Um die Beziehung der Rhetorik zum Recht geht es in diesem Abriss aus dem Gesichtspunkt der Fürsprache oder des advokatorischen Sprechens. An der so in den Blick kommenden Stelle hängen in der Tradition Europas Institution und Sprechform, Einzelheiten der sprachlichen Verfahren und übergreifende Zielsetzungen der Redekunst im Ansatz aneinander.Footnote 1 In einem problemgeschichtlichen Sinne werden zunächst zwei Typen von Sprechsituationen einander gegenübergestellt, von denen die rhetorische Sprechsituation die eine ist (Teil 1). Auf dieser Grundlage lässt sich dann die Frage nach einer Geschichte der Rhetorik aufwerfen, die im Wechsel der beiden Typen ihre Ausgangsbedingung hat (Teil 2).

1 Zwei Sprechsituationen

Den einen der beiden Typen von Sprechsituationen kann man die ‚rhetorische Sprechsituation‘ nennen. Von einer ‚rhetorischen Situation‘ hatte bereits der große Rhetorikhistoriker George Kennedy in einem wegweisenden Aufsatz von 1968, „The Rhetoric of Advocacy in Greece and Rome“, gesprochen.Footnote 2 Kennedy meinte damit die Lage des anwaltlichen Redners, so wie sie durch Verfahrensregeln und Rechtspraxis in der griechischen Polis und später in Rom geprägt war. Er fragte nach den rechtlichen Voraussetzungen der ‚rhetorischen Situation‘, in der ein rechtserfahrener Redner sich der Sache des Klägers oder des Angeklagten annimmt. Und er untersuchte, wie diese Situation sich in Reden spiegelt und in Lehrschriften besprochen wird. An Kennedys wegweisenden Aufsatz angelehnt, aber mit weiterer Reichweite ist unter ‚rhetorischer Sprechsituation‘ hier die Struktur der kommunikativen Beziehung verstanden, die sich in der anwaltlichen Rede zum Ausdruck bringt. Wenn man sich die Bedeutung klarmacht, die die antike Rhetorik (und später die rhetorische Poetik) für das Lesen und Schreiben in der westlichen Kultur gehabt hat, dann ist es plausibel anzunehmen, dass diese ‚rhetorische Sprechsituation‘ über das Recht hinaus viele Jahrhunderte eine modellhafte Funktion für die (formal geregelte) mündliche und schriftliche Interaktion gehabt hat.Footnote 3

In diesem historisch und sachlich erweiterten Sinne lässt sich die ‚rhetorische Sprechsituation‘ als Alternativform zur neuzeitlichen Verfassung von Kommunikation verstehen, so wie John Durham Peters sie zum Beispiel in seinem Buch Speaking into the Air: A History of the Idea of Communication beschrieben hat.Footnote 4 Beispielhaft und prägend für den Typus des neuzeitlichen Kommunikationsmodells ist in Hinsicht auf seine formale Verfassung George Herbert Mead mit seiner Sozial- und Kommunikationstheorie gewesen. Kommunikation ist bei Mead die formgebende Praxis gesellschaftlicher Beziehung schlechthin. Das Buch Mind, Self, and Society, postum kompiliert und 1934 von Charles Morris herausgegeben,Footnote 5 steht mit dieser Analyse wie ein Relais zwischen den großen kultur- und sozialtheoretischen Beschreibungen von Charles Darwin, Herbert Spencer und Wilhelm Wundt im 19. Jahrhundert und den interaktionistischen Sozialtheorien von Max Weber und Talcott Parsons bis zu Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Chancen und mögliche Fehlentwicklungen im Prozess der Vergesellschaftung ergeben sich bei Mead in grundlegender Weise aus der Beziehung zwischen dem Einen und dem Anderen. Die Beziehung zwischen ‚the Self and the Other‘ ist eine des Handelns, das sprachliche oder sprachanaloge Bestandteile nach Mead notwendigerweise einschließt. Diese Sprechsituation ist, erstens, grundlegend zweistellig (‚Ich und der Andere‘) und sie gibt, zweitens, beiden Seiten (‚Mir und dem Anderen‘) aus der inneren Dynamik der Beziehung heraus jeweils erst die formale Identität – „form“ – als Teilnehmer in der Kommunikation. Kommunikation ist auf diese Weise zugleich Voraussetzung und Ziel dessen, was Mead als die innere Utopie der zweistelligen Beziehung auffasst: die Utopie der democratic society, wie er sie in den zehner und zwanziger Jahren in programmatischer Absicht formuliert. Durch seine konstitutive Beziehung zum Anderen hängt das Selbst der ersten Person von der Instanz der Gesellschaft ab. Diese letztlich formgebende Instanz besteht, logisch verstanden, in der Möglichkeit der Beziehung zwischen ‚Mir und dem Anderen‘. Die Akte, in denen sich die Beziehung zwischen mir und dem anderen vollzieht, arbeiten gleichzeitig aber auch an der zunehmenden sozialen Kohärenz, das heißt an der materialen Entwicklung der Gesellschaft und ihrer sozialen Formen mit.Footnote 6

Was Meads Theorie der Kommunikation im vorliegenden Zusammenhang besonders bedeutsam macht, ist die bei ihm noch ganz sichtbare, über Wundt vermittelte Begründung von Kommunikation aus dem gestisch-sprachlichen Austausch. Zu denken ist dabei vor allem an gegenseitige Affektion durch Ausdrucksbewegungen und Sprachfiguren, wie man sie aus der rhetorischen Tradition kennt. Diese Anknüpfung wird die Gegenüberstellung von Meads Theorie der Kommunikation mit der ‚rhetorischen Sprechsituation‘ im Folgenden erleichtern. Einschlägig für den in Frage stehenden theoretischen Komplex ist bei Mead der Begriff des ‚Gestus‘. Zum ‚Gestus‘ wird die körperliche oder verbale Äußerung des Einen dann, wenn sie mit ähnlicher Bedeutung vom Anderen zurückgespielt und in dieser Bedeutung von beiden aufgefasst werden kann. Damit erweist sie sich als die immer wieder weiter ausbaufähige Voraussetzung ihrer kommunikativen Beziehung und darin als die von Gesellschaft überhaupt. Wundt hat genauer von einem Parallelismus des Gestus gesprochen: Was Darwin zufolge eine unmittelbare Ausdrucksäußerung ist, wird parallel zu der physiologischen und biologischen Bewegung nun auch als Bedeutung wahrgenommen. In dieser Verdopplung von körperlicher Bewegung und Bedeutung begründet der ‚Gestus‘ die Möglichkeit, dass der Eine im gespiegelten Gestus des Anderen den Vollzug einer sozialen Handlung sieht.Footnote 7 Mead begründet in der weiteren Argumentation den gestischen Parallelismus systematisch in der Theorie der Kommunikation. Der ‚Gestus‘ – war gesagt worden – produziert nach Mead einerseits die Sphäre der Gegenseitigkeit. Andererseits muss diese Sphäre aber schon da sein, damit die körperliche Bewegung bzw. die Sprachfigur ein Gestus überhaupt sein (das heißt werden) kann. Affizieren setzt eine Sphäre der Affizierbarkeit voraus und bringt sie gleichzeitig hervor. Diese, wie man sagen könnte: dialektische Struktur ist gerade das, was bei Mead Kommunikation meint.

An dieser Stelle wird nun deutlich – das jedenfalls ist hier die These –, dass sich die ‚rhetorische Sprechsituation‘ als ein zur neuzeitlichen Kommunikation alternatives Modell auffassen lässt. Sie lässt sich mit anderen Worten als eine andere Lösung desselben Problems sehen. Die ‚rhetorische Situation‘ der Advokatur in Antike und früher Neuzeit war dabei allerdings die Beziehung nicht zwischen zwei, sondern drei Personen: dem anwaltlichen Redner (1); dem Klienten, für den (in dessen Namen) er spricht (2); und dem Richter, zu dem er spricht (3). Affizierung und eine Sphäre der Affizierbarkeit sind in der westlichen Kulturgeschichte traditional durch dieses Dreieck von Redner, Klient und Richter ausgearbeitet und für die allgemeine soziale Semantik zur Verfügung gestellt worden.Footnote 8

George Kennedy hat in seiner Arbeit über die ‚rhetorische Situation‘ die Voraussetzungen dafür bündig benannt. Die wichtigste ist, dass im Prozess eine Rede im Namen von Kläger und Beklagtem vorgesehen ist, die der Redner zugleich aber auch im eigenen Namen an die Richter adressiert. Diese doppelte Stellung der Rede im Prozess macht sie zur advokatorischen. Das ist typisch für die Lage in Rom. In Athen war der Normalfall der, dass Klagende und Beklagte selbst sprechen. Oftmals lassen sie sich ihre Reden von anderen schreiben (Logographen), aber das ändert die grundlegende Situation nicht. Es ist ihnen gestattet, im Rahmen ihrer Rede Rechtsbeistände zu Hilfe zu rufen und ihnen zeitweise das Wort zu überlassen. Sie müssen vertreten werden nur dann, wenn sie – weil sie Frauen sind, Kinder oder Sklaven – nicht für sich sprechen können oder dürfen. Das sind wichtige Varianten der ‚rhetorischen Situation‘, die aber an der Grundform nichts ändern. Demgegenüber ist in Rom der Auftritt des advokatorischen Redners anstelle der Partei gerade die Regel und von der Rechtsberatung, der Vertretung in rechtstechnischen Fragen u. ä. zu unterscheiden.Footnote 9 Kläger und Angeklagte sind vor Gericht zwar anwesend und können vor den Richtern auftreten und sich äußern, aber in der Regel halten sie nicht die an die Richter adressierte Rede. Prinzipiell haben sie im Verfahren die Stelle der sogenannten kunstlosen Beweisstücke: Der Redner kann sie vorzeigen und auf sie hindeuten, so wie er es mit dem blutigen Schwert oder den Bildern von beteiligten Personen tun kann. Das gibt in der römischen Ordnung der Dinge der advokatorischen Rede ihre Stellung im Prozess und zeichnet sie als kommunikatives Ereignis aus.

Der advokatorische Redner heißt bei Cicero darum auch nicht nur orator, sondern auch patronus.Footnote 10 Darin kommt zum Ausdruck, dass sich im römischen Prozess Rechtsform und Sozialform überschneiden. Es gehört zur im engeren Sinn sozialen Verpflichtung des patronus, dass er den Schutzbefohlenen nicht nur politischen, sondern auch rechtlichen Schutz gewährt.Footnote 11 So, kann man sagen, verlängert sich der soziale Typus in die Rechtsform hinein. Andererseits gibt die Rolle eines Schutzherrn den advokatorischen Rednern in Rom ihre Stellung im Prozess, auch wenn sie meistens nicht Patrone ihrer Klienten im politischen und sozialen Sinne sind. Auf diese Weise prägt die Funktion, die der Redner im Prozess hat, sich in einer gleichsam gesellschaftlichen Rolle aus, die er dem Klienten gegenüber einnimmt. Diese beiden Seiten der advokatorischen Position machen zusammen die anwaltliche Rede in dem nachdrücklichen Sinn, in dem die Bezeichnung hier verwendet wird, zur Fürsprache. Fürsprache ist die Rede für einen anderen (den Klienten), vor dem Anderen (dem Richter).Footnote 12

Nun ist es keine unerhebliche Frage, wo und wie der Sachverhalt der ‚rhetorischen Situation‘ im Selbstverständnis der Rhetorik zum Ausdruck kommt. Denn nur auf Grund einer solchen Selbstbeschreibung kann man behaupten, dass die ‚rhetorische Sprechsituation‘ die traditionale Alternative zum neuzeitlichen Sinn von Kommunikation gewesen ist. George Kennedy hat sich – um seine grundlegende Arbeit zur ‚rhetorischen Situation‘ noch einmal heranzuziehen – weitgehend auf das Corpus der erhaltenen Reden gestützt und ermittelt, wo die Situation der Advokatur in ihnen eine merkliche Rolle spielt. Bei den römischen Rednern, die bei der Frage nach der Advokatur natürlich im Vordergrund stehen, kann Kennedy eindrucksvoll Spuren der Sprechsituationen aufzeigen. Cicero spielt in einer Reihe von Fällen offen mit der Position als Fürsprecher: Er inszeniert sich einmal als selbst mit betroffen, oder er hebt in anderen Fällen umgekehrt hervor, dass er als Person von dem, worum es geht, gänzlich unbetroffen sei. Beides kann dazu dienen, Besonderheiten an dem Fall herauszuarbeiten oder die Dringlichkeit einer Verteidigung oder einer Anklage wirkungsvoll klarzumachen.Footnote 13

Trotz solcher indirekten Züge, aus denen man die advokatorische Situation herauslesen kann, bezeichnen die Reden die Situation der Fürsprache aber nicht ausdrücklich. Das ist auffallenderweise gerade auch in den Lehrbüchern und theoretischen Werken nicht der Fall. Und darum findet Kennedy auch in der römischen Rhetoriktheorie keine ausdrückliche Formulierung der ‚rhetorischen Situation‘. Sicherlich gestaltet Cicero in De Oratore mit der Dialogfigur des Antonius einen Charakter, der mit großer Anschaulichkeit den Auftritt des sozialen Patrons im Gericht verkörpert. Auch als Orator bleibt Antonius immer der große Herr, der sich um die ihm Anvertrauten – das heißt die von ihm Abhängigen – sorgt. So großartig diese Charakterzeichnung in De Oratore auch ist, gibt sie dennoch keine theoretische Formel für Fürsprache an. Sie ist höchstens der Reflex einer solchen implizit bleibenden Formel. Kennedy findet Spurenelemente dieser indirekten Art durchaus auch noch in Quintilians Institutio oratoria, die sich von der gerichtlichen und gesellschaftlichen Praxis viel weiter entfernt, als Ciceros rhetorische Schriften es tun. Kennedy weist darauf hin, dass Quintilian als Person vor Gericht zusätzlich zu Kläger, Beschuldigtem und Richter die eigene Rolle eines actor causae aufführt und davon spricht, dass diese Rolle bisher in der rhetorischen Literatur übersehen worden sei. In diesem etwas dunkel bleibenden Hinweis vermutet Kennedy wohl zu Recht eine eigene Rollendefinition des advokatorischen Redners.Footnote 14 Aber auch das ist nur ein weiterer Hinweis auf die ‚rhetorische Situation‘ selbst. Deutlicher ist der Bezug zur Figur des fürsprechenden Redners vielleicht, wenn Quintilian im selben Kapitel vom Orator sagt: „gelegentlich wird sich der Anwalt stellen, als sei auch er erregt, wie es Cicero in der Rede für Rabirius tut“.Footnote 15 Diese Seitenbemerkung weist, kann man argumentieren, auf die deutlichste Theoretisierung der ‚rhetorischen Situation‘ als einer Sprechsituation voraus, die es in der Institutio oratoria und in der römischen Literatur überhaupt gibt: auf eine Passage, die eine nicht zu überschätzende Wirkung in Rhetorik und Poetik und darüber hinaus im westlichen Literatur- und Kommunikationsverständnis gehabt hat. Diese Passage ist zwar weit ausführlicher als die kurze Seitenbemerkung. Aber auch sie versteckt ihre theoretische Bedeutung in ähnlicher Weise wie die von Kennedy angeführte Stelle.

Dass die Theorie der Fürsprache nur gelegentlich und indirekt zu Tage tritt, ist nicht verwunderlich. Rhetorik ist techne im antiken Sinne, nicht theoria oder Wissenschaft.Footnote 16 Die Grundlagen – man könnte sagen: das Betriebsgeheimnis – der Technik bzw. Kunst will sie nicht aussprechen und kann sie nicht aussprechen. Wo und wie deutet nun Quintilian doch auf das Betriebsgeheimnis der techne hin? Der kurze Hinweis auf Ciceros Erregung in der Rabirius-Rede findet sich in Buch IV der Institutio oratoria im Zusammenhang von Quintilians Erörterung des Proömiums: Der advokatorische Redner tue zu Beginn seiner Rede gut daran, sich als Instanz der Rede, die er für einen anderen vor dem Anderen hält, zur Geltung zu bringen. Die ausführlichere Stelle, auf die es hier ankommt, folgt im Buch VI über den Schluss der Rede. In der peroratio geht es nicht mehr um die Selbstvorstellung des Redners, sondern um die finale Affizierung der Hörer. Die Formel der Selbstaffektion, die Quintilian hier vorträgt, lautet: „Das erste ist es also, daß bei uns selbst die Regungen stark sind, die bei dem Richter stark sein sollen, und wir uns selbst ergreifen lassen, eher wir Ergriffenheit zu erregen versuchen“.Footnote 17 Das Geheimnis der Kunst, Affekte zu erregen, sei es ‚ut moveamur ipsi‘ (das Genus des Verbs ist hier als Medium, nicht als Passiv zu verstehen). Die Affekte, die der Redner selbst empfinden soll, sind am Ende die, die er beim Richter erregen will. Es sind aber zunächst einmal auch diejenigen, die er in sich erregt, indem er sich dem Affekt, der die Geschehnisse des Falls begleitet, aussetzt. „Ich habe Klage zu führen, ein Mann sei erschlagen. Kann ich da nicht all das, was dabei, als es wirklich geschah, vermutlich vorgefallen ist, vor Augen haben?“.Footnote 18 Die Selbsterregung der Fürsprache besteht darin, sich im Blick auf den zu affizierenden Richter dem mit dem Klienten verknüpften Affektgeschehen auszusetzen. Für den andern vor dem Andern zu sprechen, ist die Strukturformel der Affekterregung durch Selbsterregung. Die Mittel der Rhetorik – vor allem die Hervorbringung der Tropen und Figuren – üben ihre Wirkung im Rahmen und nach Maßgabe der Selbsterregung aus, die als evidentia des Vor-Augen-Stellens des Affekts bereits selbst eine wichtige rhetorische Figur ist.Footnote 19

Dieser momentlang gewährte Einblick in die Funktionsweise der rhetorischen Sprechsituation ist nun mit der ausgearbeiteten Kommunikationstheorie eines George Herbert Mead vergleichbar – und sie ist grundverschieden von ihr. In beiden Fällen sind der Prozess der gegenseitigen Affizierung und die Sphäre der Affizierbarkeit eng aufeinander bezogen. Was zwischen Ego und Alter bei Mead zwischen zwei Stellen ausgemacht wird, teilt sich in Quintilians Formel auf eine sprechende Instanz und zwei unterschiedliche ‚andere‘ auf: den anderen, für, und den Anderen, zu dem zu sprechen ist. Während Mead einen dialektischen Prozess annehmen muss, in dem sich die beiden Stellen ‚Selbst‘ und ‚der Andere‘ gleichzeitig mit der Beziehung zwischen ihnen herstellen, ist das Theorem der Selbstaffektion in der Rhetorik hinterlegt mit der sozialen und rechtlichen Beziehung zwischen dem Patron, dem Klienten und der Institution des Gerichts. Die analytischen Möglichkeiten, die die ‚rhetorische Sprechsituation‘ bietet, liegen vor allem in der Aufspreizung der Beziehung zum anderen einerseits und zum Anderen andererseits. Mit dem anderen – dem Klienten – hat der Redner eine Beziehung des Austauschs unterhalten und wird sie wieder unterhalten. Im Augenblick der Rede spricht er aber nicht zu ihm. Er spricht von ihm, für ihn und ähnelt sich ihm im Moment der Selbstaffektion an. Dieser andere ist eine zweite Person der Vergangenheit und der Zukunft. Im Moment der Rede ist sie eine dritte Person, ja eigentlich eher eine rechtliche Bezugsfigur als überhaupt eine Person. Dagegen hat der Redner zum Anderen – zum Richter – keine näher bestimmte Beziehung vor und nach der Rede. Jedenfalls ist jede mögliche Beziehung vorher und nachher anderer Art als diejenige während der Rede. Der Andere ist ganz konzentriert auf diese zweite Person, an die im Augenblick die Rede zu richten ist. Sie ist Adressat, Entscheider in der Sache und Herr der Situation überhaupt. Der Andere ist die aktuelle zweite Person, die aber außerhalb dieser Aktualität eine dritte Person oder eigentlich gar keine Person, sondern eine Instanz des Rechts (bzw. der staatlichen Ordnung) ist. In dieser Differenzierung zwischen einer Bezugsfigur im Moment der Rede, die eine zweite Person im zeitlichen Horizont außerhalb der Sprechsituation ist, und der zweiten Person im Moment der Rede, die ansonsten eine Instanz der Institution ist, liegt die Chance, ohne Paradoxien zu beschreiben, was Kommunikation aus der Sicht der ersten Person ausmacht.Footnote 20

Die Formel der traditionalen Rhetorik hat den Vorteil der Transparenz. Sie kommt ohne die undurchsichtige Dialektik des kommunikativen Prozesses bei Mead aus. Deren Problematik lässt sich über Parsons bis hin zu Luhmanns notorischer ‚doppelter Kontingenz‘ verfolgen.Footnote 21 Man kann darum die Theorie der Fürsprache zur kritischen Analyse des neuzeitlichen, dualen Kommunikationsverständnisses einsetzen. Andererseits ist der Fürsprache ihre hierarchische und autoritäre Herkunft – die Herkunft aus der Sozialbeziehung des Patronats – deutlich anzusehen. Ein Versprechen auf Demokratie, wie es Meads postumes Werk im Jahr 1934 für die Zukunft aus dem kommunikativen Prozess heraus entwickelte, stellt die Fürsprache der Rhetorik zunächst einmal nicht in Aussicht.

Die wichtige Diskussion, die hier zu führen wäre und die seit mehreren Jahrzehnten geführt worden ist, lässt sich in dieser Skizze nur andeuten. Sie bietet die Möglichkeit und hätte die Aufgabe, die historisch gesehen vormoderne Alternative zur zweistelligen Kommunikation und ihrem Demokratieversprechen typologisch zum Verständnis feinmaschiger und flexibler Beziehungsnetze in einem erneuerten Sinn demokratischen Austauschs fortzuentwickeln. Der erste Kristallisationspunkt einer neuen, nun entschieden politischen Debatte über die Fürsprache ist ein 1972 veröffentlichter Dialog zwischen Gilles Deleuze und Michel Foucault gewesen.Footnote 22 Deleuze hatte den Ausdruck ‚pourparler‘ zu einem halbwegs theoretischen Begriff entwickelt (es bleibt dabei aber festzuhalten, dass französisch pourparler ‚Besprechung‘ und ‚Unterhandlung‘ bedeutet). Dennoch geht es in dem Gespräch der Philosophen um eine besondere Wendung der Fürsprache: Hat der Intellektuelle eine advokatorische Aufgabe gegenüber den Machtlosen in der Gesellschaft? Auf der Oberfläche lehnen beide ein Sprechen-für-Andere ab, aber sie eröffnen darunter beide auch wieder neue Arten der Fürsprache. Für Foucault ist die Genealogie des von ihm so genannten ‚Wahrsprechens‘ – eine immer nur auf eigene Gefahr in Anspruch genommene Aufgabe – einschlägig. Deleuze entwickelt die Idee eines nie stillgestellten, immer zum Wechsel bereiten Verhältnisses der Aushandlung zwischen Wissenschaften, wobei jeweils eine Seite einen Moment lang für die andere eintreten kann: die humanities für die sciences, die sciences für die humanities, die Kunst für die Wissenschaft und die Wissenschaft für die Kunst. In einem einflussreichen Essay hat Gayatri Chakravorty Spivak 1988 darauf geantwortet.Footnote 23 Sie wirft den Philosophen vor, dass sie mit ihrer politischen Ablehnung der advocacy von einer innerwestlichen Sicht ausgehen, in der Teilhabe an der agency für alle Gesellschaftsmitglieder jedenfalls formal schon gegeben erscheint. Von der Perspektive einer postkolonialen Kritik des globalen Kapitalismus aus fordert Spivak, die Advokatur als Strukturtatsache von Vergesellschaftung überhaupt und von Klassengesellschaften im globalen Zusammenhang im Besonderen zu erkennen und als Ausgangspunkt für Theorie und politische Handlungskonzepte zu entwickeln. Man kann Spivaks Einspruch annehmen, aber Foucaults und Deleuzes Überlegungen als Anregungen gerade auch in ihrem Sinne aufnehmen. Eine neue, analytische und strategische, Theorie der Fürsprache müsste danach die stabile Hierarchie der traditionalen Patronage auflösen und Fürsprachen als Projekte mit wechselnden Besetzungen und zu vorübergehenden Sachthemen verstehen lernen.Footnote 24

2 Sprechsituation und Möglichkeit einer Geschichte der Rhetorik

Im zweiten Teil dieser Skizze soll zunächst an einem markanten Beispiel gezeigt werden, wie sich Neubestimmungen der Sprechsituation in der frühen Neuzeit für das Verständnis einer Geschichte der Rhetorik auffinden und rekonstruieren lassen. Den Abschluss bilden dann ausgewählte Hinweise auf entsprechende Umschaltmomente in der deutschsprachigen Literatur der romantischen und klassizistischen Zeit.

Wenn die Umdeutung der Sprechsituation am Leviathan von Thomas Hobbes exemplifiziert wird, dann folgt die Wahl derjenigen Sicht auf diesen Autor und dieses Werk, die Quentin Skinner und seine Schule eröffnet haben.Footnote 25 Ihren Untersuchungen zufolge ist der Leviathan, den wir heute als einen der bedeutendsten Texte zur politischen Theorie in der Neuzeit sehen, zunächst Fortschreibung und Umschrift der antiken Rhetorik, und zwar im Besonderen der römischen Rhetorik. Für Skinner und seine Nachfolger standen dabei im Vordergrund die bei Cicero und Quintilian entwickelten Ideale der politischen Kultur und insbesondere der Ausbildung und der Ethik der politischen Elite. Ihrer Interpretation soll hier nun die Frage der rhetorischen Sprechsituation und der Kommunikationsmodellierung hinzugefügt werden. Damit kommt man dann auch wieder stärker auf rechtsgeschichtliche Aspekte zurück als das bei Skinner der Fall war, dem es eher um die Geschichte der Mentalität politischer Eliten in ihrer Selbstbeschreibung ging.

Die Einsatzstelle für eine Beobachtung des Umbaus am Kommunikationsmodell des Leviathan ist das Kapitel I. 16, „Von Personen, Autoren und der Vertretung der Dinge“ („Of Persons, Authors, and Things Personated“).Footnote 26 Es steht am Ende des ersten Teils des Leviathan – „Vom Menschen“ – und leitet zum zweiten Teil – „Vom Staat“über. Um George Herbert Meads Fragen hier noch einmal aufzunehmen, könnte man sagen: Dieses Kapitel bildet das Relais zwischen „Dem Menschen“ und „Dem Staat“. Vom Menschen, d. h. von seinem Körper und dessen mentalistischen Antriebsmomenten herkommend, zeichnet Hobbes an dieser Stelle ein Selbst, das als solches von der sozialen Gemeinschaft anerkannt ist, um von da aus zum Aufbau des Staates überzugehen. Person ist einerseits der Mensch im Licht des Staates, insofern man darunter das Individuum versteht: einen der vielen, die den Staat ausmachen. Person ist andererseits aber im nachdrücklichen Sinne auch schon die eine repräsentierende Person des Souveräns, in der sich der Staat in seiner Einheit darstellt und begründet.

Das Kapitel von der Person beginnt mit der Unterscheidung zwischen dem, was Hobbes die natürliche, und dem, was er die künstliche Person nennt. Natürliche Person ist die, deren Worte als eigene (‚own‘) angesehen werden. Der künstlichen Person ist es dagegen aufgegeben, mit ihren Worten und Handlungen für andere aufzutreten bzw. einzutreten (‚represent‘). Der erste Zugang zur Person erfolgt dabei über die Etymologie des Wortes ‚persona‘ und eine kleine, mit der Etymologie verbundene Kulturgeschichte – eine gewohnte Verfahrensweise der humanistischen Topik, derer sich Hobbes im Leviathan immer wieder bedient (topos a nomine). ‚Persona‘ meint, sagt Hobbes im Einklang mit der alten Worterklärung, ursprünglich ‚Maske‘. Damit ist zunächst die Verbindung zum Schauspieler gegeben. In den Worten, die er auf der Bühne sagt, und mit den Handlungen, die er auf der Bühne vollzieht, macht er vor dem Publikum die dramatis persona vorstellig, die von Affekten angetrieben in einem dramatischen Handlungszusammenhang agiert. Diese Kunst des personating ist, Hobbes und einer geläufigen antiken Vorstellung zufolge, von der Bühne auf den Redner vor Gericht übertragen worden. Der Redner repräsentiert aber nicht mehr einen anderen in seiner Leidenschaft, sondern er macht sich im eigenen Namen die Affekte eines anderen zu eigen, um so die Richter zu affizieren. Schließlich geschieht Ähnliches, fügt Hobbes dann noch in einem raschen dritten Schritt an, „im gewöhnlichen Verkehr“.Footnote 27 So übersetzt Walter Euchner den frühneuzeitlichen englischen Ausdruck ‚conversation‘, das Wort für den Umgang in der Gesellschaft, womit Rede und Interaktion in einem gemeint sind. Diese ‚conversation‘ ist aber nicht einfach ‚gewöhnlich‘: Sie ist der ‚Verkehr‘ zwischen Einzelnen in dem Sinne, dass sie einen das Verhalten regelnden und ihm Bedeutung gebenden sozialen Rahmen voraussetzt, z. B. die conversation am Hof.Footnote 28 Sie erlaubt bzw. verlangt darum eine rhetorische Behandlung. Der erste, etymologisch-kulturgeschichtliche, Zugang zur Person führt also in einem weitgefassten Sinne zu rhetorischen Praktiken des Redens und Handelns. Sie reichen vom Theater – dem Spiel vor Publikum – bis hin zum sozialen Verkehr – der Interaktion in einem mehr oder weniger geschlossenen Raum –, mit der rhetorischen Sprechsituation der Fürsprache im engeren Sinne in der Mitte – das heißt derjenigen Rede, die für eine außerhalb der Kommunikation befindliche andere vor dem in der Kommunikation stehenden und sie beherrschenden Anderen gehalten wird.

Es scheint, als ob Hobbes über diese kurze Geschichte der Redesituationen die natürliche Person, von der er ausgegangen war, vergessen hätte. In allen drei Fällen (Bühne, Gericht, Konversation) ist die Person nämlich als ‚representer‘ gedacht: als künstliche Person, deren Worte und Handlungen nicht die eigenen sind. Ausdrücklich kehrt jemand, von dessen oder deren eigenen Worten und Handlungen (‚own‘) die Rede ist, erst nach dieser Geschichte der Redesituationen, in einem zweiten Anlauf des Kapitels zur Person zurück. Hobbes kehrt hier die Blickrichtung vom representer um auf diejenige Instanz, die ihn zum representer macht – das heißt auf den, der einen anderen zu Worten und Handlungen beauftragt. Diese Instanz ist nach Hobbes der ‚author‘ – nicht ein literarischer Autor, sondern einer, der die Autorität über die Worte und Handlungen eines anderen ausübt. Mit der Einführung dieses ‚Autors‘ gibt Hobbes nun seine eigentlich neue Definition der Person, die nicht mehr in die traditionale Rhetorik hineinpasst. Der Autor ist eine Figur des Privatrechts, genauer: des Besitzes. „Denn was man bei Gütern und Besitzungen Eigentümer nennt […], das nennt man bei Handlungen Autor“, heißt es bei Hobbes ausdrücklich. „Und wie man das Recht auf Besitz Herrschaft nennt, so nennt man das Recht auf irgendeine Handlung Autorität“.Footnote 29 Damit tritt nun eine ganz andere Beziehung zum Recht in den Mittelpunkt der Sprechsituation, als es beim anwaltlichen Reden der klassischen Rhetorik der Fall gewesen war.

Sicherlich ist nichts Neues am Besitz und seiner Regelung im Recht,Footnote 30 aber ein Eingriff folgenreicher Art durch Hobbes ist die Installation des Besitzrechts in die Person und damit dann auch in die Modellierung der Kommunikation. Dem herkömmlichen rhetorischen Modell der Selbstaffektion folgend war es dort um drei Stellen gegangen: um die Person, die spricht; um die, für die gesprochen wird; und schließlich um die, die als Adressat gemeint ist. Sie stand, wie zu sehen war, in der Mitte der Redesituationen des ‚representer‘. Das Autorschaftsmodell kennt zwar, wenn man so will, weiterhin drei Stellen: den Autor und seinen Vertreter und dann diejenige, zu der der Vertreter sprechen soll. Aber diese drei sind, wie leicht zu erkennen, in Wahrheit zwei ineinander gefügte Duale, zwei Stufen eines Aufbaus von vertragsartigen Situationen zwischen einem Ego und einer Altera.

Es bleibt freilich das Signum des Hobbes’schen Texts hier und an ähnlichen Stellen, dass die Unterschiede der beiden Zugänge – die hier um der rekonstruierenden Analyse willen hervorgehoben worden sind – im Text des Leviathan kaum auffallen. In der vorgeschlagenen Terminologie ausgedrückt: Die rhetorische Sprechsituation und ihre Bestreitung und Ablösung durch das Besitz- und Autorschaftsmodell sind im Text fast bruchlos ineinandergefügt. Auch in dieser Hinsicht ist das Kapitel zur Person ein Schlüsseltext für die Geschichtlichkeit der Rhetorik. Es führt einerseits wichtige Umbauten an der rhetorischen Sprechsituation durch und öffnet damit die Rhetorik auf die Geschichte ihrer Veränderbarkeit hin. Beispielhaft ist zum anderen aber auch, wie das geschieht: Der Besitz an den eigenen Worten und Handlungen verschiebt in Hobbes‘ Text zwar den Akzent gegenüber der traditionalen Rhetorik und definiert ein neues Zentrum für das Verständnis von Kommunikation. Das vollzieht sich aber, ohne dass Rhetorik aufhörte zu existieren und ohne dass die Figur des Autors, der Stellvertreter bestellt, an sich eine neue Rechtsfigur wäre. Die Art von Geschichtlichkeit, die damit ins Spiel kommt, ist die eines Wechsels von Funktionen und Dominanzen, nicht die eines kompakten Endens oder Anfangens und nicht einmal die von neuen Begrifflichkeiten.

Die Interpretation des Personenkapitels, die in ihm den Umbau der rhetorischen Sprechsituation hin zu einem privatrechtlichen Modell der Kommunikation rekonstruiert, muss durch weitere Argumente aus anderen Kapiteln des Leviathan gestützt werden. Hier sollen nur zwei Argumente und nur in Stichworten angeführt werden. Der erste Hinweis bezieht sich darauf, dass Hobbes im Leviathan tatsächlich eine deutliche Kritik an der Rhetorik formuliert und zwar besonders an der Affekterregung durch Rhetorik. Dafür einschlägig ist im zweiten Teil des Leviathan – „Vom Staat“das 25. Kapitel zur Ratgebung („Of Counsell“; besser als diese etwas irreführende Übersetzung wäre: Kapitel zur Aufforderung, ‚Tu dies und nicht das‘). Anders als im Personen-Kapitel handelt es sich hier nicht mehr um die Frage, wie Worte und Handlungen einzelner überhaupt in das Licht einer von vielen geteilten Anerkennung treten können. Im 25. Kapitel befinden wir uns bereits im Innern des Staates, wo Redende und Handelnde von vornherein Funktionsträger sind. Zuerst erörtert Hobbes die sprachlichen Formen von Command und Counsell, die beispielhaft dem Souverän und seinem Berater zugeordnet sind. Die Legitimation bzw. die Garantie des Gelingens von Befehl und Rat liegt für Hobbes offenbar darin, dass in beiden Fällen das Cui bono? eindeutig auf eine von zwei Kommunikationspositionen zu beziehen ist. Wenn der Souverän befiehlt, spricht und handelt der, der spricht, im eigenen Namen und im eigenen Interesse. Wenn der Berater rät, spricht und handelt dagegen derjenige, der spricht, im Interesse und im Namen dessen, zu dem er spricht: das heißt im Namen des Souveräns. In einer dualen Sprechsituation sind das für Hobbes offenkundig die beiden gelingenden Optionen: Sprechen und Handeln im Namen des Sprechers (des einen) oder des Adressaten (des anderen). Die unheilvolle Vermischung von beidem sieht Hobbes dagegen im Ermahnen und Warnen, exhortation und dehortation. Der Mahnende und der Warnende sprechen im eigenen Namen und im eigenen Interesse, wenn sie das Handeln der Gemahnten und Gewarnten zu beeinflussen versuchen. Diese Redesituation, die offenbar das klassische rhetorische genus der politischen Rede (genus deliberativum) in Erinnerung bringt, vermischt dieser Diagnose nach Ego and Alter. Ego spricht nach Maßgabe seiner Sicht, als ginge es ihm um Alter. Dabei geht es ihm aber um diffus andere, seine eigenen Interessen oder die ungenannter Dritter. Diese Vermischung ist aus Hobbes’ Sicht das Einfallstor der alten Rhetorik, das heißt für Überredung durch Affektivität: Mahner und Warner berücksichtigen „in ihren Reden bei der Darlegung ihrer Gründe die üblichen menschlichen Leidenschaften und Meinungen und verwenden Gleichnisse, Metaphern, Beispiele und andere Rednerkünste, um ihre Hörer davon zu überzeugen, wie nützlich, ehrenhaft oder gerecht die Befolgung ihres Rats sei“.Footnote 31 Die traditionale rhetorische Sprechsituation ist, unter dualer Optik, eine einzige Vermengung der Zurechnungsmöglichkeiten zu Ego oder Alter, und darum ist sie aus dieser Sichtweise auch die Brutstätte rhetorischer Figuration. Hobbes begründet den Verdacht gegen die Rhetorik nicht. Aber die Konfrontation mit der rein dualen Szene des counsel macht klar, dass Affekterregung durch figurierte Rede auf die – aus Sicht von Ego und Alter – Verunklarung der Zurechnung gegründet ist. Die Aufspaltung zwischen der anderen und dem Anderen macht die Figur der Fürsprache in ihrem Kern unzurechenbar.

Im Kapitel über das auffordernde Reden erscheint also die alte Rhetorik als politisch und moralisch falsche Kommunikation. Umgekehrt kann man für die Definition der Person durch den ‚author‘ – also für das im Personen-Kapitel ins Spiel gebrachte richtige Kommunikationsmodell – die Voraussetzung in den Kapiteln zu Übertragung und Vertrag sehen. Sie gehen dem Personen-Kapitel im ersten Teil des Leviathan unmittelbar voran (Kap. 14 und 15). Wie angedeutet, begründet Hobbes das Person sein nicht – wie man glauben könnte – durch ein originäres Recht am eigenen Wort oder Handeln. Ob die natürliche Person ein solches Recht hat oder nicht, wird gar nicht erörtert. Entscheidend ist, dass ein solches Recht sich manifestiert, wenn man es wie den Besitz an einem Gut auf einen anderen überträgt. Das gibt der Repräsentation die entscheidende Bedeutung für das Person-Sein: Man muss unter einer solchen Annahme nämlich einräumen – was Hobbes an mehreren Stellen in der Tat zu tun scheint –, dass ich selbst Person nur dann bin, wenn ich für mich spreche. Man muss also eine Übertragung der Autorität an sich selbst annehmen. Man kann nun eine solche originäre Übertragung im Kap. 14 über den Vertrag konzipiert sehen. Hobbes betont da eine grundlegende Verbindung von Verzicht und Übertragung von Rechten: „verzichtet jemand auf sein Recht oder überträgt er es, so gibt er damit niemandem ein Recht, das dieser nicht vorher schon besessen hätte, da es nichts gibt, worauf nicht jedermann von Natur ein Recht hätte“.Footnote 32 Durch die Verbindung von Rechtsverzicht und Rechtsübertragung erreicht Hobbes zwei Ziele auf einmal: Aus einem Zustand heraus, in dem alle auf alles zugreifen können, treten durch ein und denselben Akt eine Verteilung von Rechten und eine Beziehung zwischen dem einen und der andern als Vertragspartner zu Tage. Durch den Verzicht auf einen bestimmten Anteil des ursprünglichen Rechts aller auf alles tritt überhaupt erst eine Teilung der Güter ein, die dem einen oder der anderen gehören können. Damit sind dann Ego und Alter eingesetzt als die beiden Parteien, zwischen denen eine Rechtsübertragung durch Vertrag stattfinden kann. Das Personen-Kapitel geht nun nicht bis auf einen solchen Gründungsakt zurück, der durch die Einheit von Verzicht und Übertragung den Übergang vom Naturzustand in den Kulturzustand ermöglicht. Aber indem Hobbes Autorität (Verfügungsgewalt über Worte und Handlungen) mit Besitz (Verfügungsgewalt über Güter) in Parallele setzt, macht er die Person, die redet und handelt, zum Agenten und zum Produkt einer vertraglichen Kommunikation zugleich. ‚Ich übertrage das Recht, für mich zu sprechen und zu handeln, damit der, der für mich spricht, mit der anderen, zu der er sprechen soll, in Unterhandlung treten kann.‘ Die beiden vertraglichen Situationen begründen und bedingen einander. An die Stelle des hierarchischen Dreiecksverhältnisses der rhetorischen Sprechsituation tritt die duale Kommunikationssituation nach dem Vorbild des Vertrags.

Den Abschluss sollen drei Vignetten von rhetorischen Sprechsituationen in der deutschen Literatur um 1800 bilden. Sie lassen Sprechsituationen der Fürsprache entweder als pathologisch erscheinen oder suchen sie zu überbieten, oder sie deuten sie in kritischer Weise um. In jedem Fall haben sie mit einer Verschiebung von Funktionen und Dominanzen in der Sprechsituation und das heißt mit der Geschichtlichkeit der Rhetorik zu tun. Das ethnographische Genre der Vignette zu nutzen stellt den Versuch dar, einen komplexen Zusammenhang auf eine Szene oder ein narratives Ereignis zusammenzuziehen. Ein Kern wird freigelegt, ohne dass man die Komplexität der Beziehungen in ihm zerstört. In diesem Sinne handelt es sich im Folgenden nicht um Interpretationen von literarischen Texten in ihrem Zusammenhang, sondern um die Isolierung von Stellen, in denen es um die Geschichtlichkeit der Redesituation geht.

2.1 Die Pathologie der rhetorischen Sprechsituation

In Goethes Die Leiden des jungen Werthers gibt es eine Parallel- und Kontrasthandlung zur Geschichte des Protagonisten. Es ist die Geschichte des jungen Knechts, der, nachdem er lange die unerfüllte Liebe zu einer Witwe gehegt hat, bei der er in Dienst steht, endlich den Nebenbuhler ermordet, statt wie Werther sich selbst zu töten. Der Erzähler berichtet in der zweiten Fassung des Romans von 1787 davon mit großer Ausführlichkeit. Das geschieht, nachdem er die kommentarlose Aufeinanderfolge der Briefe unterbrochen und das Erzählregime im eigenen Namen übernommen hat.Footnote 33 Werther fühlt sich den Worten des Erzählers zufolge sofort getrieben, sich des Mörders anzunehmen: „Aus seiner Trauer, seinem Mißmut, seiner gleichgültigen Hingegebenheit wurde er auf einen Augenblick herausgerissen; unüberwindlich bemächtigte sich die Teilnehmung seiner, und es ergriff ihn eine unsägliche Begierde, den Menschen zu retten. Er fühlte ihn so unglücklich, er fand ihn als Verbrecher selbst so schuldlos, er setzte sich so tief in seine Lage, daß er gewiß glaubte, auch andere davon zu überzeugen. Schon wünschte er für ihn sprechen zu können, schon drängte sich der lebhafteste Vortrag nach seinen Lippen, er eilte nach dem Jagdhause und konnte sich unterwegs nicht enthalten, alles das, was er dem Amtmann vorstellen wollte, schon halblaut auszusprechen“.Footnote 34 Die Vokabeln der Fürsprache und der rhetorischen Selbstaffektion sind dicht gedrängt. Aber im Gegensatz zur rhetorischen Sprechsituation hält Werther weder Distanz zum anderen, für den er sprechen will: er identifiziert sich offenbar mit dem Mörder; noch stellt er sich auf den ein, zu dem er zu sprechen hat: er unterbricht und belehrt den Amtmann, dem hier die Entscheidungsmacht zukommt. So kommt Werther nicht einmal so weit, die Worte, die sich auf seine Lippen drängen, überhaupt auszusprechen. In seiner heillosen Identifikation mit dem, den er als Klienten und als Seinesgleichen fantasiert, versucht er den Amtmann dahin zu bringen, den erwiesenen Mörder aus dem Gewahrsam fliehen zu lassen. Ein Vorsatz, der natürlich das rechtliche Verfahren einfach außer Kraft setzen würde und entsprechend kläglich scheitert.Footnote 35

Interessant ist die Episode nicht nur wegen der erzähltechnischen Parallele zwischen dem Knecht und Werther, zwischen Mord am Nebenbuhler und Selbstmord. Es ist nicht nur so, dass der Erzähler durch diesen Kontrast dem Fall Werthers genaueres Profil gibt. Man kann in der pathologischen Verzerrung der Fürsprache auch die kritische Reflexion des Erzählers der zweiten Fassung auf die nachrhetorische Rhetorik des emphatisch-empfindsamen Briefeschreibers Werther sehen. Bei einer solchen Sicht geht es dann nicht so sehr um die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zwischen Werther und dem Knecht, sondern es geht darum, wie Werther sich als Fürsprecher zu dem verhält, den er distanzlos als Alter Ego erlebt. Der Sentimentalismus, der in dieser Fürsprache steckt und sie im rechtlichen Sinn zerstört, so kann man folgern, gibt einen Kommentar im Nachhinein zum Sentimentalismus der Briefe, in denen Werther für sich zu sprechen versucht hatte.

2.2 Die Überbietung der rhetorischen Sprechsituation

Im selben Jahr 1787 wie die zweite Fassung des Werther erscheint die erste Buchausgabe von Friedrich Schillers Don Carlos. Im Ansatz zu Marquis Posas an den König gerichtete Forderung nach Gedankenfreiheit heißt es folgendermaßen: „(Er [Don Carlos, RC] nähert sich ihm [König Philipp, RC] kühn und faßt seine Hand, indem er feste und feurige Blicke auf ihn richtet) O könnte die Beredsamkeit von allen/den Tausenden, die dieser großen Stunde/teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben, / den Strahl, den ich in diesen Augen merke, / zur Flamme zu erheben! […]“.Footnote 36 Dann folgen die drei bekannten Imperative der Gedankenfreiheit: Geben Sie die Vergötterung Ihrer Person auf; werden Sie das Muster der Wahrheit; und geben Sie Gedankenfreiheit. Die Fürsprache ist so hyperbolisch, dass man nicht einmal genau entscheiden kann, wer die Tausenden sind, an deren Beredsamkeit Posa seine Lippen sich affizieren sehen möchte: die Einwohner der niederländischen Provinzen, mit deren Botschaft er am Hof eingetroffen war; das Volk des spanischen Reiches, zu dessen König Posa er hier in dem Augenblick spricht; oder die Menschheit, deren Fortschreiten auf das Reich der Freiheit Schillers Posa zwei Jahre vor dem Sturm auf die Bastille im Sinn hat.

Die Problematik dieses rhetorischen Augenblicks hat übrigens sehr genau mit Hobbes‘ Kritik der Rhetorik des Mahnens und Warnens zu tun: Denn es geht in der Szene darum, dass König Philipp den Marquis als seinen Berater für eine besondere Mission verpflichten möchte, nachdem er eigentlich den ganzen dritten Akt hindurch die dafür in Frage kommenden Personen seines Hofs bereits erprobt und verworfen hat.Footnote 37 Posa versucht aber im Gegenzug, die ihm angesonnene Stellung in die eines Fürsprechers im Allgemeinen (für die Niederlande, für das Volk Spaniens, für die Menschheit) umzukehren – oder, wie man mit Hobbes formulieren könnte, in die des Mahners und Warners gegenüber seinem König auf Abwegen. Das Problem liegt in der Schieflage zwischen dem Anliegen des Königs und der Form der Beratung, die er wählt. Er sucht nach einem die Wahrheit sagenden Berater in der Sache, die mit dem Amt des Königs nichts zu tun hat. Philipp sucht einen Berater oder eigentlich sogar einen Hausdetektiv für seine Ehe- und Familienprobleme. Tragisch und komisch gleichzeitig antwortet Posa auf die unangemessene Intimität und Privatheit des königlichen Anliegens mit seiner Hyperbel der Fürsprache, die als Fürsprache für die Menschheit in ihrer geschichtlichen Entwicklung ihren Sinn außer Kraft setzt. Man kann nun auch in der Überbietung der Fürsprache in diesem Moment eine Reflexion auf die Möglichkeiten sehen, die Schiller in Don Carlos der Rhetorik seiner Figuren im Stück gibt. In den Briefen über Don Karlos hat Schiller vom Riss zwischen dem gedanklichen Idealismus Posas und dem psychologischen Überschwang seiner Formulierung gesprochen.Footnote 38 In der Überbietung der Fürsprache im dritten Akt könnte man einen zugespitzten Moment dieses Ineinander von gedanklichem Triumph und psychologistischem Absturz der Rhetorik sehen.

2.3 Die kritische Umdeutung

In Friedrich Hölderlins Elegie „Heimkunft“ zeigt sich das lyrische Ich – der prophetische Dichter – auf dem Weg aus der Fremde zurück in die Heimat, als Fürsprecher des Vaterlandes bei dem ‚reinen seligen Gott‘: „Vieles sprach ich zu ihm, denn, was auch Dichtende sinnen/Oder singen, es gilt meistens den Engeln und ihm; / Vieles bat ich, zu lieb dem Vaterlande, damit nicht/Ungebeten uns einst plötzlich befiele der Geist; / […]“.Footnote 39 In der Heimat angelangt, bei den ‚Verwandten‘, denen die Elegie zugeschrieben ist, wird aus dem Fürsprecher der Überfahrt der Heimkehrer, der nun mit denen und zu denen spricht, für die er zuvor gesprochen hat. An die frühere Fürsprache vor dem Entscheidungsbevollmächtigten erinnert sich der Heimgekehrte nur wie an fern Vergangenes: „Unter den Blüten des Baums, in den Feiertagen des Frühlings/Red und hoff ich mit euch vieles, ihr Lieben! davon. / Vieles hab ich gehört vom Vater und habe/Lange geschwiegen von ihm […]“.Footnote 40 Die Rückkehr des Fürsprechers zu denen, für die er gesprochen hat, nimmt seine stellvertretende Rede vor dem Entscheidungsbevollmächtigten – dem ‚reinen seligen Gott‘ – zurück in die Teilnahme am Gespräch mit den vom Dichter Vertretenen, den ‚Verwandten‘. Gegenstand seiner Fürbitte während der Überfahrt war nun nicht die Erscheinung des Gottes gewesen, sondern dass „nicht Ungebeten uns einst befiele der Geist“. Wenn der Heimkehrer nun lange nicht davon spricht, dass er seine Bitte für die Verwandten dem Gott vortragen konnte, entspricht das dem Inhalt der Bitte. So wie er der Präsenz des Geistes die Schärfe und Plötzlichkeit einer Epiphanie zu nehmen bat, entledigt er sich jetzt auch selbst zusehends seines Fürsprecherseins und wird wieder zum Verwandten der Verwandten. Aus dem Sprechen-Für wird ein vielgestaltiges, geselliges, Sprechen-Mit.Footnote 41

Um Hölderlins Kritik und gleichzeitige Bewahrung der Fürsprache richtig einzuschätzen,Footnote 42 wäre freilich auszuführen, dass hier nicht mehr der antike Orator das Vorbild ist. Es ist der Paraklet des Johannes-Evangeliums, der dort der Heilige Geist ist. Dieser Geist ist es, der hier im Gespräch mit seinen Klienten unter sie ausgestreut wird. In „Heimkunft“ wird dieses Geschehen von Hölderlin unter Nutzung der Johanneischen Paraklese als Rückkehr vom Gespräch mit dem Anderen zu Gesprächen mit den anderen gedeutet: Darin kann man durchaus die Richtung auf eine Fürsprache erkennen, die jenseits ihrer gerichtlichen und staatlichen autoritären Tradition einen Wechsel und Tausch der Positionen von Advokat und Klient vollzieht, im Medium ihrer Verwandtschaft.