1 Grenzen der Medizin

Die Grenzen der Medizin sind ein beständiges Thema in der Geschichte der Literatur und der Popkultur ebenso wie in der medizinischen Ethik. Im Kern bezieht sich die Frage nach den Grenzen darauf, wann den Menschen betreffende Phänomene in medizinischen Kategorien gefasst, gedeutet und im Handeln adressiert werden sollen und dürfen. Aus historischer Sicht sind diese Grenzen nicht klar markiert, sondern in beständigem Fluss. Neue Techniken, wissenschaftliche Konzeptverschiebungen, gesellschaftlicher Wandel, ökonomische und politische Rahmenbedingungen sowie moralischer Wertewandel tragen dazu bei, dass vorher nicht medizinisch definierte Lebensbereiche dem Zugriff der Medizin eröffnet oder ehedem medizinisch definierte Phänomene nicht mehr auf medizinische Begriffe gebracht werden können. Ein prominentes Beispiel bietet die Homosexualität, die noch im ausgehenden 20. Jahrhundert von der Weltgesundheitsorganisation nosologisch gefasst, d. h. als Krankheit beschrieben wurde, sich dann aber medizinischen Deutungsmustern und Praktiken entzog (Conrad und Angell 2004).

Eine Ausweitung der medizinischen Deutungshoheit wird soziologisch und historisch als Medikalisierung, ein Rückzug medizinischer Erklärungs- und Handlungsmuster als Demedikalisierung bezeichnet. Medikalisierungsprozesse erhalten dabei gelegentlich eine negative normative Rahmung, wenn sie etwa wie bei Ivan Illich Ende der 1970er-Jahre explizit im Sinne einer Gesellschaftskritik gefasst werden, die nahelegt, dass die Medizin illegitime Geld- und Machtinteressen verfolge, ohne mehr dem kranken Menschen zu dienen. Peter Conrad hingegen wirbt dafür, den Begriff allein deskriptiv zur Prozessbeschreibung zu benutzen (Conrad 2005).

Grenzverschiebungen lassen sich (mit Überschneidungen) dabei auf mindestens vier Ebenen beobachten: Neben einer Ausweitung bzw. Einengung von Diagnosegrenzen, z. B. dadurch, dass eine zunehmende oder schwindende Zahl von Lebensäußerungen als pathologische Zeichen gewertet werden, steht eine Entzeitlichung von Krankheit durch prädiktive oder präsymptomatische Diagnostik oder die Entwicklung von Risikokonzeptionen. Durch ihre Verbindung zu nur in ihrer jeweiligen Zeit gültigen pathologischen Merkmalen lässt sich historisch auch hier eine doppelläufige Dynamik nachzeichnen. Hinzu treten eine Ausweitung bzw. Eingrenzung der Therapie, wenn sich etwa die Schwelle der Risiko-Nutzen-Bewertung eines Eingriffs verschiebt und damit der Indikations- und LegitimationsbereichFootnote 1 eines spezifischen Eingriffs eine Erweiterung oder Einengung erfährt. Zuletzt lässt sich auch die Frage nach der Optimierung menschlicher Zustände in das Feld der Medikalisierungs- und Demedikalisierungsprozesse einordnen (Wehling et al. 2007).

Aus einer soziologischen und zeithistorischen Perspektive erscheint es so, als sei die Gegenwart vor allem durch Medikalisierungsprozesse bestimmt. Ein Rückzug der Medizin aus früher sozial definierten Feldern ist zumindest nur in wenigen Bereichen zu konstatieren. Mehr noch radikalisieren sich die mit der Medikalisierung beschriebenen Trends hin zu einer sog. Biomedikalisierung (Estes und Binney 1989). Während für die Ausweitung der medizinischen Einflusssphäre in der früheren Phase der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Begriff der Medikalisierung angemessen schien, wird für die Zeit seit der Mitte der 1980er-Jahre für die westlichen Gesellschaften eine Biomedikalisierung konstatiert. Gemeint ist damit, dass sich die Stoßrichtung der Medikalisierung gewandelt habe vom Ziel einer Kontrolle über menschliche Phänomene hin zum Ziel ihrer biomedizinischen Transformation. Als Motoren dieser Entwicklung werden u. a. eine institutionelle Ausweitung der Medizin, eine konzeptionelle Fokusverschiebung von Krankheit und Therapie auf Gesundheit und Erhaltung, eine zunehmende Technifizierung und technisch-digitale Produktion und Durchdringung medizinischer Wissensbestände, veränderte Gesundheitsinformation und die Entwicklung neuer biomedizinisch geprägter Menschenbilder genannt (Clarke et al. 2003; Conrad 2005; Conrad und Bergey 2014). Die Grenzen des für „normal“ oder „gesund“ Gehaltenen werden im Zuge dieser Entwicklung deutlich enger gezogen und es entsteht das Postulat zur Prävention, die wiederum dem Individuum obliegt. Das Individuum wiederum hat ein genuines Interesse, Prävention zu betreiben und sich so zu optimieren, dass es nicht Gefahr läuft, in den größer werdenden Bereich des Pathologischen zu fallen. Private Interessen, wirtschaftliche Interessen, politische Interessen und technische Entwicklung wirken hier zusammen. Ein Beispiel bietet die Optimierung des Blutdrucks im Zuge der Prävention mithilfe der technischen Überwachung und medikamentösen Behandlung (Fangerau und Martin 2014; Martin und Fangerau 2015).

2 Optimierung und Human Enhancement

Mit Blick auf Gentechnologien rücken vor allem die Entgrenzungsdimensionen der Entzeitlichung und Optimierung in den Blick. Die genetische Diagnostik kann Krankheitsrisiken vorhersagen und damit das medizinethisch viel diskutierte Problem der „gesunden Kranken“ oder „kranken Gesunden“ schaffen, wenn die Prädiktion etwa Lebensentwürfe radikal verändert und sich am Ende die auf Korrelationen beruhenden Einschätzungen nicht einstellen oder kausale Folgen einer genetischen Disposition sich zeitlich nicht kartieren lassen (Fangerau et al. 2017). Die Idee der genetischen Therapie durch somatische Gentherapie oder Keimbahneingriffe wiederum ruft immer wieder Fragen nach der moralischen Zulässigkeit sowie nach den ethisch zu bewertenden Chancen und Risiken der Optimierung des Menschen als Individuum und als Gattung auf. Dabei kann das, was als genetische Optimierung begriffen werden muss, noch viel weiter gefasst werden und sich z. B. auch auf biosynthetisch hergestellte Pharmaka oder implantierbare Organoide erstrecken (Murray 2002). Die Bewertung der Chancen und Risiken sowie von moralischen Implikationen von Zukunftstechnologien bleibt dabei naturgemäß im Raum des Offenen und Unvorhersehbaren und wird geprägt durch Denkexperimente, Analogien sowie literarische oder andere (pop-)kulturelle Verarbeitungen, wobei gerade diese Rückgriffe auf die Welt der Ideen und Vorstellungen sehr hilfreiche Dystopien und Utopien des Machbaren für eine Einschätzung des Erwünschten offerieren (Linett 2020).

Die Diskussion über die moralische Un-/Zulässigkeit der Optimierung menschlicher Eigenschaften ist gleichzeitig auch nicht auf die Gentechnologie beschränkt, sondern wird für etliche andere Bereiche der Medizin diskutiert. Im ethischen Diskurs hat sich für die hier adressierte Verbesserung der Begriff des Human Enhancement durchgesetzt. Der Begriff changiert dabei zwischen einem sehr breiten Verständnis, das alle Handlungen einbezieht, die auf eine Optimierung von Eigenschaften zielen, wozu etwa auch Lesen oder Erziehung gehören, und einem engen Verständnis, das nur solche Maßnahmen einbezieht, die auf eine Steigerung von Fähigkeiten über das für den Menschen „speziestypische“ oder die „statistisch-normale“ Spannweite hinausgehen (Allhoff et al. 2010). Wie schwierig eine solche Abgrenzung im Einzelfall ist, verdeutlicht das Beispiel der Lesebrille: Wenn die Altersweitsichtigkeit als „speziestypisch“ und statistisch erwartbar betrachtet wird, wäre ihr Einsatz schon ein Enhancement im engeren Sinne. Eine weitere Abgrenzung wird hier gelegentlich zur medizinischen Therapie gezogen, was das Problem der moralischen Bewertung von Verbesserung zurückwirft auf die Frage, was in einer jeweiligen Gesellschaft als krank und gesund bzw. was als behandlungswerte Krankheit begriffen wird. Angesichts der geschilderten historischen Kontingenz der Grenzen von Krankheit und Gesundheit erscheint es problematisch, die moralische Bewertung von Enhancement hier universell an den Krankheitsbegriff zu koppeln. Eine solche Verbindung ist allenfalls für eine jeweils betrachtete Gesellschaft in ihrer Zeit zielführend.

Wenn es nun um die Frage geht, warum Menschen Möglichkeiten der Verbesserung ihrer Eigenschaften in Anspruch nehmen wollen, so liegt die Antwort auf der Hand. Sie wollen ihr eigenes Leben, ihr eigenes Erleben oder ihre Leistung verbessern oder sie wollen im alltäglichen Wettstreit um Ressourcen und Reputation besser sein als andere Menschen. Studentinnen und Studenten gaben z. B. an, leistungssteigernde Medikamente einzunehmen, um ihre Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit zu verbessern oder um zu entspannen (Mache et al. 2012) – wobei sich unmittelbar wieder die Abgrenzungsfrage zur Therapie stellt, wenn Konzentrationsstörungen als krankhaft empfunden werden (siehe oben). Befürworter des Enhancement vertreten hier den Standpunkt, dass es jedermanns autonome Entscheidung sei, ob Verbesserungstechnologien in Anspruch genommen werden. Werden Optimierungsentscheidungen für andere Personen, z. B. die eigenen Kinder oder kommende Generationen (z. B. bei der Keimbahnintervention; siehe Schickl, Kap. 18) getroffen, gilt der Rückbezug auf die Autonomie der Entscheidenden nur bedingt, da sie ja in die Autonomie der Betroffenen, die (noch) nicht selbst entscheiden können, für diese selbst am Ende evtl. nicht korrigierbar, eingreifen. Diesem Bedenken halten wiederum einige Autoren entgegen, dass im Gegensatz zur Vorsicht sogar die Pflicht zur Inanspruchnahme von pränataler Diagnostik, Präimplantationsdiagnostik und Gentherapie bestehe, wenn etwa durch die Inanspruchnahme das Wohlbefinden der Betroffenen gesteigert werden könne (Savulescu und Kahane 2009). Hier sei die moralische Verpflichtung zum Enhancement vergleichbar mit der zur Prävention und Behandlung von Krankheiten (Savulescu 2009).

Die nach ihrer Motivation für Enhancement befragten Studentinnen und Studenten nannten allerdings auch die Sorge, Nachteile gegenüber Konsumenten zu haben, wenn sie selbst keine Mittel einnähmen und den äußeren Druck, Leistung bringen zu müssen (Mache et al. 2012). Die beiden zuletzt genannten Gründe verweisen darauf, dass der Wunsch nach einem Enhancement nicht immer nur aus einer autonomen Entscheidung einer einzelnen Person heraus erwachsen, sondern sich auch aus der sozialen Relation heraus ergeben kann. Carl Elliot etwa sieht hier die Gefahr eines Looping-Effekts, der sich daraus ergeben könnte, dass durch den Einsatz von Technologien zum Enhancement ein Druck zur Nutzung auch auf Personen ausgeübt werde, die andernfalls nicht zu Mitteln der (Selbst-)Verbesserung greifen würden (Elliott 2019). Angesichts potenziell körperlich schädlicher Effekte ist ein solcher sozialer Druck, der dann am Ende eventuell zur Schädigung des eigenen Körpers, des Selbst und der Identität führen kann, als problematisierender Faktor in der Debatte durchaus ernst zu nehmen. Im Sport etwa wird diese Spannung im Umfeld des Dopings diskutiert, wobei mit Rekurs auf die Autonomie der Athleten zur Debatte steht, ob ein Verbot des Dopings als paternalistisch abzulehnen ist oder nicht (Breitsameter 2017).

Auf die sozialethischen Folgen konzentrieren sich auch die Hauptbedenken gegen ein mögliches Human Enhancement. Es herrscht die Sorge vor, dass der Einsatz bestehende Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft noch verstärken könnte, wenn die Möglichkeiten zur Verbesserung nicht allen Menschen in gleicher Weise zur Verfügung stünden oder nicht von allen genutzt werden wollten. Aus einer eher leistungsorientierten Perspektive wird die (bio-technische) Optimierung als unverdient, eitel und zu einfach kritisiert. Auch hier schließen sich viele Vergleiche zwischen Enhancement und Sportdoping an. Nicht zuletzt wird in Frage gestellt, ob die technische Verbesserung des Menschen über eine naturgemäße Leistungsspanne hinaus nicht die menschliche Natur als solche verletze und sich daher verbiete (Caplan und Elliott 2004).

Gerade die Natürlichkeit als Referenzpunkt von „Antimelioristen“ erfuhr einige Kritik. Da die menschliche Natur sowohl gute als auch schlechte Seiten mit sich bringe, gebe es keinen Grund, die schlechten Aspekte nicht beseitigen zu wollen. Ferner sei es keineswegs zwingend, dass die Veränderung der menschlichen Natur zum Verlust von Konzeptionen des Guten führe. Somit sei der Bezug auf die Natürlichkeit in der moralischen Abwägung eher verschleiernd als hilfreich (Buchanan 2009).

Vor dem Hintergrund dieser Diskussion bleiben vor allem die sozialethischen Probleme der Gerechtigkeit und der möglichen Abwertung und Stigmatisierung derer virulent, die keine Verbesserungstechniken in Anspruch nehmen wollen oder können. So wird – wie auch bei der Zuteilung von Therapien – die Gefahr gesehen, dass durch eine ungleiche Verteilung von Enhancement-Techniken Menschen abgewertet und in ihrer Verletzlichkeit stigmatisiert werden, wenn Gesellschaftsverhältnisse und Haltungen z. B. zur Behinderung sich im Vergleich zur Gegenwart nicht ändern oder sogar in eine diskriminatorische Richtung verschärfen (Meuser 2022), was allerdings auch nahelegt, dass die Chance besteht, solchen Trends gesellschaftlich entgegenzuwirken (Chaproniere 2022).

In diese Richtung argumentieren auch Stimmen, die nahelegen, dass Enhancement eben nicht notwendigerweise zu Ungerechtigkeit führen muss, wenn entsprechende Technologien nach Bedarf verteilt werden und genauso einer Bedarfsgerechtigkeit dienen. Außerdem, so argumentiert Ronald Lindsay, sei es zielführender, sich über Ungerechtigkeiten in bestehenden Gesellschaften Gedanken zu machen als auf ungewisse mögliche Ungerechtigkeiten in einer unbekannten Zukunft zu zielen (Lindsay 2005). Das aber schließt selbstredend weitere Diskussionen über die Chancen, Risiken und moralischen Dimensionen von Enhancement-Technologien nicht aus.

3 Schluss

Insgesamt ergeben sich in der Debatte um das Enhancement eine Reihe von Abgrenzungsproblemen, die bei der Frage beginnen, wo Enhancement beginnt und bei der Frage enden, ob Enhancement – und wenn ja, in welchen Fällen – zulässig sei. Aus medizinischer Sicht ist hier die konzeptionelle Ebene der Grenzziehung zwischen Gesundheit und Krankheit ebenso relevant wie die gesellschaftliche Ebene, die nach sozioökonomischen Push- und Pull-Effekten von Enhancement in der sozialen Interaktion fragt. Nicht zuletzt spielt auch die strukturelle Ebene eine Rolle, die politische und institutionelle Rahmen vorgibt, nach denen sich aus einer Systemperspektive der Einsatz einer biomedizinischen Technik in einer Pfadabhängigkeit aufdrängt oder nicht. Die ethische Bewertung wiederum konzentriert sich darauf, ob durch eine als Enhancement begriffene Technologie die betreffende Person anerkannt oder abgewertet oder in ihrer Selbstkonstitution gestärkt oder geschwächt wird. Jenseits aller Dogmatik ist derzeit auch hier eine allgemeine Grenzziehung schwierig, sodass das Enhancementproblem für den Moment (historisch) kontingent bleibt.