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1 Eine missachtete Rhetorik

Von A wie ‚Abecedarium‘ bis Z wie ‚Zyklus‘: Die Terminologie der heute in Europa und vielen anderen Teilen der Welt studierten Rhetorik ist Griechisch und Latein, gelegentlich unterbrochen von volkssprachlichen Begriffen wie ‚Fragefigur‘.Footnote 1 Einen arabischen Begriff wird man nicht finden. Hier sei aber der Versuch unternommen, einen arabischen Terminus in die ‚westliche‘ Rhetoriktheorie einzuführen, einen Begriff, der einen Sachverhalt bezeichnet, für den es keine befriedigende griechisch-lateinische Entsprechung gibt und der sich überdies auch nicht sträubt, von deutschen Zungen ausgesprochen zu werden: Es handelt sich um den Begriff Kināya (Plural Kināyāt),Footnote 2 der, wie zu zeigen sein wird, eine bislang kaum wahrgenommene Lücke im System füllt.

Doch lohnt es überhaupt, sich mit der arabischen Rhetoriktheorie zu beschäftigen? Hat sie irgendetwas zu bieten, von dem man lernen kann? Oder, noch drastischer gefragt, gab es sie überhaupt? Die Frage ist nicht aus der Luft gegriffen, hat doch erst jüngst der Renaissancehistoriker Bernd Roeck die Bedeutung außereuropäischen Nachdenkens über Rhetorik stark angezweifelt. Sein Buch Der Morgen der Welt ist nicht nur, wie der Untertitel will, eine „Geschichte der Renaissance“, sondern eine Bekräftigung einer teleologischen Weltsicht, in der den Arabern zwar eine gewisse Rolle im frühen „Mittelalter“ zugestanden wird. Im 12. Jahrhundert aber nimmt Europa „eine Aufholjagd ohnegleichen“ auf, denn eben als „Aufholjagd“ stellt sich Roeck das Verhältnis der Kulturen zueinander vor.Footnote 3 Seit der Renaissance müssen alle anderen Kulturen, die in diesem Rennen mit dem Ziel der Moderne zurückbleiben, als defizitär erscheinen: „Unsere Erzählung versucht, mit einem Bild Aby Warburgs die ‚Entpuppung eines Schmetterlings‘ zu beobachten.“ Nach der Raupe der Antike, so könnte man dies deuten, und der starren Puppe des Mittelalters flattert nun der europäische Schmetterling der Moderne entgegen.

Ein großer Teil des Buches ist nun der Frage gewidmet, worin die Überlegenheit Europas besteht. Hierzu gehört auch die Rhetorik, von der es heißt:

„Außerhalb Europas findet sich keine Gesellschaft, die sich mit vergleichbarer Begeisterung an einer Theorie der Redekunst versucht hätte. In China spielte Rhetorik eine weit geringere Rolle als in Europa. (…) Dasselbe lässt sich für muslimische Gesellschaften sagen. Rhetorik – der des Aristoteles widmete Ibn Sina einen Kommentar – bot nicht Anleitung zum Streit. Sie sollte vielmehr dazu dienen, bereits erkannte Wahrheiten mitzuteilen.“Footnote 4

Offensichtlich führt ein teleologisches Weltbild zu dem Glauben, man brauche gar nicht erst zu recherchieren, weil ja nicht sein kann, was nicht sein darf. Nicht nur wird völlig übergangen, dass die Kultur des Islams eine ausgeprägte Disputationskultur ist, in der man sich keineswegs mit bereits erkannten Wahrheiten zufriedengab. Auffällig ist auch das einzige genannte Beispiel, eine Übersetzung aus dem Griechischen, die in der arabischen Theorie aber kaum eine Rolle spielt und nur peripher rezipiert worden ist. Doch kann sich der Autor offensichtlich nicht vorstellen, dass auch jenseits der griechischen Tradition eine Rhetoriktheorie entstanden sein könnte. Um dies festzustellen, hätte es genügt, ein Standardwerk wie das Historische Wörterbuch der Rhetorik zu konsultieren.Footnote 5 Allerdings wird auch dort die arabische Rhetoriktheorie stiefmütterlich behandelt. Eigentlich hätte fast jeder Eintrag auch einen eigenen Unterabschnitt ‚arabische Theorie‘ bekommen, und so mancher Eintrag hätte aus dieser Theorie überhaupt erst ergänzt werden müssen. Aber immerhin gibt es einen Überblicksartikel, der (um im Schmetterlingsbild zu bleiben) zumindest eine Ahnung von der Entfaltung und Buntheit der arabischen Rhetoriktheorie gibt.Footnote 6 Dabei zeigt sich, dass zwar griechische Denkmuster, etwa auf dem Gebiet der Logik, eine Rolle spielten, die antike Rhetorik allerdings nicht. Tatsächlich wuchs die arabische Rhetoriktheorie aus eigenen Wurzeln, und so trägt sie auch ihre eigenen Früchte, die eigentlich verlockend genug sein müssten, um mit ihnen die Palette der europäischen Theorie zu erweitern. Die entsprechende Neugier scheint aber bis heute weitgehend zu fehlen, woran auch die Tatsache nichts ändern konnte, dass einige Schlüsseltexte schon seit längerer Zeit auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Genannt seien die schon 1853 erschienene Rhetorik der Araber von August von Mehren, Hellmut Ritters großartige Übersetzung der Asrār al-balāġa von ʿAbdalqāhir al-Ǧurǧānī unter dem Titel Geheimnisse der Wortkunst (1959) und die Übersetzung des Kapitels über die ʿilm al-maʿānī (wovon später) aus as-Sakkākīs Schlüssel der Wissenschaften durch Udo Simon (1993).

Dabei sind keineswegs nur die Leistungen der arabischen Rhetoriktheorie beachtlich, sondern auch ihre Verwurzelung in der breiten Bevölkerung, die sicherlich weit über das hinausgeht, was in Europa vorzufinden war. Wie schon 1976 der Arabist Rudolf Sellheim festgestellt hatte,

„hat Bildung und Ausbildung in den Schulfächern wie in den gelehrten Wissenschaften innerhalb der Gesamtbevölkerung bis in das entlegenste Dorf in Chorasan hinein, im Jemen oder im Maghrib, einen Höhepunkt erlebt, wie ihn wohl zuvor weder die Alte Welt noch der Orient erreicht hatten. Beredte Zeugen dieses, die gesamten islamischen Länder umfassenden Lehr- und Lernsystems sind u. a. die in Überfülle auf uns gekommenen Hss. [Handschriften] aus dem Bereich der Rhetorik.“Footnote 7

2 Eine Theorie wird komplex

Am Anfang der arabischen Rhetorik und Stilistik stand die Poesie. Was hat es mit einer bestimmten Form der Metapher, der istiʿāra, auf sich (wir werden darauf zurückkommen)? Der Beginn der Theorie liegt also nicht nur, aber doch vor allem in der Stilmittellehre mit dem Ziel der Stilkritik. Als Pionier gilt der Abbasidenprinz Ibn al-Muʿtazz (861–908), einer der bedeutendsten Dichter seiner Zeit und darüber hinaus Literaturkritiker. Zu seinem Unglück ließ er sich in die Politik verstricken und wurde nach einer kurzen Karriere als ‚Kalif für einen Tag‘ ermordet. Seine sehr deskriptive Vorgehensweise inspirierte andere zu dem Versuch, Stilistik stärker theoretisch zu fundieren, und es kam die Frage auf, ob sich nicht etwa die Qualität von Poesie objektiv messen lassen kann, so objektiv, wie grammatikalische Korrektheit? Der Wissenschaftsoptimismus des Kanzleibeamten Qudāma ibn Ǧaʿfar (gest. um 948) sollte sich zwar als voreilig erweisen, aber die Theorie enorm befruchten. Gerade Beamte wie Ǧaʿfar interessierten sich überdies nicht nur für die Analyse von Gedichten, sondern auch für die Produktion rhetorisch gelungener Prosaschreiben. Die Theologen wiederum brachten ganz neue Gesichtspunkte ein: Wenn der Koran, wie es hieß, ein ‚unnachahmlicher‘ Text ist, warum ist er das? Die theologische Frage trat rasch hinter einer rhetorischen und stilistischen Fragestellung zurück. Wenn man den Koran, also Gottes Rede, in die Überlegungen einbezieht, kann man sich nicht auf das Argument zurückziehen, der Autor habe das ja auch anders sagen können. Wenn Gott etwas so sagt, wie er es sagt, muss das etwas zu bedeuten haben.Footnote 8 So kamen Fragestellungen in die Rhetoriktheorie hinein, die nach allen Finessen des Ausdrucks fragten. Fragestellungen, die wir aus der modernen linguistischen Pragmatik kennen, traten auf: Wie formuliert man einen Befehl? Muss es ein Imperativ sein, oder kann es auch eine Frage oder ein einfacher Aussagesatz sein? Es entstand die ʿilm al-maʿānī, der ‚Wissenszweig von den Denkinhalten‘, der danach fragt, wie eine Aussage der jeweiligen kommunikativen Situation angepasst werden kann. Das war nun sowohl für Verfasser von Texten wichtig, als auch für Kritiker von Texten, die nach der Qualität von poetischen Texten und von Prosatexten fragten, aber auch für jene, die sich mit der Exegese von Texten beschäftigten, also für alle, die Texte – weltliche und religiöse – kommentieren wollten, vor allem auch für Exegeten des Korans und für Juristen, die aus den Hauptquellen des Rechts, dem Koran und den Überlieferungen von und über den Propheten und der Urgemeinde (Ḥadīṯ), rechtliche Hinweise gewinnen wollten.

So entstand in kaum zweihundert Jahren eine komplexe Theorie, die sowohl die Textproduktion als auch die Textrezeption und -exegese umfasst und sowohl weltliche als auch religiöse Texte in ihre Überlegungen einbezieht. Die arabische Rhetoriktheorie versteht sich als integraler Teil der Sprachwissenschaften. Zwar sind die religiösen Wissenszweige auf die Linguisten angewiesen, um die einschlägigen Texte zu verstehen, die Sprachwissenschaften, und damit auch die Rhetorik, blieben aber methodologisch immer eine streng säkulare Wissenschaft.

3 Die Standardtheorie der arabischen Rhetorik

Aus all diesen diversen Überlegungen zu verschiedenen Arten von Texten aus unterschiedlichen Perspektiven kristallisierte sich schließlich das heraus, was verdient, die ‚Standardtheorie‘ der arabischen Rhetorik genannt zu werden. Ihr großer Anreger war der bereits genannte ʿAbdalqāhir al-Ǧurǧānī, dessen Dalāʾil al-iʿǧāz dem Titel nach über die „Unnachahmlichkeit“ des Korans handelt, tatsächlich aber alle möglichen Textkorpora einbezieht und nach der kommunikativen Funktion ihrer speziellen Struktur fragt. In seinem Werk über die Geheimnisse der Wortkunst hat er dagegen tief über Sinn und Funktion der Tropen und verwandter Ausdrucksweisen nachgedacht, wahrscheinlich tiefer als je ein Mensch vor ihm. Im Gegensatz zu anderen islamischen Gelehrten, die oft lange Reisen zur Erweiterung und Weitergabe ihrer Gelehrsamkeit unternahmen, scheint al-Ǧurǧānī aus der Region, nach der er seinen Herkunftsnamen trägt (Ǧurǧān am Südrand des Kaspischen Meers), nicht hinausgekommen zu sein. Stattdessen hing er ohne Ablenkung durch die große Welt seinen Gedankenexperimenten über die Feinheiten der Sprache nach und schrieb seine genialen, allerdings alles andere als systematischen Werke.

Mit seiner teils geradezu labyrinthischen Denk- und Schreibweise steht er unter den islamischen Gelehrten ebenso singulär da wie mit seiner stabilitas loci. Doch die Gedanken fielen auf fruchtbaren Boden und die Brisanz seiner Tiefschürfungen wurde rasch erkannt. Der Universalgelehrte Faḫraddīn ar-Rāzī (1149–1209) war einer der ersten, der al-Ǧurǧānīs Ideen aufgriff und sie in systematischere Form brachte. Noch einflussreicher war allerdings ein ansonsten so gut wie unbekannter Gelehrter namens Abū Yaʿqūb as-Sakkākī (1160–1229), der die Rhetorik als integralen Teil der Sprachwissenschaft etablierte. Sein Miftāḥ al-ʿulūm „Schlüssel zu den (Sprach-)Wissenschaften“ geht vom (1) Einzelwort (Phonetik, Derivation, Flexion) über die (2) Wortfügung (Syntax) hin zur (3) kommunikativen Funktion. Dieser dritte Teil wiederum enthält zwei Abteilungen, ʿilm al-maʿānī „Die Bedeutungen“ und ʿilm al-bayān „Die Deutlichkeit“ sowie einen Anhang über die Verschönerungsmittel (badīʿ). Während die ersten beiden (durchaus originellen) Teile selten rezipiert worden sind, war der dritte Teil umso wirkungsvoller.

Allerdings ändert sich jetzt die Szenerie. Die Entwicklung von al-Ǧurǧānī zu as-Sakkākī vollzog sich ausschließlich im Osten der islamischen Welt, vor allem in Chorasan und Choresmien, zu einer Zeit, als die gesamte Region von Ägypten über Palästina, Syrien und Ostanatolien bis hin zum Irak und den angrenzenden Provinzen Irans von einer massiven Wirtschaftskrise heimgesucht wurde, die ihre Spuren auch im Geistesleben hinterließ. Stattdessen wurden jene Ansätze, die vor allem in Syrien und im Irak ihren Ausgang genommen hatten, nun im Osten weitergedacht und systematisiert. Als sich aber die Situation in den westlicheren Regionen wieder erholt hatte und unter den Ayyubiden (1169–1250) und Mamluken (1250–1517) Wirtschaft, Wissenschaft und Literatur wieder aufblühten, wurde das im Osten Erreichte aufgegriffen und seinerseits weitergedacht.

Im Falle der Rhetorik war niemand erfolgreicher als der hochgebildete, polyglotte Ǧalāladdīn al-Qazwīnī (1268–1338), erfahren im Staatsdienst, Inhaber höchster Richterposten und wegen seines Amtes als Freitagsprediger an der Umayyadenmoschee in Damaskus auch als Ḫaṭīb Dimašq „Freitagsprediger von Damaskus“ bekannt. Sein wichtigstes Vermächtnis sind zwei relativ kurze Gesamtdarstellungen der Rhetoriktheorie, die zu den meiststudierten Werken in arabischer Sprache gehören. Die Verdeutlichung (al-Īḍāḥ) ist bis heute für den Einstieg in die Disziplin besonders geeignet. Noch einflussreicher war aber seine Kurzfassung des Schlüssels (Talḫīṣ al-Miftāḥ). Wie der Titel sagt, ist es zunächst eine „Kurzfassung“, ein „Auszug“ aus dem „Schlüssel der (Sprach-)Wissenschaften“ as-Sakkākīs, gleichzeitig aber auch eine starke eigene Bearbeitung der Vorlage. Der Hauptunterschied zum Miftāḥ besteht darin, dass sich der Talḫīṣ ganz auf Rhetorik und Stilistik beschränkt, die Kapitel über Morphologie und Syntax also fortfallen. Stattdessen wird der Rhetorikteil feiner untergliedert. Nun erhalten ʿilm al-maʿānī und ʿilm al-bayān je ein eigenes Großkapitel. Bei as-Sakkākī wurde ʿilm al-badīʿ nur als Anhang behandelt. Dabei ist zu sagen, dass die Übersetzung mit ‚Stilistik‘ nicht ganz genau ist, weil man in der europäischen Tradition ja auch die Tropenlehre als Teil der Stilistik ansieht, während sie in der Standardtheorie der arabischen Rhetorik als Teil des ʿilm al-bayān davon getrennt ist. Im Talḫīṣ erhält der badīʿ nun ein eigenes Kapitel (auch wenn diesem Teil nicht das Hauptinteresse al-Qazwīnīs gehört). Damit ist die Dreiteilung der Rhetoriktheorie in maʿānī, bayān und badīʿ endgültig etabliert. Doch al-Qazwīnī fügt ebenfalls einen Anhang hinzu, nämlich einen Teil über gute und schlechte Formen der Intertextualität. So entsteht eine umfassende und systematische Theorie, in der sprachliche Ausdrücke (1) auf ihre kommunikative Angemessenheit, (2) auf ihre Deutlichkeit, (3) auf ihre Schönheit und (4) auf ihre Originalität beurteilt werden. Schematisch:

Teil I: ʿilm a-maʿānī: Abwandlungen des Ausdrucks gemäß der kommunikativen Umstände

[→ kommunikative Angemessenheit]

Teil II: ʿilm al-bayān: Hinweisung auf einen Inhalt auf unterschiedlich deutliche Weise

[→ Deutlichkeit]

  • Vergleich

  • maǧāz mursal

  • Metapher

  • Kināya

Teil III: ʿilm al-badīʿ: Verschönerung der Rede>

[→ Schönheit]

  • sinnbezügliche (maʿnawī) Stilfiguren

  • ausdrucksseitige (lafẓī) Stilfiguren

Anhang: Phänomene der Intertextualität

[→ Originalität]

Der Talḫīṣ al-Qazwīnīs gehört zu den bis heute meiststudierten Werken in arabischer Sprache. Wegen seiner Kürze eignet er sich gut dazu, memoriert zu werden, und er schreit geradezu danach, kommentiert zu werden. Dabei haben sich die Kommentatoren keineswegs damit begnügt, den Text zu erklären. Vielmehr gibt es auch Gegenschriften, die alternative Ansichten vertreten (etwa al-Išārāt wa-t-tanbīhāt eines mit ʿAbdalqāhir nicht verwandten Ruknaddīn al-Ǧurǧānī, eines Zeitgenossen al-Qazwīnīs), und in vielen Kommentaren liefert der Text des Talḫīṣ kaum mehr als die Kapitelüberschriften, während das jeweilige Thema nochmals in aller Ausführlichkeit von Grund auf neu diskutiert wird.

4 Referenzrhetorik

Die Grundlage dieser Theorie ist eine semiotische: Durch welche Mittel und auf welche Weise referieren wir auf unsere Vorstellungen von den Phänomenen? Vorausgesetzt wird, dass es in den Sprachwissenschaften nicht um das Verhältnis der Sprache zur außersprachlichen Wirklichkeit geht (hierfür ist die Philosophie zuständig), sondern über das Verhältnis zwischen der Sprache und den Denkinhalten (maʿānī, sg. maʿnā). Die semiotische Grundlage der Standardtheorie der arabischen Rhetorik legt es nahe, von einer ‚Referenzrhetorik‘ zu sprechen. Aus diesem Gedanken heraus erreichte die arabische Rhetorik eine weit strengere Systematik und Stringenz als die auf der antiken Rhetorik beruhenden Rhetoriken aufweisen können. Ihre Systematik wird in nebenstehender Grafik (s. Abb. 1) dargestellt, die im Folgenden zur Orientierung dienen kann.

Abb. 1
figure 1

Grundlagen der ʿilm al-bayān „Referenzrhetorik“

Die referenztheoretischen Überlegungen führen zunächst noch einen Schritt hinter die Sprache zurück. Ausgehend von Überlegungen, die schon al-Ǧāḥiẓ im 9. Jahrhundert angestellt hatte, wird gefragt, mit welchen Mitteln Menschen überhaupt auf maʿānī verweisen können, etwa auch durch Gesten, Symbole etc., wobei sich die Sprachwissenschaftler freilich für diese nichtsprachlichen Mittel nicht allzu sehr interessiert haben.

Die sprachlichen Ausdrücke wiederum können auf verschiedene Weise auf den Denkinhalt verweisen. Will man auf das konventionell als ‚Löwe‘ bekannte Tier verweisen und sagt: „Dort drüben steht ein Löwe“, spricht man von dalālat al-muṭābaqa „Äquivalenzreferenz“. Meint man mit ‚Löwe‘ in diesem Satz aber etwas anderes als das konventionsgemäß mit diesem Wort bezeichnete Tier, nimmt man ‚Löwe‘ etwa als metaphorischen Ausdruck für einen heldenhaften Krieger, liegt keine konventionsgemäße, sondern eine intellektuell zu erschließende Referenz vor.Footnote 9 Auf den Unterschied zwischen dalālat at-taḍammun „Inklusionsreferenz“ und dalālat al-iltizām „Implikationsreferenz“ wird später zurückzukommen sein.

Zentral für das Verständnis der Kināya, ja der Referenzrhetorik insgesamt, ist nun die in der antik-europäischen Tradition offensichtlich übersehene Tatsache, dass eine dalāla ʿaqliyya „intellektuell zu erschließende Referenz“, also ein nicht-eigentlicher Ausdruck, keineswegs notgedrungen auch ein übertragener Ausdruck sein muss. Vielmehr zerfällt die dalāla ʿaqliyya in zwei Kategorien: veritativ und tropisch. Die Verwischung dieses Unterschieds macht die Kināya unsichtbar, und ein Teil des Definitionschaos der Metapher in der europäischen Tradition ist genau auf diesen Fehler zurückzuführen.

Es sei aber mit der Definition des Tropus, maǧāz, begonnen. Den maǧāz in Form eines Einzelworts (es gibt ihn auch als Wortfügung, doch das ginge hier zu weit) definiert al-Qazwīnī wie folgt: „Ein Einzelwort-Tropus (al-maǧāz al-mufrad) ist ein Wort, das – im Sprachgebrauch der jeweiligen Sprechsituation – für etwas anderes gebraucht wird als wofür es ursprünglich geprägt ist; auf korrekte Weise; bei Vorliegen eines Kontexts, der darauf hinweist, dass jenes nicht gemeint ist; zudem muss eine Beziehung (zwischen primärer und sekundärer Bedeutung) bestehen.“Footnote 10 Im Falle des Löwenbeispiels liegt ein maǧāz also dann vor, wenn das Wort ‚Löwe‘ nicht für das konventionsgemäß im deutschen Sprachgebrauch so bezeichnete Tier verwendet wird; wenn dies auf korrekte und nicht etwa auf irrtümliche Weise geschieht; wenn ein sprachlicher oder außersprachlicher Kontext auf diesen nichtkonventionsgemäßen Gebrauch des Wortes hinweist (wenn also bei dem Ausruf „vor uns steht ein Löwe“ kein Tier, sondern ein Feldherr vor einem steht), und wenn eine Beziehung zwischen primärer und sekundärer Bedeutung besteht, wodurch etwa Fälle ausgeschlossen werden, wenn ‚Löwe‘ ein Eigenname ist (im Arabischen ist asad „Löwe“ heute der Familienname der syrischen Diktatorendynastie).

Beim Tropus wird wiederum zwischen vergleichsbasiertem und nicht auf Vergleich beruhendem Tropus unterschieden. Basiert ein Tropus auf einem Vergleich (wie im Satz „vor uns steht ein Löwe“), handelt es sich um eine istiʿāra, welches Wort im Wesentlichen unserem Wort ‚Metapher‘ entspricht. Wenn in der Moderne gelegentlich die Vergleichsbasiertheit der Metapher in Zweifel gezogen worden ist, geschah dies zumeist anhand von Beispielen, die sich mithilfe der arabischen Theorie leicht entkräften lassen. In den meisten dieser Fälle hat man schlichtweg die Lücke im System übersehen, die die Unkenntnis der Kināya klaffen lässt. Es wird darauf zurückzukommen sein. Eine weitere Ursache für die Problematik europäischer Metapherndefinitionen liegt in dem Glauben, man könne sich vorschnell mit der Metapher beschäftigen, ohne eine ausführliche Theorie des Vergleichs vorangestellt zu haben. Dies aber ist den arabischen Theoretikern rasch klargeworden, und so beginnen die Darstellungen des ʿilm al-bayān stets mit einem ausführlichen Kapitel über den Vergleich (tašbīh), obwohl der Vergleich eigentlich hier nicht hingehört, weil er stets der Äquivalenzreferenz folgt. Dies gilt übrigens auch für den oft als Beispiel für eine Metapher herangezogenen Satz „Achilles ist ein Löwe“, bei dem es sich, wie arabische Theoretiker und auf fast identische Weise viel später Gérard Genette schlüssig beweisen, nicht um eine Metapher, sondern um einen verkürzten Vergleich handelt: Die Prädikation ist nichts weiter als ein Vergleichsmittel.Footnote 11

Gewissermaßen als Propädeutik zur Metapherntheorie ist eine Vergleichstheorie aber unabdingbar. Das gesamte Verhältnis etwa zwischen Leihgeber und Leihnehmer, die Psychologie des Vergleichs und die Wirkung seiner unterschiedlichen Formen: All dieses wird in der Standardtheorie bereits vor der Beschäftigung mit der Metapher geklärt, bei der man sich dann auf deren Spezifika konzentrieren kann. Und tatsächlich gelingt es den arabischen Theoretikern, viele Probleme zu lösen, die in der europäischen Rhetorik entweder gar nicht aufgeworfen oder in die Metapherntheorie hineingemischt wurden und zu deren Unübersichtlichkeit beigetragen haben.

Eine weitere Unklarheit kann ebenfalls beseitigt werden. Hat man eine stringente, auf einer Vergleichstheorie aufbauende Metapherntheorie, und hat man die Kināya als eigene Kategorie erkannt, wird das, was in der europäischen Theorie unter den Begriffen ‚Metonymie‘ und ‚Synekdoche‘ läuft, klarer erkennbar, weil man nicht mehr versuchen muss, Kināyāt in diese Kategorien einzuordnen. In der arabischen Theorie spricht man vom maǧāz mursal „freier Tropus“, der nun beschränkt wird auf Kategorien wie Teil/Ganzes, Ort/Sache, Ursache/Wirkung bzw. Wirkung/Ursache und dergleichen. Die Kategorien des maǧāz mursal sind zwangsläufig immer etwas fließend, doch lässt sich der maǧāz mursal seinerseits klar von den übrigen Bestandteilen der Referenzrhetorik abgrenzen.

5 Die Kināya

Es fehlt noch der letzte Baustein des Systems, die Kināya. Der Begriff ist ein Nomen zu kanā „eine Andeutung, eine Anspielung machen“. In der arabischen Stilistik und Rhetorik wird der Begriff zunächst für den Euphemismus gebraucht. Das, was später Kināya heißen sollte, läuft zunächst noch unter dem Namen irdāf (Verbalnomen von ardafa „hinterdreinkommen, als zweiter Reiter hinter dem ersten aufsitzen“). Erst in der Standardtheorie hat sich die Terminologie stabilisiert, doch weichen die Definitionen nicht substantiell von denen ab, die schon ältere Theoretiker für den irdāf angeführt hatten. Recht klar ist diejenige des Dichters und Theoretikers Ibn Sinān al-Ḫafāǧī (1031–1074), der, ähnlich wie der Kalifenprinz Ibn al-Muʿtazz, nach dem Scheitern seiner politischen Ambitionen einen frühzeitigen, gewaltsamen Tod sterben musste. Seine Definition von irdāf (also dem, was später als Kināya bezeichnet wird) lautet:Footnote 12

„Zur Beredsamkeit und der klaren Ausdrucksweise gehört auch der Fall, dass die Referenz auf einen Denkinhalt erstrebt wird, ohne dass man den speziellen, hierfür geprägten Ausdruck des Wortschatzes verwendet, sondern dass man einen Ausdruck anbringt, der diesen Denkinhalt notwendigerweise herbeiführt, so dass in der Erwähnung des Herbeigeführten eine Referenz auf das Herbeiführende vorliegt.“

Ibn Sinān beansprucht für diese Definition, die im Wesentlichen schon auf Qudāma ibn Ǧaʿfar zurückgeht, keine Originalität, dagegen aber schon für seine Erklärung, worin der Sinn für die Verwendung einer solchen Ausdrucksweise liegt, nämlich darin, dass in der Referenz auf einen Sachverhalt durch Nennung des Herbeigeführten eine „Intensivierung der Charakterisierung“ liegt, wie sie der hierfür ursprünglich geprägte Ausdruck nicht zu leisten vermag. Eine solche Begründung sollte später auch bei der Definition der Metapher angeführt werden und überhaupt zu einem Charakteristikum der Standardtheorie werden, die ja in Metaphern, anderen Tropen und in den Kināyāt keine Substitution sieht, die eine gleichwertige, ursprüngliche Ausdrucksweise ersetzt, sondern Ausdrucksweisen, die eine jeweils ihnen eigene zusätzliche kommunikative Leistung erbringen.

Es geht freilich noch viel kürzer, wie die Definition al-Qazwīnīs zeigt, die auf eine ausgefeiltere, besser definierte Terminologie zurückgreifen kann, in diesem Falle auf das Konzept des lāzim, des „Anhaftenden, Nachsichgezogenen“, und dem malzūm, „das, woran es anhaftet, das Nachsichziehende“. So bleiben von der Definition gerade einmal zehn Wörter übrig, die dann noch in einem ebenso kurzen Satz erläutert werden. So heißt es:Footnote 13

„Die Kināya ist ein Ausdruck, mit dem man auf das hinweisen will, was vom Denkinhalt nach sich gezogen wird, wobei gleichzeitig die Möglichkeit besteht, dass es (das Nachziehende) selbst mitgemeint ist. Wie man sieht, unterscheidet sich die Kināya vom Tropus dadurch, dass sowohl die veritative Bedeutung des Ausdrucks intendiert wird, als auch das, was durch sie nach sich gezogen wird.“

Hier wird nun die Lücke der etablierten europäischen Theorie deutlich formuliert: Ein nicht eigentlicher Ausdruck ist nicht notwendigerweise ein übertragener Ausdruck. Wenn das Wort ‚Löwe‘ als Metapher zur Bezeichnung eines tapferen Helden dient, kann es nicht gleichzeitig das Tier mitmeinen. Bei der Kināya ist aber genau dies der Fall. Das in der arabischen Theorie dafür angeführte Beispiel stammt aus der Beschreibung einer hübschen Frau, über die der Dichter ʿUmar, ibn Abī Rabīʿa Anfang des 8. Jahrhunderts sagte, sie sei baʿīdatu mahwā l-qurṭ, was bedeutet: „ihr Ohrschmuck hat viel Platz zum Herabhängen“, soll heißen: Sie hat einen langen Hals (was als schön galt). Eine Metapher ist dies aber nicht, weil ja kein Wort in dieser Fügung im übertragenen Sinne verwendet wird. Andererseits kommt es auf den geschilderten Sachverhalt des langen Ohrgehänges nicht primär an, weil die Aussage auch dann gilt, wenn die Schöne keinen Ohrschmuck trägt. Gleichzeitig ist aber die unmittelbare Bedeutung des Ausdrucks, der lang herabhängende Ohrschmuck, durchaus mitgemeint, muss aber nicht realiter vorhanden sein (im Falle des metaphorischen Löwen kann ein realer Löwe gar nicht vorhanden sein).

Sowohl bei der Metapher als auch bei der Kināya liegt (anders als im maǧāz mursal) eine dalālat al-iltizām „Implikationsreferenz“ vor: Der Ausdruck (lafẓ) referiert auf etwas, was außerhalb seines Denkinhalts (maʿnā) liegt, diesen jedoch nach sich zieht bzw. von ihm nach sich gezogen wird. Dabei ist lāzim das Nachsichgezogene (das Symptom, das Implizierte, die Folgeerscheinung) und malzūm das Nachsichziehende (Implizierende). Im Falle der Metapher verweist ein malzūm („Löwe“) auf ein zweites malzūm („den Helden“), und diese Übertragung ist möglich, weil beiden ein identisches Nachsichgezogenes anhaftet (lāzim), nämlich Mut und Tapferkeit, also das Tertium Comparationis. Anders verhält es sich bei der Kināya, wo das Nachsichziehende (malzūm) unmittelbar das lāzim nach sich zieht (wie es ja auch kein Tertium Comparationis und keinen Vergleich gibt): Der breite Raum, der dem Ohrgehänge zur Verfügung steht, zieht das eigentlich Gemeinte, die Existenz eines langen Halses, nach sich.

Dieses kann über mehrere Stufen hinweg erfolgen. Das klassische arabische Beispiel ist der schon altarabisch gebräuchliche Ausdruck huwa kaṯīr ar-ramād „er ist aschereich“. Damit ist keineswegs gemeint, dass dieser Mensch reich ist, wie die Verwendung des Worts ‚Asche‘ als Metapher für Geld im Deutschen suggerieren könnte. Vielmehr zieht die Tatsache, dass bei diesem Mann auf der Herdstelle viel Asche liegt, nach sich, (1) dass er viel Holz verbrennt; dies wiederum deutet darauf hin, (2) dass er viel kocht, was wiederum nach sich zieht, (3) dass bei ihm viel gegessen wird, woraus wiederum zu schließen ist, (4) dass er viele Gäste hat, womit schließlich das eigentlich Gemeinte deutlich wird, nämlich (5) dass er freigebig ist. Wie man sieht, ist „er ist aschereich“ ein uneigentlicher Ausdruck, weil die Asche zwar tatsächlich ganz konkret vorhanden sein kann und oft auch tatsächlich vorhanden gewesen sein wird. Doch darauf kommt es nicht unbedingt an, denn auch ohne Asche gilt vor allem die Aussage, dass dieser gastfreundliche Mensch freigebig ist. Dies wird durch eine Kināya erreicht, bei der nirgendwo ein übertragener, tropischer Ausdruck verwendet wird, und doch ist auf das eigentlich Gemeinte durch einen uneigentlichen Ausdruck hingewiesen worden.

Leicht lassen sich auch Beispiele für die Kināya im Deutschen finden. Häufig sind es Größen- und Zeitverhältnisse, die durch Kināyāt ausgedrückt werden. Wenn man von einer Frau sagt, „sie hat einen dicken Geldbeutel“, ist damit eine offensichtlich reiche Frau gemeint. Wenn man sagt, „sie hat einen großen Kleiderschrank“ meint man, dass sie modebewusst ist und häufig in neuer Kleidung erscheint. In beiden Fällen verweist der Ausdruck ganz konkret und veritativ auf Geldbeutel und Kleiderschränke, deren Vorhandensein aber nicht zwingend erforderlich ist, um das eigentlich Gemeinte auszusagen. Den Geldbeutel hat wahrscheinlich die moderne Art des Zahlungsverkehrs weitgehend verdrängt. Ähnlich kann ich von mir sagen, dass „meine Wiege in Nürnberg stand“. Die ‚Wiege‘ ist weder Metapher noch Metonymie, auch wenn es wahrscheinlich eher ein Kinderwagen war, aber es hätte eben doch eine Wiege gewesen sein können. Über das Thema Metapher wurde sicherlich „viel Tinte vergossen“, und auch ich habe bei der Abfassung dieses Aufsatzes „viel Schweiß vergossen“. Wieder liegt weder Metapher noch Metonymie vor, auch wenn vielleicht nur beim Skizzieren ein wenig oder gar keine Tinte, ansonsten weit mehr Toner ‚geflossen‘ ist und man bei Schreibtischarbeit nicht allzu sehr transpiriert, sind weder Tinte noch Schweiß übertragene Ausdrücke; auch liegt kein Verhältnis Teil/Ganzes oder Gefäß/Inhalt vor, auch kein Verhältnis späterer/vorheriger Zustand wie in „ich pflanze Erdbeeren“, weil die ‚Erdbeeren‘ auf etwas anderes, nämlich Erdbeerstauden, verweisen, während Tinte und Schweiß auf nichts anderes als auf Tinte und Schweiß verweisen und, im Gegensatz zu den Erdbeerstauden, nicht einmal real vorhanden sein müssen. Real vorhanden ist dagegen der Neckar, und wenn man sagt: „Bis dieser Bahnhof fertig ist, wird noch viel Wasser den Neckar hinabgeflossen sein“, ist dies eine zweifellos korrekte Aussage, doch kommt es auf das Neckarwasser nicht an; sein langdauerndes Hinabfließen zieht lediglich das Verstreichen eines langen Zeitraums nach sich.

Abschließend sei noch einmal dem Löwen ein Auftritt gegönnt. Am Beginn der arabischen Metapherntheorie standen gar nicht Metaphern wie „hoch zu Ross sitzt ein Löwe“. Vielmehr meinte Ibn al-Muʿtazz mit dem Wort istiʿāra, das alltagssprachlich „Leihe“ bedeutet, Ausdrücke wie „die Hand des Nordwinds“ oder „der Tod schlägt seine Klauen ein“, weil der Wind sich sozusagen Hände und der Tod Krallen „leiht“.Footnote 14 Es waren Ausdrücke dieser Art, die moderne Theoretiker an der Vergleichsbasiertheit der Metapher zweifeln ließen, denn tatsächlich wird ja der Nordwind nicht mit einer Hand verglichen und der Tod nicht mit Klauen; andererseits ist der Metapherncharakter solcher Ausdrücke ganz unzweifelhaft, da ‚Hand‘ und ‚Klauen‘ im tropischen Sinn gebraucht werden. Auch die arabischen Theoretiker haben einige Jahrhunderte gebraucht, um zu einer adäquaten Analyse zu gelangen, und diese besteht in der Einsicht, dass es sich bei diesen Formulierungen um eine Kombination von Kināya und Metapher handelt. Zunächst wird im Klauenbeispiel der Tod mit einem Raubtier, etwa einem Löwen, verglichen: Der Tod ist wie ein Löwe. Wenn nun alle Vergleichsmittel eliminiert werden, entsteht eine Metapher, etwa „ihn packte ein Löwe“, wobei mit ‚Löwe‘ der Tod gemeint ist. Sodann wird aber der Löwe nicht direkt genannt, sondern etwas, das die Existenz eines Löwen oder eines anderen Raubtiers nach sich zieht, nämlich dessen Klauen. So wird sozusagen auf die durchaus vergleichsbasierte Metapher ‚Tod = Löwe‘ eine Kināya gesetzt: „Klauen ziehen nach sich die Existenz eines Raubtiers“, ergo: „Der Tod schlägt seine Klauen ein“.

6 Eduard Mörike: Denk es, o Seele!

Ein letztes Beispiel soll zeigen, dass die Kināya nicht nur für die Rhetoriktheorie insgesamt unentbehrlich ist, sondern auch zur literarischen Analyse von Texten aller Sprachen verwendet werden kann. So ist etwa die Besonderheit eines der bekanntesten deutschen Gedichte nur dann adäquat analysierbar, wenn man es gewissermaßen als Kināya-Gedicht erkennt. Es handelt sich um das Gedicht „Denk es, o Seele!“ von Eduard Mörike:Footnote 15

Ein Tännlein grünet wo,

Wer weiß, im Walde,

Ein Rosenstrauch, wer sagt,

In welchem Garten?

Sie sind erlesen schon,

Denk es, o Seele,

Auf deinem Grab zu wurzeln

Und zu wachsen.

Zwei schwarze Rößlein weiden

Auf der Wiese,

Sie kehren heim zur Stadt

In muntern Sprüngen.

Sie werden schrittweis gehn

Mit deiner Leiche;

Vielleicht, vielleicht noch eh

An ihren Hufen

Das Eisen los wird,

Das ich blitzen sehe!

Dieses berühmte Gedicht Mörikes ist oft kommentiert worden, weshalb zunächst auf die Interpretation von Hans Christoph Buch verwiesen sei, deren Einsichten hier nicht wiederholt werden sollen.Footnote 16 Dessen Ausführungen zeigen allerdings auch, wie man sich eine schöne Interpretation durch fahrlässigen Umgang mit dem Begriff ‚Metapher‘ verderben kann.

Der Aufbau des Gedichts ist einfach und übersichtlich. In der ersten Hälfte der ersten Strophe werden zwei Pflanzen eingeführt (Tanne, Rose). In der zweiten Hälfte wird die Beziehung dieser Pflanzen zum Ich des Gedichts dargelegt: Es sind jene, die auf seinem Grab wachsen werden. Beide Teile sind mit je vier Versen gleich lang. Diese Struktur scheint sich zunächst in der zweiten Strophe zu wiederholen. Wieder werden zwei Lebewesen eingeführt, diesmal sind es Tiere, und zudem Tiere, die nicht zwei verschiedenen Arten angehören, sondern zwei Exemplare der gleichen Art. Das dauert wiederum vier Verse. Ihre Beziehung zum Ich des Gedichts wird nun aber nicht in vier, sondern komprimiert in nur zwei Versen ausgedrückt: Es sind jene Tiere, die den Leichenwagen ziehen werden. Doch dieser Feststellung untergeordnet folgt nun noch ein Schlussteil von wiederum vier Versen. Bisher konnte der Hörer dem Gedicht entnehmen, dass der Tod des Menschen unausweichlich ist und dass Dinge, die unauffällig um ihn herum sind, mit seinem Tod zu tun haben können. Nun wird die Dringlichkeit dieser Aussage dadurch verstärkt, dass die zeitliche Dimension ins Spiel gebracht wird: Der Todesfall könnte eintreten, noch ehe das Eisen am Huf der Pferde sich löst. Dieser Vorgang ist einerseits unausweichlich, lässt sich andererseits aber zeitlich nicht exakt vorhersehen (man beachte das zweimalige „vielleicht“). Vor allem aber könnte es sein, dass er schon sehr nahe ist. Die Struktur des Gedichts lässt sich mithin wie folgt veranschaulichen:

$$ {\text{A}}\left( {4} \right) + {\text{B}}\left( {4} \right) \, {//} \, {\text{A}{{\prime}}}\left( {4} \right) + {\text{B}{{\prime}}}\left( {2} \right) + {\text{C}}\left( {4} \right). $$

Zweifellos kommt hierbei dem Schlussteil C besondere Bedeutung bei, doch scheint diese in der Formulierung Hans Christoph Buchs nicht recht getroffen, wenn er schreibt: „Die letzten Zeilen, auf die das Gedicht zusteuert, verdichten seine lyrische Botschaft, in der Momentaufnahme des blitzenden Hufeisens, zu einer einzigartigen poetischen Metapher, die zugleich eine existentielle Erfahrung ausdrückt: die Gegenwart des Todes – mitten im Leben.“Footnote 17 Worin genau die Verdichtung besteht, werden wir sehen. Gegen Buchs andere Feststellungen ist aber manches einzuwenden. Zunächst wird die existentielle Erfahrung der Gegenwart des Todes mitten im Leben nicht in den letzten Zeilen ausgedrückt, sondern im ganzen Gedicht. Schon Tanne und Rose der Anfangsstrophe dienen keinem anderen Zweck. Die Tatsache, dass man nicht weiß, welche der vielen Tannen im Wald und welche Rose in welchem Garten einstens auf dem eigenen Grab grünen werden, macht gewissermaßen alle Tannen und Rosen verdächtig und die Allgegenwart des Todes umso stärker spürbar. An der Botschaft ändert sich im Laufe des Gedichts mithin nichts. Doch findet in der Tat eine ‚Verdichtung‘ statt, und zwar dadurch, dass das auf den Tod hinweisende Objekt allmählich immer konkreter wird. Von den Pflanzen wurde ausdrücklich gesagt, man wisse nicht, wo sie jetzt seien. Von den Rössern wird dies nicht mehr gesagt. Nicht „wer weiß wo?“, sondern „auf der Weiden“. Obwohl natürlich noch immer ungewiss bleibt, welche Pferde dereinst den Leichenwagen ziehen werden, wird über die Pferde Konkreteres ausgesagt. Auf den Ort des Rosenstrauchs wird durch eine Frage verwiesen („in welchem Garten?“); die Ortsangabe der Tanne durch „im Walde“ ist ohnehin unspezifisch genug und wird durch ein eingeschobenes „wer weiß“ zusätzlich ins Ungefähre verschoben. Die Pferde aber „kehren heim zur Stadt“, also in eine ganz bestimmte Stadt, die ihnen überdies ‚Heimat‘ ist. Und nun vollzieht der Dichter noch einen weiteren Schritt in Richtung Konkretisierung. Das Hufeisen nämlich ist nicht irgendeines irgendwo, sondern genau dasjenige, das man jetzt und hier mit eigenen Augen sieht: „das ich blitzen sehe“. Die ‚Verdichtung‘ besteht also in einer schrittweisen Konkretisierung von ganz unspezifischen (aber nichtsdestoweniger ganz und gar realen) Tannen und Rosen, die als Individuen nicht sichtbar werden, über stärker individuell fassbare Pferde, deren Status (werden sie die Pferde des Leichenwagens sein?) jedoch noch ungewiss bleibt, hin zu einem ganz bestimmten, konkret in Erscheinung tretenden („blitzenden“) Hufeisen. Parallel hierzu führt der Weg von den drei Fragewörtern („wo“, „wer“ und „welcher“) in den ersten vier Zeilen über die Selbstanrede in der zweiten Person („auf deinem Grab“, „mit deiner Leiche“) hin zum „ich“ („die ich blitzen sehe“) in der letzten Zeile.

Dieser Analyse des Gedichts als Verdichtung in Form einer fortschreitenden Konkretisierung scheint die Aussage zu widersprechen, die „lyrische Botschaft“ verdichte sich zu „einer einzigartigen poetischen Metapher“, da eine Metapher schwerlich mit einer Konkretisierung zusammengeht. Im Gegenteil erweitert eine Metapher doch den Assoziationsspielraum, indem sie einen weiteren Gegenstand, den ‚Leihgeber‘, mit ins Spiel bringt. Die arabischen Theoretiker sehen genau hierin einen Hauptzweck der Metapher und lassen sich in aller Ausführlichkeit darüber aus. Doch wo ist hier überhaupt eine Metapher? Wenn wir Metapher als übertragene Rede fassen, die mit einer Vergleichung zu tun hat, stellen wir fest:

  1. (1)

    Im ganzen Gedicht findet sich kein einziger Vergleich. Tanne, Rose, Garten, Grab, Rösser, Hufe und Hufeisen – alle genannten Lebewesen und Gegenstände stehen für sich selbst und werden mit nichts verglichen. Alles ist so, wie es ist.

  2. (2)

    Im ganzen Gedicht findet sich kein einziger Tropus. Kein einziges Mal greift der Dichter zu übertragener Rede. Jedes Wort steht genau für das, was es in konventioneller, allgemeinsprachlicher Rede bezeichnet: Die Tanne ist eine Tanne, das Grab ein Grab und das Hufeisen ein Hufeisen.

Und gerade hierin besteht die überwältigende Wirkung des Gedichts: Es ist alles so gemeint, wie es gesagt wird! Kein einziger Vergleich, keine einzige Metapher eröffnet dem Hörer den Ausweg des als ob. In unabweislicher Direktheit tritt die Präsenz des Todes auf den Hörer zu. Gerade dieser Effekt ist die wichtigste Besonderheit des Textes, von der ein (falsch verstandener) Begriff der Metapher ablenkt, denn Metapher ist übertragene Rede, dieses Gedicht aber auf die Spitze getriebene veritative Rede!

Die Aussage des Gedichts ist alles andere als originell. Das Gedicht ist ein memento mori, und so heißt es ja auch (memento „denk es!“). Andere Dichter haben das Thema gestaltet, indem sie die Vergänglichkeit ins Allgemeine wendeten („alles vergeht, auch …“) oder einen Vergleich oder eine Metapher verwendeten („alles ist vergänglich wie ein Traum“). Mörikes Weg ist genau der umgekehrte: die Wendung ins Konkrete. Das klingt einfacher als es ist, denn hätte der Dichter lediglich die Vergänglichkeit eines seiner Gegenstände thematisiert, etwa die Sterblichkeit der beiden Rösslein, dann hätte er ja wieder nur die Sache ins Allgemeine gewendet, indem er ein Gleichnis liefert. „Wendung ins Konkrete“ kann bei diesem Thema mithin nichts anderes heißen, als auf den konkreten Tod des Ichs des Gedichts (ergo des Dichters und Hörers) abzuzielen. Die naheliegende Möglichkeit, dies als Vorausschau auf Sterben, Begräbnis und Verwesung zu tun, wie es ein Barockdichter getan hätte, führt aber nicht weiter, da sich diese Vorgänge immer weitgehend gleich vollziehen und somit dann, wenn sie auf einen Fall angewendet werden, bei dem sie noch nicht eingetreten sind, auch nicht anders gelesen werden können denn als Gleichnis und Wendung ins Allgemeine. Welche Möglichkeit besteht aber überhaupt, die Tatsache der Unausweichlichkeit des eigenen Todes, die ja eine allgemeingültige ist, auf eine Weise anzusprechen, die zunächst und vor allem das angesprochene Individuum betrifft, ohne aber an Allgemeingültigkeit einzubüßen, da das Gedicht ja an eine allgemeine Hörerschaft gerichtet ist, auf deren individuelle Todesumstände der Dichter natürlich nicht eingehen kann? Mir scheint, die einzige Möglichkeit, gleichzeitig Allgemeingültiges zu sagen als auch individuelle Betroffenheit auszulösen, besteht darin, konkrete Dinge unserer Alltagserfahrung anzusprechen, die in einer unmittelbaren, wenngleich nicht unmittelbar einsichtigen Beziehung zu unserem (d. h. unser aller) eigenen Tod stehen. Und genau dies erkannt und umgesetzt zu haben ist die geniale Leistung Mörikes!

Seine Darstellungsweise nämlich beruht durchweg auf der Kināya: Ein Gegenstand/Sachverhalt wird angesprochen, indem er nicht selbst genannt wird, sondern durch das, was durch ihn impliziert wird, wobei aber das angesprochene Implizierte, das Nachsichgezogene, so, wie es angesprochen wird, wirklich existiert. In Mörikes Gedicht ist das Implizierende der eigene Tod. Dieser Tod impliziert ein Begräbnis, bei dem der Leichenwagen von schwarzen Pferden gezogen wird, und er impliziert ein Grab, auf dem ein Rosenstock und/oder ein Tännchen wachsen. Das Implizierte ist aber genauso real wie das Implizierende. Deshalb liegt keine tropische Rede vor. Tanne, Rose und Pferde sind real, sind Gegenstände unserer alltäglichen Wahrnehmung und können deshalb weder allegorisch noch generalisiert verstanden werden. Sie sind ‚zum Anfassen‘ real und betreffen uns deshalb so unmittelbar wie nur irgend denkbar.

Das Verhältnis zwischen Implizierendem und Impliziertem ist zunächst eher allgemein und indirekt: Tod → Grab → Tanne/Rose; und: Tod → Begräbnis → schwarze Pferde. Dann aber findet noch eine Steigerung statt, die eine genauere Analyse erfordert. Ausgesagt wird in den letzten vier Zeilen, dass der durch die Aussagen der vorangegangenen Verse mehrfach implizierte Tod nicht nur den Hörer unmittelbar betrifft, sondern dass er auch schneller eintreten könnte – und den Hörer deshalb noch mehr angeht – als gedacht. Und dies wird wiederum an einer Kināya festgemacht, die sich unmittelbar aus der vorangegangenen Kināya ergibt, nämlich aus den Pferden, die ihrerseits auf den Leichenzug hinweisen. Die Zeitbestimmung „vielleicht noch, ehe das Hufeisen los wird“ erfolgt durch eine Kināya, die direkter ist als die vorangehenden. Das ‚Loswerden‘ des Hufeisens als gewöhnliche Abnutzungserscheinung eignet sich durchaus als Zeitangabe für einen nicht allzu langen Zeitraum, und es bestimmt diesen Zeitraum durch eine (zumindest damals) alltägliche Erfahrung. Hinzu kommt, dass dieser Zeitraum nur ungenau bestimmbar ist, was wiederum der Unvorhersehbarkeit des Todeszeitpunkts entspricht. Es liegt also eine Kināya vor, durch die, wie in einer Kināya üblich, zwar auf indirekte Weise ausgesagt wird, dass die Zeit bis zum Tod kurz sein kann, wobei aber das auf direkte Weise Ausgesagte ebenfalls zutrifft, anders als dies bei einer Metapher der Fall wäre. Die Kināya ermöglicht deshalb eine Konkretheit, wie sie anderen Arten der Hinweisung nicht gegeben ist. Und so kann Mörike im letzten Vers zur radikalsten Direktheit der Aussage kommen: bis das Eisen los wird, „das ich blitzen sehe“! Vergänglichkeit wird hier sichtbar, und zwar sichtbar für mich selbst. Radikaler subjektzentriert lässt sich die Thematik des memento mori kaum gestalten, und wieder zeigt sich, dass die Kināya kein ornatus, keine „Verschönerung“ der Rede ist, sondern die in diesem Falle einzig mögliche, einzig beredte Möglichkeit, den Sachverhalt auszudrücken. Um dies zu erfassen, ist es unumgänglich, direkte und indirekte Hinweisung einerseits und veritative und übertragene Rede andererseits genau auseinanderzuhalten und in ihrer Spezifik zu erkennen. Deshalb brauchen wir die Kināya auch in unserem Werkzeugkasten für die literarische Analyse.