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Ich bin Jurist und betrachte Rhetorik innerhalb der Kommunikation im gerichtlichen Verfahren. Dort scheint mir nicht zweifelhaft zu sein, dass es Rhetorik (nur) im Plural gibt. Während im Allgemeinen viele den Wortreichtum und die Vielrednerei für Rhetorik halten und den Rest für Wissenschaft, Sachkunde o. Ä., erscheint es mir keineswegs ausgemacht, wie man die pluralen Verhaltens- und Redeweisen nennen soll. Die alte Gerichtsrede, deren Arten Quintilian nach der Beteiligung am Fall unterscheidet, hat sich im Inhalts- und Beziehungsaspekt verändert.Footnote 1 Entstanden sind Stile, Regimes, Register oder Typen ‚der‘ Rhetorik, denen man – wenn man denn will – die überwölbende Form der forensischen Rhetorik unterstellt, oder es sind mehrere Exemplare, respektlos ‚Stück‘ eines transzendentalen Einheitsgedankens. Wie man die Exemplare der Rhetorik nennt, hängt vom Ausgangspunkt ab. Goodrich kennt aus dem Disput die Begriffe ‚Redner‘ und ‚Widerredner‘ und entwickelt Sympathie für die Widerredner, die der herrschenden lex terrae die Anklage der Außenseiter entgegensetzten, die ‚Antirrhesis‘.Footnote 2 Man kann bei der Redebeziehung bleiben und aus ihrer Beobachtung wenigstens drei verschiedene Formen entnehmen. Formal haben diese Rhetoriken etwas mit der Position des Redners zu tun. Neuzeitlich und in der Position des Gerichts oder der die Abläufe einrichtenden Verwaltung versucht und praktiziert man Sachlichkeit (dazu 1). Weder die nach Rechtsgrundsätzen agierende Verwaltung noch gar das unparteiliche Gericht wollen und dürfen sich Gefühlsausbrüche leisten. Anders ist das bei allen juristischen Funktionsträgern, die in bezahltem Parteiauftrag handeln, vor allem bei Verteidigern. Seit dem Auftreten von Verteidigern wie Jacques Vergès, Otto Schily oder Rolf Bossi existiert eine postmoderne Kampfrhetorik (2), die den Verteidiger als Angreifer erscheinen lässt. ‚Konfliktverteidigung‘ heißt die inzwischen eingeführte Vokabel. Mit provozierten Konflikten erreicht man im Verfahren aber wenig bis gar nichts, wenn nicht das Verstreichen von Zeit selbst schon als Erfolg verbucht wird. Neben der Rhetorik der Sachlichkeit und des Konflikts taucht deshalb eine meist nicht ausdrücklich beschriebene und schon gar nicht gelehrte informale Prozessrhetorik (3) auf. Alle drei Stückarten der Rhetorik sollen im Folgenden näher charakterisiert werden.

1 Sachlichkeit

Sachlichkeit wird juristisch nicht von Unsachlichkeit unterschieden, obwohl der meist persönlich adressierte Einwand, jemand sei oder werde ‚unsachlich‘, im Alltag zu hören ist. Das Gespür für Sachen bildet sich erst aus, wenn man den Rechtsstoff kennt, um den es geht und der abzuhandeln ist. Diese Stoffnähe hat nicht selten zur Folge, dass der juristische orator ermüdend und langweilig wirkt, der Stil ‚trocken‘ scheint und den ursprünglich oder von einer Partei gemeinten Inhalt gar nicht mehr treffen kann. Wer die Sache sprechen lässt, also vor allem selbst den Eindruck erweckt, er spiele mit Gefühlen und messe Interessen eine ganz untergeordnete Rolle bei, achtet eben nicht auf Gefühle – und hat damit Vorteile. So beobachtete Hermann Ortloff im Jahre 1887, zwar bekomme man „in den Schwurgerichtssälen auch heute noch öfters Ansprachen von Seiten der Parteiredner zu hören, welche auf die Erregung der Gemütsbewegung berechnet sind“,Footnote 3 sie entsprächen aber dem Zeitgeist durchaus nicht: „Das gesunde Urteil der Vernünftigeren will derartige rhetorische Kunstgriffe verbannt wissen, sowie auch alle theatralische Effekt-Hascherei, welche nur allzu leicht herausgefühlt und belächelt wird”.Footnote 4 Es wäre also schlechte Rhetorik, wenn dem Auditorium ein Gefühl als Sache präsentiert würde. Man muss über emotionale Impulse hinausgehen und überlegen, welche Anliegen sich mit Sachlichkeit vertragen und so vortragen lassen. Nicht alles ist dabei erlaubt. Es darf keine Rolle spielen, ob Männer zu Frauen, Weiße zu Schwarzen oder Staatsbürger zu Ausländern reden, und jeder Redner muss sich selbst in entsprechend gleichberechtigter Weise anreden lassen. Die Redebeziehung ist also sachlich umkehrbar.Footnote 5 Wer sachlich redet, darf seine Argumentation auch nicht allein mit Zeitformeln der bekannten Art schmücken: Das war schon immer so! Das haben wir noch nie so gemacht! Solche Generaltopoi bleiben im Hintergrund. Das sachliche Argument soll einen inhaltlichen Grund nennen, wobei diese positive Bestimmung tautologisch ausfällt, so wie die meisten Definitionen der Sachlichkeit sich darauf beschränken, die Sache als Inhalt der Sachlichkeit auszugeben. Zum Erkennungszeichen wird die Form der Rede.Footnote 6 Für sie ist wesentlich, dass die Sache aus ihren person-zeitlichen Bindungen gelöst wird und nicht von Gefühlen subjektiver Art, Neugier oder Redundanzphänomenen beeinflusst erscheint. Nur so kann sie zum ‚Sachverhalt‘ der Gerichtsrede werden. Man rede knapp, handlungsbezogen und zielorientiert.

Bei der Bestimmung der Sachlichkeit fällt auf, wie normativ sie auftritt und wie wenig Variation die Konstitution einer Sache verträgt. Das erste Merkmal jedweder Sachlichkeit ist Gliederung. Schon an ihrer Gliederung kann man juristische Texte erkennen. Manchmal sind sie bis zur Lächerlichkeit untergliedert und tun nur noch so, als ob hinter jedem Satz eine Welt anderer Sätze stünde. Jedenfalls verlangt ein Inhalt eine Punktation, eine ‚Auflistung‘ oder eine Merkmalsordnung. Die Methode ist jenseits aller Rechtsfragen hilfreich, produziert aber nur so viel Klarheit wie zuvor an Unterscheidungskraft in die Merkmale investiert worden ist. Klarheit oder Präzision wird meist zu Unrecht für eine besondere Eigenschaft der Rechtssprache gehalten. Von Wolfgang Gast erfährt man, dass Sachlichkeit „ein Ideal des juristischen Argumentierens” sei, eben nicht die Sache, die man sowieso nicht greifen kann. Sachlichkeit sei eine Verhaltensweise oder ein Handlungsmuster, für das man den (wörtlich verstandenen) Verzicht aufs „Ich”, das Etwas der herrschenden Meinung, den Abstand zum Affekt, die Berufung auf den Beruf als Professionalität ebenso wie den logischen „Punkt” prozedieren muss.Footnote 7 Auf das Praktizieren des Prozesses kommt es dabei viel mehr an als auf Kenntnis, Übereinstimmung, Gefühl oder Logik. Mit Sachlichkeit gelingt es, das Ungefähre ‚klar‘ erscheinen zu lassen, die Sache später anpassen zu können und möglichen Streit in spätere Zeit zu verschieben. Anders als man im Alltag denkt (unter der Maxime, alles sofort eindeutig regeln zu wollen), dient eine solche Verschiebung der Sachlichkeit.

Zeitabläufe ermöglichen dieses sachliche Vorgehen: Erst das eine, anderes später. Man macht sich Verfahrensregeln, die noch nicht einmal aus dem Gesetz stammen müssen, dafür aber regelmäßig praktiziert werden. Verfahrensmäßigkeit ist ein Erkennungszeichen für Sachlichkeit. Gemeint ist damit die Abfolge von Beiträgen und Themen im Rahmen eines Gesamtkomplexes. Solche Abfolgen setzen voraus, dass man zuvor schon Inhaltsmerkmale differenziert hat. Sie bilden eine Struktur, die über jedes konkrete Problem hinaus Bedeutung hat. Aus Hafts Juristischer Rhetorik kann man die notwendige Arbeitsweise entnehmen.Footnote 8 Solche Strukturmerkmale, die gleichzeitig juristischen Rang haben, sind die Abfolge von Zulässigkeit und Begründetheit, die Unterscheidung von Betroffenheit und Allgemeininteresse, von Begehren und Begründung oder von Anspruch und Grund. Mit einigen wenigen Formeln gelingt es auf jedem Gebiet, eine aktuelle Sachordnung zu praktizieren, deren Vagheit den Teilnehmern den Eindruck vermittelt, das inhaltliche Ergebnis und damit die Meinung, die sich durchsetzen solle, seien offen. Das macht überhaupt Sachlichkeit aus: Zurückhaltung mit Meinungen und Ergebnissen zu üben.

Dementsprechend ist Ruhe für einen sachlichen Stil unverzichtbar. Wer mit Ungeduld durch den Programmablauf hetzt, mag alles mögliche vermitteln, nur Sachlichkeit nicht. Sachliche Rhetorik übt Kürze und Gelassenheit. Man sollte nicht zu viel Einzelheiten anhäufen. Der amerikanische Richter Cardozo formuliert kurz und knapp: „Don´t state the minutiae of the evidence. The judges won´t follow you, and if they follow, would forget”.Footnote 9 Der Stil betrifft das Ganze, und gerade die mündliche Rede soll sich durch die große Linie auszeichnen – wenige treffende Worte. Neben dem treffenden Wort lugt freilich die Formelhaftigkeit hervor. Cardozo berichtet von der Rechtsüberprüfung mit der Formel: „Man hat die Akten aufmerksam geprüft und keinen Fehler gefunden; deshalb musste die Revision kostenpflichtig zurückgewiesen werden“.Footnote 10 Das Gleiche wird in Deutschland als OU-Beschluss in den meisten Revisionsfällen entsprechend formuliert: Die Revision wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Begnügen muss man sich in einem solchen Fall mit der Stellungnahme der Bundesanwaltschaft.

„Gelassenheit“ schließlich reklamierte Scheuerle als notwendige Tugend für Vorsitzende. Der Gelassene bewahre Gleichmut, „da er dem Schicksal keinen Widerstand leistet“.Footnote 11 Man kann diese Philosophie weniger voraussetzungsreich zu der These verkürzen, Sachlichkeit vertrage sich jedenfalls nicht mit einer Eile, die auf ein anderes Ziel als die Sache schließen lässt. Sie ist ein Darstellungsmittel. Auch Meinungen interessieren in ihrem Darstellungswert. Sachlich werden sie toleriert, überzeugen aber nicht aus sich heraus, etwa wegen ihrer Übereinstimmung mit allgemeinem Konsens. Sie müssen vertreten und begründet werden, alles andere würde ‚der Sache‘ vorgreifen. Daran lasse sich das Kunstwerk der „Rechtsrede” – liest man bei Sobota – in der „Dimension seiner selbstreferentiellen Idealisierung betrachten”.Footnote 12 Was sachlich gelten soll, muss auch einen Tatsachengehalt haben, der zutrifft. Jedermann pflegt Meinungen zu begründen, in einen Zusammenhang zu stellen und ihre mehr oder weniger große Bedeutung hervorzuheben. Der sachliche Stil sieht Meinungen als Anlass des Streits, nicht aber das Bestehen oder Fehlen von Tatsachen, mit denen daher Streitigkeiten geklärt und Ansprüche bewiesen oder widerlegt werden können. Meinungen müssen im Stil der Sachlichkeit durch tatsächliche Daten begründet werden, sonst bleiben sie wirkungslos. Man hat sie selten für sich genommen, sondern – gerade das ist der Appell – sie sollen durch andere Tatsachen bestärkt oder widerlegt werden können. Als grundlegender Unterschied wird die Darstellung einer Partei im Verhältnis zum Inhalt einer möglichen Beweisaufnahme angesehen. Auf diese Differenz muss man achten, und doch greift das eine nicht selten in das andere über. Wenn im Umgang mit Meinungen Zurückhaltung geübt werden soll, so gilt das auch für die Meinung, etwas sei eine Tatsache. Die Mehrheit, deren Meinung man noch nicht kennt, könnte die eigene Ansicht nicht teilen. Tatsachen sind forensisch das Ergebnis eines besonderen Verfahrens der Beweisaufnahme. Man kann sie nicht einfach sehen, sie stehen auch nicht in einem Bericht, sondern müssen als Beweis erst einmal gewürdigt werden. Wenn man in dieser Weise meinungsmäßig zurückgenommen und in Hinblick auf Faktenbehauptungen ergebnisoffen auftritt, gerät die sachliche Einstellung merkwürdig inhaltsleer und fast wortkarg. Der sachlich argumentierende Jurist müsste verstummen, könnte er nicht auf ein Argumentationsmittel zurückgreifen, das ihm Überlegenheit über alle anderen Ansichten durch scheinbar formale Darstellungsmittel gewährte. Das ist die Fehlerargumentation.

Auch die Sachlichkeit selbst produziert Fehler, aber sie speist sich umgekehrt vom Auffinden solcher Fehler bei anderen. Davon gibt es eher hundert als einen, wenn man Fehler sucht. Fehler entstehen allgemein aus für verpflichtend gehaltenen Gliederungsvorgaben (Begriffsfehler), aus der Differenz von Tatsache, Meinung und Schlussform (Subsumtionsfehler) wie auch aus dem Richtigkeitsanspruch bestimmter Meinungen (Rechtsfehler). Nur vor deren Hintergrund lässt sich die Behauptung aufstellen, dass es richtiges und falsches Recht gebe. Die Unterscheidung selbst ermöglicht erst den Fehleraufweis. Zum Stil der Sachlichkeit gehört es, eine logische Überprüfung als Instrument zum Auffinden von Rechtsfehlern zu empfehlen,Footnote 13 und zur rhetorischen Praxis gehört es ‚Fehler‘ in der Argumentation der Gegenseite, der Vorinstanz, des zu kommentierenden Urteils oder Texts zu finden. Zwischen ‚Gründen‘ und Fehlern sieht Niklas Luhmann ein „qualitatives Dual“, das sich von den sonst im Recht üblichen binären Unterscheidungen zwischen Position und Negation, dem Behaupten und dem Bestreiten oder der Existenz und der Nichtexistenz einer Tatsache dadurch absetzt, dass es sich nicht symmetrisch umtauschen lässt.Footnote 14 Aus der Negation des einen entsteht nicht etwa das andere; wer einen Fehler beanstandet, hat damit noch keinen Rechtsgrund gefunden. Dennoch ist das Fehlermoment in der Gerichtsrede zentral.Footnote 15 Eine Fehlerargumentation kann sich auf interne Regeln des Fachs berufen, auf begriffliche Übungen und anerkannte Gliederungen, die es zu beachten gelte. In jeder wirklichen Rede können viele Fehler aufgewiesen werden – je nach Perspektive des Kommentators –, und wer sich auf den Fehleraufweis beschränkt, scheint sich mit der eigenen Meinungsbildung zurückzuhalten. Er erfüllt damit das zentrale Anliegen der Sachlichkeit, ergebnisneutral zu verfahren. Wohlgemerkt: Es handelt sich um ein rhetorisches Produkt, denn die Fehler aufspürende Revisionsbegründung hat nur ein Ergebnis im Sinn: das angefochtene Urteil aufgehoben und abgeändert zu sehen. Damit eignet sich die Argumentation über Fehler hervorragend auch für eine andere, heute wichtige rhetorische Strategie, aus der die Ausweitung und Verlängerung von Verfahren resultieren.

2 Kampfrhetorik

Man kann von der Fehlerproduktion anderen Gebrauch machen als im rhetorischen Register der Sachlichkeit. Dazu dient eine Festlegung des Beziehungsaspekts im Sinne von Freund-/Feind-Verhältnissen. Agonale Stellungnahme macht sowieso jeden Rechtsstreit aus, und nicht selten verbinden sich sachliche Gegnerschaft und persönliche Abneigung. Dann wird der Rechtsstreit zum Kampf und Angeklagte, aber durchaus auch Parteien in Zivilsachen, in denen es um Miete, Ehe oder Kindschaftsverhältnisse geht, verstehen die andere Seite oder das Gericht oder die Staatsanwaltschaft als Feind, nicht ausdrücklich (wann immer man den Versuch solcher ‚Diskursehrlichkeit‘ macht, wird das angesonnene Feindverhältnis selbstverständlich entschieden zurückgewiesen), aber im Verhalten. ‚Konfliktverteidigung‘ heißt eine entsprechende Rhetorik im Strafverfahren. Es waren vor allem Strafverteidiger, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts den semantischen Kampf in die Institutionen des Strafprozesses brachten. Sie hatten damals ideologische Gründe, die heute weitgehend in den Hintergrund getreten sind. Geblieben ist der Kampf als solcher. Er definiert die Beziehungsseite jeder prozessualen Handlung, hat heute aber anstelle eines ideologisch-doktrinären durchaus auch sachlichen Gehalt. Allerdings ordnet sich die Sache der vordefinierten Sprecher/Hörer-Beziehung unter. Diese bleibt unverändert feindlich, solange nicht dem eigenen Antrag (meist auf Freispruch, vielleicht aber auch auf Erlass einer Bewährungsstrafe) entsprochen wird.

Auch unter den Bedingungen des semantischen Kampfs gibt es SachlichkeitFootnote 16. Hier lässt sie sich sogar positiv bestimmen. Die kämpferische Sachlichkeit stellt Fehler in den Vordergrund, und zwar Fehler der jeweils anderen Seite, wobei – das ist ein charakteristisches Merkmal – dem Gericht ebenfalls eine Parteirolle zugewiesen wird. Durch permanenten Fehleraufweis wird das Verfahren verlängert und erweitert. Es werden Anträge gestellt, Erklärungen abgegeben und Beweisaufnahmen erzwungen. Dabei ist nicht immer klar, ob diese Anträge, Erklärungen und Beweisaufnahmen den Antragstellern und Erklärenden nützen. In auswegloser Lage gehört es zu den Erfolgen der Strafverteidigung, das Nichtstun herbeizuführen. Dafür bieten sich viele Verfahrenswege an, und es stehen wohlklingende Semantiken bereit. Wenn die Menge der Vorwürfe zu groß wird und eine Verteidigung wegen der Vielzahl der Belastungsmomente nicht mehr möglich ist, beantragt man die Aussetzung des Verfahrens zur besseren Vorbereitung der Verteidigung. Benötigt wird dann nur noch ein Umstand, mit dem man deutlich machen kann, dass die fehlende Vorbereitung nicht auf das eigene Nichtstun zurückzuführen ist, sondern aufgrund allgemeiner Fairness im Verfahren geboten ist. Wenn sich das Gericht in eine solche Strategie nicht mehr einbinden lässt, wenn es also meint, Gründe zu haben, das Verfahren fortzusetzen, so wird der Kampf gegen das erkennende Gericht mit dem Ablehnungsverfahren bestritten. Die Angeklagten machen die Besorgnis der Befangenheit geltend und lassen vortragen, dass angesichts der zu beobachtenden Eile offenbar eine Verurteilung beabsichtigt sei, was – wenn man die Absicht schon erkenne – auf eine unleugbare Voreingenommenheit zurückzuführen sei.

Beide Strategien – Aussetzung und Ablehnung – lassen sich kombinieren und auch in kleiner Form gegen jede Frage und jeden Verfahrenszug des Gerichts wenden. Die Verteidigung kann beanstanden, dass ein Zeuge zu direkt gefragt wird, sie kann beanstanden, dass er überhaupt gefragt wird, und sie kann die Fragen, die gestellt werden, ihrem Inhalt nach beanstanden. Damit hat man zwar im Ergebnis meist keinen Erfolg, aber man kann Zeit ablaufen lassen, Aufschub erwirken, eine andere Situation abwarten, vielleicht doch ein anderes Gericht mit einer günstiger gestimmten Umgebung eintauschen. Als „procès de rupture” empfahl der französische Strafverteidiger Jacques Vergès die entsprechende Strategie.Footnote 17 Vergès hat die Praxis selbst verwendet und war damit oft nicht erfolgreich.Footnote 18 Seitdem hat sich die Provokation durch Rahmenbrüche im Strafprozess etabliert und Strafverteidigung wird insgesamt ‚kämpferisch‘ verstanden, wobei eine rhetorische agonale Positionsverteilung im Strafverfahren betont wird anstelle einer etwa gemeinsamen Bemühung um Wahrheit.Footnote 19 Ein deutsches Landgericht hat diese Art der „Konfliktverteidigung“ als Mittel gesehen, „eine ruhige, die Wahrheitsfindung fördernde Gerichtsatmosphäre durch ständigen Widerspruch und Kritik am Gericht, durch Befangenheitsanträge, durch das Fordern von Pausen und schließlich durch eine Vielzahl von Beweisanträgen, wobei Beweisthemen und Beweismittel teilweise erfunden werden, zu verhindern ebenso wie den Abschluss des Verfahrens in angemessener Zeit”.Footnote 20

Im klassischen rhetorischen Figurenkatalog, der freilich weder eine Strategie des Bruchs noch die Konfliktverteidigung kannte, werden als Inventar Mittel der Amplifikation bezeichnet. Quintilian sieht „Vergrößern oder Vermindern” als rhetorische Bestandteile bezeichnetFootnote 21 und zitiert eine – allerdings erfolgreiche und nur sachlich konfliktbeladene – Verteidigung des Cicero für einen jugendlichen Tunichtgut, Marcus Caelius Rufus: „Wenn eine Witwe ein freies, eine Ausgelassene ein leichtfertiges, eine Lüsterne ein Dirnenleben führte, sollte ich dann einen Mann für einen Ehebrecher halten, der sie ein wenig zu vertraulich gegrüßt hat?”. Die von Quintilian gerühmte Ironie des Beispiels geht den postmodernen Konfliktprozessen ab. Anders als im klassischen Beispiel lässt sich Amplifikation heute im Verfahren nicht mehr allein mit sprachlichen Formen beschreiben. Man weiß auch nicht, ob es den jeweiligen Akteuren überhaupt um einen greifbaren Erfolg geht. Nicht selten verschlechtern weitere Reden, Anträge und Beweisaufnahmen die Aussichten eines Verteidigers, aber es scheint so, als spiele das keine Rolle. Im Vordergrund steht der Wille zur Verfahrenserweiterung. Amplifikation wird zum selbstständigen programmatischen Effekt. Im Übergang von der alten Rhetorik in eine neue Form der Redekunst wurde die Kraft der Topik zur Schwäche der Gemeinplätze und man hat getestet, wie lange und in welcher Weise das Allgemeine thematisiert werden muss, wenn man noch mit Altem etwas ganz anderes erreichen will. In diesem Sinne wurde durch Amplifikation mögliche Verallgemeinerung getestet.Footnote 22 Eines ändert sich allerdings grundsätzlich gegenüber den Zielen der klassischen Rhetorik. Es geht nicht mehr darum, das Gericht zu überzeugen, sondern darum zu verhindern, dass ein Verfahren nach fremden Vorstellungen vorangebracht oder beendet werden kann. Man will nicht das Urteil beeinflussen, sondern es unmöglich machen. Die Tendenz dahin ist keineswegs auf den Gerichtssaal beschränkt. Auch öffentlich haben sich die Auditorien so diversifiziert, dass es nicht mehr das Ziel ist, die andere Seite zur Zustimmung zu bewegen, sondern die eigene zu begeistern und zu demonstrieren, dass die andere jedenfalls keinen greifbaren Erfolg haben kann. Die Überprüfung und Würdigung von Umständen einer Anklage – heute gerne ‚Faktencheck‘ genannt – bedient die eigene Klientel, während die anderen ihre Rede munter fortsetzen.

Im Gerichtssaal besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied. Man ist zeitlich und räumlich verbunden, kann auch nicht den Sender abschalten, sondern muss sich gegenseitig ertragen. Das verlangt ein Mindestmaß an Kooperation und nährt die Einsicht, dass Konflikt nicht allseitig und unbegrenzt fortgesetzt werden kann. Wenn neben der Verteidigung etwa auch die Anklagevertretung die gleichen verlängernden Strategien verfolgt, ist ein Verfahrensende unmöglich. Konfliktbereitschaft auf einer Seite setzt Pragmatik und Sachlichkeit auf der anderen voraus, wenn – was jederzeit möglich ist – die Verlängerungsstrategie konsensuell beendet werden soll. Solange das Verfahren andauert, kann auf Verlängerung und Erweiterung nämlich nur mit Sachlichkeit reagiert werden, und gerade diese Sachlichkeit bietet weitere Ansatzpunkte für Verlängerungen und Erweiterungen. Andererseits sind die modernen Amplifikationsstrategien hochgradig anfällig für Misserfolge. Die Rhetoren versäumen es, ihre eigenen Erfolgsbedingungen zu reflektieren, weil nicht selten ein gewisser Verblendungszusammenhang besteht, der verhüllt, ob noch auf dem rhetorischen Felde gegen den aktuellen Gegner Erfolg möglich ist. Käme es darauf an, müsste irgendwann Sachlichkeit einziehen. Häufig verlegt man sich aber darauf, die erwartete negative Entscheidung vor einem Obergericht und einem anderen Forum erfolgreich zu bekämpfen. Dazu sind Rechtsfehler in erster Instanz erforderlich, die zur Aufhebung im Rechtsmittel führen. Empirisch sind die Erfolgsaussichten für solche Fehlerrügen jedoch kaum zuverlässig zu bestimmen. Denn es kommt darauf an, wer die Definitionsherrschaft über die Sache hat, und das ist nicht der Rechtsmittelführer, der – möglicherweise voller Überzeugung – den Fehler rügt. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie meinungsabhängig der Fehlerbegriff ist. Will man sich vor den Untiefen und Unschärfen der Fehler retten, bedarf es anderer Mittel als Sachlichkeit und Erweiterung. Man muss mit beidem über beides reden können und braucht dafür eine nicht ganz so ernst gemeinte Form.

3 Informale Prozessrhetorik

Kampfrhetorik wie Sachlichkeit zehren vom Fehlerbegriff. Wo es im Stil der Sachlichkeit um Fehlervermeidung geht, insistiert die Kampfrhetorik auf Fehlerfeststellung und -ausbeutung, wobei es natürlich immer um die Fehler der Gegenseite geht. Beide Strategien haben noch etwas weiteres gemeinsam: sie werden auf der Bühne des öffentlichen Verhandlungsgeschehens ausgetragen. Das gilt vor allem für die Kampfrhetorik. Ohne die Präsenz aktueller oder virtueller Dritter ist der Prozessausdehnung und -verlängerung die Grundlage entzogen. Es drängt sich geradezu auf, dass es neben diesen auf die öffentliche Verhandlung und ihre sachrichtige Bewältigung bezogenen Darstellungsstilen noch andere Formen geben muss, die ich abkürzend ‚informal‘ nenne. Informale Prozessrhetorik wirkt auf den ersten Blick so unmöglich wie der sprichwörtliche schwarze Schimmel. Kann man in einem aufgrund ausdrücklicher Setzung förmlichen Ablauf auch informal handeln? Kann man – wenn Redeformen vorgeschrieben sind – jenseits der Form darüber reden und doch noch einen Prozess mit einem förmlichen Ende herbeiführen? Man kann es nicht nur, man muss es geradezu, und zwar in dem Maße, in dem Sachlichkeit und Kampf überhandnehmen. Sowohl über die Reduktion auf eine Sache als auch deren Erweiterung in Ketten von Anträgen, Widerreden, Beschlüssen und Beschwerden muss zuvor nachgedacht werden. Man muss – oder sollte – wissen, zu welchem Zweck und wie lange man ein Verfahren verlängert, und noch viel mehr muss man wissen, welchen Ertrag eine präparierte Sachlichkeit erbringt. Dafür gibt es eine im antiken Verständnis nicht enthaltene postmoderne Form.

Niklas Luhmann hat zwischen der in einem System eingeführten Form und der als anders wahrgenommenen Kommunikation jenseits der Systemgrenzen unterschieden. Wenn man zwischen struktureller Kopplung und als fremd erfahrener Kommunikation unterscheiden könne, trete „Irritation” auf. Systemveränderung ist keine notwendige Folge, Abweichungen können verworfen werden, sie können aber auch – einmal als „neu” erkannt – zum Bestandteil der systeminternen Operationen gemacht werden. Prozesssysteme bieten diese Chance. Agiert man in ihnen, kann der Kampf als nur äußere Abweichung verworfen werden. Dann kämpfen diejenigen, die die Form des Systems nicht kennen oder nicht beherrschen. Ein Prozesssystem kann sich aber irritieren lassen und aufnehmen, was als Neuheit auftaucht.Footnote 23

Das praktische Prozessparadigma dafür ist der deal. Im amerikanischen Jury-Prozess ist er notwendig, um das aufwändige Jury-Verfahren zu ersparen, im kontinentalen und vor allem im deutschen Strafprozess ist er gängige Praxis geworden,Footnote 24 um die extreme Fehleranfälligkeit des amtlichen Untersuchungsgrundsatzes in der Hauptverhandlung zu vermeiden oder die Verhandlung wenigstens teilweise abzukürzen. Wie das amerikanische Vorbild kommt auch das deutsche Plagiat in der Sache ohne Beweisaufnahme aus. Gleichzeitig muss aber – wie es der kontinentale Grundsatz der Sachverhaltsfeststellung verlangt – die Sache erörtert werden, weil die Rechtslaien zwar nicht als Jury, aber in Gestalt der Schöffen in jedem Strafverfahren sitzen, in dem über schwerwiegendere Delikte als Schwarzfahren, Ladendiebstahl oder Rauschgiftbeschaffung verhandelt wird. Aus diesem Grund wird regelmäßig der Inhalt eines Geständnisses ausgehandelt, das für das konkret benannte Verfahrensergebnis gerade ausreicht.

Geredet wird informal, und zwar selbst dann, wenn alle Verfahrensbeteiligten in öffentlicher Verhandlung über das weitere Prozessverhalten debattieren. Öffentliche Debatte wird von manchen Staatsanwälten und Verteidigern empfohlen, ist aber verfahrenssoziologisch eher selten. Wenn in der Verhandlung in Gegenwart des Angeklagten über dessen Erklärungsinhalt im Hinblick etwa auf eine noch mögliche Bewährungsstrafe gesprochen wird, dann gibt es dafür weder Redeformen noch Formregeln. Es hängt von den Umständen ab, ob das Gericht oder die Verteidigung, vielleicht auch die Anklagevertretung einen Vorschlag dazu machen.Footnote 25 Es hängt auch von den Umständen ab, ob dazu länger geredet und begründet oder nur Forderungen gestellt werden, so dass es ebenfalls umstandsbedingt schnell zu einem Ergebnis oder zu quälenden und in ihrer Länge nicht vorhersehbaren Verhandlungen kommen kann. Der Ort dafür ist oft nicht der Gerichtssaal, sondern der Gerichtsflur, nicht das Beratungszimmer eines Spruchkollegiums, in dem ungeklärt bleibt, wer sprechen sollte, sondern das Dienstzimmer des Vorsitzenden oder des Anklagevertreters, vielleicht auch die Kanzlei eines Verteidigers.Footnote 26 Dazu kann man sich verabreden, aber keine Prozessordnung schreibt vor, mit wem man das tun soll. Es können sich Verteidiger und Anklagevertreter treffen oder der Vorsitzende und der Verteidiger, es können ein oder mehrere Verteidiger dabei sein. Dies bleibt ebenso informal wie Argumente, Stil und Ergebnis solcher Gespräche. Für informale Prozessrhetorik ist das nicht maßgeblich. Nur der Zweck entscheidet über die Tauglichkeit der dafür eingesetzten Mittel, aber auch der Zweck muss sich rhetorische Verschleifungen gefallen lassen. Zwecke wie: frei von Strafe bleiben zu wollen – oder umgekehrt: lebenslängliche Haft erwirken zu wollen, Maximalziele also, eignen sich für Aushandlungen in informaler Prozessrhetorik so wenig wie das Herausarbeiten und Insistieren auf Rechtsfehlern. Hier regieren der Kompromiss, das Gefühl für ein unabhängiges Drittes gegenüber den eigentlichen eigenen Prozesszwecken und ein zeitökonomisch geläutertes Justizverständnis. Es ist die Offenheit für Irritationen, wobei erst die Möglichkeit der Irritation dazu führt, dass die Form verlassen wird.Footnote 27

4 Am Ende

Es wäre zu einfach, am Ende zu sagen, damit verlaufe sich alle Form im Informalen. Ebenso ist es zu einfach, von unterschiedlichen Formen zu sprechen, die sich je nach Bedarf verwenden ließen. Auf eine gewisse Sachlichkeit kann niemand verzichten, erweiternde Exkurse, Gefühlsausbrüche oder Grenzsetzungen kommen immer wieder vor und wie man informell über die Form redet, muss man mühsam lernen. Dafür fehlen die Drehbücher. Entscheidend ist im Hinblick auf die drei Rhetoriken, dass Verfahren nur sind, was sie als Form versprechen, wenn sie auch ein Ende nehmen. Heutzutage stehen am Ende immer häufiger Vergleiche, Deals, Einstellungen, Rücknahmen nach Erörterung oder halbkonsensuelle Kostenentscheidungen. Das eigentliche Paradigma des Verfahrens, auf das hin ausgebildet wird, ist die Entscheidung. Sie stellt nach wie vor das klassische Verfahrensende dar, und die klassische rhetorische Form der Gerichtsrede war natürlich darauf ausgerichtet, Neigung und Überzeugung der Richter zu gewinnen. Cicero wandte sich an das Gericht, und zwar in der Rede selbst, wobei wir nicht genau wissen, welche der überlieferten Reden in der erhaltenen Form wirklich gehalten worden sind.

Heute ist die Gerichtsrhetorik zerfallen. Das heißt nicht, dass sie nicht mehr stattfände. Auch Plädoyers werden nach wie vor gehalten, und die Galerie hält sie nach wie vor für die ausschlaggebende Form. Aber dahinter oder daneben ist etwas anderes getreten, das der Beobachtung und Erfahrung bedarf. Wer dieses andere verachtet, nennt es ‚Gerede‘ und trifft damit durchaus die Verlaufsform. Über die Rede muss geredet werden, nichts versteht sich mehr von selbst, alles kann Gegenstand der Rede werden, einschließlich der Verfahrensform und des Entscheidungsinhalts selbst. Peter Goodrich widmet deshalb dem Interdiskurs über das Recht innerhalb des Rechts ein besonderes Kapitel im Rechtsdiskurs.Footnote 28 Der Rechtsdiskurs ist kein Ganzes, er nimmt nach wie vor die Form des Systems an und kann auch gar nicht anders operieren. Aber wenn es nicht seit langem so gewesen ist, so erfährt man heute, dass die Form durch Widerstand verändert werden kann. Die Formen solcher Irritation sind nicht abschließend und in die Zukunft hin offen. Insofern dürfte es noch mehr Stück Gerichtsrhetorik geben als jene drei, die gerade vorgestellt worden sind. Deren Darstellung obliegt Oratoren wie Beobachtern des Gerichts.