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Am 31. August 1774 schickt Goethe seinem Freund und Kollegen Friedrich Heinrich Jacobi ein titelloses Gedicht zu, das er mit dem Satz kommentiert: „Hier eine Ode, zu der Melodie und Commentar nur der Wandrer in der Noth erfindet“.Footnote 1 Ihre damit skizzierte Genese als eine ‚Erfindung‘ eines einsamen „Wandrer[s]“ in einer Notlage hebt offensichtlich auf einen spontanen Akt poetischer Hervorbringung ab. Sie schlägt sich sowohl in der lyrischen Form wie im Inhalt des Textes nieder, der das persönliche Erlebnis und die genialische Bewältigung einer metereologischen Ausnahmesituation wiedergibt, die mit Begriffen wie „Schlossensturm“, „Schlammpfad“, „Schneegestöber“ oder „Kieselwetter“ umschrieben ist. Jedenfalls lässt sie keinen Raum für ein kalkuliertes Vorgehen des Verfassers bzw. einen rationalen Aufbau der Ode:

Wen du nicht verlässest Genius

Nicht der Regen nicht der Sturm

Haucht ihm Schauer übers Herz.

Wen du nicht verlässest Genius

Wird der Regenwolck

Wird dem Schloßensturm

Entgegen singen,

Wie die Lerche

Du dadrobenFootnote 2

Dieses in den ersten vier Strophen mit dem viermal wiederholten Einleitungsvers beschworene Moment kreativer Unmittelbarkeit hat der klassische Goethe im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit bei Erwähnung seines intensiven „Umherschweifens in der Gegend […] zwischen Darmstadt und Homburg“, weswegen man ihn im Darmstädter Kreis der Empfindsamen auch „den Wanderer zu nennen pflegte“, eher kritisch gesehen:

Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine [1812], unter dem Titel ‚Wanderers Sturmlied‘, übrig ist. Ich sang diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter unterweges traf, dem ich entgegen gehen mußte.Footnote 3

Der „Halbunsinn“ aber hat durchaus Methode: Zum einen setzt sich Goethe damit von dem enthusiasmierten Sprechen seiner Sturm-und-Drang-Periode ab, dessen Duktus ein „heilig glühend Herz“ diktierte und dessen ungebremste Emotionalität, wie er selbst abschätzig sagte, „von der damals herrschenden Empfindsamkeits-Krankheit“ zeugte.Footnote 4 Zum andern aber lässt er gleichsam aus einer objektiv-distanzierten Perspektive durchblicken, dass der subjektive Gefühlsausdruck die Grundlage der Poesie ist, auch wenn er, durch Wahrnehmungsweise und Form nicht gefiltert, nur „seltsame Hymnen und Dithyramben“ generiert. Das macht die schon im Urfaust (1775) enthaltene Wagner-Szene deutlich: Der wissbegierige Famulus, der, in die Studierstube „gebannt“, die lebendige „Welt kaum einen Feiertag“ lang und „nur von weiten“ zu sehen vermag, begehrt von dem gelehrten Magister und Doktor Faust zu wissen: „Wie soll man sie durch Überredung leiten?“ Fausts Antwort ist unmissverständlich: „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet‘s nicht erjagen, / Wenn es nicht aus der Seele dringt/Und mit urkräftigem Behagen/Die Herzen aller Hörer zwingt“.Footnote 5 Das paraphrasiert das dem hohen Stil zugeordnete officium des Redners, nämlich das animos capere/flectere,Footnote 6 das aber nicht mehr durch ‚Überredung‘, die Kernaufgabe der Rhetorik, zu leisten sei; vielmehr sei es nur durch eine tiefem Gefühl entspringende und Empathie schaffende Sprache zu erreichen.

Wie aber kann eine solche bewerkstelligt werden bzw. wie ist ein spontanes Gefühl überhaupt sprachlich zu fassen? Diese grundlegende Frage hat sich Karl Otto Conrady gerade bei seinen Ausführungen über „Wandrers Sturmlied“ am Ende des Kapitels „Wertherzeit in Wetzlar“ aus dem ersten Band seiner Lebens- und Werkgeschichte Goethes gestellt und aus der Ansicht, dass die lyrische Wiedergabe unmittelbaren Erlebens auf einen Akt rationaler Vermittlung angewiesen sei, vorsichtig den folgenden Interpretationsansatz abgeleitet: An Goethes „Hymnen könnte man verdeutlichen, dass Gedanken und Bilder genau geführt und gefügt sind und, so widersprüchlich das klingen mag, ein sicherer Kunstverstand die innere Form inspiriert“.Footnote 7 Der Anregung einer möglichen Verdeutlichung der ‚kalkulierten Spontaneität‘ möchte ich hier (erneut) nachgehen, und zwar in drei Schritten, um deren konkrete Phänomene anhand von Goethes Frankfurter Hymnen aufzuspüren.

1 Zur Forderung nach einer „hertzrührenden Schreibart“ und empathischen Deklamation

Bevor ich mich aber der Frage zuwende, wie denn eine solche Sprechweise (parole, performance) überhaupt zustande kommt, möchte ich kurz darauf hinweisen, dass die Forderung nach einer emotionalen und dem Innersten entströmenden Wortfolge bei den Literaturtheoretikern seit den 1730er Jahren mehrfach erhoben wird. Als ein charakteristisches Beispiel hierfür können die Ausführungen des Züricher Poetologen und Literaturkritikers Johann Jakob Breitinger gelten, der im zweiten Band seiner Critische[n] Dichtkunst (1740) die „hertzrührende Schreibart“, die „geraden Wegs auf die Bewegung des Herzens los“ gehe,Footnote 8 proklamiert und auch sprachlich-stilistische Merkmale anführt, die für eben diese kennzeichnend sind. „Immer wieder stellt Breitinger“ dabei, wie Jochen Schmidt (1985) in seiner Geschichte des Genie-Gedankens konstatiert, „dem bloß technischen Verfahren, das sich auf die Anwendung der Regeln der Schulrhetorik beschränkt, ein naturhaftes, von der Empfindung geleitetes Schaffen gegenüber“.Footnote 9 Und wenn Faust der von seinem Famulus Wagner vertretenen ‚trocken‘-gelehrten Schreibart, die so regelgerecht wie kopflastig ist, eine lebensnahe‚ „erquickende“ Dichtung entgegenhält, „die aus eigner Seele quillt“ (V. 569), dann drängt sich der Gedanke an eine Kontraposition auf, die die Rhetorik im Zeitalter der Aufklärung prägt:Footnote 10 Der Forderung nach einer rational und systematisch erstellten Rede, wie sie vor allem der ‚Literaturpapst‘ Johann Christoph Gottsched vertritt, der den Stürmern und Drängern als Lehrmeister der Rede- und Dichtkunst fast so verhasst war wie der ‚Franzosenfreund‘ Christoph Martin Wieland im Hinblick auf die Amoralität und den fehlenden Patriotismus seiner Schriften, steht, oftmals in ein und demselben Werk bzw. Lehrbuch, das Plädoyer für eine intensive, komplexe Befassung mit den Affekten gegenüber. So ist der „Erregung und Dämpfung der Gemütsbewegungen“ ein „Hauptstück“ der Ausführlichen Redekunst gewidmet,Footnote 11 die 1728 verfasst wurde, und zwar von Gottsched. Desgleichen weist Friedrich Andreas Hallbauer in seiner damals stark beachteten Anleitung zur Politischen Beredsamkeit (1736) den Redner an, „die Bewegung in den Leidenschaften […] durch Erregung und Dämpfung derselben zuwege“ zu bringen,Footnote 12 d. h. „die Leidenschaften, die den Absichten des Redners gemäß, werden erreget, die selbigen im Wege stehn, gedämpfet“. Dabei setzt Hallbauer allerdings voraus, „daß der Redner selbst den Affekt annehme, den er erreget, und ablege, den er dämpfen will“, wozu er „die Sittenlehre gut gefasset, und von der Beschaffenheit, Ursachen, Wirckungen der Affecten richtige Begriffe haben“ müsse.Footnote 13

Trotz dieser ohnehin schwer zu überprüfenden Prämissen bleibt die empfohlene Indienstnahme der Affekte zum „Zwecke der Rede“, also zur Erfüllung der jeweiligen oratorischen Absicht – sie ist, nebenbei bemerkt, ein fester Bestandteil der klassischen RhetorikFootnote 14 – mit der zweckfreien Artikulation der ‚eignen‘ Gefühle im Sinne Fausts bzw. Goethes nicht vereinbar. Sie leistet dieser aber insofern einen nicht unbeträchtlichen Vorschub, als die ‚Tonlehre‘, mit der Zeit von den tradierten Aufgabenbereichen des Redners (officia oratoris), genauer: der pronuntatio, der Präsentation der Rede, losgelöst, ein hohes Maß an Eigenständigkeit gewinnt. Denn die ‚Töne‘, die in der weiteren Bedeutung als ‚mimische und stimmliche Ausdrucksformen bestimmter Gefühle‘ (Freude, Schmerz, Trauer, Zorn usw.) verstanden werden, vermag der von ihnen selbst affizierte Redner dadurch auf den Zuhörer zu übertragen, dass er – so Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache – „das bloße Naturgesetz“ befolgt, das da lautet: „Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen!“.Footnote 15 Das kommt naturgemäß in erster Linie dem mündlichen Vortrag zugute – aber eben auch der Lyrik, insbesondere der auf akustische Rezeption angelegten ‚Ode‘ (η ωδή heißt ja ursprünglich ‚Gesang, Lobgesang‘). Kein Wunder also, dass sich Klopstock (1774) nach dem Vorbild der Griechen für „das Vergnügen der gesellschaftlichen Theilnehmung des Ohrs und der lebhaften Empfindung des Gedichts“ ausspricht,Footnote 16 dessen öffentliche Rezitation empfiehlt und dem Dichter in die Schule der Deklamatoren zu gehen rät: „Wer Dichter werden will, kann von dem Deklamator mehr als Eine Sache lernen“, nicht nur „das Tonmaaß“; das jedoch lässt sich „nur durch die Deklamation des Redners lernen“.Footnote 17 Seine kritische Beobachtung vom Verklingen der Töne: „Wir setzen uns in einen Winkel, sehen den Schall, und fühlen daher das Gedicht kaum“, wird allerdings erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts wirklich virulent, wenn das lyrische Gebilde in den Raum des Inneren eingehegt, also auf ‚Innerlichkeit‘ eingeschworen wird.Footnote 18 Als autonomer Gegenstand der Ästhetik wird Dichtung der Rhetorik als der Lehre von der öffentlichen Rede entzogen, während diese selbst stufenweise abgewertet wird – bis hin zu Kants moralischem Verdikt über die „Beredsamkeit, sofern darunter die Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen (als ars oratoria), […] verstanden wird“: Diese biete sich, da ihre „Maschinen der Überredung […] zur Beschönigung oder Verdeckung des Lasters und Irrtums gebraucht werden können“,Footnote 19 dem Redner „als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen“, an. Deshalb sei sie „gar keiner Achtung würdig“.Footnote 20

2 Vom Versuch, „Pindarn nachzueifern“

Was übrigens der Bedeutung der Schulrhetorik keinen Abbruch getan hat. Das möchte ich kurz an einem Corpus von Gedichten zeigen, die mit dieser selten in Verbindung gebracht wurden, nämlich die Oden, die Goethe zwischen 1772 und 1775 in Frankfurt geschrieben hat (zur Unterscheidung von den metrisch gebundenen Oden und wegen des erhabenen Stils und der hohen Themen wurden sie auch als ‚Hymnen‘ bezeichnet) und die wesentlich durch seine von Herder vermittelte Pindar-Rezeption geprägt sind. Diesem bekennt Goethe am 10. Juli 1772: „Ich wohne jetzt in Pindar“Footnote 21 – und er beruft sich dabei auf Horaz‘ berühmte sapphische Ode (carm. IV, 2), die den „princeps Lyricorum“ (Quintilian) feiert, sich aber an den wendet, „der Pindarn nachzueifern sucht“ (Pindarum quisquis studet aemulari).Footnote 22 Zwar sieht Horaz in diesem Unterfangen von Vornherein die Gefahr zu scheitern gegeben, was seinem Verweis auf den Absturz des Ikarus zu entnehmen ist: Dieser vermochte sich mit Hilfe der Handwerkskunst seines Vaters Daedalus zwar in die Lüfte zu erheben, stieg aber in jugendlichem Überschwang zu hoch und stürzte, da die Sonne das seine Flügel zusammenhaltende Wachs schmelzen ließ, in die seitdem nach ihm benannte Ikarische See – was Goethe jedoch von der Nachahmung der pindarischen Oden nicht abhalten kann. Diese zeigt sich zum einen in der Übernahme von Metaphern, mit denen Horaz Pindars „tiefgründigen Gesang“ beschreibt: etwa als anschwellend-brausender Strom, der sich „vom Gebirge stürzt“ (monte decurrens velut amnis) und sich mitreißend neue Wege bahnt. Und auch die Wahl der Oralität simulierenden Gattung sowie den Hang zu Neologismen kann Goethe mit den Versen des Horaz rechtfertigen, in denen Pindar bescheinigt wird, dass „er durch kühne Dithyramben neue Worte wälzt“ (per audacis nova dithyrambos/verba devolvit). Zum andern aber verfällt er der Horaz’schen Fehlinformation, dass Pindars Gesang „befreit von metrischen Regeln dahin rauscht“ (numerisque fertur/lege solutis).Footnote 23 Diese konnte wegen der Kompliziertheit der Verführung erst im 19. Jahrhundert ausgeräumt werden, kam aber der Ansicht von der bewusstlosen Hervorbringung lyrischer Gesänge, die dem Busen des Genies gleichsam entströmten, entgegen und trug zur Produktion von Goethes großen freimetrischen Hymnen bei: in der Tat ein fruchtbarer Irrtum!

Aber wie wird das ‚Pindarisieren‘, das Schreiben im Stile Pindars, über den Rückgriff auf einige Metaphern und den Verzicht auf ein festes Metrum hinaus von Goethe realisiert? Jedenfalls nicht ohne Referenz auf tradierte poetische Muster: Schon das so ungestüm wirkende, angeblich ‚halb unsinnige‘ „Sturmlied“ des Wanderers erweist sich als wohl kalkuliertes Programmgedicht: Zuerst einmal liegt ihm eine komplexe triadische Struktur zugrunde, die Pindars Olympischen Oden nachempfunden ist: Die Bauform gliedert sich in die mehrfach wiederholbare Folge von Strophe, Antistrophe und Epode, deren Übergänge allerdings oft recht fließend sind.Footnote 24 Dann erfolgt die Invokation von drei Göttern: von „Vater Bromius“ (Dionysos), der als „Jahrhunderts Genius“ etikettiert wird, von Apollo, dem Sonnengott und Herrn der Musen, und „zuletzt“ situationsgemäß von Jupiter pluvius, dem Wettergott, Urgrund des Sturmlieds, „aus dem es quillt“. Damit korrespondiert die Nennung der griechischen Dichter Anakreon, Theokrit und Pindar, womit wiederum drei in den 1770er Jahren beliebte lyrische Gattungen konnotiert werden: Trink- und Liebeslieder, bukolische Idyllen und die Oden im erhabenen Stil, zu denen sich der Autor bekennt. Aus literarhistorischer Perspektive könnten ihnen im Nachhinein noch die in etwa gleichzeitigen Epochen Anakreontik, Empfindsamkeit und Sturm und Drang zugeordnet werden.

Die referierten Themen, inklusive der Reflexion über das „Sturmlied“ selbst im Vollzug der Ode, sind also durchaus überlegt zusammengestellt und geben dem poetischen Text, dessen „Dunkelheit“, bekanntlich ein Verstoß gegen das rhetorische Gebot der perspicuitas, oftmals moniert wurde,Footnote 25 ein nicht zu unterschätzendes Maß an Kohärenz. Überhaupt hat Goethe in seinen Sturm-und-Drang-Hymnen – quasi als Ergebnis einer neuartigen inventio, in der nicht mehr ein bestimmtes topisches Frageraster zur Findung von Argumenten bzw. Darstellungseinheiten verhilft,Footnote 26 vielmehr ein komplexer Gegenstand in seine konstituierenden Begriffe aufgeschlüsselt wird, – unterschiedliche Verhaltensweisen dargestellt, die zusammengenommen einen neuen Künstlertypus charakterisieren (in der textübergreifenden Figuration eine distributio): Selbstbewusstsein aufgrund schöpferischer Kraft im „Prometheus“; im „Ganymed“ das Vermögen, sich der All-Natur zu überlassen, und das, Zeit und Raum zu überwinden, in „An Schwager Kronos“ und schließlich die unerhörte Begabung zur Religions- und Kulturstiftung in „Mahomets Gesang“. Das aber sind ebendie Fähigkeiten, die das ‚Originalgenie‘ auszeichnet – und die sich in ihrer Gesamtheit wohl nicht zufällig beim Autor der Oden selbst finden. Denn „seine großen Hymnen aus der Zeit des Sturm und Drang sind“, um Bernd Wittes Resümee zu zitieren, „Niederschlag einer radikalen Selbstbefragung und Neudefinition des schöpferischen Subjekts. In ihnen vollzieht sich im Vorgang des Schreibens […] die Selbsterschaffung des Genies“.Footnote 27 Darüber hinaus bestätigen sie, was schon die Analyse von „Wandrers Sturmlied“ offenbarte, dass nämlich „eine derartig bewusste Konstruktion eines lyrischen Textes sich nicht einem ‚leidenschaftlichen‘ Vor-sich-Hinsingen verdankt, sondern das Ergebnis eines genau kalkulierten künstlerischen Schreibprozesses ist“.Footnote 28 Dieser ist sicherlich „von der gelehrten Odentradition seit der Antike durchdrungen“ und damit orientiert an der „Darstellung des Erhabenen […] gemäß der traditionellen Poetologie“, weist auch mitunter besagte „triadische Struktur des Textes“ auf und eine „sprunghafte, assoziative Gedankenfügung […] mit ungewöhnlichen Komposita und schwierigen grammatikalischen Konstruktionen“Footnote 29 – wie aber kommen diese sprachlichen Ausprägungen zustande bzw. was ermöglicht überhaupt die Wiedergabe der spontan-kreativen Äußerung im Gesang? Darauf möchte ich mit Blick auf einige Passagen aus dem Rollengedicht „Prometheus“ und der Hymne „An Schwager Kronos“ noch kurz eingehen.

3 Über den Rückgriff des ‚Originalgenies‘ auf die Schulrhetorik

Auch die im lyrischen Monolog des „Prometheus“Footnote 30 vermittelte Haltung eines im Vertrauen auf seine individuellen Fähigkeiten selbstbewussten und gegen Bevormundung aufbegehrenden Sprechers wird durch den Sprachgestus reflektiert: Diesen bestimmt eine Vielzahl von gezielt eingesetzten rhetorischen Figuren, die seiner Rede Leidenschaftlichkeit und innere Bewegung verleihen: Apostrophen („Bedecke deinen Himmel, Zeus“; „euch Götter“, „heilig glühend Herz“), fernerhin Ellipsen, Anaphern, Inversionen und vor allem rhetorische Fragen; letztere vereinen sich im wirkungsvollen Zusammenspiel der diversen Vorwürfe gegen Zeus, deren Aussagen in der syntaktischen Form der implizit beantworteten Frage semantisch verstärkt werden, zu drei Strophen (IV–VI) mit zehn FragenFootnote 31 in 23 Versen, die die definitive Äußerung des Sprechers über seinen autonomen Schöpfungsakt in der letzten Strophe: „Hier sitz‘ ich, / forme Menschen/Nach meinem Bilde […]“, vorbereiten:

Wer half mir wider

Der Titanen Übermut [?]

Wer rettete vom Tode mich

Von Sklaverey?

Hast du's nicht alles selbst vollendet

Heilig glühend Herz [?]

Und glühtest, jung und gut,

Betrogen, Rettungsdank

Dem Schlafenden dadroben [?]

Ich dich ehren? Wofür?

Hast du die Schmerzen gelindert

Je des Beladenen [?]

Hast du die Tränen gestillet

Je des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet

Die allmächtige Zeit

Und das ewige Schicksal

Meine Herren und deine. [?]

Wähntest du etwa

Ich sollte das Leben hassen,

In Wüsten fliehn,

Weil nicht alle Knabenmorgen

Blütenträume reiften?

Es ist insbesondere diese Metapher, die von einem neuen, in der herkömmlichen Lyrik bis dahin noch nicht gehörten ‚Ton zeugt und von Goethe später, da auch sie ihm in seiner klassischen Zeit zu gewagt erschien, um die erste Hälfte des Kompositums auf die konventionelle bildliche Wendung „Blütenträume“ gekürzt wurde. Sie hebt auf den natürlichen Entwicklungsprozess organischer Einheiten ab, deren jeweiliges Frühstadium sie exponiert – [+ früh] ist das semantische Merkmal, das die Kompositionsglieder ‚Knabe’, ‚Morgen’, ‚Blüten’ verbindet. Dass sich der Knabe zum Manne bildet, der Morgen den Tag einleitet und die Blüte sich in der Frucht vollendet, liegt in ihrer Natur und lässt hoffen, dass sich, wenn auch nicht alle, so doch einige Träume der Jugend verwirklichen, bildlich: mit der Zeit zur Reife gelangen.

So profiliert sich auf der Ebene der Sprachverwendung eine kreative Persönlichkeit, die sich über soziale und sprachliche Normen hinwegsetzt und, anscheinend spontan ihrer Natur folgend, tatsächlich aber mit Hilfe ausgesuchter Mittel der Stillehre umsetzt, was sie früh erträumte; und im Bewusstsein einer derartigen Schaffenskraft fühlt sich Prometheus dem untätigen Götterpatriarchen im Olymp überlegen.

Noch offensichtlicher sind die Regelverletzungen in der Hymne „An Schwager Kronos“, die von Vornherein auf universelle Bedeutsamkeit angelegt ist.Footnote 32 Zwar soll sie, wie der Untertitel anzeigt, „in der Postchaise d 10 Oktbr 1774“ verfasst worden sein, womit die Authentizität der Postkutschenfahrt suggeriert wird; aber schon der Titel des Gedichtes indiziert mythische Dimensionierung: „An Schwager Kronos“. Und in der Tat, die reale Reise in der Postkutsche – der Verfasser befand sich, nachdem er seinen hohen Gast, den damals schon als ‚Kultdichter‘ geltenden Friedrich Gottlieb Klopstock, ein Stück weit nach Karlsruhe begleitet hatte, auf dem Rückweg nach Frankfurt – wird zur sinnbildlichen Fahrt durch das Leben.

Mit dem Befehl zur Beschleunigung „Spude dich Kronos“ beginnt die erste Strophe, und wohin sich die beschleunigte Fahrt zu richten habe, sagt ihr letzter Vers: „Rasch in‘s Leben hinein“ (V. 8). Die flüchtigen Eindrücke während der Kutschfahrt (vgl. V. 2 u. V. 6) werden in einem syntaktische Gesetzmäßigkeit unterlaufenden Satzbau ungeheuer komprimiert: So bündelt das Prädikat „zögern“ (V. 4), das transitiv gebraucht wird, die Energie von zwei Verben, die als Objekt („Ekles Schwindeln“, V. 4) und Subjekt („dein Haudern“, V. 5) fungieren, und das attributive Partizip „holpernden“ (V. 6) wird in der Figur des Hyperbatons von seinem Bezugswort „Trott“ durch die Gegenstände: „Stock, Wurzel, Steine“ (V. 7) gesperrt, die eben dieses ‚Holpern‘ verursachen, was selbst heute noch experimentell anmutet.Footnote 33 So verwundert es nicht, dass Goethe diese ‚sprachlich wilde Fahrt‘ schon in der Version von 1789 selbst beendet hat, indem er das Partizip („holpernden“) in einen Konzessivsatz aufgelöst und die Nomina, die die Fahrt behindernden Dinge benennen, um ein Element („Wurzeln“) verkürzt, vor allem aber mit einer Präposition versehen hat: „Frisch, holpert es gleich, / Über Stock und Steine den Trott/Rasch in’s Leben hinein!“.

Wenn der Gipfel erreicht ist, kann der Blick über die Berge schweifen, zugleich geht er „rings ins Leben hinein“ (V. 15). Frei von jeder raumzeitlichen Beschränkung vermag sich der „ewige Geist“ (V. 17) auf Bergeshöhen zu entfalten, was die Ahnung „ewigen Lebens“ ermöglicht (V. 18). Dabei wird mit der Schau in die Weite der nahe „Frischung verheisende Blick/Auf der Schwelle des Mädgens da“ (V. 21 f.) kontrastiert. Die erneute Sperrung – die lokale Bestimmung drängt sich vor das Genitivattribut – schließt den Ort und das Subjekt des sinnlichen Glücks als unauflösbare Einheit zusammen. In der Liebesbegegnung wird die Zeit, die sich dem Blick in die Ferne als ewig offenbarte, auf den Augenblick erfüllten Glücks konzentriert.

Derart gestärkt durch das Erlebnis, in dem Augenblicklichkeit und Ewigkeit koinzidieren, geht es „frischer hinab“ (V. 26). Die versinkende Sonne deutet das Ende des irdischen Daseins an; dem körperlichen Verfall aber, der mit bizarren Bildern beschworen wird, trotzt der Reisende dadurch, dass ihm, dem „Trunknen vom letzten Strahl“ der Leben spendenden Sonne, mit dem kühnen transitiv gebrauchten Imperativ: „Töne, Schwager, dein Horn!“ eine laut vernehmbare Einfahrt „in der Hölle nächtliches Tor“ beschert wird. Als Eleve und Schützling des Sonnengottes Apollo, des Herrn der Musen,Footnote 34 avanciert das Kraftgenie, das sogar die Zeit beherrscht, zum Fürsten – ebendiesem, immerhin dem Landesherrn im Zeitalter des Absolutismus, ist ebenbürtig, wer in der Schau des Ewigen und dem Rausch der Liebe den einen erfüllten Augenblick erfahren und dadurch die Vergänglichkeit überwunden hat.

Das mag hier zum Beleg für zwei paradoxe Konstellationen genügen, die Goethes Hymnenproduktion im Sturm und Drang wesentlich geprägt haben: 1) Die Verwendung der von früher Jugend an eingeübten SchulrhetorikFootnote 35 in der lyrischen Praxis erzeugte gerade in einer Zeit, als die klassische ‚Kunst der Rede‘ in Verruf geriet, den neuen ‚Ton‘, der für das kreative ‚Originalgenie‘ kennzeichnend war – und die erhabene Repräsentation seiner signifikanten Eigenschaften ermöglichte. Dabei kam 2) deren Darstellung ein Irrtum zugute, der in der Annahme bestand, dass die Verse Pindars metrischen Regeln entzogen und ganz auf den Lobpreis des kultischen Erlebnisses ausgerichtet waren, der aber letztlich zur wirksamen Ausbildung einer neuen Art der Lyrik beitrug.