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Einleitung: Das proprium der Rechtswissenschaft

Die Frage nach dem Rhetorikverständnis der juristischen Romanistik, d. h. der Wissenschaft vom römischen Recht, ist zunächst eine historiographische, denn sie unterliegt dem wechselhaften und nicht immer spannungsfreien Verhältnis von RechtswissenschaftFootnote 1 und Rhetorik. Die starke Abhängigkeit der rechtshistorischen Wahrnehmung der antiken Rhetorik von aktuellen rechtswissenschaftlichen Vorgaben hängt nicht nur damit zusammen, dass das römische Recht als historische Grundlage des zeitgenössischen Rechts anzusehen ist. Vielmehr wird – vor allem in der deutschsprachigen ForschungFootnote 2 – das römische Recht traditionell als überzeitlicher Kern der RechtswissenschaftFootnote 3 gedeutet. Dies hat zur Folge, dass die zeitgenössische Methodendiskussion auch im und mit den Mitteln des römischen Rechts stattfindet. Auf diese Weise wird das Rhetorikverständnis in der Romanistik nicht nur durch das Anliegen einer historischen Rekonstruktion, sondern auch durch aktuelle Anliegen der Privatrechtswissenschaft, determiniert.

Die enge Verbindung zwischen römischem Recht und Rechtswissenschaft ergibt sich daraus, dass die Hauptquelle des römischen Rechts, das sog. Corpus iuris civilis, die Entwicklung der Rechtswissenschaft in Europa seit dem 11. Jahrhundert geprägt hat. Die justinianische Kompilation, ein Gesetzgebungsprojekt Kaiser Justinians des I. (482–565), enthält als Kernstück unter dem Titel digesta oder pandéktēs Auszüge (mit Angabe des Verfassers und des Werkes) aus den Schriften der Juristen des 1. – 3. Jahrh. n. Chr.Footnote 4 Die ‚Wiederentdeckung‘ der digesta und die intensive Auseinandersetzung mit den justinianischen Exzerpten aus der juristischen Literatur der Prinzipatszeit waren Anlass und Grund für den Aufstieg der Rechtswissenschaft als universitäre Disziplin der Reflexion über das Recht.

Die vorrangig historische Befassung mit dem römischen Recht, die Romanistik, ist jüngeren Datums. Sie konnte sich erst entwickeln, als Lehrsätze und Rechtsmeinungen aus den justinianischen digesta nicht mehr eine subsidiäre Quelle der Rechtsanwendung bildeten. In Deutschland ist dies bekanntlich erst seit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches zum 1. Januar 1900 der Fall.Footnote 5 Es ist daher kein Zufall, dass zeitgleich zu den Vorarbeiten zur deutschen Zivilrechtskodifikation ein Freiburger Gelehrter, Otto Lenel, zwei Werke schuf, die bis heute als Hauptwerkzeuge der Romanistik gelten. Es handelt sich um das Edictum perpetuum. Ein Versuch zu seiner Wiederherstellung von 1883 und um die Palingenesia iuris civilis Iuris consultorum reliquiae quae Iustiniani digestis continentur von 1889.Footnote 6 In seinem Edictum perpetuum versucht Lenel das prätorische Edikt, d. h. die Regelungen für den Privatrechtsprozess, in seiner kaiserzeitlichen Gestalt abzubilden; die zwei Bände der Palingenesia Iuris Civilis enthalten hingegen eine Rekonstruktion der Juristenschriften aus den Exzerpten der justinianischen Kompilation, versuchen also Aufbau und Struktur der ursprünglichen Texte sichtbar zu machen. In der langen Geschichte der Auseinandersetzung mit den justinianischen digesta lenkten daher erst die beiden Werke Lenels den Blick auf die juristische Literatur der Prinzipatszeit selbst. Auf diese Weise wurde auch deutlicher in das Bewusstsein gerufen, dass die Juristenschriften nicht selbst vorlagen, sondern nur sprachlich und inhaltlich veränderte Bruchstücke aus diesen. Dabei ist hervorzuheben, dass die Zerstückelung durch die Kompilatoren nicht nur einzelne Meinungen tilgte, sondern vor allem den Peritext, also Einleitungen, Überleitungen und Widmungen zerstörte.

Aus diesem Grund kommt dem wichtigsten, außerhalb der justinianischen Kodifikation überlieferten Werk, den 1806 aufgefundenen institutiones des Gaius, in der Wahrnehmung der juristischen Literatur besondere Bedeutung zu.Footnote 7 Es handelt sich um ein Lehrbuch aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, das in einer Abschrift aus dem 8. Jahrhundert nahezu vollständig auf uns gekommen ist und daher nicht nur Aufschluss über die Kontinuitätslinien der juristischen Literatur zwischen der Antike und dem Mittelalter gibt, sondern auch Informationen über die Textkomposition, Peri- und Paratext vermittelt. Vor allem aber führte die Entdeckung ‚des Gaius‘ zu einem Perspektivenwechsel innerhalb des Fachs, indem das Werk Fragen von Autor- und Leserschaft sowie den Intentionen des Verfassers aufwarf. Die übrigen Juristenschriften blieben im 19. Jahrhundert trotz der Lenelschen Palingenesie Bruchstücke in einer Rekonstruktion eines „Systems des heutigen römischen Rechts“.Footnote 8 Dabei standen die inhaltlichen Aussagen und der rechtliche Gehalt der digesta im Vordergrund; Argumentationsweise, Stil oder auch Zwecksetzung einzelner Juristenschriften wurden nur zögerlich und nur im Ausnahmefall thematisiert.Footnote 9 Die ebenfalls in diesem Zeitraum stattfindende Loslösung der durch das römische Recht geprägten Jurisprudenz von der Rhetorik ist eine noch zu schreibende Geschichte. Sie wird die Ästhetisierung der Rhetorik seit der Aufklärung sowie die eigenfachliche Ausprägung der Rechtswissenschaft und das lediglich ‚kryptowissenschaftliche‘ Fortleben der RhetorikFootnote 10 in der Juristenausbildung zu berücksichtigen haben.Footnote 11

Der Ansatz des folgenden Beitrags ist bescheidener. Er zielt darauf ab, anhand einiger Schlaglichter einen Blick auf das Rhetorikverständnis in der juristischen Romanistik des 20. und 21. Jahrhunderts zu werfen, um anschließend den aktuellen Forschungsstand zu skizzieren und nach den Implikationen des Rhetorikverständnisses für das eigene Fach und die Rechtswissenschaft als Gesamtdisziplin zu fragen.

1 Zum Verhältnis von Romanistik und Rhetorik im 20. und 21. Jahrhundert

Die Schlaglichter zum Rhetorikverständnis in der Romanistik sind mit drei bekannten Namen verbunden: Johannes Stroux, Theodor Viehweg und Dieter Nörr, wobei zu bemerken ist, dass die beiden erstgenannten gleichsam von außen auf die Wissenschaft vom römischen Recht blickten.

1.1 Rhetorik als Methode der interpretatio iuris: Johannes Stroux (1926 und 1949)

Der klassische Philologe Johannes Stroux,Footnote 12 hatte bereits in einem Festschriftenbeitrag von 1926, der aber vor allem durch den separaten Druck unter dem Titel Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik aus dem Jahr 1949 bekannt wurde,Footnote 13 die These vertreten, die römische Rechtswissenschaft folge – vor allem mit Blick auf die Auslegungslehre – der (antiken) Rhetorik. Der damals herrschenden Meinung in der Romanistik folgend, hielt er vor allem das frühe römische Recht (der Republik) für formalistisch; erst das Edikt des Prätors habe dieses ius civile (als früheste Rechtsschicht) durch die aequitas gemildert.

Stroux untermauert diese These anhand der vor dem Zentumviralgericht ausgetragenen causa Curiana zur Testamentsauslegung, die Cicero als Kampf zwischen Rhetorik und Recht stilisiert:Footnote 14 Der Erblasser ist bei Errichtung des Testaments kinderlos geblieben, hat aber Hoffnung auf eine Schwangerschaft seiner Frau. Daher setzt er das zu erwartende Kind zum Erben ein. Für den Fall, dass das Kind vor Erlangen der Mündigkeit versterbe, bestimmt er den M. Curius zum Nacherben (Pupillarsubstitution). Allerdings kommt auch zehn Monate nach dem Tod des Erblassers kein Kind zur Welt, weshalb Curius als Ersatzerbe die Erbschaft für sich beansprucht; ihm tritt ein M. Coponius entgegen, der als gesetzlicher Erbe, nämlich als nächster agnatischer Verwandter, die Erbschaft herausverlangt. Der berühmteste Jurist zurzeit Ciceros, Q. Mucius Scaevola, verfocht vor Gericht die Position des Coponius, indem er ausführte, die Voraussetzungen für den Antritt des Ersatzerben hätten nicht vorgelegen, weil kein Kind zur Welt gekommen sei; L. Licinius Crassus, der als berühmtester Redner dieser Zeit die Gegenseite vertrat, hielt dagegen, der Wille des Vaters sei so zu verstehen, dass er die Ersatzerbenbestimmung auch dann ‚gewollt‘ habe, wenn gar kein Kind geboren werde. Im Ergebnis sei die Pupillarsubstitution also auch als Ersatzerbenbestimmung (Vulgarsubstitution) auszulegen.

Stroux beobachtet zu recht, dass Ciceros Darstellung eines Kampfes zwischen Rhetorik und Rechtswissenschaft einseitig ist, weil beide Positionen sowohl rhetorisch als auch juristisch begründet werden können. Stroux selbst vertrat die These, die Jurisprudenz habe anlässlich der causa Curiana von der Rhetorik „gelernt“, auch die voluntas zu berücksichtigen.Footnote 15 Erst die Rhetorik und die ihr immanente aequitas hätten es erlaubt, den der Rechtswissenschaft innewohnenden Formalismus zu überwinden.Footnote 16 Da er weiter feststellt, dass Argumente aus der aequitas in den digesta häufig zu beobachten seien, kommt Stroux zu dem Schluss, die Rhetorik habe einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des römischen Rechts ausgeübt. Dieser sei „aus der Schwäche der juristischen Methoden“Footnote 17 und der „Unübersichtlichkeit des Juristenrechts“ erklärbar. Die Rhetorik habe dazu beigetragen, den Einzelfall von den ihn tragenden Prinzipien zu scheiden. Sie sei daher zentrale Voraussetzung für die Öffnung des Rechtssystems für Argumente und für die Systematisierung von Rechtssätzen gewesen.

Diese in Ciceros Ruf „Summum ius, summa iniuria“ pointierte These hallt in eine Romanistik, die noch vollständig der Interpolationenkritik verhaftet ist. So vertreten die wichtigsten Fachvertreter dieser Zeit die Meinung, alle Entscheidungen aus dem Willen oder der Billigkeit seien der byzantinischen Schule, d. h. den justinianischen Juristen zuzuschreiben; die römischen Juristen der Prinzipatszeit hingegen seien dem ius strictum gefolgt.Footnote 18 Die Vorurteile, die zu dieser Annahme führten, hat Dieter Simon mit der schönen Hypostasierung „Die animusbesessene Spätzeit“Footnote 19 zum Ausdruck gebracht. Neben der bereits angedeuteten fehlenden Historisierung des Fachs, nennt Simon u. a. „eine besonders gestaltete Vision vom Römertum und römischen Juristen“ als Grund für diese übertrieben formalistische Rechtsvorstellung: „In ihrer Begeisterung für ein majestätisches Römerbild bemühte sich die Romanistik […], nicht nur den Subjektivismus, sondern überhaupt ‚alle Gefühlswucherungen aus dem Recht der Klassiker auszuschneiden‘ und die ‚feige Mildherzigkeit‘ auf die Byzantiner zu beschränken.“Footnote 20

Auch wenn manche Aspekte von Stroux’ Darlegung im Rückblick simplifizierend wirken und namentlich die rechtliche Argumentation in der causa Curiana vielschichtiger ist als von ihm angenommen,Footnote 21 kommt seiner Schrift das Verdienst zu, sich gegen eine von Vorurteilen geprägte Quellendeutung zu wenden. Gerade deswegen aber wurde der Philologe und Althistoriker von den Romanisten heftig bekämpft. An dieser Stelle soll vor allem ein meist vergessener Aufsatz von Juri Himmelschein, einem Doktoranden Lenels, gewürdigt werden, der sich bereits 1934 differenziert mit Stroux auseinandersetzte. Auch Himmelschein widmet sich der Bedeutung der rhetorischen Hermeneutik für die Rechtstheorie. Obwohl er anerkennt, dass die antike Rhetorik das römische Geistesleben in all seinen Facetten prägte, hält er einen rhetorischen Einfluss auf die römische Rechtswissenschaft für kaum nachweisbar: Zum einen enthielten die digesta selten Begründungen; zum andern sei der in ihnen präsentierte Stoffreichtum unüberschaubar. Himmelschein wählt daher einen semantischen Zugang, der ihn in seiner Ablehnung bestätigt: Es seien kaum terminologische Übernahmen aus der sog. Statuslehre (verba-voluntas, ambiguitas etc.) feststellbar; auch vermisst er Bezugnahmen auf die aequitas, wobei er allerdings übergeht, dass er mit weitreichenden Interpolationsannahmen arbeitet, indem er relativierende oder der Billigkeit dienende Argumente als justinianisch streicht.Footnote 22 Bis heute einflussreich ist Himmelscheins zweiter Argumentationsansatz, der von einer generellen Skepsis gegenüber einer heuristischen Verwendung der Rhetorik zeugt: Der tatsächliche Einfluss rhetorischer Lehren auf einen juristischen Text sei kaum verlässlich feststellbar, „denn das Netz der rhetorischen Hermeneutik ist so breit gespannt, daß unter ihre Kategorien unzählige Entscheidungen, auch die Entscheidungen der heutigen Gerichtshöfe, untergebracht werden können“.Footnote 23 Himmelschein gelangt daher zum gegenteiligen Ergebnis als Stroux, indem er ausführt, die römischen Juristen hätten nicht in rhetorischen Kategorien gedacht, sondern ihre eigenen traditionellen Techniken, namentlich die Kasuistik, die nichts mit der Rhetorik gemein habe, für ihre rechtswissenschaftliche Arbeit herangezogen.Footnote 24

Das erste Schlaglicht endet damit in einem argumentativen Patt, das bis in die 1970er fortbesteht. Dabei steht die Auseinandersetzung zwischen Stroux und Himmelschein geradezu paradigmatisch für die weitere Fachdiskussion: So nimmt etwa Wesels Untersuchung der rhetorischen Statuslehre und der juristischen Gesetzesauslegung im Grundsatz Himmelscheins skeptische Grundhaltung ein, während Vonglis‘ parallele Untersuchung der Gesetzesauslegung im Wesentlichen an Stroux‘ Ergebnisse anschließt.Footnote 25 Auch die Argumente ähneln sich: Wesel wirft Vonglis vor, er verkenne den vorrangig juristischen Gehalt der Rechtsquellen,Footnote 26 was eine eigene, von der rhetorischen Theorie getrennte ‚rechtswissenschaftliche‘ Auslegungsmethode impliziert; Vonglis hingegen meint, Wesel sei – genau wie Himmelschein – voreingenommen hinsichtlich der Rhetorik und dürfe sich nicht in derart breitem Maße auf Interpolationsannahmen stützen.Footnote 27 Die Beiträge sind damit – trotz wertvoller Einzelstudien im Detail – in ihrem eigenen Vorverständnis gefangen und können über die Grundsatzfrage, ob die rhetorischen Lehren auf die Jurisprudenz gewirkt hätten, keinerlei Einigkeit erzielen.

Die entstandene argumentative Blockade konnte erst aufgelöst werden, als man auch für das geltende Recht versuchte, neue Wege in der Methodik zu gehen. Zentrale Bedeutung hat hierbei die von Theodor Viehweg initiierte Diskussion um die Topik, die explizit auch mit der antiken römischen Jurisprudenz argumentiert.

1.2 Viehwegs Topik in der Diskussion zum römischen Recht

Unter dem Titel „Topik und ius civile“ widmet sich Viehwegs erstmals 1953 erschiene Schrift Topik und Jurisprudenz auch der Methode der römischen Juristen. In seiner Darstellung folgt Viehweg vor allem Fritz Schulz und zwar weniger dessen 1946 erschienener, bis heute grundlegenden History of Roman Legal Science als vielmehr dem bereits 1934 publizierten Lehrbuch Prinzipien des römischen Rechts. Im Rahmen dieser Prinzipien charakterisiert Schulz auch die Methode der römischen Juristen, indem er unter dem Stichwort „Abstraktion“ die Fallgeneigtheit oder die „Abstraktionsfeindschaft“ der römischen Juristen darlegt.Footnote 28 Aus dieser grundlegenden kasuistischen Orientierung des römischen Rechts leitet Schulz sodann eine „Abneigung [der römischen Juristen] gegenüber der juristischen Begriffsbestimmung“ und „gegen abstrakte Formulierung der Rechtssätze“ ab.Footnote 29 Erst – und hier wirken die angedeuteten Topoi der Interpolationenkritik – die nachklassische Zeit strebe stärker zur schulmäßigen, regelhaften Formulierung und: „mancher theoretisch-abstrakte Satz in unseren Texten der klassischen Jurisprudenz stammt erst aus dieser Zeit.“Footnote 30 Selbst für die stark kompilatorische Jurisprudenz der Severerzeit postuliert Schulz, dass kein Bedürfnis nach Systematisierung erkennbar sei und die Fähigkeit zur kompositorischen Durchdringung der Darstellung fehle. Diese ohnehin schon didaktisch vereinfachenden Bemerkungen bei Schulz spitzt Viehweg mit der Feststellung zu, dass die „Klassiker“ zwar keinen „Systemzusammenhang“ gekannt hätten, immerhin aber einen „Problemzusammenhang“ hergestellt hätten: „Der römische Jurist setzt also beim Problem ein und sucht nach Argumenten. Er ist infolgedessen genötigt, eine dementsprechende Techne zu entwickeln. Er setzt unreflektiert einen Zusammenhang voraus, den er nicht zu demonstrieren versucht, sondern innerhalb dessen er sich bewegt. Das ist die Grundhaltung der Topik.“Footnote 31 Auch wenn Viehweg sich nicht für berufen hält, die Abhängigkeit der römischen Jurisprudenz von der antiken Rhetorik zu postulieren, stellt er weiter fest: „man sieht jedenfalls, daß der Modus des Denkens bei Juristen und Rhetoren der gleiche ist. Das liegt, wie wir zu zeigen versuchten, an der Gleichartigkeit des Einsatzes und ist für jede wissenschaftstheoretische Betrachtung der Jurisprudenz nicht unwesentlich.“Footnote 32 Für die Methodenfrage knüpft Viehweg damit an Stroux an, ohne allerdings dessen These der fortschreitenden Rezeption der Billigkeit aus der Rhetorik ins Recht zu übernehmen. Trotz Viehwegs Anlehnung an Stroux greifen viele Romanisten die Thesen Viehwegs auf, wobei sie allerdings auch seine nicht in jeder Hinsicht zutreffende Definition der antiken Topik übernehmen. Bereits Viehweg unterscheidet nicht immer treffend zwischen Logik und Dialektik bzw. er verwechselt die Gegenstände (endoxa in der Dialektik und Axiome in der Mathematik) mit der Methode.Footnote 33 Diese Verkürzung setzt sich in der weiteren Diskussion fort, in der es immer wieder heißt, die Methode der römischen Juristen sei nicht „axiomatisch“, sondern „aporetisch“, was synonym für „topisch“ verwendet wird.Footnote 34 Sehr einflussreich ist bis heute die erstmals 1962 publizierte Darstellung von Max Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, in der es heißt: „Das axiomatische Denken leitet alle Sätze und Begriffe eines Systems mittels logischer Deduktion aus Grundsätzen (Axiomen) und Grundbegriffen ab, die selbst keiner weiteren Begründung fähig und bedürftig sind. […] Nur eine Ordnung solcher Art ist im aristotelischen Sinn ein ‚System‘.“Footnote 35 Da er Viehweg und Schulz in ihrer Analyse des römischen „Falldenkens“ folgt, folgert Kaser, die römische Jurisprudenz habe kein „System“, sondern arbeite „topisch“, was für ihn auch ein Synonym für „fallbezogen“ ist.Footnote 36

Kaser kombiniert diese Beobachtung mit der aus der historischen Rechtsschule stammenden Annahme, die Rechtsfindung der Römer erfolge intuitiv und sei am Erfahrungswissen ausgerichtet.Footnote 37 Nach Kaser wird die Intuition, die nach seiner Deutung zum „Falldenken“ gehört, von regulae und Rechtsbegriffen angeleitet. Letztere will Kaser aber nicht als ‚Topoi‘ im Sinne Viehwegs verstehen, sondern als juristisch autonome Erkenntnisquellen. Genau diese Loslösung von Viehweg dient Kaser dazu, die Eigenständigkeit der Jurisprudenz gegenüber der Rhetorik zu behaupten: „Die Rhetorik hat es nicht – oder nur nebenher – auf die Verwirklichung einer praktischen Gerechtigkeit abgesehen. Darum ist ihr auch die intuitive Rechtserkenntnis, die von den Juristen zur genialen Meisterschaft gesteigert worden ist, fremd geblieben. […] So kunstvoll sich diese Topik [der Rhetoren] auch darstellt, steht sie doch tief unter der von hohen Rechtsethik getragenenen Jurisprudenz.“Footnote 38

Obgleich also Kaser Viehwegs Idee des Problemdenkens im Gegensatz zum Systemdenken aufgreift, lehnt er die von diesem postulierte Übereinstimmung der juristischen und der rhetorischen Methode ab und nutzt gleichzeitig die Gelegenheit, die von Stroux formulierte und von Viehweg jedenfalls erwogene inhaltliche Abhängigkeit der Jurisprudenz von der Rhetorik zurückzuweisen. Diese Abwehr geschieht ohne jegliche Quellengrundlage und zieht nicht einmal in Erwägung, dass Rhetorik und Jurisprudenz historisch eine Verbindung gehabt haben könnten. Trotz dieser offenkundigen Voreingenommenheit ist Kasers Lehre nicht nur in der deutschsprachigen Romanistik nach wie vor herrschend.Footnote 39 Hierzu gehört die Charakterisierung der römischen Rechtsordnung als „Rechtsschichten“ oder auch als „Rechtserfahrung“ (esperienza giuridica romana).Footnote 40 Beides beschreibt die fehlende Hierarchisierung der Rechtsquellen, die gleichzeitig die intuitive Kasuistik erklären soll.

Dennoch hat Viehwegs Impuls dazu beigetragen, die Methodendiskussion auch in der Romanistik anzustoßen. Dass letztere nicht einmal in Erwägung zog, die Verbindungen zwischen antiker Dialektik und Rhetorik mit der römischen Jurisprudenz näher zu prüfen,Footnote 41 mag auf das damals weit verbreitete Fehlurteil der Rhetorik als Stillehre zurückzuführen sein. Die historische Kontextualisierung der römischen Rechtswissenschaft im Lichte der dialektisch-rhetorischen Lehren wurde allerdings auch dadurch erschwert, dass Viehwegs Topikbegriff nur Teile der antiken Lehre rezipierte und somit ein ahistorisches Novum darstellte, dem insbesondere der Konnex zur Dialektik verloren ging.Footnote 42

Die wichtigsten Impulse, um sich von diesen Vorurteilen zu lösen, stammen von Dieter Nörr, der die Frage des Verhältnisses von Rhetorik und römischem Recht auf ganz verschiedene Weise gestellt und das überkommene Paradigma in verschiedenen Schritten überwunden hat.

1.3 Dieter Nörr (1931–2017)

Die nuancenreichen Schritte dieser Neubewertung können im Folgenden nur holzschnittartig skizziert werden. Entscheidend ist bereits eine methodische Öffnung bei Würdigung der Juristenschriften, indem sich Nörr nicht auf die Rechtsquellen beschränkt. Vielmehr stellt er die juristische Literatur in den breiten Kontext der gesamten antiken Literatur und sieht die Rechtswissenschaft in ihrem Verhältnis zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen.

Der erste Meilenstein dieser Methode ist die 1974 erschienene Rechtskritik in der römischen Antike, die nicht nur die Sicht von Nichtjuristen auf das römische Recht beleuchtet, sondern auch fragt, ob und wie die römischen Juristen selbst das Recht reflektierten. Für die hier interessierende Frage gelang damit ein Perspektivenwechsel, indem Nörr nicht untersucht, ob sich die beiden Disziplinen beeinflusst hätten, sondern die Zeugnisse von Rhetoren und Philosophen zum Recht mit den Aussagen der Jurisprudenz selbst vergleicht. Dabei fällt auf, dass die Grenzen zwischen Rhetorik und Philosophie fließend sind, womit eine Grundvoraussetzung der in der damaligen Romanistik weit verbreiteten Ansicht, dass nur die Philosophie auf die Jurisprudenz gewirkt haben könne, in Frage gestellt wird.

Damit bekräftigte Nörr die bereits zehn Jahre zuvor von Manfred Fuhrmann gewonnene Einsicht, dass die Juristenschriften von den Lehren der Rhetorik profitiert hätten.Footnote 43 Fuhrmann hatte zeigen können, dass die Aufbereitung des Rechtsstoffes in den Institutionen des Gaius den Lehrwerken zur Rhetorik folgte. Der Befund war so bestechend, dass er nicht ernsthaft in Frage gestellt werden konnte.Footnote 44 Allerdings bestand immer noch die Möglichkeit, Gaius‘ Werk als Ausnahme oder Sonderfall abzutun, zumal ihn manche Forscher ohnehin als „einen – durchaus nicht unbegabten – Juristen der geistigen Mittelklasse“Footnote 45 ansahen, der aus didaktischen Gründen auf die Lehren der Rhetorik rekurrierte.Footnote 46

Nörr hingegen erweiterte die von Fuhrmann eröffnete Perspektive, indem er die Jurisprudenz in den Diskurs verschiedener Disziplinen einbettete und damit weitere Einzeleinsichten gewann, die sich im Rückblick zu einem Gesamtbild fügen: Schon 1972 war Divisio und Partitio. Bemerkungen zur römischen Rechtsquellenlehre und zur antiken Wissenschaftstheorie erschienen, in dem Nörr die Rechtsquellenkataloge der Rhetorik mit den Rechtsquellenkatalogen der Juristenschriften verglich und feststellte, dass das Gewohnheitsrecht bei den Juristen, nicht aber bei den Rhetoren fehlte. Bereits hier findet sich eine erste, vorsichtig positive Einschätzung hinsichtlich der Bedeutung der Rhetorik für die Juristenschriften: „Kaum bedacht wurde die Möglichkeit, daß philosophisch–rhetorische Schemata manchen Juristen so selbstverständlich wurden, daß sie unbewußt Anwendung fanden oder – darüber hinaus – daß diese Schemata dazu dienen könnten – unabhängig von ihrem historischen Stellenwert und von der Frage ihrer bewußten oder unbewußten Anwendung durch die Zeitgenossen – die Methode der Juristen zu beschreiben.“Footnote 47

Auf diese Weise wird die zuvor ideologisch geführte Debatte nuanciert. Vor allem wird das deutlich, was Nörr schon 1965 im Beitrag „pragmaticus“ für die Realenzyklopädie Pauly–Wissowa formuliert hatte: Die historisch belegte Trennung von Advokatur und Jurisprudenz ist nicht als Gegensatz, sondern als Abstufung zwischen zwei verbundenen Fächern aufzufassen: „So geht der [u. a. bei Cicero belegte] Streit um Rhetorik und Jurisprudenz […] um Würde und Rang beider Bereiche sowie um die praktische Frage nach der Notwendigkeit juristischer Ausbildung für die oratores.“Footnote 48 Ein Prozessvertreter (patronus) sei stärker nach seinen rhetorischen Fähigkeiten ausgewählt worden als nach seiner juristischen Qualifikation. Damit ist impliziert, dass Anwälte über Rechtswissen und Juristen über eine rhetorische Bildung verfügten; die Unterschiede zwischen ihnen liegen in der Akzentuierung der jeweiligen Kenntnisse.

Weitere Arbeiten Nörrs kreisen um diese gegenseitige Durchdringung der beiden Disziplinen. Aus Sicht der Rechtswissenschaft beleuchtet Nörr die „Rolle des Juristen im Kreis der Intellektuellen“, wie es im Untertitel zur Analyse des „Geschichtsverständnisses des Pomponius“ heißt.Footnote 49 In diesen Zusammenhang gehören auch Untersuchungen zu Cicero–Zitaten bei den römischen Juristen sowie zur Rolle des Juristen Cassius Longinus als RhetorFootnote 50 sowie spiegelbildlich die Frage nach der „esperienza giuridica“ des Aulus Gellius.Footnote 51 Der so in den Blick genommene Dialog der Fächer beinhaltet auch Konkurrenz und Widerstreit, wie Nörr an Ulpians Definition des iurisperitus als Priester (sacerdos) der Gerechtigkeit und Vertreter wahrer Philosophie zeigt, die man als Usurpation der Philosophie durch die Jurisprudenz deuten kann.Footnote 52

Neben der historischen Kontextualisierung des Juristen widmet sich Nörr auch den Verbindungen zwischen Rhetorik und Recht in der juristischen Argumentation. Anhand von Texten zur lex Aquilia kann er zeigen, dass die Juristen Kausalitätsprobleme mithilfe terminologischer und theoretischer Anleihen in Rhetorik und Philosophie zu lösen suchten.Footnote 53 In dieser Hinsicht stechen die klaren thematischen und methodischen Parallelen, die zwischen den Declamationes Maiores Quintilians und der Auslegung der lex Aquilia in den digesta zu erkennen sind, besonders ins Auge.Footnote 54 Schließlich untersucht Nörr Methodenfragen der römischen Jurisprudenz auch unabhängig von der lex Aquilia.Footnote 55 Aus diesen Arbeiten ist der 2009 erschienene Aufsatz „Exempla nihil per se valent…“ hervorzuheben: Im Rahmen einer exegetischen Würdigung einiger Fragmente des Juristen Iulius Paulus räumt Nörr mit der Vorstellung auf, die römische Kasuistik könne gerade nicht von der Rhetorik beeinflusst sein. Vielmehr betont er, dass erst die rhetorischen Lehren zur similitudo die „juristische Kunst“ einsichtig machten: „Will man das potentielle ‚Reflexionsniveau‘ der Juristen wenigstens erahnen, so kann man auf den Quintilian–Text inst. or. 5,11 zurückgreifen. Unter dem Konzept der exempla erörtert Quintilian rhetorische Schlüsse, Analogie und Gegenbeispiele; Stichworte sind: similis, similitudo. […].“Footnote 56 Damit erhärtet er die bereits 1974 geäußerte Vermutung, nach der das Vorgehen der römischen Juristen durch die Theorien der Rhetorik überzeugender darstellbar und in seinen Facetten besser nachvollziehbar sei.

Die durch Nörr und andereFootnote 57 vollzogene historische Kontextualisierung der Jurisprudenz auch im Lichte der Rhetorik öffnet damit den Blick auf die Juristenschriften als Teil der römischen Literatur.

2 Rhetorik als Voraussetzung der römischen Rechtsliteratur

Versteht man die Juristenschriften als Literatur, sind die Rechtsansichten der römischen Juristen nicht nur aus rechtswissenschaftlicher Perspektive auszubeuten. Vielmehr sind die vorrangig fragmentarisch überlieferten Texte auch auf ihre Darstellungstechniken, ihren Entstehungskontext und die Zwecksetzungen des Autors zu befragen.Footnote 58 Die Juristenschriften sind damit – mit aller Vorsicht aufgrund der Überlieferungslage – als Teil der lateinischen Literatur zu begreifen.

2.1 Die Reintegration der Rechtsliteratur in die lateinische Literatur der Antike

Bereits das seit dem Zweiten Weltkrieg in Angriff genommene Großprojekt eines Handbuchs der lateinischen Literatur der Antike berücksichtigt im Rahmen der Fachschriftstellerei auch die römische Rechtsliteratur;Footnote 59 die durchweg grundlegenden Beiträge hierzu lieferte Detlef Liebs.Footnote 60 Neben einer konsequenten Aufarbeitung aller für die Biographie eines Juristen verfügbaren Informationen wendet Liebs den Blick auch auf die „nichtliterarischen Juristen“ der römischen Kaiserzeit, vor allem in den Provinzen,Footnote 61 sowie auf das Wirken von Juristen in der kaiserlichen Kanzlei.Footnote 62 Vor allem aber lenkt Liebs Kärrnerarbeit die Aufmerksamkeit auf die Komposition der Juristenwerke, die verschiedenen Anforderungen einzelner Gattungen und unterschiedliche Entstehungskontexte, in denen Rechtsliteratur verfasst wird.Footnote 63 Die durch Lenels Palingenesie erstmals einzeln fassbaren römischen Rechtsschriften werden auf diese Weise detailgenau beschrieben und mithilfe der Prosopographie konsequent historisch kontextualisiert. Dadurch werden die bereits von Schulz beschriebenen Literaturgattungen der römischen Jurisprudenz deutlich erkennbar;Footnote 64 zudem tritt die Breite der Darstellungstechniken und der Stilvarianten, die Liebs mit größerer Nachsicht toleriert als Schulz,Footnote 65 zwischen verschiedenen Juristen oder auch im Werk eines einzelnen Juristen hervor. Die Juristenschriften werden damit zu individuellen literarischen Äußerungen, die auf ihre methodischen und sprachlichen Eigenheiten überprüft werden können.Footnote 66

Auf diese Weise stellte sich auch die Frage nach dem Einfluss rhetorischer Lehren auf einzelne Werke oder Juristen. Der unter Septimius Severus und Caracalla wirkende Jurist Aemilius Papinianus bot sich hierfür besonders an, da seine Sprache als „dunkel“Footnote 67 galt und seine häufigen Bezugnahmen auf (scheinbar) außerrechtliche Maximen der Interpolationenkritik als verdächtig erschienen.Footnote 68

2.2 Werkindividualität und Rhetorik: Das Beispiel Papinians

Das schon in seinem Titel an philosophisch-rhetorische Kategorien anknüpfende Hauptwerk des severischen Juristen libri quaestionum weist neben der offenkundig rhetorisch gefärbten Sprache und der teilweise innovativen RechtsansichtenFootnote 69 die weitere Besonderheit auf, dass die justinianischen Kompilatoren relativ lange Auszüge in die digesta aufgenommen haben. Es lag daher nahe, diese Fragmente in ihrer Gesamtheit zu würdigen und nach dem argumentativen Duktus dieser Passagen zu fragen. Eine genauere Prüfung dieser „Katenen“Footnote 70 konnte plausibel machen, dass die oftmals als kasuistische Variationen daherkommenden Fallketten in Wahrheit als Teile einer dialektisch-rhetorischen Argumentation für eine Ausgangsthese anzusehen sind.Footnote 71 Im Rahmen dieser Argumentation zieht der Jurist die aequitas und andere Wertungen amplifizierend heran, vor allem, um eine neue oder zuvor in der Fachwelt nicht gebilligte Position zusätzlich zu untermauern. Die persuasive Tendenz des Werkes wird auch in anderen für die Quaestiones Papinians typischen Fragmenten sichtbar, die man als „Kommentare des Kaiserrechts“ beschreiben kann.Footnote 72 Die hier stattfindende Auseinandersetzung mit imperialen Urteilen oder Rechtsauskünften lässt sich nach den Vorgaben der status-Lehre für die Gesetzesauslegung beschreiben: So finden sich Beispiele für die restriktive Auslegung einer im Wortlaut zu weit gefassten kaiserlichen Vorgabe (status scripti et voluntatis) und für die ratiocinatio, d. h. die extensive oder analoge Anwendung einer Konstitution auf einen von ihr nicht primär erfassten Sachverhalt (status ratiocinativus oder syllogismus). Von besonderem Interesse sind weiter Entscheidungen, in denen der Jurist Widersprüche zwischen dem Kaiserrecht und dem tradierten ius civile und ius praetorium auflöst, wobei methodisch klare Anleihen bei den Lehren des status legum contrariarum erkennbar sind. Den erkenntnistheoretischen Wert der Rhetorik zeigen schließlich Fragmente, in denen Papinian die Grenzen seines Wissens auslotet und nur tastend zu einer Lösung einer schwierigen Rechtsfrage gelangt.Footnote 73 Nicht nur für die längeren Textstellen, sondern auch in den „Mikrostrukturen der Argumentation“ bieten die Lehren der antiken Rhetorik, namentlich die Argumentationstheorie, einen Schlüssel zum besseren Verständnis des juristischen Werkes.Footnote 74 Dabei sei betont, dass die rhetorische Lesung der Texte keineswegs im Widerspruch oder in Konkurrenz zu einer rechtsdogmatischen Deutung der Ausführungen steht; vielmehr dient die bei Papinian meist durch Ethos und Pathos erreichte Amplifikation dazu, das rechtliche Argument zu stärken.Footnote 75 Es gibt Anzeichen dafür, dass gerade diese konsequente und in jeder Hinsicht kunstvolle rhetorische Aufführung des Rechts einer der Gründe für den Nachruhm ist, der Papinian seit der Spätantike mehr als jedem anderen Juristen zukam.Footnote 76

Die Lehren der antiken Rhetorik bieten aber nicht nur ein heuristisches Mittel zur Auslegung der römischen Juristenschriften; die u. a. mit den Mitteln der Rhetorik erreichte Reintegration der römischen Rechtsliteratur in die lateinische Literatur der Antike führt auch zur erneuten und mit anderen Vorzeichen versehenen Frage nach dem proprium der (römischen) Rechtswissenschaft.

2.3 Rechtsliteratur als Rechtsproduktion: la ‚littérisation du droit

Eine Antwort auf diese Frage liefert unter anderem das 2018 erschienene Werk Les juristes écrivains von Dario Mantovani. Es erklärt die Besonderheiten der juristischen Literatur zunächst aus dem Paratext im Sinne von Genette. Wie die außerhalb der justinianischen Kodifikation überlieferten Bruchstücke von Juristenschriften auf Pergament oder Papyrus zeigten, gehörte hierzu namentlich das Herausrücken von Abschnittstiteln (Ekthesis), die Vorsehung breiter Ränder in den Kodizes sowie die rote Rubrizierung von Titeln. All diese Besonderheiten seien bereits den Zeitgenossen bekannt gewesen, die von libri rubricati sprachen. Neben dieser äußerlichen Kennzeichnung arbeitet Mantovani auch die Entstehungsbedingungen der juristischen Literatur in Rom heraus. Er sieht es als entscheidend an, dass die Jurisprudenz – anders als Philosophie, Rhetorik, Architektur oder Medizin – nicht auf griechischem Bestand aufbauen konnte, sondern von den römischen Juristen ohne Vorbild geschaffen werden musste. So entstehe das römische Recht in der literarischen Darstellung und generationenübergreifenden Verarbeitung der Rechtsansichten. Konsequenterweise charakterisiert er die Juristenschriften als Instrumente der „Literarisierung“ (littérarisation) des römischen Rechts: Die römischen Juristen berichteten nicht nur über den Stand des Rechts, sondern beteiligten sich durch ihre schriftliche Teilnahme am Rechtsdialog an der „production même du droit“.Footnote 77 Die in der Forschungsgeschichte häufig diskutierte Abgrenzungsfrage zur Philosophie behandelt Mantovani im Sinne von Yan Thomas: Die Juristen nähmen Anleihen in der Philosophie, die sie in angepasster Form in ihre juristische Argumentation überführten („emprunts-transformation“),Footnote 78 wodurch sich der Charakter des Argumentes verändere;Footnote 79 ähnliches gelte auch für die Geschichtsschreibung, die den Juristen dazu diene, rechtliche Regeln, Definitionen oder Vorgaben aus einem gewissen sozialen Kontext oder einer bestimmten historischen Situation zu erklären oder abzuleiten. Diese Ätiologie betone die Prozesshaftigkeit, die dauernde Entwicklung des Rechts; sie verfolge den Zweck, den erreichten Entwicklungsstand verständlich zu machen; gleichzeitig habe die Berufung auf das Hergebrachte autoritative Kraft und verleihe der eigenen Argumentation – sofern sie diesem Vorbild folgt – größeres Gewicht.Footnote 80 Die Bedeutung der Rhetorik, die Mantovani bezeichnenderweise nicht als eigenes Kapitel untersucht, sieht er vorrangig in den Möglichkeiten, die sie zur Aufbereitung des Rechtsstoffes bietet.Footnote 81 Das Paradebeispiel hierfür bilden auch für ihn die schon von Fuhrmann untersuchten institutiones des Gaius, die in Aufbau und Duktus den rhetorischen Unterweisungsbüchern folgen. Im Ergebnis kann Mantovani daher zeigen, dass die Juristenschriften ohne weiteres nicht nur durch Philosophie und Geschichtsschreibung, sondern auch durch die Rhetorik geprägt waren, wenngleich der von ihnen bearbeitete Gegenstand, das Recht, als eigenständig anzusehen sei.Footnote 82

Mit dieser nuancierten Bewertung der römischen Rechtsliteratur in ihrem historischen Kontext bleibt die juristische Technizität und die Eigenart des Rechts als Disziplin erhalten; gleichzeitig eröffnet sich die Möglichkeit, die überlieferten Rechtstexte nicht nur nach werkindividuellen Besonderheiten zu befragen, sondern auch die vom jeweiligen Text verfolgte persuasive Strategie im Rechtsdiskurs zu beleuchten. Die antike Rhetorik bildet in dieser Hinsicht eine zeitangemessene Heuristik, die den Wert des rechtlichen Arguments nicht in Frage stellt, sondern verdeutlicht.

3 Schlussfolgerungen

Nach dieser historiographischen Skizze lässt sich daher festhalten, dass die noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Skepsis der Forschung zum römischen Recht gegenüber der Rhetorik einer nuancierteren Sichtweise gewichen ist. Für die Berücksichtigung der antiken Rhetorik auch bei Analyse der römischen Rechtsquellen lässt sich insbesondere anführen, dass die antike Rhetorik in allen Wissens- und Machtbereichen der römischen Kaiserzeit wirksam war und in Rom genetisch enge Bindungen zwischen Gerichtsrhetorik und Rechtswissenschaft bestehen.Footnote 83 Daher ist der Einbezug rhetorischer Lehren in die juristische Romanistik auch ein Gebot der angemessenen historischen Kontextualisierung.

Mit diesem stärker historischen Verständnis des römischen Rechts lassen sich den Juristenschriften neue und weitergehende Informationen entnehmen. Hierzu gehören namentlich die Rolle der Persuasion im rechtlichen Diskurs und die Frage nach den Adressaten der Juristenschriften. Vor allem aber stellt sich die Frage nach dem römischen Rechtsbegriff, der offenbar nicht dem modernen rechtsstaatlichen Geltungsanspruch entspricht.Footnote 84 Dieter Nörr sah im Recht eine „agonale Masse“, um welche die Juristen gerangen hätten;Footnote 85 Michel Villey deutete das Recht als „Tugend“ (vertu), die von allen Rechtssetzenden und in jeder Rechtsentscheidung zu beachten sei;Footnote 86 Tomasz Giaro betonte die Empirie der römischen Jurisprudenz und ordnete die juristische Entscheidungsfindung als Wahrheitssuche ein.Footnote 87 All diese Deutungen stimmen darin überein, dass das römische Recht ohne Vermittlung durch die römische Jurisprudenz nicht vorstellbar ist: Erst die im Diskurs der Experten erreichte Einigung auf bestimmte Prinzipien, Lösungen und Meinungen erlaubte es, Ordnung und Folgerichtigkeit in das Rechtsmaterial zu bringen; zudem musste das in der Kaiserzeit vor allem durch imperiale Rechtssetzung ständig hinzutretende Material nachvollziehbar und von der Mehrheit der Juristen getragen in den bestehenden Rechtsstoff integriert werden; die Lehren der antiken Rhetorik, die sich eben nicht auf Stillehren und Hinweise zum decorum beschränken, waren für diesen Rationalisierungsprozess bestens geeignet.

Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass das römische Recht von der Rhetorik abhängig gewesen wäre oder durch sie umgestaltet worden wäre, wie Stroux und andere glaubten. Die Lehren der antiken Rhetorik sind keine inhaltlichen Vorgaben, sondern Anleitungen zur Darstellung des Rechtsstoffes und zur Argumentation gegenüber den rechtlichen Fachgenossen im Rahmen einer auf Persuasion angelegten Rechtswissenschaft.