutzen definiert werden können, wobei der Nutzen nicht allein im Erreichen eines Ziels (pragmatische Qualität), sondern auch in der Ermöglichung von Erlebnissen (hedonische Qualität) liegt. Hierzu haben Hassenzahl et al. (2003) mit dem AttrakDiff Fragebogen ein standardisiertes Messinstrument entwickelt, um die pragmatische und hedonische Qualität eines Produkts zu messen.

Eine wesentliche Grundthese dieses Gestaltungsansatzes ist, dass Menschen nicht nur basale Grundbedürfnisse wie Essen und Wohnen über den Markt befriedigen, sondern kommerzielle Güter auch für die Befriedigung der genannten sieben Bedürfniskategorien eine wichtige Rolle spielen. Dabei ist zentral, dass Nutzer:innen sich mit den gekauften und genutzten Produkten identifizieren und sich über sie definieren. Diese Grundthese könnte auch als Warenfetischismus betrachtet werden (siehe Abschn. 2.3.2), jedoch betonen Diefenbach und Hassenzahl (2017):

„Kommerzieller Erfolg und eine wohlbefindensorientierte Gestaltung interaktiver Produkte schließen sich natürlich nicht aus. Allerdings emanzipiert sich dieser Ansatz von der allgegenwärtigen industriellen Verwertungslogik. Er wünscht sich Praktiker, die auf der Basis eines profunden Wissens über die Psychologie des Wohlbefindens aktiv zwischen Verwertungszielen und -wünschen einer Unternehmung und den individuellen Ansprüchen von Menschen (Benutzern, Konsumenten) an ihr alltägliches Glücksempfinden und wichtigen gesellschaftlichen Themen (Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit etc.) vermitteln.“

Aufgrund des Geltungsbereichs psychologischer Theorien auf das Empfinden des Menschen kann die psychologische Fundierung des Ansatzes selbst keinen Beleg dafür geben, ob dieser Wunsch nach Emanzipation auch umgesetzt werden kann. Hierzu würden zum einen empirische Untersuchungen benötigt werden, um zu überprüfen, ob sich solche Produkte auch auf dem Markt durchsetzen und ob sie auch in der breiten Masse zu einem höheren Wohlbefinden führen würden. Zum anderen würden zur theoretischen Behandlung dieser Frage Konsumtheorien benötigt werden, die auf kulturwissenschaftlicher bzw. gesellschaftswissenschaftlicher Ebene angesiedelt sind, was im Folgenden erläutert werden soll.

2.3 Kulturwissenschaftliche Ansätze

Sowohl die markttheoretischen als auch die psychologischen Konsumtheorien fußen in ihren Grundannahmen auf dem methodischen Individualismus (Giddens 1988), der den:die einzelne:n Verbraucher:in in den Fokus der Betrachtung stellt und menschliches Handeln bzw. Konsum auf Grundlage rationaler Entscheidungen (Home oeconomicus) bzw. individueller psychologischer Bedürfnisse modelliert (Homo psychologicus). Demgegenüber betonen kulturwissenschaftliche bzw. soziologische Konsumtheorien, dass soziale Gesetze real existieren. Sie stellen keine Epiphänomene des individuellen Handelns dar. Das heißt, soziale Normen sind keine Begleiterscheinungen, die bei individuellen Entscheidungen beobachtet werden können, aber keine kausale Wirkung auf das Geschehen haben. Vielmehr wirken soziale Normen objektiv auf das individuelle Verhalten ein, sind aber nicht selbst durch das Individuum geschaffen, sondern entstehen durch die soziale Struktur von Gemeinschaften und Gesellschaften (Abels 2010).

Soziologische Konsumtheorien betonen deshalb, dass die soziale Wirklichkeit eine eigenständige Ebene des Seins ist, die von individuellen Handlungen und Erfahrungen getrennt ist. Der:Die Verbraucher:in wird hierbei als Homo sociologicus betrachtet. Entsprechend stellt nicht der:die Verbraucher:in selbst als einzelnes Subjekt die primäre Analyseeinheit dar, sondern die sozialen Interaktionen, die sozialen Normen und gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die Konsumentenkulturen bzw. die Alltagspraktiken.

Die Erforschung von Konsumalltag und gesellschaftlichen Aspekten der Konsumgesellschaft hat sich spätestens seit den 1970er-Jahren als Forschungsgegenstand innerhalb der Geisteswissenschaften etabliert (Bourdieu 1987). Hierbei sind vor allem die Distinktionsmerkmale in den Fokus gerückt, insofern als durch Konsum bestimmte Lebensstile und Ausdifferenzierungen der Gesellschaft untersucht werden können (Gruhn 2022). Konsum als Ausdrucksform der „materiellen Kultur“ spielt dabei eine wichtige Rolle für die Analyse kultureller Vorstellungen und Interpretationen, die so ihren Ausdruck finden und Gegenstand von kulturwissenschaftlichen Analysen werden können (Hirschfelder und Thanner 2019). Umgekehrt macht die sozialwissenschaftliche Konsumforschung auch die gesellschaftlichen Folgen des Warenkonsums zum Thema der Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft (Schrage 2009; Winterberg 2017).

2.3.1 Normtheorien

Im deutschen Grundgesetz steht: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (Grundgesetz, Art 14.2). Dieser Satz zeigt bereits, dass Konsum nicht frei von Regeln und Normen stattfindet.

Dies gilt insbesondere für digitale Güter. Klassische Markttheorien gehen meist implizit davon aus, dass Verbraucher:innen durch den Kauf zu Eigentümer:innen des Gutes werden. Eigentum stellt dabei kein natürliches Prinzip dar, sondern ist eine gesellschaftliche Rechtsnorm, die durch Gesetze, Institutionen und soziale Praktiken abgesichert ist. Auf der individuellen Ebene ist das Eigentum ein wesentliches Element der individuellen Freiheit und ein Mittel, durch das eine Person ihre Persönlichkeit und ihre Wünsche verwirklicht.

Aus Sicht der Konsumsoziologie ist diese individuelle Autonomie jedoch ein Produkt sozialer Verhältnisse, bei der Eigentum nicht nur eine individuelle Ebene, sondern auch eine soziale und moralische Dimension besitzt. Das individuelle Eigentum existiert nur im Kontext von Verträgen, Verpflichtungen und dem gesellschaftlichen Austausch von Waren und Dienstleistungen, in denen sowohl individuelle Interessen als auch soziale Belange eingeschrieben sind.

Die Digitalisierung greift hierbei in alte Vorstellungen von Eigentum ein, bei der traditionellerweise beim Kauf einer Ware i. d. R. sämtliche Verfügungsrechte vom alten auf den neuen Eigentümer übertragen werden. Demgegenüber betont z. B. die Sharing Economy, dass nicht der Besitz, sondern das Nutzen eines Gutes im Vordergrund steht (siehe Kap. 3). Dies wirft jedoch neue Fragen auf, wie zum Beispiel danach, wie sowohl individuelle Interessen als auch soziale Belange geregelt werden. Besitzen Nutzer:innen beim Carsharing z. B. ein Anrecht auf unbeobachtete Nutzung? Gibt es ein Anrecht darauf, den genutzten E-Scooter vor der eigenen Haustür abzustellen? Gibt es ein Anrecht darauf, soziale Medien frei zu benutzen? Dies sind auf den ersten Blick rein rechtliche Fragen, verweisen aber grundlegender darauf, welche Regeln in einer digitalen Konsumgesellschaft herrschen bzw. von den unterschiedlichen Interessengruppen ausgehandelt werden.

Bei digitalen Massenwaren wird z. B. Software häufig nicht mehr erworben, sondern nur lizenziert. Das heißt, durch den „Kauf“ erwirbt man Nutzungsrechte, die jedoch den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Anbietenden unterworfen bleiben. Während man ein gedrucktes Buch verleihen, verschenken oder verkaufen kann, bleiben diese Möglichkeiten bei eBooks häufig nur eingeschränkt möglich. Gegenüber dem Besitz von Waren sind Verbraucher:innen bei der Nutzung digitaler Güter viel stärker den Regeln und Normen der Anbietenden unterworfen.

In der Soziologie haben sich viele Autor:innen mit der Frage auseinandergesetzt, wie Normen in einer Gesellschaft entstehen, welche gesellschaftliche Funktion sie haben, und welche Mechanismen dazu beitragen, dass Normen durchgesetzt, aufrechterhalten und geändert werden (Giddens 1988; Parsons 2013; Schatzki 1997; Mauss 2000; Garfinkel 2020; Abels 2010). Soziale Normen, Regeln und Gesetze besitzen dabei Ähnlichkeiten mit physikalischen Gesetzen. Ähnlich wie physikalische Gesetze sind soziale Gesetze für menschliche Sinne nicht direkt sichtbar, jedoch geht von ihnen eine Kraft aus, die das Verhalten beeinflusst. Ein wesentlicher Unterschied zwischen physikalischen und sozialen Gesetzen ist, dass man gegen soziale Regeln prinzipiell verstoßen kann, auch auf die Gefahr hin, sanktioniert zu werden. Dies passiert vor allem dann, wenn man die sozialen Regeln nicht kennt bzw. nicht richtig versteht.

Das Schenken-Experiment

Bei diesem Breaching-Experiment geht es darum, die sozialen Normen des Reziprozitätsgesetzes sichtbar zu machen.

Als Teilnehmer:in drücken Sie einer Freund:in oder Bekannten einen Fünf-Euro-Schein in die Hand, sagen Sie aber in aller Ernsthaftigkeit, dass Sie das auf keinen Fall als Geschenk meinen.

Verweigern Sie daraufhin alle Versuche der anderen Person, Ihnen das Geld zurückzugeben. Betonen Sie dabei immer wieder, dass es sich auf keinen Fall um ein Geschenk handelt.

Selbstversuch:

  • Führen Sie das Schenken-Experiment durch. Notieren Sie im Nachgang, wie diese „Tausch“-Praxis interpretiert wurde und welche sozialen Regeln durch das Experiment aktiviert wurden.

Eine fundamentale gesellschaftliche Regel ist z. B. das Reziprozitätsgesetz, das in allen bekannten Gesellschaften existiert. Kurz gefasst verlangt die Norm, dass Nehmen zu einem Geben verpflichtet und es hierbei eine Art von Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung gibt (Mauss 2000). Dies gilt nicht nur bei Rechtsgeschäften, wie der Autovermietung, sondern auch im Privaten, wo z. B. eine Gegengabe für das Leihen/Verleihen des Autos erwartet werden kann (Meurer et al. 2014). In den Sozialwissenschaften entwickelte Garfinkel (2020) das Konzept der Breaching-Experimente, um soziale Regeln empirisch zu untersuchen. So forderte er zum Beispiel seine Studierenden auf, bewusst gegen gängige soziale Normen und Verhaltensweisen zu verstoßen, um zu sehen, wie andere Menschen darauf reagieren. So sollten die Studierenden etwa daheim ihre Eltern siezen, was diese in der Regel irritierte und nicht lange durchgehalten werden konnte. Diese Art von Experimenten hilft, die zugrunde liegenden Annahmen und Regeln sozialer Ordnungen offenzulegen (etwa inwiefern daheim in der Familie eine vertraute, informelle Umgangsform präferiert wird) und die Mechanismen zu verstehen, die zur Aufrechterhaltung sozialer Normen und Verhaltensweisen beitragen (also zu beobachten, wie die Eltern reagieren und mit welchen Strategien sie versuchen, den Bruch der Regel zu beenden und die soziale Ordnung wiederherzustellen).

Soziale Normen, Regeln und Gesetze sind jedoch nicht angeboren, sondern werden kulturell erlernt. So würde das Eltern-siezen-Experiment sicherlich je nach soziokulturellem Kontext unterschiedliche Ergebnisse zeigen. Das Erlernen geschieht auf unterschiedliche Weise schon mit dem Erwerb der Sprachfähigkeit und im Rahmen der Erziehung. Menschen lernen Regeln z. B. kognitiv über Kommunikation mit anderen Menschen, das Lesen von Gesetzestexten, Verordnungen und Nutzerbedingungen, oder implizit durch Beobachtung, Teilhabe, Praxisgemeinschaften und Imitation von anderen. Hierbei spielt auch die Sanktionierung normabweichenden Verhaltens in der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Dies geschieht beispielsweise durch direkte Hinweise von Freund:innen oder Autoritätspersonen, gesellschaftlich durch Klatsch und Tratsch, bzw. im Bereich von Nutzungsbedingungen und Gesetzen auch durch Strafen durch die Behörden (Abb. 2.4).

Abb. 2.4
figure 4

Ebenen, auf denen Regeln und soziale Normen auftreten können

Bei sozialen Regeln kann man zwischen kodifizierten und informellen Regeln unterscheiden. Kodifizierte Regeln sind formale, explizite und schriftlich niedergelegte Regeln und Gesetze, die von einer Autorität erlassen wurden. So kann der Staat z. B. kodifizierte Regeln in Form von Gesetzen und Verordnungen erlassen, die z. B. von Ordnungskräften überwacht und sanktioniert werden. Für die Verbraucherinformatik sind ferner kodifizierte Regeln in Form von Nutzungsbedingungen und Lizenzverträgen von Interesse, die von Unternehmen (im Rahmen des gesetzlich Erlaubten) erlassen werden. Diese sind aber notwendigerweise immer unterspezifiziert und bedürfen der Verankerung in den gelebten, informellen Regeln (Garfinkel 2020).

Informelle Regeln hingegen sind ungeschriebene, implizite Regeln, die aus sozialen Normen, Erwartungen und Gewohnheiten bestehen, die in einer Gesellschaft oder Gruppe existieren. Sie können durch Traditionen, Sitten, Werte oder andere informelle Mechanismen weitergegeben werden und sind oft schwer zu definieren. Ein Beispiel für informelle Regeln ist das Anstehen an der Supermarktkasse. Hierfür gibt es bestimmte soziale Regeln (z. B., sich nicht vorzudrängeln), die aber nirgends explizit erklärt werden. Dennoch haben Menschen meist ein Gespür dafür, wenn sich jemand nicht regelkonform verhält, und sanktionieren dieses Verhalten, z. B. indem sie sich beschweren.

Im Allgemeinen bieten kodifizierte Regeln eine klare Struktur und explizite Durchsetzbarkeit, während informelle Regeln mehr Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bieten. Sie können jedoch als „ungeschriebene Gesetze“ in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten sehr wirkmächtig sein. Dies betrifft sowohl kleinere Gemeinschaften mit eigenen Normen, Regeln und Sanktionsmechanismen (z. B. die Sanktionierung abweichenden Ernährungsverhaltens bei veganen bzw. karnivoren Gemeinschaften) als auch größere kulturelle Gruppen (z. B. die Sanktionierung unpünktlichen Verhaltens in verschiedenen Industriebranchen).

In allen Fällen müssen die beteiligten Akteur:innen die Regeln kennen und verstehen, damit sie diese befolgen können. Meist ergänzen sich beide Formen. So lesen Nutzer:innen meist nicht die kodifizierten Nutzerbedingungen bzw. verstehen meist nicht die juristischen Formulierungen solcher Texte. Jedoch haben sie aufgrund von Sozialisation und praktischen Erfahrungen ein gutes Verständnis der informellen Regeln, die meist wesentliche Bestandteile kodifizierter Regeln berücksichtigen.

Gegenüber physikalischen Gesetzen unterliegen soziale Normen einem historischen Wandel, angetrieben durch gesellschaftliche Entwicklungen, aber auch technischen Fortschritt. Dies gilt auch für die Digitalisierung, die sowohl Motor für den Wandel von Regeln und Normen ist als auch neue Mechanismen bietet, sich normabweichend zu verhalten bzw. solches Verhalten zu sanktionieren. So könnte man argumentieren, das Mobiltelefon habe dazu geführt, dass man heute bei Verabredungen leichter zu spät kommen kann, solange man telefonisch Bescheid gibt; andererseits hat die Digitalisierung im Internet zu einer völlig neuen Dimension von Kommunikation und damit auch zu Möglichkeiten der Sanktionierung von Fehlverhalten von Unternehmen oder Einzelpersonen durch sogenannte „Shitstorms“ geführt.

Digitale Disruption tradierter Normen

Digitale Innovationen sind disruptiv nicht nur in dem Sinne, dass sie völlig neuartige Produkte und Dienstleistungen hervorbringen, sondern auch dadurch, dass sie tradierte Normen und Regeln infrage stellen. Hierbei ist ein Muster zu erkennen: In der Anfangsphase von technischen Neuheiten werden diese von der breiten Masse oft nicht wahrgenommen bzw. teilweise belustigt oder befremdet toleriert („Wildwest“- bzw. Aufbruchsphase). Von dem Zeitpunkt an, ab dem die Ausbreitung gesellschaftlich wirkmächtig wird, können Befürchtungen eines Norm- und Sittenverfalls auftreten („Maschinenstürmer“- bzw. Skepsisphase). Als Reaktion kommt es zu einer gesellschaftlichen Debatte und der Aushandlung/Anpassung von Gesetzen, Verordnungen und sozialen Normen („Einhegungs“- bzw. Regulierungsphase). Beispiele hierfür sind die oben beschriebene Geschichte der Musikdistribution über illegale Sharing-Plattformen hin zur Streamingdiensten, die Ausbreitung sozialer Netzwerke hin zur Etablierung sozialer Konventionen, Privates öffentlich zu machen, sowie die Entwicklung des Datenschutzes insgesamt (siehe oben, Kap. 1).

Aktuell kann man dies auch mit der Ausbreitung von generativen KI-Systemen erkennen, mit denen z. B. Bilder, Texte, oder Videos automatisiert auf der Basis von Nutzereingaben erstellt werden können. Hier ist zu vermuten, dass auch die Debatte um ChatGPT diese drei Phasen durchlaufen wird. Zugleich zeigt das Beispiel KI, dass das Phasenmodell weder aussagt, wie lang die einzelnen Phasen sein werden, noch welche Normen und Regeln infrage gestellt werden, oder welche neuen Regeln und Nutzungskonventionen sich ausbilden. Dies ist ein offener Aushandlungsprozess innerhalb eines Akteurnetzwerks und hinsichtlich seiner sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen keinesfalls vorgezeichnet.

Digitale Kontrolle des Konsumverhaltens

Die Digitalisierung bietet auch ganz neue Überwachungsmöglichkeiten. So kann bei Internet- bzw. Cloud-basierten Diensten jeder Klick und jede Eingabe der Nutzenden digital erfasst werden (Zuboff 2018). Des Weiteren werden Konsumgüter, wie Autos, Waschmaschinen, Drucker, Lampen, Puppen etc., zunehmend smart. Das heißt, diese Smarten Produkte werden mit Sensorik ausgestattet, die Umweltbedingungen und Nutzerinteraktionen erfassen können. Ähnliches gilt für die Entwicklung in Richtung Smart Cities, bei der durch das Aufstellen von Kameras an öffentlichen Orten und vernetzte Sensorik nicht nur Umweltdaten, sondern auch Daten über das Nutzungsverhalten von Konsument:innen erfasst werden (z. B. ob sich Autofahrende an Geschwindigkeitsbeschränkungen und Parkverbote halten). Durch die Vernetzung der so erhobenen Daten können Nutzungsprofile erstellt und normabweichende Verhaltensweisen erkannt werden.

Die Datenerfassung und -auswertung kann anschließend dazu genutzt werden, Verstöße gegen die Nutzungsbedingungen im Vorfeld zu verhindern oder im Nachgang zu sanktionieren. Dies kann automatisiert werden. So kann z. B. ein Drucker den Betrieb nach einer bestimmten Anzahl von Druckvorgängen verweigern, eine Stadt das Abstellen von E-Scootern in bestimmten Zonen verbieten, oder Social-Media-Anbieter können bei Fehlverhalten Profile automatisch sperren. Dies kann auch indirekt geschehen, indem Kontrollen in Gebieten durchgeführt werden, in denen abweichendes Verhalten erkannt wurde.

Soziologische Normtheorien machen vor diesem Hintergrund darauf aufmerksam, dass Normen und Regeln das Ergebnis von Aushandlungsprozessen und Machtgefügen sind (Garfinkel 2020). Hierbei sind einzelne Verbraucher:innen nur mit geringer „strategischer“ Macht ausgestattet, besitzen aber den „taktischen“ Vorteil, Lücken in der Überwachung zu erkennen und für sich zu nutzen (De Certeau 1988). Ferner können sie versuchen, durch Herstellung kollektiver Macht und über Interessenvertretungen (wie Verbraucherzentralen, Chaos Computer Club u. Ä.) Einfluss auf die Ausgestaltung von Normen und Regeln auszuüben, und so die Regulierung digitaler Überwachungs-, Auswertungs- und Sanktionierungsmechanismen beeinflussen (Zuboff 2018).

2.3.2 Funktionalismus und Systemtheorien

Der erlebnispsychologische Gestaltungsansatz (vgl. Abschn. 2.2.2.1) erhebt den Anspruch, sich von Verwertungslogiken zu emanzipieren, um das Wohlbefinden des Menschen ins Zentrum zu stellen. Dieser Anspruch kann aber nicht auf der psychologischen Grundlage selbst theoretisiert werden. Vielmehr bedarf es einer Gesellschaftstheorie des Wirtschaftens und des Konsums, weil das individuelle Design nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen betrachtet werden kann.

Dieser Frage haben sich in der Soziologie insbesondere systemische und funktionalistische Theorien gewidmet. Soziale Systeme sind dabei selbst organisierende Einheiten von Elementen (z. B. Individuen, Organisationen oder Institutionen), die durch Kommunikation und Interaktion miteinander verbunden sind. Gegenüber Stimulus-Response-Modellen (siehe Abschn. 2.2.2) geht die Systemtheorie davon aus, dass soziale Systeme zwar eine Umwelt besitzen, mit der sie strukturell gekoppelt sind, aber sie werden in ihrem Handeln nicht durch diese Umwelt festgelegt.

Jedes System hat seine eigene spezifische Umwelt und Struktur, seine eigenen spezifischen Operationen und seine eigene spezifische Kommunikation. Insbesondere besitzen Systeme eine gesellschaftliche Funktion, die sie erfüllen. So erfüllt das System Wissenschaft die Funktion, Wissen über die Welt zu generieren und zu systematisieren, das System Recht die Funktion, gesellschaftliche Regeln und Normen aufzustellen und durchzusetzen, das System Politik die Funktion, das Gemeinwohl zu fördern und gesellschaftliche Konflikte zu lösen.

Das Phänomen des Massenkonsums kann dabei als Teil des Systems Wirtschaft betrachtet werden. Das System Wirtschaft hat hier die Funktion, Güter zur Bedürfnisbefriedigung herzustellen, und der Konsum dient wiederum dazu, die für die Wirtschaft gebrauchten Arbeits- und Kaufkräfte herzustellen. Das System Markt hat dabei die Funktion, eine optimale Verteilung knapper Ressourcen herzustellen, bei der Wirtschaft und Konsum als Teilsysteme durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage gekoppelt sind.

Jenseits dieser Funktion wohnen beiden Systemen Kräfte und Strukturen inne, die ihrer eigenen Reproduktion dienen. So folgt die Wirtschaft einer Wachstumslogik und zielt auf Kapitalakkumulation ab, bei der der Tauschwert und nicht der Gebrauchswert von Waren im Vordergrund steht. Zwar kann sich die Wirtschaft nicht vollständig von der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse abkoppeln, jedoch erfolgt die Herstellung von Gebrauchswerten nur vermittelt über die Kommunikation von Tauschwerten, sprich: über aktuelle und zukünftig erwartete Preise. Gelingt diese vermittelnde Kommunikation nicht, können gesellschaftliche Bedürfnisse nicht über das System Wirtschaft befriedigt werden.

Dieser Umstand wurde z. B. von der Frankfurter Schule in Bezug auf Kulturgüter untersucht (Adorno und Horkheimer 1997). Demnach gibt es zwar einen gesellschaftlichen Bedarf an Kultur, dieser kann jedoch nicht durch die sogenannte Kulturindustrie selbst hergestellt werden, da diese der Preislogik widersprechen würde bzw. der marktwirtschaftliche Erfolg nicht sichergestellt werden kann. Deshalb können von der Kulturindustrie nur standardisierte Unterhaltungsprodukte hergestellt werden, die in erster Linie am Geschmack der Massen ausgerichtet sind. Solche Massenkulturgüter werden jedoch aus dieser Sichtweise nicht als kulturell hochwertig im Sinne eines künstlerischen Anspruchs angesehen. Ein Beispiel ist etwa das Fernsehprogramm, bei dem in den großen Kanälen zur Hauptsendezeit vorwiegend standardisierte Unterhaltungsformate gesendet werden, die künstlerisch „hochwertigen“ Filme jedoch erst spät abends und auf Nischensendern gezeigt werden.

Macbeth versus Ego-Shooter

Auf der Liste der beliebtesten Computerspiel-Genres in Deutschland standen 2006 zwei Fußballsimulationen, zwei Rennspiele, drei Simulationsspiele, ein Intelligenztrainer, ein Online-Rollenspiel und ein Strategiespiel (Lorber 2010).

Computer- und Videospiele stellen aus heutiger Sicht zweifelsohne kulturelle Produkte dar.Footnote 2 Jedoch war lange Zeit umstritten, welchen kulturellen Wert sie besitzen. Während historische Unterhaltungsliteratur wie Macbeth in den Schulen gelesen und als Kulturobjekt analysiert wurde, wurden Computerspiele in der Schule lange nur unter dem Schlagwort des Edutainments vor allem als Mittel zur Motivation von Schüler:innen benutzt.

Eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Werken fand auch in der Öffentlichkeit lange Zeit kaum statt. Demgegenüber wurde der profane, teilweise negative Charakter dieser Produkte hervorgehoben. In Bezug auf sogenannte Killerspiele wird z. B. Prof. Dr. Pfeiffer mit den Worten zitiert: „Eine Gesellschaft ist krank, die solche Spiele auf den Markt lässt“ (n-tv 2007).

Selbstkontrolle:

Diskutieren Sie, inwieweit es sich bei Computerspielen um ein „Kulturgut“, d. h. um Produkte von hohem kulturellem Wert, handelt. Was sind herausragende Werke und warum? Diskutieren Sie vor dem Hintergrund auch die Frage, ob die Entwicklung von Computerspielen vom Kultusministerium oder vom Wirtschaftsministerium gefördert werden sollte. Welche Kriterien sollten bei einer Förderung angelegt werden?

Durch die Digitalisierung und die Globalisierung des Massenkonsums ist insbesondere eine neue Form des Hyperkonsums zu beobachten, bei der (a) digitale Güter in kürzester Zeit milliardenfach reproduziert werden und (b) jeder Konsumentin bzw. jedem Konsumenten dabei ihre bzw. seine je eigene Version zur Verfügung gestellt werden kann. So sorgen beispielsweise die Empfehlungsalgorithmen der großen sozialen Netzwerke dafür, dass jede:r Nutzer:in ein jeweils individuell zugeschnittenes Angebot gezeigt bekommt; diese Auswahl wird auf Basis von Nutzungsmetriken (bisher angesehene und als gut bewertete Angebote) automatisch zusammengestellt. Die Logik der Zusammenstellung zielt dabei einerseits darauf ab, individuelle Geschmackspräferenzen zu bedienen, soll aber auch vor allem das User-Engagement maximieren, um die größten Werbeeinnahmen erzielen zu können.

Ein aktuelles Beispiel stellt das Influencer:innen-Marketing dar, bei dem parasoziale Beziehungen ausgebeutet werden (d. h., die Grenzen zwischen Journalismus/Produkttest und Werbung/Meinungsäußerung verschwimmen aufgrund der sehr persönlichen und vertrauten Beziehung zwischen Influencer:in und Follower:in) oder die aktuell zu beobachtende sogenannte TikTokisierung der Unterhaltungsindustrie.

„TikTokisierung“

Aktuell ist zu beobachten, dass Unterhaltungsmedien an die Anforderungen der Plattform TikTok und deren Empfehlungsalgorithmen angepasst werden. So werden Medienformate so gestaltet, dass sie den schnellen Medienkonsumpraktiken der Plattform entsprechen.

Ferner wird die Gestaltung von Filmen oder Serien dahingehend optimiert, dass spezielle Szenen oder Sequenzen enthalten sind, die für TikTok-Nutzer:innen interessant und wiederverwendbar sind. Dazu gehören zum Beispiel spektakuläre Actionszenen oder emotionale Höhepunkte, die aus dem Kontext des Films herausgenommen und auf TikTok geteilt werden können.

Umgekehrt werden erfolgreiche TikTok-Formate in die Produktion von Unterhaltungsmedien integriert, um ein größeres Publikum zu erreichen.

Selbstkontrolle:

Diskutieren Sie die These, dass es durch die TikTokisierung zu einer Vereinfachung und Verflachung der künstlerischen Ausdrucksformen kommt, bei der die Komplexität und Tiefe von Filmen oder Serien verloren gehen und nur noch kurzweilige Unterhaltung produziert wird.

Die Systemtheorie erweist sich noch bei der Betrachtung eines anderen Phänomens als nützlich. Die Frühphase des Massenkonsums zeichnete sich durch einen Mangel an Waren und Dienstleistungen aus. In dieser Phase diente der Konsum als Mittel zur Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Kleidung und Wohnen (vgl. oben). Demgegenüber zeichnet sich die Spätphase des Massenkonsums durch ein Überangebot an Waren und Dienstleistungen aus. Hierdurch verlagert sich die Befriedigung von Grundbedürfnissen hin zur Adressierung hedonischer Bedürfnisse, wie Stimulation, Identität, und Popularität (vgl. Abschn. 2.2.2).

Zugleich droht aber auch eine Marktsättigung, indem die Bedürfnisse des Teilsystems Konsum übererfüllt werden. Damit wäre eine wichtige gesellschaftliche Funktion des Systems zwar erfüllt, jedoch neigen soziale Systeme zur Selbsterhaltung. Aus Sicht des Systems Wirtschaft stellt die Marktsättigung eine Funktionsstörung des gekoppelten Systems Konsum dar. Um diese „Störung“ anzugehen, findet man verschiedene Reaktionen des Systems Wirtschaft, wie geplante Obsoleszenz, Bedürfniserweckung und Bedürfnisentwicklung, die im Folgenden ausgeführt werden sollen.

Geplante Obsoleszenz

Unter geplanter Obsoleszenz bzw. eingebauter Alterung versteht man die Strategie von Unternehmen, Produkte so zu entwerfen, dass sie nach einer bestimmten Zeit kaputtgehen oder nicht mehr funktionsfähig sind. Ziel ist es, den Verbraucher:innen einen Anreiz zu geben, das alte Produkt durch ein neues zu ersetzen und somit eine Marktsättigung zu verhindern. Geplante Obsoleszenz kann sowohl pragmatische als auch hedonische Produktqualitäten umfassen. Das bekannteste Beispiel pragmatischer Obsoleszenz ist die Verkürzung der Lebensdauer von Glühlampen (Krajewski 2014). Bei digitalen Gütern kann pragmatische Obsoleszenz beispielsweise durch das Einstellen von Funktions- und Sicherheitsupdates erfolgen. Ein prominentes Beispiel für hedonische Obsoleszenz (auch psychologische bzw. Style-Obsoleszenz genannt) stellt Fast-Fashion dar, bei der Kleidungstücke nach kurzem Tragen das hedonische Bedürfnis nach Stimulation und Anerkennung nicht mehr erfüllen (Collett et al. 2013). Es erscheint unbrauchbar, weil es nicht mehr im Trend ist (Philip 2020). Bei digitalen Gütern ist die hedonische Obsoleszenz bisher nur wenig untersucht worden.

Bedürfnisweckung

Bedürfnisse können beispielsweise durch Marketingstrategien (Cialdini 2010) gezielt geweckt werden. So können Online-Marketplace-Betreibende durch die Darstellung einer begrenzten Verfügbarkeit von Produkten oder Dienstleistungen einen Anreiz schaffen, diese sofort zu kaufen, bevor es zu spät ist. Beispiele dafür wären z. B. Labels wie „nur noch wenige Artikel verfügbar“ oder „Gerade schauen sich 25 weitere User diesen Artikel an“. Durch solche Angaben kann eine kurzfristige Absatzbelebung erzeugt werden. Um eine Marktsättigung längerfristig zu vermeiden, müssen jedoch Bedürfnisse immer wieder aufs Neue geweckt werden.

Bedürfnisentwicklung

Während die neoklassische Wirtschaftstheorie von festen Präferenzen und Bedürfnissen ausgeht, zeigen entwicklungspsychologische sowie auch kulturhistorische Studien, dass Bedürfnisse keinesfalls statisch sind, sondern sich im Laufe der Zeit verändern (Rinkinen et al. 2020). Dabei spielen beispielsweise soziale Erwartungen eine Rolle: Während es für Studierende sozial angemessen erscheint, in einem kleinen WG-Zimmer zu wohnen, würde die gleiche Unterkunft für eine Führungsperson als ungewöhnlich sparsam gelten. Zudem führen andere Lebensveränderungen, wie Familiengründung oder altersbedingte Krankheiten, zu neuen Bedürfnissen. Dieser Umstand hilft dabei, eine Marktsättigung zu vermeiden, und wird auch als funktionelle Obsoleszenz bezeichnet (Krajewski 2014). Der technische Fortschritt stellt dabei einen Motor für die Bedürfnisentwicklung dar. So wurde z. B. der Bedarf an Smartphones auch durch den technischen Fortschritt im Bereich mobiler Datenübertragung gefördert; das Bedürfnis, während des Reisens zu arbeiten, wird durch den Fortschritt im Bereich autonomen Fahrens gefördert etc.

Aus systemtheoretischer Sicht ist dabei gar nicht entscheidend, ob die einzelnen Ingenieur:innen, Designer:innen oder Manager:innen die Laufzeit eines Produkts bewusst verkürzen, Bedürfnisse durch Nudging wecken oder neue Bedürfnisse durch technologische Innovationen entwickeln. Vielmehr ist es aus dieser Sichtweise eine dem System Wirtschaft innewohnende Kraft, der Lebensdauer von Produkten keinen Wert zuzuweisen, wenn darüber kein entsprechender Preis realisiert werden kann. Deshalb wird das System nicht dazu tendieren, Produkte herzustellen, die eine lange pragmatische oder hedonische Qualität ausweisen, sondern sich auf jene fokussieren, die einen kurzfristigen Erfolg versprechen.

Hinsichtlich der oben aufgeworfenen Frage, inwieweit der psychologische Gestaltungsansatz zum Wohlbefinden der Menschen beiträgt, ist deshalb die Antwort aus systemtheoretischer Sicht dreigeteilt: Bereiche, in denen zum Gebrauchswert auch ein äquivalenter Tauschwert existiert, werden wahrscheinlich entsprechend hochwertige Güter produzieren, z. B. in der Ermöglichung neuer Kompetenzerfahrungen. Hassenzahl und Klapperich (2014) beschreiben das Beispiel der Kaffeevollautomaten, bei denen es während einer Blindverkostung keinen Geschmacksunterschied geben mag. Ist der:die Nutzer:in jedoch in dem Wissen, dass er:sie den Kaffee selber hergestellt hat, schmeckt der selbst aufgebrühte Kaffee anders, weil mit diesem auch die selbst erlebte Kompetenzerfahrung einhergeht.

In anderen Bereichen werden Produkte ohne tragfähiges Geschäftsmodell wohl eher ein Nischendasein fristen, wie z. B. persuasive Nachhaltigkeitsapps, die zwar viel beforscht wurden, aber deren kommerzieller Erfolg trotzdem ausbleibt. So besteht die Gefahr, dass Erkenntnisse zum hedonischen Design ausgenutzt werden, um psychologische und funktionale Obsoleszenz zu fördern sowie kurzfristige Bedürfnisse zu wecken, die langfristig nicht zum Wohlbefinden der Menschheit beitragen (siehe auch Abschn. 2.3.4). Ferner kritisiert Debord (1996) in diesem Kontext den sogenannten Warenfetischismus. Dieser beschreibt das Phänomen, dass Kund:innen psychologische und soziale Bedürfnisse durch den Kauf und Konsum von (immer neuen) Waren befriedigen wollen. Ein Beispiel dafür ist Style und Fashion als Mittel der psychologischen Obsoleszenz, bei der Anbieter:innen gezielt den Eindruck erwecken möchten, dass der materielle Besitz z. B. eines neuen Kleidungsstücks oder eines neuen Sportwagens bei dem:der Käufer:in zu Glück, Erfüllung und sozialer Anerkennung führt, obwohl dies keine Eigenschaften des Konsumguts an sich darstellen.

Die systemtheoretische Betrachtungsweise wurde aber auch vielfach dahingehend kritisiert, dass sie den Konsum nicht in seiner Eigenständigkeit betrachtet, sondern nur als Teilsystem der Wirtschaft versteht. So haben insbesondere die ethnografisch arbeitenden Cultural Studies (Hepp et al. 2009) gezeigt, dass der Konsum eigene Strukturen, Normen und Praktiken hervorgebracht hat, die sich weder durch ökonomische noch durch psychologische Gesetze und Theorien erklären lassen. Demnach sollte die Sphäre des Konsums nicht als reines Teilsystem der Wirtschaft gesehen werden, sondern stellt im Sinne Luhmanns ein eigenständiges System dar, das allerdings mit dem System Wirtschaft strukturell gekoppelt ist.

2.3.3 Consumer Cultures

Allgemein wird in den Kulturwissenschaften die Rolle von Kultur für menschliches Verhalten untersucht, die auch im Konsum ihren Niederschlag findet. Kultur stellt dabei keinen rein externen Faktor dar, sondern wird wiederum auch durch das Verhalten der Menschen geprägt und reproduziert. Zudem ist Kultur nicht monolithisch verfasst, sondern Menschen sind in der Regel Teil von verschiedenen kulturellen Gruppen, die je nach Kontext bedeutsam werden können (Boden et al. 2009). So stellt das Mittagessen nicht nur ein Mittel zur Nahrungsbefriedigung (Maslow) dar, sondern ist auch eine soziale Aktivität, die durchzogen ist von Normen, zeitlichen Strukturen und Bedeutungssystemen (Hirschfelder et al. 2015). Durch den Vergleich der sehr unterschiedlichen Mahlzeitenpraktiken in verschiedenen Kulturen und Kontexten, lassen die sich darin manifestierenden kulturellen Bedeutungen sichtbar machen, analytisch untersuchen und interpretieren.

Während in den klassischen Geisteswissenschaften, wie der Germanistik, lange ein Fokus auf die Hochkultur vorherrschte, geht man in den heutigen Kulturwissenschaften in der Regel von einem breiteren Kulturbegriff aus. So betont Williams (2001) z. B., dass unter Kultur die Gesamtheit einer Lebensweise zu verstehen ist. Hierdurch unterstreicht er, dass die Kultur einer Gesellschaft nicht auf ihre künstlerischen oder intellektuellen Werke reduziert werden kann, sondern auch aus ihren alltäglichen Lebensweisen, Gewohnheiten, Traditionen, Bräuchen und sozialen Beziehungen besteht. Diese Perspektive betont das Profane, Populäre und Alltägliche als kulturelle Phänomene, die nicht isoliert von ihren sozialen, politischen und historischen Umgebungen betrachtet werden können.

In dieser Betonung des Alltäglichen wird Kultur als etwas betrachtet, das durch das tägliche Leben, die Arbeit, die Familienbeziehungen, die Freizeitaktivitäten und andere soziale und kulturelle Praktiken einer Gesellschaft geformt wird. Kultur als Gesamtheit einer Lebensweise betrachtet auch die Werte, Normen und Überzeugungen, die in einer Gesellschaft geteilt werden, sowie die Art und Weise, wie diese in den Alltag der Menschen integriert sind und wie sie sich unter dem Einfluss von geschichtlichen und technischen Entwicklungen verändern (Kaschuba 1999).

Jede Kultur hat dabei ihre eigene Sprache, ihre eigenen Bedeutungssysteme und Wissensordnungen, die das Denken und Handeln der Menschen prägen. Dies gilt nicht nur im engeren Sinne für die gesprochene Sprache, sondern auch für Artefakte, Handlungen und Gesten. Diese sind mit Bedeutungen versehen, die von den Angehörigen der Kultur wie ein Text gelesen und interpretiert werden können bzw. müssen. Kultur als Text kann dabei auch verschiedene Ebenen umfassen, wie zum Beispiel politische, soziale, wirtschaftliche und ästhetische Aspekte.

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht wird daher nicht nur die materielle Form von Waren angeschaut, sondern auch deren Bedeutung, die von den Produzent:innen von Gütern bewusst mitgestaltet wird. Dabei greift man auf die Zeichen- und Bedeutungssysteme der jeweiligen Kultur zurück, bildet aber auch eigene Codes aus oder reformuliert bestehende Codes. Bei der Produktgestaltung gilt es deshalb analog zu den materiellen Eigenschaften auch semiotische Eigenschaften des Produkts und der Marke zu berücksichtigen. Ein Beispiel stellt der Marketingslogan Geiz ist geil dar, der 2003 von einer deutschen Elektronikhandelskette benutzt wurde. Dieser greift semantisch den Topos der rationalen Verbraucher:in auf, aber gibt ihm:ihr eine eigene Konnotation, indem er mit zwei christlichen Sünden „Geiz“ und „Geilheit“ beschrieben wird. Hierdurch wird Sparen zum lustvollen, sündigen Erlebnis stilisiert, und der Slogan wurde schnell zu einer populären und prägnanten Redewendung im Alltag.

Auch wenn man mit Bedeutungen spielen und diese bis hin zu gewissen Grenzen beeinflussen kann, lassen sich kulturelle Bedeutungen nicht beliebig formen, da diese in der jeweiligen Kultur verankert sind. Dabei unterliegen Bedeutungen auch einem kulturellen Wandel, der auch von technischen Entwicklungen geprägt ist. Während in der Frühzeit der Informatik „künstliche Intelligenz“ noch eine abstrakte Idee war, ist sie heute im Alltag der Verbraucher:innen angekommen. Als abstrakte Idee war die Bedeutung der künstlichen Intelligenz von der Vorstellung einer kalt abwägenden und emotionslosen Maschine geprägt, die in weiten Teilen dem Ideal der rationalen Entscheider:in gleicht. Dieses Bedeutungssystem hat nicht nur zahlreiche Science-Ficton-Filme inspiriert (vgl. z. B. die Figur des Data in Star Trek: The Next Generation), sondern auch Forschungsprogramme (zur symbolischen KI) und gängige KI-Vorstellungen der Bevölkerung geprägt.

Durch den Einzug der KI in den Alltag findet auch ein Bedeutungswandel statt, bei der KI nicht allein auf eine übermenschliche Entität verweist, sondern auch so etwas Alltägliches wie die Steuerung eines Airbags bedeuten kann (Alizadeh et al. 2021). Durch die Verschiebung des Bedeutungssystems ändern sich auch Normen und Wertmaßstäbe, nach denen KI beurteilt wird: Anstelle der Frage danach, ob KI denken kann, liegt zunehmend der Fokus auf der Frage, wo KI nützlich sein kann oder bereits ist.

Der Wandel der Bedeutung von KI

Turing-Test: Eine KI gilt dann als intelligent, wenn sie das Verhalten eines Menschen simulieren kann. Für den Test stellt ein:e menschliche:r Prüfer:in über eine Tastatur Fragen an jemand anderen. Anhand der Antworten soll er:sie entscheiden, ob es sich bei dem Gesprächsgegenüber um eine Maschine oder einen Menschen handelt.

Garfinkel-Test: Eine KI gilt dann als intelligent, wenn sie als ein kompetentes Mitglied einer sozialen Praktik anerkannt wird. Hierzu nimmt die KI an einer sozialen Praktik, wie das Übersetzen eines Textes, das Schreiben eines Computerprogramms, das Navigieren in einer fremden Stadt etc., teil. Die menschlichen Akteur:innen greifen hierzu auf die Kompetenzen des Systems zurück. In ihrem Handeln zeigen sie dabei an, ob sie die KI als kompetentes Mitglied der sozialen Praxis akzeptieren. Als kompetentes Mitglied wird der KI die Fähigkeit zugeschrieben, die grundlegenden Konzepte, Prinzipien und Regeln zu kennen, die innerhalb dieser Praxis gelten. Zudem wird ihr zugeschrieben, dass sie über das notwendige Wissen, die Fähigkeiten und die Erfahrungen verfügt, um erfolgreich in der sozialen Praktik zu agieren.

Selbstkontrolle:

Vergleichen Sie den Turing-Test und den Garfinkel-Test. Welche unterschiedlichen Bedeutungen von Kompetenz, Intelligenz und KI kommen hierbei zum Ausdruck? Welchen Test würden Sie als Nutzer:in heutiger KI-Systeme vorziehen und warum?

Bei Bedeutungssystemen von Produkten und Dienstleistungen kann man zwischen Formen, Formationen und Institutionen unterscheiden (vgl. Abb. 2.5). Die Formen beziehen sich auf die ästhetischen und stilistischen Merkmale von Kulturobjekten. Sie helfen, kulturelle Bedeutungen und Werte auszudrücken und zu vermitteln. Diese Formen sollten jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sie stehen vielmehr in Bezug zu sozialen und historischen Bedingungen, die sie hervorbringen. Sie bauen auf Formationen auf, die sich auf die sozialen und kulturellen Zusammenhänge beziehen, in denen Kulturobjekte produziert und genutzt werden. Dabei können Formationen sehr unterschiedlich sein, von informellen Gruppen und Netzwerken bis hin zu formalen Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften. Diese sind wiederum in Institutionen verankert, durch die Formen, Praktiken und Beziehungen in einer Gesellschaft stabilisiert und organisiert werden. Formen, Formationen und Institutionen sind somit eng miteinander verknüpft und können nicht isoliert betrachtet werden. Sie sind Teil eines komplexen kulturellen Gefüges, das in bestimmten sozialen und historischen Bedingungen entsteht und sich ständig verändert.

Abb. 2.5
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Ebenen von Bedeutungssystemen

In diesem Zusammenhang lässt sich der Begriff der Consumer Cultures als die von den Verbraucher:innen geschaffenen Bedeutungssysteme verstehen, die durch Konsumgüter und die Art und Weise ihrer Verwendung ihren Ausdruck finden. Consumer Cultures sind dabei meist auf der Ebene der Formationen verortet, stehen aber in einem dynamischen Verhältnis zu den anderen Ebenen. So werden z. B. soziale Medien von den Nutzenden aktiv gestaltet und geformt, aber auch von gesellschaftlichen Institutionen und Regulierungen beeinflusst (siehe Tab. 2.4).

Tab. 2.4 Die Ebenen von Formen, Formationen und Institutionen bei sozialen Medien

Eine wichtige Eigenschaft von Gegenständen als Kulturobjekte ist, dass sie polysem sind. In der Literaturwissenschaft bezeichnet polysem die Fähigkeit eines Wortes, eines Ausdrucks oder eines Symbols, mehrere Bedeutungen zu haben. In den Kulturwissenschaften ist mit polysemischen Kulturobjekten gemeint, dass Gegenstände aufgrund ihrer Vielschichtigkeit nicht nur auf eine einheitliche und festgelegte Bedeutung interpretiert werden können, sondern für verschiedene Deutungen und Bedeutungen offen sind. So können Waren für verschiedene Menschen in unterschiedlichen Kontexten und mit kulturellen Hintergründen unterschiedliche Bedeutungen haben und auf verschiedene Art und Weise verbraucht, genutzt bzw. rezipiert werden.

Diese Polysemie führt dazu, dass Kulturobjekte zu wichtigen Gegenständen für kulturelle Aushandlungsprozesse werden können. Durch die Vielschichtigkeit der Bedeutungen können unterschiedliche Gruppen ihre eigenen Interpretationen einbringen und somit auch in einen Diskurs über die Bedeutung und Relevanz des Kulturobjekts eintreten.

2.3.4 Positionale Güter und symbolischer Konsum

Aus soziologischer Sicht ergeben sich zwei weitere Aspekte zum Verständnis der heutigen Konsumgesellschaft.

Zum einen zeigt die Konsumsoziologie, dass Güter und Konsum nicht nur der individuellen Bedürfnisbefriedigung dienen, sondern auch einen sozialen Zweck besitzen. Durch Konsum zeigen Menschen gewollt oder ungewollt an, welcher Rolle oder sozialer Gruppe sie angehören (z. B. Arbeiter:in vs. Angestellte:r, Fan des Clubs A bzw. B etc.). Das heißt, dass Konsumgüter selbst, aber insbesondere auch deren Konsum den funktionalen Zweck in der Gesellschaft erfüllen, soziale Rollen anzuzeigen und zu stabilisieren.

Damit zusammenhängend kann zwischen monadischen und relationalen Bedürfnissen unterschieden werden. Der aus der Philosophie entlehnte Begriff monadisch betont, dass etwas unabhängig von etwas anderem existiert. So existiert der Hunger einer Person unabhängig davon, ob jemand anderes auf der Welt auch an Hunger leidet oder nicht. Demgegenüber zeichnen sich relationale Bedürfnisse dadurch aus, dass sie nur relational zu anderen definiert werden können. Insbesondere die sozialen Bedürfnisse bei Maslow (vgl. oben, Abb. 2.4) sind relational, aber auch das Bedürfnis nach Anerkennung ist relational, da es nicht unabhängig von den Personen definiert werden kann, von denen man sich Anerkennung wünscht.

Manchmal sind relationale Bedürfnisse nicht unmittelbar erkennbar. So scheint der Wunsch nach einem ausreichenden Einkommen auf den ersten Blick monadisch zu sein. Da jedoch Geld keinen absoluten Wert hat, sondern ein soziales Gut darstellt, dessen Wert sich im Tausch zeigt und sich über die verfügbare Geldmenge bestimmt, handelt es sich um ein relationales Bedürfnis. Dies gilt insbesondere dann, wenn jemand den Wunsch hegt, überdurchschnittlich viel zu verdienen. Layard (2011) hat diesen Umstand wie folgt beschrieben:

„Auch bei der Arbeit vergleiche ich mein Einkommen mit dem meiner Kolleg:innen, soweit ich davon höre. Wenn sie eine Gehaltserhöhung bekommen, die über die Inflation hinausgeht, und ich nur eine, die gerade die Inflation ausgleicht, werde ich wütend. Diese offensichtliche psychologische Einsicht scheint unbekannt in der gängigen Wirtschaftswissenschaft zu sein, die annimmt, dass die Dinge besser würden, wenn das Einkommen einer Person stiege und alle anderen gleichblieben, da niemand darunter leiden würde. Aber Mensch, habe ich gelitten“. (Layard 2011, Übers. durch die Autor:innen)

In der Literatur wird in diesem Zusammenhang auch von positionellen Belangen („positional concerns“) bzw. von positionellen Gütern („positional goods“) gesprochen. Ein positionelles Gut kann dabei als ein Gut definiert werden, dessen Nutzen für ein Individuum vom Verhalten anderer abhängt (Schneider 2007). Das heißt, positionelle Güter sind Güter, deren Wert oder Nutzen für eine Person stark von ihrer relativen Position oder ihrem Vergleich mit anderen Personen abhängt anstatt von absoluten Eigenschaften oder Mengen. Beispiele für positionelle Güter sind Luxusgüter wie teure Autos, Designerkleidung, exklusive Wohnungen oder Mitgliedschaften in exklusiven Clubs. Der primäre Wert eines Luxusautos ist, dass es als Statussymbol dient. Der Wert eines Autos wird hierbei nicht über seinen Gebrauchswert definiert, schnell und bequem von A nach B zu gelangen, sondern darüber, welche Position in der Gesellschaft man über das Auto als Besitzer einnimmt. Thorstein Veblen (1899) spricht hierbei auch von demonstrativem Konsum (engl. „conspicuous consumption“). Dies beschreibt das Verhalten einer damals neuen sozialen Klasse, die er als Freizeitklasse (engl. „leisure class“) bezeichnet. Die Zunahme von Freizeitaktivitäten wurde zum einen durch einen Überfluss der Produktion gekennzeichnet, zum anderen diente dies der Oberschicht als wichtiges Distinktionsmittel, um sich von der Arbeiterklasse abzuheben.

Positionale Güter lassen sind mit neoklassischen Ansätzen (vgl. Abschn. 2.2.1) nicht ausreichend erklären. Die neoklassische Wirtschaftstheorie nimmt stillschweigend an, dass die Nutzungsmaximierung des Individuums unabhängig vom Verhalten anderer ist. Neoklassische Preistheorien gehen z. B. davon aus, dass die Nachfrage durch Preissenkung steigt. Bei Luxusgütern (auch sogenannten Veblen-Gütern) kann man jedoch teilweise den umgekehrten Effekt beobachten. So verliert die wohlhabende Käuferschicht das Interesse an Luxusgütern, wenn sie von der Mittel- und Unterschicht erworben werden können, da sie damit ihre Statusfunktion verlieren.

In neoklassischen Ansätzen wird ferner davon ausgegangen, dass die Nützlichkeitsfunktion statisch und monadisch ist. Ähnliches gilt auch für die in Abschn. 2.2.2 dargestellten psychologischen Bedürfnistheorien, die zwar soziale Bedürfnisse anerkennen, aber deren Befriedigung auf individueller Ebene ansiedeln. Diese Ansätze basieren weitgehend auf einer „Robinson-Crusoe-Vorstellung“, die als Grundlage für einen Großteil der neoklassischen Mikroökonomie dient. In einer solchen Ökonomie können Positionsgüter nicht berücksichtigt werden (Schneider 2007), da die Verbraucher:innen quasi als isoliert voneinander denkende und handelnde Subjekte angesehen werden.

Aus Sicht der Theorie positioneller Güter wird jedoch die Annahme einer statischen, monadischen Nützlichkeitsfunktion fallen gelassen. Sie stellt hier allenfalls eine Annäherung an die Realität dar, die nur innerhalb eines engen zeitlichen und sozialen Kontextes gültig ist. So sind in der konkreten Situation relationale Bedürfnisse weitgehend stabil. Man wünscht sich eine etwas größere Wohnung oder ein schöneres Auto. In größeren zeitlichen und kulturellen Kontexten sind relationale Bedürfnisse jedoch nicht stabil, sondern es verschieben sich die Maßstäbe, was angemessen groß, angemessen schön oder angemessen teuer ist. So war der durchschnittliche Lebensstandard bspw. in den 1960er-Jahren noch sehr viel bescheidener, was die Größe von Wohnraum, die Anzahl der Autos und die Ausstattung mit Freizeitgütern betrifft, als es heute der Fall ist.

Eine besondere Rolle spielt hierbei das relationale Bedürfnis, sich vom Durchschnitt abzuheben – sei es, um das Bedürfnis nach Sicherheit und Autonomie durch überdurchschnittlich viel Macht, oder das Bedürfnis nach Popularität und Bedeutsamkeit durch überdurchschnittlich viel Anerkennung, Reichtum und Erfolg zu stillen. Dieses Bedürfnis des Überdurchschnittlichen stellt einen unstillbaren Wachstumsmotor dar, bei dem jede:r Einzelne durch sein:ihr Streben dazu beiträgt, die Maßstäbe nach oben zu schrauben: Was gestern noch eine überdurchschnittliche Leistung war, ist morgen nur noch Durchschnitt. Um sich abzuheben, muss jede:r Einzelne daher immer größere (Konsum-)Leistungen vollbringen.

Dieser gesellschaftliche Wachstumsmotor stellt daher auf individueller Ebene zugleich ein Hamsterrad dar. Dies wird auch positionelles Wettrüsten (engl. „positional arms races“) genannt, bei dem jede:r Einzelne seinen:ihren Konsum oder seine:ihre Ausgaben kontinuierlich steigern muss, um andere auszustechen und seine:ihre relative Position in der Gesellschaft zu erhalten oder zu verbessern (Frank 2013). Diese dem Rüstungswettlauf ähnliche Dynamik hat auf individueller Ebene zur Folge, dass ein Mehr an Reichtum kaum noch zu einem Mehr an Glück führt. Kolmar (2017) spricht in diesem Zusammenhang von Positionsexternalitäten bzw. dem Happiness-Paradox. Die individuellen Anstrengungen führen auf kollektiver Ebene zu einer Verschiebung der Maßstäbe, so dass eine individuelle positionelle Verbesserung nur kurzfristig erfolgreich ist: Im Durchschnitt ist man nur durchschnittlich erfolgreich.

Berücksichtigt man die Grenzen des Wachstums, hat die rüstungswettlaufähnliche Dynamik auch für die Gesellschaft als Ganzes negative Folgen. So werden Anstrengungen auf individueller Ebene, nachhaltig einzukaufen oder Energie zu sparen, dadurch zunichte gemacht, dass sie die Einzelnen unter erheblichen Druck setzen, sich den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen, die Welt gesehen haben zu müssen, eine vorzeigbare Wohnung zu besitzen, die neusten Produkte zu besitzen etc. So hat auch der nachhaltige Konsum wiederum demonstrative Funktionen, was zwar zu einem Motivationsfaktor werden kann, jedoch umgekehrt den Nachteil hat, dass es sich nicht jede:r leisten kann, im Biomarkt einzukaufen oder den teureren Ökostromanbieter zu wählen. Zudem lassen sich durch den Wunsch nach positioneller Verbesserung auch immer wieder Rebound-Effekte beobachten, so dass Effizienzgewinne in Mehrnutzung bzw. andere Konsumbereiche fließen.

Digitalisierung als Motor für den demonstrativen Konsum

Seit der Einführung im Jahr 2010 wird Instagram von Nutzer:innen benutzt, um Fotos mit Bildunterschriften zu posten. Unter der Generation der Millennials wurde sie schnell zu einer der weltweit beliebtesten Social-Media-Plattformen mit mehr als einer Milliarde Nutzer:innen. Instagram wird häufig dazu benutzt, demonstrativen Konsum visuell zu dokumentieren, der häufig mit Mode, Autos, Essen, Urlaub und Landschaften in Verbindung gebracht wird. Die geposteten Bilder sind meist gut einstudierte, inszenierte und manipulierte „Selfies“. Die wahrgenommene „Instagrammability“ eines Reiseziels wird dabei zu einem der wichtigsten Faktoren bei der Urlaubsplanung von Millennials.

Cohen et al. (2022) untersuchten hierbei einen Trend, der unter dem Hashtag #RKOI (Rich Kids of Instagram) in den sozialen Medien zu finden ist, unter dem Nutzer:innen einen luxuriösen Lebensstil demonstrieren. Dabei analysierten sie neben den Bildern auch die Bildunterschriften der Posts, die z. B. lauteten: „Tough decisions this weekend #rollsroyce #phantom #bentley #gtc #porsche #whichdowetake?

In ihrer Analyse zeigen Cohen et al. (2022), dass Reichtum nicht allein monetär ausgedrückt wird, sondern ein Bedeutungssystem darstellt, das von der Gemeinschaft verstanden und anerkannt werden muss.

Selbstkontrolle:

  • Diskutieren Sie die Rolle von Sozialen Medien, solche Bedeutungssysteme zu prägen und zu verbreiten.

  • Überlegen Sie sich, wie Reichtum in einer Post-Wachstumsgesellschaft aussehen könnte. Wie ließe sich dieser Begriff von Reichtum durch demonstrativen Konsum in sozialen Medien anzeigen?

Bei der Digitalisierung von Konsumgütern lassen sich zwei gegenläufige Effekte von positionalen Gütern erkennen. Bei digitalen Gütern gehen die Grenzkosten gegen null, zugleich profitieren sie besonders stark von Netzwerkeffekten. Deshalb neigen digitale Märkte zu Monopolbildung (siehe Kap. 3), wo digitale Produkte wie Amazon, Facebook, TikTok, YouTube, Netflix, Spotify von Milliarden Menschen genutzt werden. Diese können damit nicht als Statussymbol fungieren, mit der sich die Oberschicht durch demonstrativen Konsum von der Unterschicht abgrenzen kann. In dem Sinne führt die Digitalisierung zu einer Nivellierung positioneller Güter.

Gleichzeitig eignen sich soziale Medien besonders für den demonstrativen Konsum, und zwar nicht dadurch, dass man sie benutzt, sondern durch die Art und Weise der Nutzung. Das positionelle Bedürfnis nach Anerkennung, Einfluss und Erfolg drückt sich zum einen darin aus, wie man sich in den sozialen Medien präsentiert, zum anderen in der Anzahl der Follower:innen, die man besitzt. Hierbei kann es erneut zu einem positionellen Wettrüsten kommen, das dadurch angetrieben wird, dass man sich nicht mehr allein im lokalen, sondern im globalen Maßstab vergleicht. Hier führt die Digitalisierung zu einer weltweiten Vergleichbarkeit des jeweiligen Status und Lebensstils und somit zu einer steigenden Konkurrenzsituation des:der Einzelnen und erschwert dadurch die Befriedigung relationaler Bedürfnisse.

Distinktionsmechanismen und Habitus

Damit Statussymbole funktionieren, müssen sie nicht nur teuer sein. Sie müssen als solche von den Beteiligten erkannt und anerkannt werden. Meist sind es jedoch die feinen Unterschiede, die darüber entscheiden, ob jemand als reich oder nur als möchte-gern-reich angesehen wird.

Aus soziologischer Sicht muss jemand nicht nur die Symbole kennen, die die Schichtzugehörigkeit anzeigen. Er:Sie muss sich auch kompetent zur Schau stellen können. In der Soziologie spricht man hier auch von Distinktionsmechanismen. Sie beziehen sich auf die sozialen Prozesse und Praktiken, die von Individuen oder Gruppen angewendet werden, um sich von anderen abzugrenzen und eine soziale Distinktion oder Unterscheidung herzustellen. Diese Mechanismen dienen dazu, den eigenen sozialen Status, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Klasse und den eigenen Geschmack zu markieren.

Schon Mitte des 20. Jahrhunderts untersuchte Norbert Elias ausführlich Distinktionsmechanismen, ohne sie als solche zu benennen, indem er die Ergebnisse des historischen Zivilisationsprozesses beleuchtet (Elias 1939). Neben anderen Entwicklungen wird von ihm auch die Entstehung einer höfischen Etikette und von Konsumformen in Abgrenzung zum Bürgertum beschrieben, da dieses den sozialen Status des Adels zu bedrohen begann. Elementar ist für Elias außerdem der Wandel vom Fremdzwang zum Selbstzwang. Äußere Zwänge und innere Triebe verlieren durch gesteigerte Selbstkontrolle an Einfluss und werden von Subjekt sublimiert, sprich: in sozial akzeptierte oder kulturell als wertvoll angesehene Aktivitäten umgewandelt. Dies bedarf nicht nur einer hohen Selbstdisziplin, sondern auch der Kenntnis der sozial akzeptierten Normen (vgl. Abschnitt „Normen“) und der vorherrschen Bedeutungssysteme (vgl. Abschnitt „Konsumkulturen“). Beide, Normen und Bedeutungen, werden als Distinktionsmechanismen angeeignet.

Die Aneignung der Distinktionsmechanismen ist meist kein bewusster Vorgang, sondern man wird in eine Kultur hineinsozialisiert. Hierdurch werden die Normen, Werte und Bedeutungen zur zweiten Natur, so dass man sie nach außen authentisch vertritt. Dies äußert sich insbesondere in Geschmacks- und Angemessenheitsurteilen, die sich individuellen Präferenzen, Vorlieben und Bewertungen von kulturellen Ausdrucksformen wie Kunst, Musik, Literatur, Mode oder sogar Lebensstil zeigen. Als Mitglied einer bestimmten Gruppe weiß man, wie man Austern mit der Austerngabel oder mit dem Austernmesser zu essen hat. Darüber hinaus weiß man, ob und wie eine Auster schmeckt. Das heißt, Geschmack ist nicht nur ein persönliches Erlebnis, sondern hat auch eine soziale Funktion. Über das kompetente Essen und Schmecken von Austern zeigt man seine Mitgliedschaft zu der sozialen Gruppe an.

Aus diesem Grund ist Distinktion nach Bourdieu (1993) nicht ohne den sozialen Begriff des Geschmacks (engl. „taste“) denkbar. Damit Geschmack seine soziale Funktion erfüllen kann, muss es Güter geben, die soziale Bedeutung haben und entsprechend klassifiziert werden können: „In order for there to be tastes, there have to be goods that are classified as being in ‘good’ or ‘bad’ taste […] Classified and thereby classifying, hierarchized and hierarchizing“ (Bourdieu 1993).

Diese unbewussten, gelebten Geschmacks- und Angemessenheitsurteile bilden den sogenannten Habitus als das durch die Mitglieder verkörperte kollektive Gedächtnis einer Gruppe, Schicht bzw. Kultur. Der Habitus bezieht sich auf die internalisierten, inkorporierten und strukturierten Praktiken, Vorstellungen und Dispositionen eines Individuums, in denen sich die sozialen Erfahrungen, Werte, Normen und Denkmuster seiner Umgebung widerspiegeln. Er entsteht durch die Aneignung und Internalisierung sozialer Strukturen, die im Laufe der Zeit in individuellen Handlungsschemata und -dispositionen verankert werden. Der Habitus prägt die Art und Weise, wie Individuen die Welt wahrnehmen, denken und handeln. Er beeinflusst ihre Vorlieben, ihre Entscheidungen und ihre sozialen Praktiken. Der Habitus ist somit Träger des symbolischen Konsums.

Jenseits von Knappheit gibt es kein Merkmal, das etwas zu einem Statussymbol macht. Prinzipiell kann alles Gegenstand eines Geschmacksurteils werden, was diesem Klassifikationsprinzip unterliegt. Die Einordnung der verschiedenen Güter geschieht durch „feine Unterschiede“, die sich in den sozialen Schichten widerspiegeln und auch durch den Habitus über Generationen weitergegeben werden. Dieser ursprüngliche Habitus, in den eine Person sozialisiert wurde, kann nur mit Mühe wieder „abtrainiert“ werden. Soziologische Untersuchungen zeigen dabei, dass soziale Ungleichheiten sich nicht nur auf das Einkommen beziehen. So müssen soziale Aufsteiger:innen sich nicht nur die „richtigen“ Konsumgüter leisten können, sie müssen sich angemessenen Konsum aneignen und zur zweiten Natur machen.

Besonders Mode ist dabei eine Form des symbolischen Konsums, die von Distinktion und Geschmack durchdrungen ist. Erstmals setzte sich Simmel mit diesem Phänomen auseinander, später wurde es von Blumer aufgegriffen, indem er untersuchte, wie neue Trends als kollektive Aushandlung aufkommen. Für ihn sind Geschmacksvermittler oder sogenannte Trendsetter weniger einflussreich für den Geschmack der Konsument:innen als das gesamtgesellschaftliche unbewusste Einverständnis, einen neuen Trend zu akzeptieren.

Wesentliche Triebfeder aller Distinktions- und Geschmacksforschung ist die Konkurrenz zwischen den Schichten, die ihren Klassenstatus als stets bedroht wahrnehmen und durch symbolischen Konsum zu verteidigen versuchen. Grundsätzlich fußen die meisten Theorien zu Geschmack, Distinktion und symbolischem Konsum also in marxistisch orientierten Ansätzen.

In der neueren Konsumforschung wird die strikte Trennung zwischen Ober- und Unterschicht aufgegeben. So untersuchte Peterson (1992) das Phänomen der sogenannten kulturellen Allesfresser (engl. „cultural omnivores“), bei dem Individuen oder soziale Gruppen eine breite Palette von Gütern konsumieren, kulturelle Ausdrucksformen praktizieren und schätzen, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund oder ihrer Herkunft. Die Vorstellung des „Snobs“ in der Oberschicht wandelt sich nach Peterson zu einem „Allesfresser“, der nicht mehr nur symbolische Güter der Oberschicht konsumiert, sondern durchaus auch Güter der Populärkultur konsumieren darf, ohne um seinen sozialen Status fürchten zu müssen. Dieses zuvor snobistische Verhalten mit seinem an spezifischen Gütern ausgerichteten Geschmack (engl. „cultural univore“) ist nun nach Peterson eher in der Unterschicht zu verorten.

Wie ich lernte, richtig Wein zu trinken

Während der COVID-19 Pandemie haben sich viele Winzer:innen dazu entschlossen, ihre Weinverkostungen auf ein Online-Format zu verlegen. Die „Hosts“ starten eine Online-Umfrage und wollen wissen, ob die Teilnehmenden Wein-„Neulinge, -Expert:innen oder etwas dazwischen“ sind. Die meisten Antworten erhält „etwas dazwischen“.

Während der Verkostung fragt eine Teilnehmerin in den Chat, wie sie den Wein denn richtig schwenken solle. Darauf erhält sie viele Antworten, wie etwa „Sie haben ja gar keine Ahnung!“ oder „Zuvor haben Sie bestimmt ‚Neuling‘ angeklickt“. Die Winzerin greift dies auf und verteidigt die Fragende: „Sie können dabei eigentlich nichts falsch machen.“ Daraufhin zeigt sie eine „Einsteigertechnik“ des Schwenkens.

Selbstkontrolle:

Erläutern Sie das Phänomen der Online-Weinverkostung unter den Gesichtspunkten der sozialen Distinktion und Demokratisierung im Allgemeinen und leiten Sie daraus ab, wie es zu der geschilderten Situation kommen konnte.

Insbesondere die Cultural Studies interessieren sich für die Ausbildung von Konsumkulturen als eigenständiger Habitus, der sich nicht in die Kategorie Ober- vs. Unterschicht bzw. Hoch- vs. Massenkultur einordnen lässt. Formen des Habitus lassen sich in allen Arten des Konsums finden, der für soziale Gruppen identitätsstiftend ist, z. B. Fankulturen, Veganismus, Geschlechteridentitäten, Migrationskulturen etc. So untersuchte Becker (1953) z. B. Kifferkulturen, bei denen er zeigte, dass Marihuana-Konsum in seiner Doppelfunktion von persönlichem Erleben und sozialen Mechanismen (wie beispielsweise Imitation der anderen) erlernbar ist. Er beschreibt die Aneignung des Marihuana-Konsums als einen Prozess der Einstiegsarbeit (englisch: „entry work“), bei dem Menschen lernen, wie man Marihuana konsumiert und wie soziale Interaktionen und Gruppenzugehörigkeit den Konsum beeinflussen können. Zugleich untersuchte er die Rolle von Subkulturen und sozialen Gruppen bei der Etablierung und Aufrechterhaltung von Normen und Werten im Zusammenhang mit dem Marihuana-Konsum.

Diese Praktiken der Aneignung und Geschmacksbildung finden auch Anwendung in digitaler Form, so dass oft YouTube Tutorials diese Prozesse begleiten. Am Beispiel von Online-Weinproben (siehe Kasten „Wie ich lernte, richtig Wein zu trinken“) zeigt sich, dass eine strikte Trennung von Online- und Offline-Erlebnissen brüchig wird. Die Online-Vermittlung wird begleitet von der materiellen Verkostung des Weins, sodass der Geschmack auf der Zunge geschult wird (Berkholz et al. 2023). Durch Internet-gestützte Vermittlung von Konsumkulturen durch YouTube und andere Formate wird die vormals distinguierende Praktik der Verkostungen von nun an für jede Schichtzugehörigkeit greifbar.

2.4 Praxelogische Ansätze

In einer starken Vereinfachung lassen sich individualistische (z. B. Rational Choice oder bedürfnisorientierte Ansätze) und strukturalistische Konsumtheorien (z. B. Normtheorien und Systemtheorien) unterscheiden. Während die einen die Ursache des Konsums im Subjekt (z. B. aufgrund rationaler Abwägung oder Bedürfnisbefriedigung) sehen, sieht die strukturalistische Theorieströmung die Ursache außerhalb des Subjekts. Hierbei spielen externe Faktoren wie die Angebote auf dem Markt, gesellschaftliche Normen und die soziokulturelle Prägung die wesentliche Rolle.

Um diese beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Positionen zu vereinen, haben sich jüngere Arbeiten mit der Entwicklung von Kulturtheorien beschäftigt, die sich mit dem Zusammenspiel von gesellschaftlichen Strukturen und dem Handeln des Einzelnen beschäftigen. Ein wichtiger Zweig dieser theoretischen Denkweise ist die Praxistheorie, die sich in den letzten Jahrzehnten als wichtiges Analyseinstrument in den Kulturwissenschaften sowie auch der Informatik entwickelt hat (Reckwitz 2002; Halkier et al. 2011; Wulf et al. 2015).

In der neueren Verbraucherforschung werden vermehrt praxistheoretische Ansätze (Reckwitz 2002) aufgegriffen, um soziale Praktiken des Wohnens, Kochens, Kaufens, Vorsorgens etc. zu analysieren und zu verstehen (Warde 2005; Brunner 2007; Halkier et al. 2011). Insbesondere werden hier Handlungen nicht als einzelne, diskrete und individuelle Einheiten betrachtet, sondern als sozial eingebettete, situierte, durch implizit-methodisches Wissen geleitete Praktiken verstanden. Sie bilden ein schwachstrukturiertes, dynamisches Geflecht, in dem sich der:die Verbraucher:in bzw. der Haushalt als Forschungsgegenstand erst konstituiert (Halkier et al. 2011). Auf Basis dieses theoretischen Verständnisses haben Ganglbauer et al. (2013) gezeigt, dass sich z. B. Ernährungsverhalten aus einer Ansammlung von lose gekoppelten Praktiken des Einkaufens, Kochens und Essens zusammensetzt, deren wechselseitige Abhängigkeit es in der Gestaltung von Verbraucherinformationssystemen zu berücksichtigen gilt.

Praktiken sind aus dieser Perspektive definiert als „routinisierte Formen des Verhaltens, die aus verschiedenen Elementen bestehen, die miteinander in Verbindung stehen: Formen von körperlichen Aktivitäten, Formen von mentalen Aktivitäten, ‚Dinge‘ und ihr Gebrauch, ein Hintergrundwissen in Form von Verständnis, Know-how, Gefühlszuständen und Motivationswissen“ (Reckwitz 2002, Übers. durch Verfasser). Es gibt unterschiedliche Konzipierungen darüber, welche Elemente einer Praxis relevant für die Analyse sind, aber prinzipiell unterscheidet man zwischen den drei Bereichen (Shove und Spurling 2013):

  • Normen/Symbole/Motivationen

  • Fähigkeiten/Routinen/Wissen

  • Dinge/Materialien/Werkzeuge

Wichtig bei Praxistheorien ist hervorzuheben, dass es zwei Bedeutungsebenen von Praxis gibt:

Praxis als Entität

Diese Sicht betont, dass soziale Praktiken eine eigenständige Existenz haben und nicht allein auf deren situierte Ausführungen zurückgeführt werden können. Man kann Praxis als Entität auch als Blaupause verstehen, die dem menschlichen Handeln zugrunde liegt. Diese Perspektive ist den strukturalistischen Normtheorien verwandt, indem sie betont, dass Praktiken kollektive, sozial verankerte Phänomene sind, die Menschen durch Sozialisation erlernen, um sie richtig auszuführen. Sie erweitert jedoch die strukturalistische Perspektive, indem sie neben Normen auch die symbolische und materielle Ebene betont.

Praxis als Performanz

Diese Sicht betont, dass soziale Praktiken nicht als statische Strukturen oder die reine Anwendung von Blaupausen betrachtet werden sollten, sondern als lebendige und dynamische Aufführungen (Performanzen) im soziomateriellen Raum. Hierbei wird die kreative und situative Natur sozialer Praktiken betont. Die handelnden Akteur:innen sind nicht einfach passiv von sozialen Strukturen determiniert, sondern agieren aktiv und interpretieren die soziale Welt in ihren Handlungen. Diese Perspektive ermöglicht ein besseres Verständnis der Komplexität sozialen Handelns und wie sich soziale Praktiken in einem dynamischen Prozess entwickeln und verändern können.

Die Performanztheorie betrachtet Praxis nicht als eine eigenständige Entität, sondern als das Ergebnis situierter Handlungen. Jenseits dieser situierten Handlungen ergibt es keinen Sinn, vom Wesen sozialer Praktiken zu sprechen, die eine bestimmte Form und Struktur besitzen. Insbesondere sind Regeln und Normen nicht die Voraussetzung menschlichen Handelns, sondern dessen Ergebnis. Nehmen wir das Beispiel, dass sich ein Junge ein Buch nimmt. Hier kommt die abstrakte Regel „Du darfst nicht stehlen“ erst dadurch zur Geltung, wenn wir die Situation als Einkaufen deuten, bei der wir Waren bezahlen müssen. Regeln müssen also erst einmal erkannt und anerkannt werden. Dabei verändern sich die Regeln mit dem Kontext. Wir können uns den Jungen vorstellen, wie er das Buch in einem Buchladen, zu Hause, bei einem guten Freund oder in einem Altpapiercontainer entdeckt und mitnimmt. Die Regeln und damit die sozialen Praktiken von „einen Gegenstand mitnehmen“ verändern sich je nach Kontext.

Diese Sicht wurde durch den Philosophen Wittgenstein geprägt, der beschrieb, was es heißt, einer Regel zu folgen. Das Befolgen einer Regel kann nicht einfach eine mechanische Anwendung einer festgelegten Regel bedeuten, ohne dass man in logische Widersprüche gerät. Es geht nicht darum, eine vorgegebene Anweisung oder ein starres Gesetz zu befolgen, sondern vielmehr um ein komplexes soziales Phänomen, das in der Praxis verankert ist.

Praxis als Performanz: Zur Vollzugswirklichkeit von Konversationen

Zu den Praktiken sozialer Interaktion gehört so etwas Banales wie das „Ins-Wort-Fallen“. Die sozialen Regeln des Sprecherwechsels (engl. „turn takings“) (Button 1990) sind dabei oft subtil und steuern den Gesprächsverlauf unbewusst durch Pausen, Senken der Stimme, Gesten und andere Hinweise, dass man unterbrochen werden darf bzw. dass man etwas sagen möchte. Die Ordnung des Gesprächs wird jedoch nicht vorab festgelegt, sondern während des Gesprächs immer neu hergestellt. Bergmann (2010) spricht deshalb auch von einer Vollzugswirklichkeit.

Diese Materialität der Vollzugswirklichkeit zeigte sich insbesondere in den Anfängen des Chattens und der Videokonferenzen. Durch Verzögerung in der Übertragung und fehlende Gesten im Gespräch kam es zu Störungen beim Sprecherwechsel, bei denen sich die Teilnehmenden immer wieder ins Wort gefallen sind. Heutige Chat- und Videokonferenzsysteme haben aus diesen Erfahrungen gelernt und neue digitale Hilfsmittel entwickelt, die anzeigen welche Nutzer:in unterbrochen werden darf bzw. Gesprächsbedarf hat.

Selbstkontrolle:

Analysieren Sie die sozialen Praktiken von „Über den Zebrastreifen gehen“ als Vollzugswirklichkeit.

  • Wie zeigt der:die Fußgänger:in an, dass er:sie über die Straße gehen möchte?

  • Wie zeigt das der:die Autofahrer:in an, dass er:sie den anderen über die Straße gehen lässt?

  • Was können wir aus dieser sozialen Interaktion für die Gestaltung autonomer Fahrzeuge lernen?

Ein Beispiel soll die praxistheoretische Sicht auf Konsum verdeutlichen: Kuchenbacken stellt eine Konsumpraxis dar, die bestimmten gesellschaftlichen Regeln folgt. So gibt es bestimmte Konventionen und Bedeutungen, die hinter einem Kuchen stecken.

Bedeutungen/Symbole/Motivationen

Beim Kuchenbacken geht es nicht nur um die physiologische Bedürfnisbefriedigung, etwas Süßes essen zu wollen oder Kompetenzerfahrungen zu sammeln. Das Kuchenbacken ist auch geprägt durch mannigfaltige soziale Normen, z. B. die Erwartung, dass man zu bestimmten Anlässen einen Kuchen backen sollte (z. B. zu Geburtstagen, zum Berufseinstand etc.) Mit einem selbst gebackenen Kuchen ist auch eine Reihe von gesellschaftlichen Bedeutungen verbunden, wie z. B. Wertschätzung auszudrücken, Gastlichkeit anzuzeigen, Sinn für Ästhetik zu haben etc.

Fähigkeiten/Routinen/Wissen

Einen Kuchen backen zu können erfordert bestimmte Kompetenzen, die man erlernen muss, damit der Kuchen gut gelingt und nicht zusammenfällt oder anbrennt; insbesondere bei der Substitution von Zutaten durch andere, weil man bspw. vegan backen möchte, erfordert dies besondere Fähigkeiten.

Jemand, der diese Fähigkeit nicht besitzt oder nicht die Zeit besitzt, sie auszuführen, wird geneigt sein, zu „schummeln“ und auf eine Fertigbackmischung oder auch eine:n Freund:in zurückgreifen, um sich an der sozialen Praxis des Kuchenbackens zu beteiligen.

Dinge/Materialien/Werkzeuge

Das Kuchenbacken ist eine materielle Handlung, die bestimmte Dinge wie beispielsweise einen Backofen, Zutaten, und ggf. eine Küchenmaschine erfordert. Je nach Kontext können auch spezielle Bestecke und Kaffeetafelgeschirr dazu nötig sein, ebenso wie ein Kuchenheber und eine Platte zum Anrichten. Die Teilhabe an der Praktik des Kuchenbackens geht deshalb auch mit Konsumpraktiken einher, sich einen Backofen, eine Küchenmaschine, Backformen etc. anzuschaffen. Diese Dinge werden jedoch nicht für einen einzelnen Kuchen angeschafft, sondern können für viele Kuchen und andere Gerichte genutzt werden. Hierdurch stabilisieren Dinge Konsumpraktiken und verstärken sie.

Konsumpraktikenund Nachhaltigkeit

Praxistheorien haben sich insbesondere im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung als sehr sinnvolle analytische Linse erwiesen. Durch den Fokus auf die Handlungsmuster, also die „kollektiven Rhythmen“ unserer Gesellschaft, erlauben sie es, individuelles Handeln der einzelnen Menschen mit den gesellschaftlichen Strukturen, die diese Handlungen prägen, zu verbinden (Shove und Spurling 2013; Rinkinen et al. 2020).

Ein Beispiel für solche Forschung im Bereich der Digitalisierung ist etwa das Thema Veganismus (Lawo et al. 2019). Aus praxistheoretischer Sicht stehen Verbraucher:innen, die sich vegan ernähren wollen, vor einem praktischen Problem: Sie müssen sich nicht nur neue Fähigkeiten/Routinen/Wissen aneignen, etwa um schmackhafte Gerichte zubereiten zu können; sie müssen dies auch in gesellschaftlichen Strukturen tun, die an anderen (omnivoren) Ernährungspraktiken ausgerichtet sind, und erfahren ggf. entsprechende Hindernisse oder Widerstände aus ihrem (sozialen und materiellen) Umfeld.

Daher benötigen Menschen, die sich vegan ernähren möchten, Unterstützung auf verschiedenen praxistheoretischen Ebenen, bei denen digitale Werkzeuge eine wichtige Rolle spielen können:

  • Aneignung und Zugang zu neuen Kompetenzen, z. B. Rezepte oder Infos zu ausgewogener Ernährung ohne Fleisch

  • Irritation und Aneignung von Bedeutungen, z. B. Dokumentation oder Tracking von Lebensmitteln

  • Erkunden von Möglichkeiten der Aneignung des materiellen Kontextes, z. B. vegane Restaurants oder Lebensmittelgeschäfte

Selbstkontrolle:

  • Welche digitalen Unterstützungswerkzeuge können Sie sich konkret auf den unterschiedlichen Ebenen der Praxistheorie vorstellen, wenn Sie an ein anderes Nachhaltigkeitsthema denken, wie z. B. Mobilität?

  • Inwiefern sind die Unterstützungsbedarfe konstant, oder wie ändern sich diese im Verlauf des (persönlichen oder gesellschaftlichen) Wandels von Praktiken?

  • Welche Rolle spielen hier die beiden Ebenen Praxis als Entität und Praxis als Performanz?

Aus praxistheoretischer Sicht lässt sich erkennen, dass die drei Ebenen miteinander verflochten sind. Je nach Motivation können verschiedene Fähigkeiten und Materialien eine Rolle spielen. Zwar gibt es ein gewisses gesellschaftliches Muster (Praxis als Entität), das die Erwartungshaltungen und Regeln etabliert hat, nach denen ein Kuchen gebacken werden kann; jedoch sind die einzelnen Akteur:innen frei in der Umsetzung, wenden Blaupausen je nach Kontext unterschiedlich an und verändern hierüber auch Routinen und Erwartungshaltungen (Praxis als Performanz). So macht es sicherlich einen Unterschied, ob man Kuchen für die 90-jährige Großmutter backt oder für die hippen Programmierkolleg:innen im Startup. In einer WG von vegan lebenden Menschen wird ein Kuchen sicher anders aussehen als auf dem ländlichen Ferienbauernhof.

In den identifizierten Konsummustern zeigen sich so auch die soziale Ordnung und die gesellschaftliche Struktur. Dadurch werden sie nicht allein als Bedürfnisbefriedigung interpretiert oder als Einhaltung gegenseitiger normativer Erwartungen, sondern sie zeigen sich als eingebettet in Strukturen eines gemeinsamen Wissens und gemeinsamer Bedeutungszuschreibungen. Daher lässt sich trotz „der Bedeutung, die der Kauf von Waren für das alltägliche Leben in den heutigen westlichen Gesellschaften hat, (…) Konsum weder auf den Markt beschränken noch durch den Austausch definieren“ (Warde 2005). Konsum ist aus praxistheoretischer Sicht nicht selbst eine Praxis, sondern vielmehr ein Prozess der Aneignung und steht im Zusammenhang mit Praktiken, die sozial legimitiert sind, und die in der Summe einen gesellschaftlichen Rhythmus abbilden.

2.5 Zusammenfassung

In den vorherigen Abschnitten wurde deutlich, dass es verschiedene Ansätze gibt, um menschliches Handeln zu interpretieren. Während die neoklassische Wirtschaftstheorie die Bedürfnisse der Menschen als gegebene Größen betrachtet, suchen psychologische Theorien den Ursprung des Handelns im Innern des Individuums, beispielsweise in den Grundbedürfnissen. Beide Ansätze haben jedoch gemeinsam, dass sie das Individuum als mehr oder weniger rational handelnden Akteur sehen.

Im Gegensatz dazu betonen kulturwissenschaftliche Ansätze den Einfluss von Kultur und anderen externen Faktoren auf das menschliche Handeln. Diese Ansätze heben hervor, dass das, was wir konsumieren möchten und wie wir die Angebote auf dem Markt interpretieren, stark von soziokulturellen Einflüssen geprägt ist und somit außerhalb des individuellen Subjekts liegt. Dabei spielt die symbolische Bedeutung der Güter und deren Konsum eine wichtige Rolle. Die symbolische Bedeutung meint dabei nicht die individuelle Bedeutung, die die Waren für den Konsumenten haben, sondern jene gesellschaftlichen Bedeutungssysteme, mit der z. B. Reichtum oder Klassenzugehörigkeit kodiert werden. Daneben betonen Praxistheoretiker die Bedeutung von Routinen, materiellen Kulturen und performativen Vollzugswirklichkeiten, die den Konsum bestimmt, ohne dass dem bewusste Entscheidungen zugrunde liegen. Analog zu Marx kann man deshalb sagen: „Die Menschen machen ihre eigenen Konsumentscheidungen, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“

Zusammengefasst können diese verschiedenen Ansätze zur Interpretation von Konsum im digitalen Zeitalter dazu beitragen, ein umfassenderes Verständnis für die komplexen und vielschichtigen Motivationen und Einflüsse auf unser Verhalten auf dem Markt zu entwickeln. Sie verdeutlichen, dass sowohl individuelle als auch kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, digitalen Konsum in sozioökonomischen Kontexten zu verstehen.

2.6 Übungen

  1. 1.

    Warum beschäftigt sich die Verbraucherinformatik mit unterschiedlichen Konsumtheorien?

  2. 2.

    Welche theoretischen Grundannahmen stellen markttheoretische Konsumtheorien in den Vordergrund, und wie unterscheidet sich diese Sichtweise von psychologischen Ansätzen?

  3. 3.

    Erläutern Sie den Begriff des Homo oeconomicus. Welche Vor- und Nachteile hat diese Konzipierung von Konsum für die Verbraucherinformatik?

  4. 4.

    Wie konzipierten kulturwissenschaftliche Theorien den Konsum, und wie unterscheidet sich dies wiederum von markttheoretischen und psychologischen Ansätzen?

  5. 5.

    Erläutern Sie den Begriff des Bedürfnisses aus Sicht der Arbeits- und Erlebnistheorien. Charakterisieren Sie diesen anhand eines Beispiels.

  6. 6.

    Welche verschiedenen Ebenen verbinden praxeologische Ansätze miteinander? Erläutern Sie dies anhand des Beispiels „Autofahren“.

  7. 7.

    Was ist soziale Distinktion?

  8. 8.

    Wie ist der Geschmacksbegriff im Zusammenhang mit Konsumtheorien zu verstehen?

  9. 9.

    Beschreiben Sie, warum Menschen unterschiedliche Musikgeschmäcker haben.

  10. 10.

    Was ist symbolischer Konsum?

  11. 11.

    Ordnen Sie das Phänomen der Tätowierungen als Form des symbolischen Konsums und sozialer Distinktion ein.

  12. 12.

    Welche Rolle spielen Informations- und Kommunikationstechnologien für den Konsum von Verbraucher:innen?

  13. 13.

    Person X wechselt von einer omnivoren zu einer veganen Ernährungsweise. Beschreiben Sie diesen Vorgang mithilfe der Praxistheorie.

  14. 14.

    Welche Vor- und Nachteile hat das sogenannte Persuasive Design?

  15. 15.

    Wie kann mithilfe digitaler Artefakte nachhaltiges Verhalten gefördert werden?