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1 Rhetorik zwischen Intrinsik und Extrinsik

Zu Beginn seines Buchs Die Macht der Rede. Eine kleine Geschichte der Rhetorik im alten Griechenland und Rom stellt Wilfried Stroh die Frage: „Was ist Rhetorik?“.Footnote 1 Die Eingangsfrage sei eine notwendige Begriffsklärung: „Bevor wir in die Geschichte eintreten, müssen einige Begriffe geklärt werden“.Footnote 2 Auf den folgenden Seiten erläutert Stroh die Geschichte des Wortes ‚Rhetorik‘, erklärt seine lateinischen Entsprechungen ars rhetorica bzw. ars oratoria, bevor er dann zu seinem eigentlichen Punkt kommt, nämlich einer Kritik an modernen, sich an der Diskurstheorie von Jürgen Habermas – so Stroh – orientierenden theoretischen Fassungen der Rhetorik als Kunst der Überzeugung. Stroh plädiert gegen solche Definitionen der Redekunst „von edel gesinnten Theoretikern wie Gadamer, Habermas und Walter Jens“Footnote 3, die klängen „wie im akademischen Seminar“Footnote 4 vorgetragen. Abgesehen davon, dass Habermas zwar viel von Diskurs spricht, aber nur vereinzelt das Wort ‚Rhetorik‘ verwendet (und dann in klar negativer Bedeutung) und auch Gadamer in seinen Schriften ein Rhetorikkonzept umrissen hat, das reich an Aspekten, aber auch ziemlich unbestimmt bleibt, trifft Strohs Kritik an einer moralischen Überhöhung und theoretischen Aufladung der antiken Rhetorik einen Punkt, den die Rhetorikforschung im Grunde bis heute meidet: Stroh versteht Rhetorik ziemlich radikal als Kunst kommunikativer Machtausübung zur Durchsetzung partikularer Interessen – also als Überredung – jenseits aller Konzepte verständigungsorientierter, vernünftiger Überzeugungsarbeit, wie sie in der deutschsprachigen Rhetorikforschung am profiliertesten Josef Kopperschmidt vertreten hat.Footnote 5 „Bei allen Bekenntnissen“, so Stroh,

zur Moralität in den Einleitungs- und Schlusskapiteln [der klassischen Rhetoriklehrbücher], ist sie [die Rhetorik], was ihren sachlichen Kernteil angeht, ebenso auf den Überredungserfolg ausgerichtet wie die eines Gorgias. Im Wesentlichen hat sich also die alte Definition der Rhetorik als Überredungskunst durchgesetzt. Bloße Schönrednerei hat, jedenfalls der Definition nach, im Altertum nie als ‚rhetorisch‘ gegolten.Footnote 6

Ich möchte mich zunächst der von Stroh angesprochenen Dichotomie von ‚Überredungskunst‘ (Persuasion) und der offenbar nicht-persuasiven ‚Schönrednerei‘ widmen. Letztere Bedeutung ist in der deutschen Gegenwartssprache in Gestalt der Wortverbindung ‚geschliffene Rhetorik‘ recht häufig belegt.Footnote 7

Joachim Knape leitet aus diesem Gegensatz ein rhetorikhistorisches Verlaufsmodell ab. Im Artikel „Persuasion“ des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik unterscheidet er zwei Versionen von Rhetorik, eine extrinsische Rhetorik (Rhetorik als ars persuadendi) und eine intrinsische Rhetorik. Letztere wird als ars bene dicendi bezeichnet und durch das Kriterium der stilistischen Perfektion bei gleichzeitiger „Suspendierung von P[ersuasion]“Footnote 8 näher charakterisiert. Die erste Spielart von Rhetorik stellt für Knape den Kern der Rhetorik dar, denn sie realisiert, was er als Zentrum der Rhetorik ausmacht: Persuasion als „Metabolie“Footnote 9, den vom Orator bewirkten Standpunktwechsel von A nach B im Adressaten. Dabei schließen sich die beiden Versionen der Bestimmung der Rhetorik mehr oder weniger gegenseitig aus: „In diesen für diese Richtung [der ars bene dicendi] einschlägigen Theorietexten hat die Persuasionsfrage zumeist keinen theoretischen Platz“.Footnote 10

Im Verlauf der antiken Rhetorikgeschichte identifiziert Knape dann eine Entwicklung, die weg von der persuasiven Bestimmung als Kern der Rhetorik führt, mithin also den Prozess einer Entfremdung der Rhetorik von sich selbst. In Anknüpfung an den amerikanischen Rhetorikhistoriker George A. KennedyFootnote 11 spricht er von einer primary und secondary rhetoric, wobei Kennedy damit primär den Prozess der Rhetorisierung der Literatur in der römischen Kaiserzeit meint, während es Knape eher um eine Literarisierung der Rhetorik geht, genauer um den Aufstieg der Epideiktik zur zentralen rhetorischen Gattung im Prinzipat: Persuasion wird durch Ästhetik ersetzt. Auf die Lob- und Tadelrede bezieht sich nämlich die Formulierung von der ‚Suspendierung‘ von Persuasion. Voraussetzung für diese Unterscheidung allerdings ist eine nicht näher reflektierte Unterscheidung zwischen Rhetorik und Ästhetik, mithin die implizite Annahme einer überzeitlich gültigen Autonomieästhetik.

Freilich steht Knape mit dieser Annahme und den daraus abgeleiteten Wertungen nicht allein da. Wirkungsmächtig vertreten hat sie Heinrich Lausberg in seinem 1960 erstmals erschienenen Handbuch der literarischen Rhetorik. Der romanische Sprachwissenschaftler greift dazu auf die Diskussion der epideiktischen Gattung in der aristotelischen Rhetorik zurück, die in dieser Hinsicht traditionsbildend wirkte. Aristoteles’ Unterscheidung der drei Gattungen politische Rede, Gerichtsrede und epideiktische Rede ist eine Zweiteilung vorgelagert: Gerichtsrede und politische Entscheidungsrede modellierten das Publikum als ‚Entscheider‘ (krites), während das epideiktische Genre ihn als bloßen ‚Betrachter‘ (theoros) ansehe, der nicht als ein Handelnder in das Geschehen eingreife. Es gehe, so Lausberg, bei den ersten beiden Gattungen um ein Publikum, das im Feld der vita activa „Entscheidungsbereitschaft“Footnote 12 besitze. Diese Unterscheidung sei eine Grundannahme des aristotelischen Rhetorikkonzepts: In der öffentlichen Rede stünden solche Fragen im Zentrum, die ein Publikum von Laien in Situationen treffen müsse, in denen Entscheidungsnotwendigkeit besteht und zugleich mehrere Optionen plausibel sind.Footnote 13 Die epideiktische Rede allerdings weicht hiervon ab, denn sie behandelt Gegenstände, die unzweifelhaft sind – eben daraus leitet sich ja ab, dass die Lobrede nicht im engeren Sinne parteilich argumentiert, sondern ihre Gegenstände rhetorisch überhöht und steigert (Verfahren der amplificatio).

Lausberg identifiziert in der aristotelischen Rhetorik eine interessante Volte: Denn eine Gerichtsrede oder eine politische Entscheidungsrede müssen nicht notwendig auf ein Publikum treffen, das an einer „Entscheidungsfällung“Footnote 14 beteiligt ist. Man könne sich leicht eine/n Zuhörer/in vorstellen, welche/r die „Rede als Kunstwerk auf sich wirken“ lässt und sie „nach ihrer Kunstfertigkeit“ beurteile. Der Zuschauer „faßt die Rede als eine Exhibition der Redekunst auf“. Was in den beiden ‚pragmatischen‘ Genera einen Sonderfall darstelle, sei im Falle der epideiktischen Rede der Normalfall. Lausberg zieht daraus den Schluss, dass die epideiktische Rede ein autonomes Kunstwerk sei: „Das genus [scil. demonstrativum] pflegt l’art pour l’art: der Redner exhibiert seine Redekunst vor dem nicht nur zur inhaltsbezogenen praktischen Entscheidung, sondern zum Kunsturteil (zur Bewunderung) aufgeforderten Publikum“.Footnote 15

Wie Knape denkt auch Lausberg hier innerhalb eines Differenz-Modells, dessen nicht weiter hinterfragte Annahme diejenige der Autonomie eines Kunstwerkes ist, eine Art rhetorischer Ästhetizismus. Dass diese Annahme nicht notwendig ist, lässt sich auf zweifache Weise begründen, historisch wie systematisch, nämlich durch Blick in die antiken Lehrbücher und durch eine Reformulierung des Konzepts der Persuasion.

Erstens: Für Knape sind die zentralen Rhetoriken der Antike klar extrinsisch ausgerichtet und stellen Persuasion als zentrale Funktion und Ziel rhetorischer Kommunikation ins Zentrum. Das lässt sich bereits bei Aristoteles feststellen und prägt die weitere Theoriegeschichte. In Ciceros De oratore wird als Aufgabe des Redners genannt, dass er mit Überzeugungskraft zu reden habe (ad persuadendum accomodate).Footnote 16 In Ciceros Frühwerk De inventione ist die Rhetorik ein Teil der politischen (Staats-)Kunst, der civilis scientia.Footnote 17 Als ihr kommunikatives Ziel wird die Überzeugung durch mündliche Rede bestimmt (finis persuadere dictione). Ähnliches findet sich dann auch bei Quintilian, der am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts die unterschiedlichen Definitionen von Rhetorik im zweiten Buch der Institutio oratoria ausführlich diskutiert. Quintilian weist zugleich aber auch auf die zahlreichen Bestimmungsversuche jenseits der Persuasion hin: Es gebe, so schreibt er, tausend andere Definitionen als diejenige, die er ins Zentrum stelle.Footnote 18 Die am weitesten verbreitete und akzeptierte Definition aber sei diejenige, welche die Rhetorik als vis persuadendiFootnote 19 verstehe, wobei das lateinische vis Übersetzung des griechischen dýnamis sei (im Deutschen ‚Kraft‘ oder ‚Vermögen‘).

Die antiken Rhetoriker sind sich allerdings einig, dass die extrinsische und die intrinsische Betrachtung keinen Gegensatz darstellt, die Differenz mithin eine künstliche ist. Denn Ausdruck und Stil stellen keine aufgesetzten Schmuckelemente dar, sondern stehen funktional in den Diensten des Persuasionsvorgangs. Ornatus ist also kein äußerliches ‚Ornament‘, sondern sprachliches Werkzeug der Überzeugung.Footnote 20 Im Zentrum der Rhetorik steht somit nicht, wie Lausberg postulierte, eine Art antike Autonomieästhetik, sondern eine ‚Pragmaästhetik‘, welche ästhetisch-rhetorische Verfahren unter der pragmatischen Perspektive des sprachlichen Überzeugungshandelns betrachtet. Das trifft schon auf den Beginn der Rhetorikgeschichte zu, auf den Sophisten Gorgias, dessen Idee von der geradezu berauschenden Macht der Rhetorik sich wesentlich auf sprachlichen Mitteln gründet, die auf dem Prinzip klanglicher Wiederholung basieren und die man seit römischer Zeit ‚gorgianische Figuren‘ nennt.Footnote 21 Solche Klangfiguren sind aber keine bloßen ästhetischen Formen eines l’art pour l’art – so explizit Lausbergs Charakterisierung der Lobrede –,Footnote 22 sondern sind eben in einem funktionalen, auf Persuasion zielenden Kontext zu sehen.

Das wird in den antiken Lehrbüchern auch gesehen. Ein Beispiel hierfür ist Cicero, der in De oratore zunächst ganz konventionell Persuasion als zentrale Aufgabe des Redners bestimmt. Zugleich gibt es aber in dem Dialog an zentraler Stelle auch alternative Definitionsansätze, etwa im ersten Buch, wo Cicero (noch vor dem Beginn des eigentlichen Dialogs) in die Thematik einführt:

Ich will jedoch gerade unseren Rednern beiden Ansprüchen, die das Leben in Rom an sie stellt, keine so große Last aufbürden, daß ich glaubte, sie müßten alles wissen, obwohl gerade im Begriff des Redners und dem Anspruch gut zu reden, das Unterfangen und die Verheißung zu liegen scheint, über jedwedes Thema, das sich stellen mag, wortreich und wirkungsvoll zu reden (omni de re, quaecumque sit propositio, ornate ab eo copiose dicatur).Footnote 23

Ornatus, Redeschmuck, und copia, also die Fülle des Ausdrucks, werden hier als die zwei zentralen Bestimmungen des Redners genannt, nicht die Persuasion. Gleichwohl ist das nicht als Ausschluss zu sehen, denn Schmuck und Ausdrucksvariabilität sind entscheidende Faktoren der Überzeugungskraft von Redner und Rede.

Zweitens: Ich kehre noch einmal zum Konzept der Persuasion zurück. Völlig zu Recht betont Knape, dass die „persuasive Operation“ als solche „in den traditionellen Rhetoriken interessanterweise kaum oder gar nicht untersucht“Footnote 24 wird. Hier besteht tatsächlich eine Theorielücke, und die Hinweise in den Quellen fließen spärlich. Das ist zunächst einmal ein überraschender Befund, sollte doch Persuasion gerade das definitorische Zentrum der Rhetorik sein. Die Idee, Persuasion als mentalen Wechsel zu bestimmen, stammt aber nicht aus der antiken Rhetorik, sondern aus der sozialpsychologischen Persuasionsforschung der 1940er und 1950er Jahre. Carl I. Hovland, der in Yale arbeitende Begründer dieser Forschungsrichtung, unterscheidet verschiedene Modi des Wechsels: opinion change (Wechsel der leicht veränderbaren Meinung), attitude change (Wechsel längerfristiger und stabilerer Einstellungen) und behaviour change (Wechsel des Verhaltens) durch Kommunikation.Footnote 25 Das Konzept des Wechsels dominiert – auch deshalb, weil dieser sich empirisch-quantitativ in experimentellen Settings offenbar gut bestimmen lässt.

Die naturwissenschaftliche Persuasionsforschung hat, so scheint mir, den Blick auf Alternativen zu dem Wechselmodell in den antiken Quellen, die Pluralität rhetoriktheoretischer Entwürfe, verstellt. Quintilian etwa ist der Ansicht, dass es Persuasion auch jenseits von expliziter Kommunikation geben kann: Geld überzeuge, ebenso das öffentliche Ansehen einer Person und der Anblick (aspectus) allein ohne Worte bzw. Rede (sine voce), weil auf diese Weise etwa die Erinnerung an frühere Verdienste einer Person oder auch Mitleid geweckt werde. Auch die schöne Gestalt des Redners ist für Quintilian ein Faktor der Persuasion, was als Argument für das Lob einer Person zur Topik der epideiktischen Rede gehört.Footnote 26

In der Rhetorica ad Herennium aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert schließlich findet sich der interessante Begriff der assensio auditorum, also des Beifalls oder der Zustimmung des Publikums, die der Redner erheischt und erreichen möchte.Footnote 27 Eine solche Version des Persuasionskonzeptes – die noch keine Abkehr von Persuasion bedeutet, aber doch eine Differenz zum Wechselmodell markiert – betont stärker die Zustimmungsbedürftigkeit rhetorischer Rede und stellt die Adressaten als letztlich diejenige Größe ins Zentrum, welche über den Erfolg des Redners entscheidet. Das ist die Gegenposition zum Konzept eines mächtigen Orators. Es ist gerade für die nicht-agonale Epideiktik ein anschlussfähiges Konzept von Persuasion.

2 Das Paradigma der Epideiktik

In der Rhetorik-Renaissance des 20. Jahrhunderts vertreten der Rechtsphilosoph Chaïm Perelman und die Soziologin Lucie Olbrechts-Tyteca in ihrer gemeinsam verfassten, 1958 erschienenen Studie La nouvelle rhétorique eine ähnliche Position. Die beiden Verfasser/innen postulieren in ihrem „Anknüpfen an die große Tradition der griechischen Rhetorik und Dialektik“ – nämlich an Aristoteles – einen „Bruch mit jenem Cartesischen Konzept von Vernunft und Vernunftschluß […], das die westliche Philosophie der letzten drei Jahrhunderte geprägt hat“.Footnote 28 Mit dieser ostentativen Frontstellung gegen die Tradition des philosophischen Rationalismus beginnt die Einleitung zu dem umfangreichen Werk. Sein wesentliches Verdienst ist es, die Kategorie der Zuhörerschaft ins Zentrum der Rhetorik gestellt zu haben. Denn „jegliche Argumentation [entwickle] sich in Abhängigkeit von einer Hörerschaft“Footnote 29 – im Unterschied zum logischen Syllogismus, dessen conclusio auch ohne Zustimmung des Publikums gültig ist. Voraussetzung für den Erfolg dieses kommunikativen Prozesses ist die Formation einer „intellektuellen Gemeinschaft“Footnote 30 unter Gleichberechtigten, in der gegenseitig akzeptiert wird, dass jemandem zuzuhören auch bedeuten muss, „bereit zu sein, dessen Standpunkt eventuell zu akzeptieren“.Footnote 31 Für den Redner, den Perelman und Olbrechts-Tyteca gerade nicht als machtvoll, sondern als bescheiden beschreiben, ist es entscheidend, seine Argumente – im Sinne eines auf Passung ausgerichteten kommunikativen Angebots – an sein Publikum anzupassen;Footnote 32 die Wirkungsmöglichkeiten eines Redners oder einer Rednerin sind von diesem Prozess der adaptation unmittelbar abhängig.Footnote 33 Überzeugend ist nicht dasjenige, was der/die Redner/in für überzeugend hält, „sondern was die Ansicht derer ist, an die er seine Rede richtet“.Footnote 34

Auf die berühmte Unterscheidung von Überredung und Überzeugung, die die beiden belgischen Rhetoriker/innen auf die Ausrichtung der Argumente auf eine partikuläre respektive universelle Zuhörerschaft bestimmen, möchte ich hier nicht weiter eingehen, denn das bringt uns in der Frage nach der Persuasion nicht weiter,Footnote 35 wohl aber das Kapitel über die epideiktische Beredsamkeit, das sich, ein wenig überraschend, in der Nouvelle rhétorique an zentraler Stelle, nämlich in der umfangreichen Einleitung, findet: Von den drei aristotelischen Gattungen wird dort einzig die Lob- und Tadelrede eigens behandelt.Footnote 36 Perelman und Olbrechts-Tyteca beginnen ihre Argumentation, indem sie den besonderen Status der epideiktischen Gattung herausheben. Anders als in „politischen und juristischen Debatten“, also „wirklichen Gefechten […] über strittige Themen“, geht es in der Epideiktik um „Themen, die über allen Zweifel erhaben schienen und von denen man keine praktische Konsequenz erwartete“.Footnote 37 Gerade dieses Genre aber, so die Volte der Argumentation, habe die größte Zahl an rhetorischen Meisterstücken hervorgebracht. Mit Blick auf die Entwicklung der römischen Beredsamkeit stellen sie fest, dass die Epideiktik für die Rhetoren als „eine degenerierte Form von Beredsamkeit galt“.Footnote 38 Das ist eine zutreffende Beobachtung, weil die Epideiktik als ‚Griechisch‘ galt und etwa nach Ansicht CicerosFootnote 39 gar keiner rhetorischen Schulung bedürfe. Diese Abwertung kehrt die Nouvelle rhétorique ins Positive um, und das macht sie mit einem interessanten Argument: In der Epideiktik gehe es nicht um Ästhetik, sondern um Ethik, nicht ums Schöne, das sich in der Ostentation rednerischer Perfektion zeige, sondern in den Werten, die in den Lob- und Tadelreden verhandelt würden. Intensivierung von ‚Zustimmung‘ – und nicht Wechsel oder Änderung – rückt dabei ins Zentrum eines Rhetorikkonzeptes, für das die Lobrede zum Paradigma wird: Nur die epideiktische Rede schafft es, die „Zustimmung zu bestimmten Werten zu verstärken“. Der Lob- oder Tadelredner erfüllt eine zentrale soziale Funktion, denn er versucht, „eine Überzeugungsgemeinschaft [communion] um gewisse Werte herum zu stiften, die dadurch von der Hörerschaft anerkannt werden“.Footnote 40 Die epideiktische Gattung wird auf diese Weise rehabilitiert und geradezu nobilitiert, denn sie ist das Medium der Aushandlung, Stabilisierung und Vermittlung von Werten, die in einer Gemeinschaft geteilt werden. Das rückt den epideiktischen Redner nach Ansicht von Perelman und Olbrechts-Tyteca in die Nähe eines Erziehers;Footnote 41 er wird so zu einer gesellschaftlichen Leitfigur.

Rhetorikhistorisch betrachtet ist diese Umorientierung weg von der Gerichtsrede und politischen Rede und hin zur Lob- und Tadelrede eine wichtige Korrektur, die Folgen für das Verständnis von ‚Rhetorik‘ überhaupt hat. Man muss sich ja vergegenwärtigen, dass praktische Beredsamkeit über Jahrhunderte primär epideiktische Beredsamkeit war, weil die politischen Rahmenbedingungen öffentliche Deliberation gar nicht vorsahen. Politische Positionen wurden etwa in der Frühen Neuzeit im Gattungsrahmen der Lobrede verhandelt, weil es natürlich keine demokratische Streit- und Kommunikationskultur und keine entsprechenden Institutionen, Regeln und Räume gab. Und die Epideiktik hat natürlich auch die Literatur entsprechend geprägt. Ich möchte an dieser Stelle an ein Zitat des Romanisten Ernst Robert Curtius erinnern:

Aber wir sahen, daß die beiden wichtigsten Arten der Rede, Staats- und Gerichtsrede, mit dem Untergang der griechischen Stadtstaaten und der römischen Republik aus der politischen Wirklichkeit verschwanden und in die Rhetorenschule flüchteten; daß die Lobrede zu einer Lobtechnik wurde, die sich auf jeden Gegenstand anwenden ließ; daß auch die Poesie rhetorisiert wurde. Das bedeutet nichts anderes, als daß die Rhetorik ihren ursprünglichen Sinn und Daseinszweck verlor. Dafür drang sie in alle Literaturgattungen ein. Ihr kunstvoll ausgebautes System wurde Generalnenner, Formenlehre und Formenschatz der Literatur überhaupt. Das ist die folgenreichste Entwicklung innerhalb der Geschichte der antiken Rhetorik.Footnote 42

3 Rhetorik als Theorie der Prosa

Rhetoriklehrbücher der Frühen Neuzeit zitieren regelmäßig die klassische Bestimmung der extrinsischen Rhetorik – Rhetorik als Persuasion –, aber dieses Zitat bleibt vielfach ein Topos der Antikerezeption ohne funktionale Folgen. Ebenso finden sich in solchen Lehrbüchern – wie etwa der Rhetorices contracta des niederländischen Philologen Gerardus Joannes Vossius (1577–1649), erstmals 1621 erschienen und mit 31 Auflagen im 17. Jahrhundert äußerst erfolgreich –Footnote 43 Ausführungen zu den Gattungen der politischen wie der Gerichtsrede. Weite Teile des Werkes aber handeln von den Affekten (im Anschluss an Aristoteles) und vom Stil, während die Argumentationstheorie als Kern einer persuasionsorientierten Rhetorik knapp abgehandelt wird. Zentral bei Vossius ist die innerhalb der Affektlehre abgehandelte Typologie epideiktischer Reden.Footnote 44

Und wenn wir etwas mehr als 100 Jahre in die Zukunft blicken und von Leiden nach Leipzig springen, dann findet sich eine im Grunde ähnliche Diagnose: In seiner 1736 erstmals publizierten Ausführlichen Redekunst definiert Johann Christoph Gottsched (1700–1766) die Beredsamkeit als „eine Geschicklichkeit […], seine Zuhörer von allem was man will, zu überreden, und zu allem, was man will, zu bewegen“.Footnote 45 Was auf den ersten Blick nach einer traditionellen Persuasionsrhetorik aussieht, destruiert sich im weiteren Verlauf geradezu selbst, denn die klassischen Redegattungen der politischen Entscheidungsrede und der Gerichtsrede unterzieht Gottsched einer Fundamentalkritik, bei der vor allem die juristische Rede wegen ihrer Verwendung von Wahrscheinlichkeitsbeweisen geradezu verdammt wird.Footnote 46 Aber auch die Epideiktik kommt in dieser auf den rationalistischen Prinzipien der Philosophie Christian Wolffs gegründeten Rhetorik nicht gut weg, denn Lobreden verwendeten oft „Scheingründe“, Argumente also, die „keine logische Prüfung aushalten“. Denn: „Man könnte nämlich auf diese Art dem allerelendesten Menschen eine Lobrede halten, der sein Lebenlang weder ein Fünkchen Verstand, noch die geringste Spur einiger Tugend erwiesen hätte“.Footnote 47 Die Topik als Methode der Argumentfindung lehnt Gottsched zugunsten einer an philosophischer Beweisführung sich orientierenden, also primär argumentierenden Text- und Absatzlehre ab. Die Rhetorik wird hier zu einer mit den Mitteln philosophischer Argumentation operierenden ars popularis für ein Publikum, das für das Verstehen komplexerer Sachverhalte und Schlussverfahren nicht die nötigen Voraussetzungen hat. Soweit stellt dies eine aristotelische Rhetorikkonzeption dar, doch neu ist, dass ihr Gegenstand von der eigentlichen mündlichen Rede vor Publikum weg hin zu anderen Textsorten geht und – in einer weiter gefassten zeitlichen Entwicklung im 18. Jahrhundert – zu einer Theorie der Kunstprosa wird, der es um die wirkungsvolle Vermittlung von philosophischen oder wissenschaftlichen Sachverhalten und die Popularisierung von Wissen geht, aber nicht notwendigerweise um die auf Überzeugung zielende öffentliche Rede, die strittige Fragen des Gemeinwesens deliberativ zu lösen versucht.

Gottsched bewegt sich also einerseits klar innerhalb der antiken Tradition der Persuasionsrhetorik, andererseits zeigen sich in den konkreten Ausführungen Ansätze, die auf eine Rhetorik jenseits der Persuasion zielen, eine Rhetorik der Vermittlung und Popularisierung komplexer wissenschaftlicher Sachverhalte. Die Ausrichtung auf ein Laienpublikum teilt Gottsched mit der aristotelischen Rhetoriktradition, nicht aber die Ansicht, dass es in der Rhetorik um Schlussfolgerungen aus bloß wahrscheinlichem Wissen geht. Gottsched formuliert eine dezidiert philosophische Rhetorik, die auf die Kommunikation von Wahrheit zielt und Wahrscheinlichkeit nur dort akzeptiert, wo man zur Wahrheit noch nicht gelangt ist.Footnote 48

Die Transformation der Persuasionsrhetorik in eine Rhetorik der Prosa, die in der epideiktischen Tradition immer schon angelegt war, vollzieht sich im 18. Jahrhundert. Die Rhetorik entledigt sich endgültig der Persuasion und wird, was sich bei Gottsched schon abzeichnet, zu einer Theorie der Prosa, die unterschiedliche Textsorten behandelt. Das möchte ich nun in aller Kürze an zwei wichtigen Werken der Ästhetiktheorie des späten 18. Jahrhunderts zeigen, Hugh Blairs (1718–1800) Lectures on Rhetoric and Belles Lettres und Johann Joachim Eschenburgs (1743–1820) Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, beide im Jahre 1783 erschienen. Blairs Werk wurde vielfach aufgelegt, in viele Sprachen übersetzt und prägte in unterschiedlichen Ausgaben und Fassungen den Schreibunterricht in den USA und auch global bis ins 20. Jahrhundert hinein. Eschenburgs Entwurf, der in fünf Auflagen bis 1836 gedruckt wurde, repräsentiert eine typische Ästhetik der deutschen Spätaufklärung, welche die Rhetorik in eine literarische Ästhetik integriert.

Beiden Werken liegt ein Konzept von ‚belles lettres‘ bzw. ‚schönen Wissenschaften‘Footnote 49 zugrunde, das über die ‚schöne‘ Literatur hinausgeht. Beide Autoren integrieren die Rhetorik in die Ästhetik, allerdings auf eine Weise, bei der klar wird, dass die mündliche, auf Überzeugung zielende Rede nicht mehr ihr Kern ist. Diese Abkehr vom rhetorischen Modell vollzieht sich in beiden Werken nicht explizit oder programmatisch, sondern implizit. Die Rolle der politischen Rede etwa wird primär im historischen Rückblick behandelt und ist Teil einer Antikerezeption, die deutlich zutage tritt. Blair spricht zwar in der ersten Vorlesung von ‚to persuade‘ als Funktionsbestimmung der Rede, und er diskutiert in zehn von insgesamt 47 Vorlesungen Praxis und Theorie der Rhetorik, aber im systematischen Kern der Lectures, die die Praxis des guten Stils behandelt,Footnote 50 fällt auf, dass Blair doch auf etwas anderes zielt. Dort werden nicht vorrangig Werke der Literatur oder der Beredsamkeit analysiert, sondern solche der Philosophie und auch der Theologie aus der Zeit um 1700. Zentrale Autoren sind John Tillotson (1630–1694), der Archbishop von Canterbury, der Diplomat Sir William Temple (1628–1699), Jonathan Swift (1667–1745), schließlich der dritte Earl of Shaftesbury (1671–1713) und vor allem Joseph Addison (1672–1719) mit seiner Abhandlung Pleasures of the Imagination von 1712. Blickt man dann etwas genauer auf die stilistischen Vorschriften, die Blair formuliert, dann wird rasch deutlich, dass weder die ‚schöne‘ Literatur, also die Ästhetik, noch die überzeugende Rede, die Rhetorik, im Zentrum stehen, denn der schottische Rhetoriker handelt Fragen der Klarheit (perspicuity) und der sprachlichen Präzision (precision) des StilsFootnote 51 genauso ausführlich ab wie die Lehre von den Tropen und Figuren.Footnote 52 Die Wirkung eines philosophischen oder theologischen Textes wird unmittelbar an die Klarheit und Präzision des Ausdrucks geknüpft, die mehr auf grammatischen als rhetorischen Prinzipien basiert; diese Form der Wirkung wird dann als „positive beauty“Footnote 53 bezeichnet. Damit wird Wirkung nicht mehr in rhetorischen, sondern letztlich in hermeneutischen Kategorien gedacht. ‚Wirksam‘ ist ein Text, der seine Inhalte verständlich und klar vermittelt, nicht die mündliche Rede vor Publikum, die argumentativ überzeugen und emotional bewegen möchte.

Ähnliches findet man in Eschenburgs Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften. Sie ist zunächst ganz von der Ästhetik und dem Konzept der ‚schönen‘ Literatur her konzipiert. In der umfangreichen Einleitung finden sich zahlreiche Definitionen ästhetiktheoretischer und literaturtheoretischer Grundbegriffe wie ‚Schönheit‘, ‚Neuheit‘, ‚Geschmack‘ und ‚Genie‘, aber nichts über Argumentation oder andere Mittel der Überzeugung. Doch können Werke der schönen Kunst nach Eschenburgs Ansicht durchaus wirken: Die „mannichfaltigen Wirkungen und Eindrücke, welche den Werken des Genies und Geschmacks eigen sind und vermöge welcher ihnen innere Wirkungskraft oder Energie zukommt, lassen sich auf drei vorzügliche Quellen zurückführen, auf das Schöne, das Vollkommene, und das Gute“.Footnote 54 Diesen drei Quellen wird dann jeweils eine „ästhetische Kraft“ zugordnet: „sinnliche Rührung, Ergetzung und Wohlgefallen“.Footnote 55 Dabei übernimmt das Wohlgefallen die zentrale Funktion, „auf Herz und Willen zu wirken“ – das ist das wirkungsästhetische Substitut der Persuasion. Das zugrundeliegende Kommunikationsmodell verändert sich, doch ‚Wirkung‘ in einem allgemeinen Sinne bleibt auch hier ein wichtiger Effekt von Texten. Doch diese Wirkung geschieht nicht mehr primär im Medium öffentlich-mündlicher Deliberation, sondern in erster Linie durch die der Rezeption ‚schöner‘ Artefakte, die als geschriebene oder gedruckte Texte Bestand haben.

Es verändert sich nicht nur der Modus der Wirkung, sondern zugleich auch die Bestimmung von ‚Rhetorik‘ überhaupt: Eschenburg untergliedert sein Lehrbuch in drei Hauptkapitel: Auf eine ästhetiktheoretische Einleitung folgt eine Poetik, in der die poetischen Gattungen abgehandelt werden. Den Abschluss bildet die Rhetorik, wobei Eschenburg unter dieser Überschrift unterschiedliche Textsorten mit Blick auf ihre „Schreibart“ behandelt: Briefe, Dialoge, Abhandlungen („dogmatische Schreibart“), Werke der Historiographie (worunter er auch den Roman fasst), schließlich die ‚[r]ednerische Schreibart‘. Letzteres Kapitel bietet eine Art Rumpfrhetorik, die mit der Diagnose endet, dass die „Beredsamkeit der Deutschen fast völlig eingeschränkt“Footnote 56 sei auf die Kanzelberedsamkeit, während die politische Beredsamkeit „jezt nur noch in wenigen Staaten üblich“Footnote 57 sei. Persuasion hat im Deutschland der Spätaufklärung keinen sozialen Ort.

4 Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik

Um 1800 ist der Kern der Rhetorik, das sprachliche Überzeugungshandeln, weitgehend aus dem Blick der Ästhetik geraten oder – wie in Kants Kritik der Urteilskraft – ins Visier einer Fundamentalkritik an der Persuasion. In den idealistischen Ästhetiken, die im 19. Jahrhundert in Nachfolge von Hegels Ästhetik-Vorlesungen erscheinen, wird die Rhetorik prinzipiell abgelehnt.Footnote 58 In Friedrich Theodor Vischers mehrbändiger Ästhetik, 1846 bis 1857 erschienen, etwa taucht die Rhetorik erst ganz zum Schluss auf. Sie markiert, weil jede Form von Pragmatik für Vischer nicht zur Ästhetik gehört, eine Grenze, die auf ein Gebiet jenseits der Ästhetik weist. Was von der Rhetorik bleibt, ist die Stilistik, die Lehre von den Tropen und Figuren, und die Aufsatzlehre im sich neu ausdifferenzierenden Fach Deutsch, die Elemente der rhetorischen Kompositionslehre integriert. Disziplinär ist das Fach Rhetorik in den Ländern Europas um 1900 nahezu verschwunden.

Die Wiederentdeckung und Neubewertung der Rhetorik im 20. Jahrhundert setzt daran an, einen tragfähigen Begriff von Persuasion zurückzugewinnen. Dieses Zurückgewinnen bestand zunächst in der Revitalisierung, ja Wiederentdeckung, einer kaum noch bekannten klassischen Tradition, hat aber auch ganz neue rhetoriktheoretische Paradigmen jenseits der Persuasionsrhetorik hervorgebracht. In den USA, wo diese Renaissance der Rhetorik während der Zeit des Ersten Weltkriegs ihren Ausgang nahm, bedeutete Rhetorik zu lehren und zu rhetorischen Themen zu forschen, zunächst klassische Autoren der Antike, allen voran Aristoteles, neu zu entdecken. Der rhetorische Neoaristotelismus hatte sein Zentrum an der Cornell University, wo 1920 ein Seminar zur antiken Rhetorik stattfand, das zur Keimzelle einer einflussreichen Rhetorik-Renaissance wurde. Hoyt Hopewell Hudson schrieb 1923 in einem bahnbrechenden Aufsatz in der eben erst gegründeten Zeitschrift Quarterly Journal of Speech, der ältesten wissenschaftlichen Zeitschrift des Faches: „At any rate, we do well to begin with Aristotle in building up our concept of rhetoric“.Footnote 59 Über die Frage, ob man die Revitalisierung der Rhetorik im Rahmen eines geisteswissenschaftlich-interpretativen oder eines naturwissenschaftlich-empirischen Paradigmas betreiben soll, gab es schon in den 1910er Jahren intensive Diskussionen, die zu einer Trennung der Disziplinen in speech science und Rhetorik führte. Die Vertreter der Cornell School of Rhetoric (auch die der 2. und 3. Generation) dominierten bis in die 1960er Jahre die Rhetorikforschung in den USA; sie sorgten dafür, dass das neoaristotelische Paradigma lange dominierte und in diesem Kontext auch der monologischen Rede als Gegenstand der Forschung zentrale Bedeutung zukam.Footnote 60

Die Alternativen zur klassischen Lehre des Neoaristotelismus kamen von außerhalb der Disziplin Rhetorik. 1936 hielt der Linguist Ivor Armstrong Richards (1893–1979) Vorlesungen mit dem Titel The Philosophy of Rhetoric. In ihnen rechnet er ziemlich harsch mit der traditionellen Persuasions-Rhetorik ab und postuliert eine new rhetoric:

The old rhetoric was an offspring of dispute; it developed as the rationale of pleadings and persuadings; it was the theory of the battle of words and has always been itself dominated by the combatitive impulse. Perhaps what it has most to teach us is the narrowing und blinding influence of that preoccupation, that debaters’ interest.Footnote 61

Gegen Disput und Persuasion setzt Richards ein Konzept von Rhetorik, das der Tradition völlig entgegen steht: „Rhetoric“, schreibt er, „should be a study of misunderstanding and its remedies“.Footnote 62 Das theoretische Zentrum der Rhetorik sieht Richards also nicht in der Pragmatik, sondern in der Semantik. Ziel rhetorischer Analyse soll es nach Richards sein, die Ursachen von Missverständnissen zu erforschen und dadurch die Bedingungen glückender Verständigung zu identifizieren.Footnote 63 Nicht in geglückter Überzeugung sieht er das Ziel der Rhetorik, sondern in gelungener Verständigung.

Weitaus einflussreicher als Richards ist Kenneth Burke (1897–1993), der noch stärker von außen kommt, denn Burke war Literat, Poet, Essayist, seine Texte wandern zwischen wissenschaftlichen und literarischen Genres. Burke hatte nie eine feste Professur und war in der aufstrebenden Rhetorikforschung nach dem Zweiten Weltkrieg zwar ein theoretischer Star, zugleich aber ein akademischer Außenseiter. Burke hat sehr viel geschrieben und publiziert, und auch zur Rhetorik findet man in seinem Werk verstreut viele interessante Gedanken. Zentral ist sein 1950 erschienenes Buch A Rhetoric of Motives, in dem Burke wichtige Gedanken formuliert und sich auch mit den Konzepten der klassischen Rhetoriktradition auseinandersetzt. Zentralbegriff dieses von ihm selbst als new rhetoric bezeichneten, insgesamt sehr idiosynkratischen Ansatzes ist der Begriff der Identifikation.Footnote 64 Dessen Verhältnis zum klassischen Persuasionskonzept ist alles andere als klar. Mal bezeichnet Burke identification als ‚neue‘ Form der Rhetorik (und Persuasion als die alte), mal werden die Ausdrücke synonym verwendet und mal ist identification die Grundlage, auf der Persuasion funktioniert.Footnote 65 Klar ist, dass Burke damit zunächst vor allem auf eine Ausweitung („extension of rhetoric“Footnote 66) in Richtung der Integration von Prozessen unbewusster Kommunikation zielt – eine wirkungsmächtige Ergänzung zum Paradigma der Planung und Strategie, das die klassische Rhetorik prägt.Footnote 67

Identifikation meint dann aber auch den gemeinsamen Grund, den „mediatory ground“Footnote 68, der die Unterschiede zwischen Redner/in und Zuhörer/in überbrückt und damit eine Voraussetzung gelingender Kommunikation überhaupt darstellt. Dieses Prinzip lässt sich zu Zwecken der Überzeugung nutzen. Das wohl berühmteste Zitat aus A Rhetoric of Motives thematisiert gerade dieses Prinzip des auf eine unity, ein Gemeinsames, gerichteten common ground – Anschlussfähigkeit als Bedingung von Persuasion (aber auch nicht notwendig auf diese allein zielend):

Here is the simplest case of persuasion. You persuade a man only insofar as you can talk his language by speech, gesture, tonality, order, image, attitude, idea, identifying your ways with his.Footnote 69

Gelingende Rhetorik wird bei Burke zu einer Überlebenstechnik des Menschen unter den Komplexitätsbedingungen der Moderne: „Rhetoric is concerned with the state of Babel after the fall” heißt es in Rhetoric of Motives.Footnote 70 Identifikatorische Rhetorik kann helfen, die Vereinzelung des Menschen und das Chaos des Lebens auf dem „human barnyard“Footnote 71 zu ordnen. Rhetorik in dieser Lesart Burkes koordiniert Meinungen, Ansichten und Handlungen von Menschen, erzeugt auf diese Weise soziale KohäsionFootnote 72 und stellt insgesamt eine gesellschaftliche Ordnungskraft dar, die in strategischer Hinsicht zu guten wie zu schlechten Zwecken verwendet werden kann.

In A Rhetoric of Motives wird die Rhetorik zu einer zentralen Disziplin, welche die Fragmentierung des Individuums in der Moderne zwar nicht heilen, aber die Gesellschaft als sozialen Körper durch Kommunikation zusammenzuhalten imstande ist. Damit rückt die Perspektive weg von der Ausrichtung auf die persuasive Einzelrede und hin zu einer stärker systemischen Perspektive, die über die soziale Leistung der Rhetorik jenseits der einzelnen kommunikativen Akte nachdenkt. Diese umfassende Perspektive lässt sich auch als ein Gegenmodell der humanities zur empirischen Persuasionsforschung in den sciences sehen.

In der vom Neoaristotelismus geprägten disziplinären Rhetorikforschung in den USA, wo seit den 1940er Jahren die entsprechenden Departments massiv personell ausgebaut wurden, stießen die Konzepte von Richards und Burke zunächst auf viel Unverständnis: Richards wegen seines quer zur Tradition stehenden antipersuasiven Rhetorikkonzeptes, das sich schlecht integrieren ließ, Burke vor allem wegen seines dunklen und unverständlichen Stils. Erst seit Mitte der 1960er Jahre änderte sich dies im Kontext einer aufkommenden Kritik am klassischen Paradigma, dessen Grenzen klar benannt wurden. In einem wichtigen Vortrag forderte der an der University of Chicago lehrende Literaturwissenschaftler Wayne Booth 1965 nachdrücklich: Ein Revival der Rhetorik „must do more than echo the past“.Footnote 73 Es sei naiv zu glauben, dass die Rhetoriken von Aristoteles, Quintilian, Campbell oder Whately heute noch ausreichten, um theoretische Probleme zu lösen:

For one thing, the age of rhetoric has invented forms of persuasion that earlier ages knew not of. Much, perhaps most, of our rhetoric occurs in informal situations; we need a rhetoric of the symposium, of the conference room – I would hope somewhat more respectable intellectually than what is now offered the public under terms like ‘group dynamics’ and ‘conference techniques’.Footnote 74

Gegen Ende des Jahrzehntes mehrten sich in den USA die Stimmen von Rhetoriktheoretikern, welche die Abkehr von der traditionellen und die Formulierung einer ‚neuen Rhetorik‘ forderten. Diese Rhetorikforscher, unter anderem Wayne Brockriede, Douglas Ehninger und Herbert Simons, forderten eine umfassende Modernisierung der Rhetorik, eine ‚new rhetoric‘.Footnote 75 Brockriede fasst dies in das Paradox einer kontemporären aristotelischen Rhetorik – sie ist das Ziel rhetorischer Theoriebildung, die sich nicht im Ausschreiben der Tradition erschöpfen dürfte.Footnote 76

Die neue Rhetorik setzt zunächst an einer Kritik der ‚alten‘ Rhetorik an, am Konzept der Persuasion, vor allem aber auch den in der traditionellen Rhetoriktheorie kodifizierten Kommunikationssituationen und deren inhärenten Macht-Asymmetrien: Die monologische Rede vom erhöhten Podium herab gilt als nicht mehr angemessen; ins Zentrum rückten nun die Debatte und der Dialog als Kommunikationsformen unter Gleichgestellten; die agonale Konfrontation als kommunikatives Modell wird durch Kooperation und gemeinsames Problemlösen durch Gespräch und Diskussion ersetzt. Zudem wurde die Rolle der Massenmedien in der Rhetorik immer stärker reflektiert; man erkannte, dass die antike Rhetoriktradition um moderne Medientheorien ergänzt werden musste. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Protestrhetorik der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Sie verdeutlichte, dass das Modell des ‚einen‘ Redners zu pluralisieren ist, und dass die Rhetorik im Sinne der durch Bildung kultivierten Rede und des decorum immer auch Machtinstrument einer weißen, gebildeten Oberschicht war.Footnote 77

Daran geknüpft wird vielfach auch eine Kritik an der Zentralstellung der Persuasion in der Rhetorik. In der ‚neuen‘ Rhetorik solle nicht der Akt des Überzeugens eines Publikums durch einen herausgehobenen Redner oder eine Rednerin im Zentrum stehen; vielmehr gehe es, so Douglas Ehninger, um gegenseitige Verständigung und die Verbesserung menschlicher Beziehungen in eher informellen settings.Footnote 78 Dafür mache die traditionelle Rhetorik kein Theorieangebot. Herbert Simons argumentiert 1967 mit einem ganz ähnlichen Gegensatz: Es gehe in der neuen Rhetorik nicht um die „personal effectiveness“ eines Redners, sondern um die gemeinsame „social effectiveness“, mit der soziale Probleme kommunikativ behandelt werden.Footnote 79 Zentrale Funktionen der Rhetorik sind neben der gegenseitigen Verständigung Versöhnung, der Kompromiss und das kommunikative Deeskalieren von Konflikten. Dahinter steht eine umfassende Kritik am traditionellen Konzept des (männlich codierten) Redners und an der Idee eines weitgehend passiven Publikums, das zum Objekt der Einflussnahme gemacht wird. Daran knüpfen sich teilweise auch ethische Überlegungen, denn das klassische Konzept der Persuasion wird als Instrument der Ausbeutung, der Kontrolle und der Herrschaft abgelehnt. In diese Richtung argumentierte auch die feministische Rhetorikerin Sally Miller Gearhart und forderte 1979 eine „Womanization of Rhetoric“.Footnote 80 Einen in der amerikanischen Rhetorikforschung sehr einflussreichen Ansatz einer invitational rhetoric legten 1995 Sonja K. Foss und Cindy L. Griffin vor. Sie formulierten eine Theorie wertschätzender Kommunikation „beyond persuasion“Footnote 81, die von Prinzipien des Feminismus ausgeht.

Die traditionelle Rhetorik löst sich hier, um 1970, auf in eine allgemeine Kommunikationstheorie, deren Spezifik nicht mehr das sprachliche Überzeugungshandeln ist. Institutionell führte das zu einem Umbau der Rhetoric Departments in Departments of Communication, methodisch mündete diese Umorientierung Ende der 1960er Jahre nicht selten in eine Empirisierung und in eine neuerliche Annäherung an die Sozial- und Verhaltenswissenschaften, an Soziologie und Psychologie.Footnote 82 Der Neoaristotelismus hat in der internationalen Forschung einer Pluralität persuasiver, aber auch antipersuasiver Ansätze Platz gemacht – eine Pluralität, die aber bisweilen zur Beliebigkeit führt.

5 Schluss – und in Deutschland?

Wie sieht es in der deutschsprachigen Rhetorikforschung aus? Knapes Orator-Theorie, die ja den Versuch darstellt, das antike Paradigma theoretisch neu zu unterfüttern und einer Modernisierung zu unterziehen, hatte ich eingangs bereits genannt. Sie gehört zu jenen neoaristotelischen Rhetoriktheorien, die von den Vertretern der new rhetoric kritisiert werden, und tatsächlich muss man sich die Frage stellen, wie modern die Orator-Theorie ist, denn ihr zentraler Begriff, eben der des Orators, bleibt theoretisch weitgehend innerhalb des von der klassischen Tradition gesteckten Rahmens. Der Orator ist implizit männlich codiert, er nimmt in der rhetorischen Kommunikation die Rolle des privilegierten ‚Vorsprechers‘ oder eines ‚Dirigenten‘ ein, der weiß, wie man die Widerstände des Publikums überwinden kann, um seinem kommunikativem Ziel zum Erfolg zu verhelfen.Footnote 83 Wie die amerikanische Forschung der 1960er und 70er Jahre kritisiert hat, ist neoaristotelischen Theorien der Rhetorik ein Moment struktureller Gewalt inhärent, weil in der asymmetrisch angelegten Kommunikation die Autonomie des Publikums infrage gestellt wird – es ist der alte Vorwurf der Manipulation, den auch neuere Rhetoriktheorien nicht gänzlich ausräumen können. Den Gegenentwurf hierzu hat in gewisser Weise Josef Kopperschmidt in zahlreichen Publikationen seit dem Beginn der 1970er Jahre geliefert. Ihm geht es um die „philosophische Nobilitierung“ und eine Auseinandersetzung mit einem „sozialtechnisch reduzierte[n] Rhetorikverständnis“.Footnote 84 Mit diesem aus der Kritischen Theorie stammenden Begriff charakterisiert er die klassische Persuasionsrhetorik, wie sie auch Knape vertritt. Mit den Vertretern der amerikanischen new rhetoric eint Kopperschmidt, dass es im Grunde nicht um Persuasion im Sinne der klassischen Rhetorik – das Überreden, von dem Wilfried Stroh spricht – geht, sondern um die kommunikative Etablierung „kooperativen Handelns“Footnote 85 durch Überzeugungshandeln im Diskurs. Kopperschmidt bezieht sich damit auf die Diskurstheorie von Jürgen Habermas, die er rhetorisch wendet. Überreden und Überzeugen werden bei Kopperschmidt klar unterschieden und auch bewertet: Überreden zielt auf das ‚Angleichen‘ von Meinungen durch erfolgsorientierte, strategische Kommunikation, die auf ein partikulares Publikum zielt – hierfür steht die nouvelle rhétorique von Perelman und Olbrechts-Tyteca Pate. Dass ein Redner oder eine Rednerin vor einem konkreten Publikum steht und eine Rede hält, ist letztlich natürlich die rhetorische Standardsituation, die allerdings nach Kopperschmidt gerade zur philosophischen Nobilitierung der Rhetorik nicht taugt. Überzeugende Rede nämlich zielt für Kopperschmidt nicht auf den Erfolg des Einzelnen, sondern die Verständigung aller, sie zielt auf Zustimmung eines universellen Publikums. Das ist – innerhalb des agonalen Paradigmas – das Gegenprogramm zu allen neoaristotelischen Rhetoriktheorien. Vielleicht stecken die Orator-Theorie Knapes und die Verständigungsrhetorik Kopperschmidts ja das Feld ab, innerhalb dessen Rhetoriken, die überhaupt Persuasion thematisieren, sich zu verorten haben. Wie ich zu zeigen versucht habe, gibt es aber auch jenseits dieses Feldes des Agonalen, des Streites um Deutungen und Meinungen sowie des Begründens eine Pluralität theoretischer Ansätze: Rhetoriken jenseits der Persuasion.