FormalPara Abstract

This paper addresses one of the leading questions discussed at the Berlin conference: Are there biology-specific features of Nature of Science that should be given special attention in conceptualizations? Two theses are used to argue for a biology-specific NOS approach, which is introduced as Nature of Bioscience. Both theses refer to the ethical dimension of biology. Thesis 1 emphasizes that biological phenomena have a high degree of complexity, which also results in a high degree of diversity and individuality. Thus, biological explanations often contain elements of non-knowledge and uncertain knowledge. Ethical or political decision-making are thereby affected respectively made more difficult, so that dealing with complexity, individuality and knowledge gaps should be taken into account in biology education. Thesis 2 refers to the influence of biological concepts and explanations on the self and world relation of researchers, teachers and learners, since biological explanations fundamentally influence the understanding and evaluation of living beings, processes of living, natural environments as well as humans themselves. Biological research and theory development are therefore often also linked to ethical questions and value attributions. The Nature of Bioscience perspective presented here justifies a more attentive approach to the complexity and individuality of biological phenomena, non-knowledge, uncertain knowledge, and ethical issues in teaching and learning biology as well as in biology teacher education.

2.1 Einführung

Dieser Beitrag ist im Themenschwerpunkt NOS und Theorie verortet und adressiert die auf der Berliner Tagung „Biologiedidaktische Nature of Science-Forschung: Zukunftsweisende Praxis“ diskutierte Leitfrage: Gibt es biologiespezifische Merkmale von Nature of Science, die in den Konzeptualisierungen besondere Berücksichtigung erfahren sollen? Der Terminus Nature of Science (NOS) steht allgemein für die wissenschaftspropädeutischen Bildungsziele eines naturwissenschaftlichen Unterrichts, in dem sich Schüler*innen explizit mit Methoden der Erkenntnisgewinnung, Grundlagen und Rahmenbedingungen der Wissensgenese und Wissenschaftskommunikation sowie dem Stellenwert der Naturwissenschaften in einer wissenschafts- und technologiegestützten Kultur auseinandersetzen. In der naturwissenschaftsdidaktischen Diskussion über den Lern- und Forschungsbereich Nature of Science werden die Naturwissenschaften und naturwissenschaftliches Wissen häufig aus einer generalisierenden Perspektive in den Blick genommen. Betrachtet man aber die Entwicklung der Biologie und die diese Entwicklung widerspiegelnde wissenschaftstheoretische Literatur (Krohs & Toepfer, 2005), so werden Merkmale der Biologie und biowissenschaftlicher Forschung sichtbar, die eine spezifisch biologiedidaktische Perspektive auf Nature of Science begründen. Analog zur Etablierung der Wissenschaftsphilosophie der Biologie in der Wissenschaftsforschung bedarf es deshalb biologiespezifischer Konzeptualisierungen im Bereich der schulischen Wissenschaftspropädeutik und der universitären Lehrkräftebildung, da eine generalisierende Diskussion über das Wesen der Naturwissenschaften der Lebenswissenschaft Biologie nicht ausreichend gerecht wird. Unter dem Begriff Nature of Bioscience (NOBS) wird in diesem Beitrag eine Perspektive auf wissenschaftspropädeutische Bildungsziele vorgestellt, die versucht, die Besonderheiten der Biologie zu berücksichtigen, ohne dabei die allgemeinen Nature of Science-Ansätze zu negieren. Vielmehr soll eine spezifisch biologische Brille als Reflexionsrahmen für ein Nachdenken über das Wesen und die Bedeutung der Biologie angeboten werden.

Es ist insbesondere die ethische Dimension der Biologie, die sie als Lebenswissenschaft kennzeichnet und damit von anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet: Ihr Forschungsbereich sind Lebewesen, Lebensprozesse und Lebensräume. Erklärungen komplexer biologischer Phänomene sind auf der einen Seite in einem hohen Maße durch Diversität und Individualität geprägt und berühren auf der anderen Seite direkt uns als Menschen oder unsere Umwelt, sodass es enge Bezüge zwischen biologischem Wissen und ethischen Bewertungen gibt. Merkmale der Biologie bzw. biologischer Phänomene, die in Reflexionen über das Wesen und die Bedeutung der Biologie hervorgehoben werden sollten, sind daher zum einen der hohe Grad an Komplexität und die hieraus resultierende Individualität biologischer Phänomene, zudem enthalten Erklärungen komplexer Phänomene auch Anteile an Nichtwissen und unsicherem Wissen (These 1). Zum anderen haben biologische Konzepte und Erklärungen einen Einfluss auf das Selbst- und Weltverhältnis von Forschenden, Lehrenden sowie Lernenden und sind daher häufig mit ethischen Wertzuschreibungen verknüpft, da die Biologie Einfluss darauf nimmt, wie Menschen sich selbst und ihre biotische und abiotische Umwelt verstehen und bewerten (These 2).

Die Komplexität der Phänomene und ethische Implikationen sind auch in anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen von Bedeutung. So ist in der Physik die Quantenphysik ein Paradebeispiel für Komplexität, Nichtwissen und unsicheres Wissen und die Astrophysik berührt Fragen nach dem Ursprung von Raum und Zeit und somit auch nach dem Ursprung menschlicher Existenz auf unserem Planeten. Im Falle der Biologie sind die Merkmale jedoch medial besonders präsent und haben eine besondere Bedeutung im Alltag: Komplexität, Nichtwissen oder unsicheres Wissen beeinflussen bzw. erschweren die Bewertung und Entscheidungsfindung bei bio- und umweltethischen Fragestellungen, und bezogen auf die Individualität biologischer Phänomene können der Biologieunterricht und das Biologiestudium für Diversität und Individualität als Merkmale des Lebendigen sensibilisieren (Dittmer, 2023).

Die ethische Dimension der Biologie ist dem Fach inhärent und daher adressiert der Nature of Bioscience-Ansatz nicht nur Fragen nach dem Wesen der biologischen Erkenntnisgewinnung und des biologischen Wissens, sondern auch Fragen nach der ethischen, kulturellen und politischen Bedeutung der Biologie. So ist der Mensch Forschender und Erforschter zugleich und die sich wandelnden Erkenntnismethoden, Biotechnologien und Erklärungen haben Einfluss darauf, wie menschliche Handlungen oder Eigenschaften bewertet werden und wie das Mensch-Tier- oder Mensch-Natur-Verhältnis verstanden und in bioethischen Kontroversen diskutiert wird. Aus einer Nature of Bioscience-Perspektive wird die kulturelle Bedeutung der Naturwissenschaften noch grundlegender auf die ethischen Implikationen biologischer Erkenntnisgewinnung bezogen (Bayertz, 1989; Carlson, 2011).

Der Nature of Bioscience-Ansatz untermauert damit das pädagogisch-didaktische Anliegen, im fachlichen Kontext die ethische Bewertungskompetenz von Schüler*innen zu fördern, und unterstreicht zugleich die Notwendigkeit, neben den Fähigkeiten zur Erfassung, Kommunikation und Bewertung ethischer Problemlagen, Schüler*innen auch in ihren politischen Handlungskompetenzen zu stärken. Zahlreiche aktuelle Problemlagen sind durch einen hohen Grad an Komplexität, Nichtwissen und unsicherem Wissen gekennzeichnet. Hier soll biologische Forschung einerseits zur Lösung beitragen (beispielsweise in der Klimakrise) und andererseits wird sie von Teilen der Bevölkerung als bedrohlich wahrgenommen (beispielsweise bei der Entwicklung von CRISPR/Cas oder RNA-Impfstoffen). Nature of Bioscience steht somit auch für einen fachspezifischen Beitrag zur politischen Bildung im Rahmen des Biologieunterrichts. Eine Berücksichtigung von biologiespezifischen Nature of Science-Merkmalen hat Konsequenzen für die Curriculumsentwicklung, Unterrichtsgestaltung und somit auch für die fachdidaktische Ausbildung von Biologielehrkräften. Im Ausblick werden entsprechend Implikationen für die Gestaltungsmerkmale eines wissenschaftspropädeutisch reflektierten Biologieunterrichts und für die Biologielehrkräftebildung diskutiert.

2.2 Diskurs

2.2.1 These 1: Komplexität, Individualität, Nichtwissen und unsicheres Wissen als markante Merkmale biologischer Phänomene

Angesichts von Klimawandel, Diversitätsverlust und jüngst der einschneidenden Pandemieerfahrungen ist Ungewissheit zu einem zentralen Schlagwort im naturwissenschaftsdidaktischen Diskurs über Forschung und Unterrichtsentwicklung geworden. Die Auswirkung, dass etwas ungewiss erscheint, ist unter anderem durch Wissenslücken bedingt, welche für komplexe Phänomene charakteristisch sind (Kuhlmann, 2007). In den genannten Beispielen sind die Erfahrungen mit Komplexität, Individualität, Nichtwissen und unsicherem Wissen besonders eindrucksvoll, jedoch sind sie vielen biologischen Phänomenen inhärent. So sind beispielsweise die Wirkmechanismen des Vitamin A unter anderem beim Zellwachstum nicht bekannt – die Auswirkungen auf den Alltag bzw. auf Entscheidungssituationen sind durch das Nichtwissen in diesem Fall jedoch eher gering und geraten dadurch nicht unmittelbar ins Bewusstsein.

Gemein ist komplexen Phänomenen, dass deren Erklärungen multifaktoriell sind und oft nicht lineare Wirkungsgefüge aufzeigen (Mainzer, 2008; Mitchell, 2008). Je nach Ausprägung der Anfangsbedingungen und Wechselwirkungen zwischen den Faktoren ergeben sich daraus unterschiedliche Endzustände eines Systems – also unterschiedliche Ausprägungen eines Phänomens. Dem Versuch, die komplexen Wirkungsgefüge aufzudecken, sind häufig epistemologische und methodische Grenzen gesetzt, sodass ein Anteil an Nichtwissen oder unsicherem Wissen bleibt (Kuhlmann, 2007). So kann der Einfluss von Variablen scheinbar unsystematisch variieren oder Faktoren des Systems können unbekannt sein (Mainzer, 2008; Mitchell, 2008). Die beschriebenen Merkmale von Komplexität begründen auch die Individualität biologischer Phänomene. Individualität ist somit ein konstitutives Merkmal des Gegenstandsbereichs der Biologie, was auch auf das Wesen biologischer Erkenntnisgewinnung und den wissenschaftlichen Diskurs Einfluss nimmt: Biolog*innen begegnen individuellen Ausprägungen biologischer Phänomene und beziehen dies in ihre Interpretationen und Analysen mit ein. So sind auch Gesetze oder Gesetzmäßigkeiten für die Biologie weniger bedeutsam (Potochnik, 2013), was einen deutlichen Unterschied zur Chemie oder Physik markiert. Betrachtet man einzelne Phänomene wie zum Beispiel individuelle Entwicklungsverläufe, Systemzustände oder die Varianten einer Art – im Gegensatz zu Prototypen und allgemeinen, modellhaften Zusammenhängen –, werden die Komplexität und der Anteil an Nichtwissen bzw. unsicherem Wissen deutlich.

Für forschende Biolog*innen stellen Nichtwissen und unsicheres Wissen Standardsituationen dar, sodass Wissenslücken und unsichere Evidenz als neutrale oder sogar positive Charakteristika des wissenschaftlichen Arbeitens gedeutet werden (Rhein, 2018). Dagegen wird in Hinblick auf die Kommunikation von Nichtwissen und unsicherem Wissen gegenüber Schüler*innen bzw. in der Öffentlichkeit befürchtet, dass hieraus Verunsicherungen oder sogar ein Vertrauensverlust in Wissenschaft und ihre Befunde resultieren (Maier et al., 2018).

Davon ausgehend, dass Lehrkräfte mit Erklärungen im Fachunterricht und der Auswahl der Unterrichtsgegenstände implizit auch ein Verständnis davon vermitteln, welche Fragen innerhalb des Faches gestellt werden und wie fachlich angemessene Antworten auf diese aussehen (Larreamendy-Joerns & Muñoz, 2010), sollte der Darstellung von Komplexität, Individualität, Nichtwissen und unsicherem Wissen Rechnung getragen werden, indem biologische Phänomene für die Vermittlung nicht ausschließlich auf einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen reduziert werden. Auch sollten nicht nur Prototypen (beispielsweise typische Vertreter einer Art), sondern insbesondere auch individuelle Fälle (beispielsweise Übergangsformen, abweichende oder nicht einzuordnende Fälle) in den Blick genommen werden. Der Fokus würde hierbei nicht nur auf der Vermittlung von Wissen liegen, sondern auch eine gegenstandsangemessene Kommunikation von Nichtwissen und unsicherem Wissen beinhalten (Ehras 2024) und Schüler*innen zugleich für individuelle Merkmalsausprägungen und für die Vielfalt und Varianz biologischer Phänomene sensibilisieren.

Ein Biologieunterricht, der in einem produktiven Stil und regelmäßig diese Aspekte thematisiert, kann in einem ersten Schritt zu einem Verständnis darüber beitragen, dass Komplexität und Individualität zentrale Merkmale des Lebendigen sind und Verallgemeinerungen und Gesetzmäßigkeiten nur unter Einschränkung helfen, biologische Phänomene zu erfassen bzw. zu erklären. Biologieunterricht kann einen routinierten Umgang mit Nichtwissen in biologischen Erklärungen anbahnen und zu einem Verständnis der hohen Individualität biologischer Phänomene beitragen. So können Schüler*innen lernen, konstruktiv mit komplexen Problemlagen sowie Entwicklungsdynamiken umzugehen und Multikausalität, Nichtwissen und unsicheres Wissen als Merkmale wissenschaftlicher Erklärungen zu verstehen und entsprechend zu berücksichtigen.

Ein fachlich adäquater Umgang mit Komplexität, Individualität, Nichtwissen und unsicherem Wissen hat dabei in zwei Hinsichten auch eine politische Relevanz: Zum einen, wenn man das Phänomen der Wissenschaftsleugnung auf ein inadäquates Wissenschaftsverständnis zurückführt, bei dem die Wahrnehmung von Widersprüchen und Nichtwissen eher zu einem Vertrauensverlust gegenüber Wissenschaft führt. Zum anderen, wenn es darum geht, dass gerade die Biologie für die Individualität biologischer Phänomene sensibilisieren, zu einem Nachdenken über Vielfalt anregen und so aus einer fachinhärenten Perspektive rassistischen und sexistischen Positionen entgegenwirken kann.

Bei der Konfrontation mit Komplexität, Individualität, Nichtwissen und unsicherem Wissen – aktuell insbesondere präsent in der Auseinandersetzung mit klimatischen und ökologischen Entwicklungen – wird die Komplexität biologischer Phänomene zu einer Rahmenbedingung ethischen Bewertens. Somit stellt es auch für Lehrende und Lernende eine Herausforderung dar, in öffentlich geführten Kontroversen differenziert und fallbezogen zu argumentieren und angesichts von widerstreitenden Interpretationen oder Prognoseunsicherheit und nicht eingetroffenen Vorhersagen nicht zu resignieren. Insbesondere ein Verständnis dafür, dass Nichtwissen und unsicheres Wissen Teile wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse sind und auch durch weitere Forschung mitunter nicht reduziert werden können, sowie die Fähigkeit, unterschiedliche Auffassungen und Interpretationen von Wissenslücken in öffentlichen Diskussionen zu erfassen, zeichnen sich als relevante Inhalte für eine zeitgemäße politische Bildung ab. Somit geht es im Umgang mit Komplexität und Nichtwissen in biologischen Erklärungen nicht nur um ein adäquates Fachverständnis. Es geht auch um eine Form der Resilienzförderung in politischen Diskursen über biologiebezogene gesellschaftliche Problemlagen. Schüler*innen wie auch Studierende sollten in die Lage versetzt werden, das in medialen Diskursen kommunizierte unsichere Wissen adäquat einzuordnen, um nicht Gefahr zu laufen, von Lobbygruppen oder Verschwörungsmythen vereinnahmt zu werden. Ein Verständnis der Bedeutung von Nichtwissen und unsicherem Wissen in biologischen Erklärungen und ein Verständnis dessen, dass Komplexität und Individualität fundamentale Merkmale des Lebendigen sind, ist somit ein wissenschaftspropädeutischer Beitrag zur Förderung ethischer Bewertungskompetenz und politischer Bildung im Biologieunterricht und bereitet Schüler*innen auf eine wissenschaftsbasierte und entwicklungsoffene Zukunft vor. Vor diesem Hintergrund ist die Nature of Bioscience-Perspektive auch für die aktuellen Herausforderungen der Nachhaltigkeits- und Klimabildung von zentraler Bedeutung.

2.2.2 These 2: Biologische Konzepte und Erklärungen haben einen Einfluss auf das Selbst- und Weltverhältnis von Forschenden, Lehrenden und Lernenden und sind häufig mit ethischen Wertzuschreibungen verknüpft

Grundlegend zeigt sich die ethische Dimension der Biologie auch in der Bedeutung biologischer Konzepte und Erklärungen für das menschliche Selbstverständnis, das Verständnis der Natur sowie der verschiedenen Lebensformen. Hierauf bezogen greift der Nature of Bioscience-Ansatz die bildungsphilosophische Perspektive der transformatorischen Bildungstheorie auf (Koller, 2007) und betrachtet den Einfluss biologischer Forschung auf das Selbst- und Weltverhältnis der Akteur*innen, die sich biologisches Wissen aneignen oder als Expert*innen weitergeben. Biologische Erklärungen und Theorien verändern die Art und Weise, wie der Mensch sich selbst, andere Lebewesen sowie die Natur versteht und bewertet. Ein prominentes Beispiel hierfür sind bioethische Debatten über den moralischen Status nichtmenschlicher Organismen, bei denen auch auf biologische Daten zurückgegriffen wird. In unserem Kulturkreis profitieren beispielsweise Säugetiere davon, dass wir ihnen evidenzbasiert und aufgrund von Analogieschlüssen Leidensfähigkeit zuschreiben können. Invertebraten dagegen befinden sich bezüglich ihres Schutzstatus in einer ungünstigeren Position, da es uns deutlich schwerer fällt, sich vorzustellen, wie es beispielsweise ist, als Mücke oder Miesmuschel in der Welt zu sein. Andere Beispiele sind die Diskussionen über Willensfreiheit oder über den Einfluss von Erbe und Umwelt auf die Entwicklung menschlicher Eigenschaften. Die Wirkmächtigkeit biologischen Wissens wird als die Deutungsmacht der Biologie thematisiert und problematisiert (Hüttemann, 2008). Metzinger (2000) spricht von einer Anthropologiefolgenabschätzung als eine Reflexion der Auswirkungen biologischen Wissens auf das Menschen- und Weltbild und die damit verbundenen Wertzuschreibungen. Es gibt somit gute Gründe, beim Nachdenken über das Wesen der Biologie die in der Wissenschaftsethik und Risikoforschung etablierte Technikfolgenabschätzung um eine Theoriefolgenabschätzung zu ergänzen.

Im Sinne einer solchen Theoriefolgenabschätzung beschreibt der Wissenschaftsphilosoph Kurt Bayertz (1989) die Geschichte der Biologie als eine Entmoralisierung des Lebendigen, und in ihrem Aufsatz Biology and Technology skizzieren Bayertz und Nevers (1998) die historische Entwicklung der Biowissenschaften als einen Prozess der Verfügbarmachung: Während die naturkundliche, beobachtende Biologie bis ins 19. Jh. biologische Phänomene im Einklang mit der Schöpfungslehre beschreibt, kommt es mit der Etablierung der Evolutionstheorie und dem experimentellen Zugriff auf biologische Phänomene zu einer Ausdifferenzierung der Biowissenschaften in ihrer heutigen Form. Diese ist dadurch geprägt, dass in Großlaboren an biologischen Phänomenen geforscht wird, ohne dass die Forschenden den Organismus, die Art oder den ökologischen Kontext kennen müssen, da dies beispielsweise für molekularbiologisch spezialisierte Forschungsfelder größtenteils irrelevant ist. Nach Bayertz und Nevers (1998) wird in der modernen, industriellen Phase der Biologie Leben durch gentechnische und molekularbiologische Methoden zunehmend modellierbar, und für die Forschung können Versuchstiere mit spezifischen Eigenschaften gezüchtet, Zellen im Labor kultiviert oder menschliches Gewebe in tierische Organismen verpflanzt werden.

Bei dieser Entwicklung – von einer theologiekonformen Naturkunde zu einer molekularbiologisch geprägten Laborwissenschaft – ist es nicht verwunderlich, dass im Vergleich mit anderen Naturwissenschaften ethische Aspekte in der Wissenschaftstheorie der Biologie stärker einbezogen werden. Ein auch schon im Titel anschauliches Beispiel ist die von Sterelny und Griffiths (2012) geschriebene Einführung: Sex and Death – An Introduction to Philosophy of Biology: Das der Analytischen Philosophie zuzuordnende Lehrwerk nimmt aus einer wissenschaftsphilosophischen Position unter anderem Bezug auf soziale Fragen, soziobiologische Erklärungen menschlichen Verhaltens, das Problem reduktionistischer Erklärungen oder auf die grundlegende Frage „Was ist Leben?“. Eine Förderung ethischer Bewertungskompetenz lässt sich wissenschaftspropädeutisch und fachinhärent somit allein schon dadurch begründen, dass in wissenschaftshistorischen und wissenschaftstheoretischen Analysen die ethische Dimension der Biologie eine große Rolle spielt und die Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsphilosophie zentrale Referenzfelder für die Auswahl von Nature of Science-Inhalten sind.

Aus Bildungsperspektive erhält die Wissenschaftspropädeutik im Biologieunterricht damit eine besondere ethische Brisanz, da die Aneignung eines biologischen Menschen-, Natur- und Weltbildes Auswirkungen auf Konzepte wie das der Seele, auf die Vorstellung von der Existenz und dem Wert anderer Lebensformen oder die Beantwortung von Fragen nach Ursprung und Sinn des Lebens hat. Solche Antworten gehen weit über wissenschaftliche Konzeptualisierungen von Organismen, ökologischen Zusammenhängen oder der Evolution des Lebens hinaus. Sie können als kulturelle Folgen biologischer Forschung nicht ignoriert werden und sind wissenschaftsphilosophisch bezüglich der Wirkgeschichte biologischer Forschung interessant und zudem bildungsrelevant. Denn versteht man Bildung als eine Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses, die in Irritationen und krisenhaften Erlebnissen ihren Ausgangspunkt haben kann (Koller, 2007), dann haben biologische Erklärungen und Konzepte das Potenzial, sich bildungsrelevant auf Schüler*innen, Studierende oder auch Lehrende auszuwirken: Wer bin ich als Mensch? Wie frei oder gebunden bin ich bezüglich meiner genetischen Dispositionen? Wie verstehe ich meine biologische Umwelt und nichtmenschliche Lebewesen und welche Verantwortung trage ich der Natur gegenüber?

Die hier dargestellte Nature of Bioscience-Perspektive ist somit insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass wissenschaftsphilosophische Reflexionen im schulischen und universitären Bildungskontexten stärker aus ethischer Perspektive eingefordert werden, als es bei den generalisierenden NOS-Konzepten der Fall ist. Nature of Bioscience knüpft damit an eine biologiedidaktische Tradition wissenschaftspropädeutischer Literatur an, in der die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen – beispielsweise zur Legitimation von Tierexperimenten oder zu den möglichen Auswirkungen gentechnischer Manipulationen – wichtiger Bestandteil einer fachbezogenen Heranführung an ein Wissenschaftsverständnis ist (von Falkenhausen, 2000). Eine umfassende Reflexion des auf die Natur und die eigene biologische Existenz bezogenen Selbst- und Weltverhältnisses wird der ethischen Dimension der Biologie gerecht und sollte im Prozess der Aneignung eines biologischen Weltbildes Bestandteil wissenschaftspropädeutischer Bildung in Schule und Studium sein.

2.3 Fazit und Ausblick

Der hier skizzierte Nature of Bioscience-Ansatz verfolgt eine doppelte Zielsetzung: Es geht zum einen darum, die Behandlung ethischer und politischer Problemlagen aus der Binnenperspektive des Faches heraus zu begründen, da Komplexität, Nichtwissen, unsicheres Wissen und ethische Wertzuschreibungen den fachlichen Gegenständen inhärent sind. Denn es macht einen Unterschied, ob die Lerninhalte, die unter den Bereich der Bewertungskompetenz fallen, als fachübergreifende Fragen verstanden werden, oder ob man sie aus der Perspektive des Faches betrachtet und sich als Fachlehrkraft und somit Expert*in um eine adäquate Vermittlung ethischer Fragestellungen bemüht. Hiermit zusammenhängend geht es zum anderen darum, den Umgang mit multifaktorieller Komplexität und Nichtwissen als Standardsituation und durchgängiges Gestaltungsmerkmal des Biologieunterrichts zu implementieren. Schüler*innen sollen vom Primarschulalter an adäquat sowohl für die Vielfalt und Varianz biologischer Phänomene sensibilisiert werden als auch dafür, dass der Erfolg von Wissenschaft nicht im Widerspruch dazu steht, dass Wissenschaftler*innen permanent und ohne Drama mit Nichtwissen, Unvorhersehbarkeiten, alternativen Modellen und Interpretationen arbeiten.

Um den Krisen unserer Zeit und auch Phänomenen der Desinformation und Wissenschaftsleugnung konstruktiv zu begegnen, bedarf es biologiedidaktischer Forschung sowie Entwicklungsprojekten, die den Umgang mit Komplexität und Ethik im Kontext einer häufig stoff- und ergebnisorientierten Unterrichtskultur stärker in den Fokus nehmen. So stellen sich folgende Fragen: 1. Wie können Komplexität und Individualität als Merkmale des Biologischen stärker in den Unterricht eingebracht werden und wie kann hierbei eine Entdramatisierung von Nichtwissen und unsicherem Wissen auf unterrichtlicher Ebene gelingen? 2. Wie sollte eine Biologielehrkräftebildung gestaltet sein, die Lehrkräfte dazu befähigt, Nichtwissen zu kommunizieren, mit Ungewissheit konstruktiv umzugehen und ethische Perspektiven in den Fachunterricht zu integrieren?

Es gibt einen Bedarf, Unterrichtsmethoden und -ansätze zu entwickeln, in denen phänomenorientiert und fallbasiert die Individualität biologischer Phänomene, multifaktorielle Entwicklungen sowie die ethische und kulturelle Dimension der Biologie stärker im Vordergrund stehen. So sollte der Umgang mit Komplexität kein Thema der Oberstufe oder erst des Studiums sein, sondern Schüler*innen sollten früh an die Vielfalt biologischer Phänomene und das damit verbundene Nichtwissen herangeführt werden, um auf diesem Weg den Umgang mit Ungewissheit zu entdramatisieren, nicht um zu beschönigen, sondern um Schüler*innen sowie auch Studierende als zukünftige Lehrkräfte für eine immer schon ergebnisoffene Zukunft zu ermutigen und deren Gestaltungskompetenzen zu fördern.

In Zeiten einer ökologischen, ökonomischen und politischen Polykrise (Wintersteiner, 2020) ist Ungewissheit nicht wirklich ein ermutigendes Wort und Studierende lernen in Lehrbüchern, dass eine pessimistische Katastrophenpädagogik eher zu Abwehrmechanismen und Verdrängung führt. Auf der anderen Seite sind die aktuellen Bedrohungsszenarien und Bilder klimabedingt zerstörter Landschaften oder in Plastikmüll verendeter Meerestiere in den Medien sehr präsent und begründen sicherlich auch die hohe Steigerung der Ungewissheitsforschung in den Naturwissenschaftsdidaktiken, wo neben den Schlagwörtern Kompetenz oder Digitalisierung ein neuer Begriff unter Verdacht kommt, inflationär verwendet zu werden. Aber die umfangreichen Appelle, der Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen auch im naturwissenschaftlichen Unterricht gerecht zu werden, sind legitim und erscheinen angesichts jahrzehntelanger Mahnungen wie denen des Club of Rome sowie zahlreicher Nachhaltigkeitsresolutionen und Klimagipfel längst überfällig.

Um aber Bedrohungsszenarien und den Herausforderungen unserer Zeit angstfrei und mit Zuversicht begegnen zu können, plädiert die hier dargelegte Nature of Bioscience-Perspektive für einen besonnenen und routinierten Umgang mit Nichtwissen und ethischen Fragen. Es wäre nur eine Variante der oben genannten Abwehrmechanismen, wenn der Biologieunterricht weiterhin auf eng gefasste Lehrplaninhalte und deren Ergebnissicherung fokussiert und Biologielehrkräfte sich im Unterricht nur solchen Lerninhalten zuwenden, bei denen sie sich sicher sind, auf alle denkbaren Fragen Antworten geben zu können. Aus der hier dargestellten Nature of Bioscience-Perspektive ist eine Lehrkräftebildung nötig, die bei angehenden Biologielehrkräften eine didaktische Haltung anbahnt, welche sich von Offenheit, Unvorhersehbarkeit oder Widersprüchen nicht irritieren lässt. Die Relevanz wissenschaftspropädeutischer Reflexionen über das Wesen und die Bedeutung der Biologie sind eben in ihrem Wesen selbst begründet, da ihr Gegenstandsbereich durch Individualität und Unvorhersehbarkeit oder – um ein positiveres Wort zu verwenden – durch Überraschungen geprägt ist.