1 Einleitung

Ungeprüfte Stammzelltherapien sind stammzellbasierte Therapien, die nicht im Rahmen klinischer Studien auf ihre Sicherheit und Wirksamkeit für die Behandlung einer bestimmten Erkrankung geprüft wurden und als Therapie daher keine behördliche Zulassung haben (Besser et al. 2018). Medikamente und auch zellbasierte Therapien müssen normalerweise aufwendige Prüfungs- und Zulassungsverfahren durchlaufen, bevor sie als Medikamente und/oder medizinische Therapien in der Klinik zugelassen werden (siehe Müller-Terpitz, Kap. 17). Dies ist bei ungeprüften Stammzelltherapieangeboten nicht der Fall. Ungeprüfte Stammzelltherapieangebote berufen sich zumeist plakativ auf das regenerative Potenzial von Stammzellen und werden kommerziell für eine breite Palette von oft unheilbaren Erkrankungen über das Internet angeboten. Die Behandlung kann ambulant oder stationär erfolgen und körpereigene (autologe) Zellen oder Spenderzellen, d. h. nicht vom Empfänger selbst stammende Zellen, umfassen. Allerdings fehlen oft Details der Behandlungsmethode, die Art der Verabreichung, die Wirkungsweise des Stammzellpräparates und Hinweise auf potenzielle Nebenwirkungen (Berger et al. 2016). Die Aussagen von Patienten und Patientinnen, die die Behandlung positiv beurteilen und sich danach subjektiv besser fühlen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Behandlung nicht den Standards einer klinischen Prüfung bzw. einer zugelassenen Therapie genügt. Die Anbieter/-innen von ungeprüften Stammzelltherapien zeigen wenig oder kein Interesse, Details der Behandlung, mögliche negative Auswirkungen und/oder nachfolgende Erkrankungen zu veröffentlichen (Berger et al. 2016) und damit einer wissenschaftlichen Diskussion zugänglich zu machen.

2 Ungeprüfte Stammzelltherapien – ein komplexes und internationales Problem

Die sich aus ungeprüften Stammzelltherapieangeboten ergebende Problematik wird in zunehmendem Maße international und national von Stammzellforschern und -forscherinnen wahrgenommen und diskutiert (Berger et al. 2016; Master et al. 2021; Lyons et al. 2022). Auch sehen sich Stammzellforscher und -forscherinnen mit Anfragen von Patienten und Patientinnen konfrontiert, die eine breite Palette von Erkrankungen betreffen, von schwerwiegenden neurodegenerativen Erkrankungen (Morbus Parkinson) über Blutzuckererkrankung (Diabetes mellitus) sowie Altern und Burn-out bis hin zu verjüngenden kosmetischen Behandlungen. Die meisten Anfragen kommen von Patienten und Patientinnen in schwierigen und häufig verzweifelten Lebenssituationen mit oftmals tragischen Krankengeschichten.

Die Antwort der Stammzellforscher/-innen ist in den meisten Fällen, dass weltweit an neuen stammzellbasierten Therapien intensiv geforscht wird und solche Therapien in präklinischen Modellen und klinischen Studien erprobt werden, es aber derzeit für viele schwerwiegende Erkrankungen keine zugelassene Standardtherapie gibt. Eine Ausnahme ist die Transplantation von blutbildenden (hämatopoetischen) Stammzellen, die z. B. bei der Leukämie, einer Erkrankung der Blutsystems, eine seit vielen Jahren erprobte und zugelassene Therapie ist (siehe Kolb/Fehse, Kap. 11). In ähnlicher Weise werden Bindegewebsstammzellen (mesenchymale Stammzellen) in den letzten Jahren in zunehmendem Maße klinisch, z. B. bei Verletzungen des Bindegewebes, eingesetzt (siehe Besser et al., Kap. 14).

Anbieter/-innen von ungeprüften Stammzelltherapien finden sich durchaus auch in Ländern mit sehr guter medizinischer Versorgung und strengen Regularien für stammzellbasierte Medizinprodukte, wie z. B. in Mitteleuropa und den USA, aber vor allen Dingen in Ländern mit weniger strengen medizinischen Prüfungs- und Zulassungsverfahren (Berger et al. 2016; Lyons et al. 2022). Bei den international über das Internet verbreiteten Therapieangeboten wird daher oft der Standort der Klinik in einem Land mit hohem medizinischen Standard angegeben, die Behandlung findet dann aber in einem Land mit weniger hohem medizinischen Standard statt. Nicht selten umfasst das Therapieangebot eine breite Palette von privat zu zahlenden Leistungen und beinhaltet auch die Organisation der Reise, die Bearbeitung eventueller Visaformalitäten und weitere die Stammzelltherapie unterstützende nachfolgende Behandlungen (z. B. Physiotherapie). Dieses als „Stammzelltourismus“ (Lyons et al. 2022) bezeichnete Phänomen ist durch die zuständigen Zulassungsbehörden in Deutschland wegen der sehr unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen nicht in den Griff zu bekommen.

In der Europäischen Union (EU) werden Behandlungen mit adulten körpereigenen Stammzellen als „Arzneimittel für neuartige Therapien“ („Advanced Therapy Medicinal Products“, ATMP) eingestuft, und ihre Genehmigung obliegt in Deutschland dem Paul-Ehrlich-Institut (Langen) gemäß der Verordnung EG Nr. 1394/2007 (ATMP-Verordnung) (siehe auch Scherer/Berger, Kap. 9). Seit 2013 beinhaltet dies u. a. ein klinisches Prüfungs- und Zulassungsverfahren durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency, EMA, Amsterdam). Allerdings gibt es Ausnahmeregelungen. (i) Der individuelle Heilversuch („compassionate use“) für schwer erkrankte Patienten und Patientinnen: Hier kann im Einzelfall, über den der/die behandelnde Arzt/Ärztin im Rahmen der Therapiefreiheit im Einvernehmen mit dem Patienten oder der Patientin allein und aus eigener Initiative entscheidet, ein noch nicht zugelassenes ATMP verabreicht werden, auch wenn die Sicherheit und Wirksamkeit der Behandlung für die betreffende Krankheit noch nicht in klinischen Studien erwiesen ist. (ii) Die sog. Krankenhausbefreiung („hospital exemption“): Hier können Hersteller ein ATMP unter bestimmten Bedingungen anbieten: Das ATMP muss individuell für einen Patienten bzw. eine Patientin herstellt werden; es muss spezifischen Qualitätsstandards genügen, darf aber nicht routinemäßig produziert werden; und die Behandlung muss unter ärztlicher Kontrolle und Verantwortung in einer Einrichtung der Krankenversorgung erfolgen.

Die Intention ist in beiden Fällen, Patienten und Patientinnen in der EU den Zugang zu neuartigen Medizinprodukten zu ermöglichen, obwohl diese noch nicht das übliche Prüfungs- und Zulassungsverfahren für klinische Produkte und/oder Studien durchlaufen haben. Anbieter/-innen dieser Produkte und Behandlungen müssen beachten, dass das Therapieangebot nicht über einen individuellen Heilversuch hinausgeht oder den Anschein einer Routinebehandlung und damit einer nicht genehmigten klinischen Studie erweckt. Oft wird versucht, diesem Eindruck entgegenzuwirken, indem das Stammzellprodukt modifiziert wird, wie z. B. durch spezielle Aufreinigungen und/oder regenerationsfördernde Zusätze oder die Anwendung für mehrere verschiedene Erkrankungen wie z. B. neurodegenerative Erkrankungen und Herzerkrankungen.

Patienten und Patientinnen sollten jedoch kritisch hinterfragen, wie es sein kann, dass ein und dasselbe Produkt (oder ein und dieselbe Behandlung) für sehr verschiedene Erkrankungen angewendet werden kann. Es entspricht unserer Alltagserfahrung, dass ein augenscheinlich identisches weißes Pulver nur deshalb zwei verschiedene Wirkungen (süß bzw. salzig) haben kann, weil es sich um verschiedene Substanzen (Zucker bzw. Salz) handelt. Es ist offensichtlich, dass verschiedene Erkrankungen auch unterschiedliche Behandlungen erfordern, die auf die jeweiligen spezifischen Gegebenheiten der Erkrankung zugeschnitten sein müssen.

3 Maßnahmen: Informationen und Aufklärung

Insgesamt lässt sich sagen, dass die rechtlichen Möglichkeiten, gegen Angebote ungeprüfter Stammzelltherapien vorzugehen oder sie zu unterbinden, wegen der komplexen Sachlage und den heterogenen nationalen Rechtslagen sehr begrenzt sind (Master et al. 2021; Lyons et al. 2022) (siehe Müller-Terpitz, Kap. 17). Je nach Beschaffenheit des Stammzellpräparates, der Anwendung und angeblichen Wirkungsweise sowie dem Land, in dem die Behandlung erfolgt, sind klinische Studien, Zulassung und Genehmigung rechtlich für ihre Vermarktung nicht unbedingt erforderlich.

Es muss daher in Zukunft darum gehen, Patienten und Patientinnen über Chancen und Risiken ungeprüfter Stammzelltherapien umfassend zu informieren. Die nationalen und internationalen Fachgesellschaften sind sich ihrer Verantwortung bewusst, Patienten und Patientinnen, Ärzte und Ärztinnen in den verschiedenen Einrichtungen der Krankenversorgung, Hausärzte und -ärztinnen und Entscheidungsträger in Politik, Justiz und Gesellschaft umfassend über Fortschritte in der Stammzellforschung zu unterrichten und auf unseriöse Anbieter/-innen von Stammzelltherapien hinzuweisen.

Die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung (International Society for Stem Cell Research, ISSCR),Footnote 1 das EuroStemCell-Netzwerk,Footnote 2 das Deutsche Stammzellnetzwerk (German Stem Cell Network, GSCN)Footnote 3 und das Stammzellnetzwerk.NRWFootnote 4 haben webbasierte Informationsplattformen eingerichtet, über die sich Patienten und Patientinnen, Betroffene und ihre Angehörigen, interessierte Laien und Laiinnen sowie Ärzte und Ärztinnen über klinisch zugelassene (geprüfte) und ungeprüfte Stammzelltherapien informieren können. Diese und weitere Informationsplattformen werden von ausgewiesenen Experten und Expertinnen zum Thema auf dem aktuellen Stand der Entwicklung gehalten und können kostenfrei genutzt werden. Patienten und Patientinnen und Betroffene sollten so in der Lage sein, selbst die Erfolgschancen und Risiken von stammzellbasierten Therapieangeboten beurteilen zu können.

Das Phänomen unseriöser Therapieangebote in der Medizin ist nicht neu, hat aber durch die Vielzahl von neuen Therapiemöglichkeiten und die globalen Kommunikationswege (Internet, Soziale Medien) eine neue Dimension erreicht. Ungeprüfte Stammzelltherapien werden daher weiterhin global angeboten und in Anspruch genommen werden. Es ist zu erwarten, dass mit den Fortschritten in der Stammzellforschung und bei den zurzeit laufenden klinischen Studien zu Zelltherapien die Palette und Zahl der klinisch geprüften und zugelassenen stammzellbasierten Therapien zunehmen wird. Es ist zurzeit aber schwer abzuschätzen, ob dadurch der Markt für ungeprüfte Stammzelltherapien in Zukunft unattraktiv und „austrocknen“ wird. Die Möglichkeiten zur Durchführung einer ungeprüften Stammzelltherapie in Deutschland wird als eher gering eingeschätzt. Die mit Stammzelltherapien befassten Forscher/-innen sind optimistisch, dass neue klinisch geprüfte stammzellbasierte Behandlungen, die sich zurzeit noch in der Entwicklung und Testung befinden, in Zukunft Standardtherapien in der breiten medizinischen Versorgung sein werden.