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In der Einleitung dieses Bandes hat Martina Wagner-Egelhaaf herausgestellt, dass sich schwerlich von der ‚einen Rhetorik‘ im Singular ausgehen lässt, hat sich die Disziplin doch vielfach ausdifferenziert und pluralisiert, sodass treffender von ‚Rhetoriken‘ im Plural zu sprechen sei. Im selben Zuge wurde damit die Frage aufgeworfen, was diese vielfältigen Rhetoriken miteinander verbindet. Die hierdurch geöffnete Klammer soll in dieser Zusammenfassung mit Blick auf den gesamten Band geschlossen werden. Gefragt ist damit natürlich auch nach einer reflektierenden Standortbestimmung der Rhetoriken sowie dem Verhältnis zu ihnen verbundenen Disziplinen. Das damit aufgestellte Erkenntnisinteresse bedeutet in dieser umfassenden Formulierung ein forderndes Unterfangen, das – so mag man meinen – den Alten und Weisen des Faches vorbehalten sein sollte. Es sei daher vorab, nicht nur im Sinne einer captatio benevolentiae, auf das Offenkundige, wenngleich anderswo nicht immer Ausgesprochene verwiesen, dass die Betrachtungen von einem subjektiven Standpunkt, Wissenshorizont und Erfahrungsschatz aus erfolgen – und damit keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können. Meine Position ist dabei die eines ‚Nachwuchswissenschaftlers‘, der kein genuiner Rhetoriker (sondern Jurist) ist und sich (im Rahmen eines laufenden Dissertationsprojekts) noch mit der Disziplin vertraut macht. Der Blick ist damit der eines sich einarbeitenden Beobachters – nicht eines bereits dem Fach zugehörigen Teilnehmers mit einem gefestigten Standpunkt. Das Vorgehen erfolgt daher notwendigerweise tentativ-tastend und ist angesiedelt zwischen den Polen einer eigenständigen Beurteilung (so vor allem am Anfang) gegenüber einer Wiedergabe der Autoritäten des Faches (Richtung Schluss).

Ein wiederkehrendes Motiv der Beiträge dieses Bandes ist das des Ein- bzw. Ausschlusses, womit indirekt die Frage nach den vom Wissenschaftssystem produzierten epistemischen Machtstrukturen aufgeworfen wird.Footnote 1 So bemängelt Thomas Bauer in seiner dezidierten Kritik an der (hierzulande) vorherrschenden eurozentrischen Rhetorikkultur eine Vernachlässigung und Nichtbeachtung der arabischen Rhetoriktradition. Selbst im rhetorischen Universalkompendium, dem Historischen Wörterbuch der Rhetorik, werde die arabische Rhetorik nur beiläufig gestreift, obwohl sich, wie Bauer zeigt, mit ihrer Hilfe ein Desiderat der westlichen Figurenlehre schließen lässt. Dadurch wird ein Topos umgekehrt, der immer wieder selbst in der Rhetoriktradition beansprucht wird, die von Bauer als ausschließend (in zeitgenössischer Terminologie könnte man gar von ‚diskriminierend‘ sprechen) kritisiert wird. So ist die Klage über fehlende Wahrnehmung der Rhetorik keine unbekannte; nur dass diese Nichtrezeption nicht kulturell-geographisch erklärt werden kann, sondern auf Gründen beruht, die innerhalb der Geschichte und systemischen Logik der die Rhetorik zurückweisenden Disziplinen zu suchen sind. So wird der Rhetorik insbesondere in der Philosophie und der Rechtswissenschaft ein schwerer Stand nachgesagt, läuft doch der ambige und kontingenzbejahende Charakter der Rhetorik diesen nach Wahrheit oder zumindest Eindeutigkeit strebenden Fächern zuwider – über die Rhetorikverachtung in der romanistischen Rechtsgeschichte weiß Ulrike Babusiaux in diesem Band zu berichten. Bekannt ist zudem, dass die Rhetorik als vermeintlich ‚bloße Rede-Kunst‘ zu Johann Wolfgang von Goethes Zeiten in Verruf geriet (oder bereits geraten war), auch wenn Rudolf Drux nachweist, dass Goethes Frankfurter Hymnen vom bewusst-kalkulierten Einsatz der Schulrhetorik profitieren – trotz anders lautender Legendenbildung durch den Poeten Goethe selbst, der einen Einfall spontaner poetischer Inspiration vorgab. Dass nicht nur in der Literaturproduktion, sondern auch in der diese analysierenden Literaturwissenschaft ab einem gewissen Zeitpunkt ein einseitig auf die Formenlehre reduziertes Rhetorikverständnis der Reputation der Rhetorik abträglich war, sprechen in diesem Band Martina Wagner-Egelhaaf und Stefan Arnold an. Um von dieser Ablehnung der Rhetorik in anderen Disziplinen wieder auf die innerhalb des Faches vorhandenen Ausschließungsmechanismen zurückzukommen, kann man zuletzt einen Blick auf den Beitrag von Dietmar Till werfen: Er zeigt auf, dass sich Rhetorik auch jenseits von Persuasion verstehen und betreiben lässt. Die dabei vorgenommene Lektüre der new rhetoric US-amerikanischer Provenienz belegt, dass der deutschen Debatte (mit idealtypisch Joachim Knapes Oratortheorie auf der einen und Josef Kopperschmidts Verständigungsansatz auf der anderen Seite) durch die Fixierung auf den Persuasionsbegriff ebenfalls Verengungstendenzen inhärent sind.

Diese innerrhetorischen Ausschließungen geschehen, anders als bei der Diskreditierung der Rhetorik durch fremde Disziplinen, sicherlich selten bewusst. Vielmehr dürfte die Einengung des eigenen Theoriehorizonts oftmals aus unreflektierter und implizit ablaufender Wissensrezeption folgen. Wenig überraschend wirkt sich diese sodann auch auf die daran anschließende Wissensproduktion aus. So liegt es aus westlicher Perspektive natürlich nahe, sich der Rhetorik im ersten Zugriff über die antiken Klassikerwerke der griechisch-römischen Rhetorik zu nähern, einfach weil diese als kanonische Texte tradiert werden, was sich etwa in ihrer ausführlichen und systematisch regelmäßig an erster Stelle stehenden Besprechung in Einführungswerken und Lehrbüchern widerspiegelt.Footnote 2 Insofern wissenschaftlich-forschendes Arbeiten zu einem Gutteil auch schlicht auf Imitation des ‚Bestehenden‘ beruht, handelt es sich um einen selbstverstetigenden Prozess. Dieses ‚Bestehende‘ ist maßgeblich durch die Faktoren der Vertrautheit mit Personen und Begriffen (etwa aus vor-wissenschaftlicher Bildung) und Zugänglichkeit von Texten bestimmt.Footnote 3 Das kann man durchaus selbstkritisch verstehen: Denn wer kennt hierzulande den von Thomas Bauer in diesem Band erwähnten ʿAbdalqāhir al-Ǧurǧānī? Und wer ist schon von alleine auf die Idee gekommen, die deutschen Übersetzungen seiner rhetorischen Schriften zu konsultieren? Stattdessen beginnt in diesen Breitengraden, so kann ich aus eigener Erfahrung berichten, die rhetorikwissenschaftliche Sozialisation regelmäßig (man möchte rufen: selbstverständlich!) mit der Rhetorik des Aristoteles; ganz so, wie es Hoyt Hopewell Hudson bei der Wiederentdeckung der Rhetorik vor 100 Jahren empfahl: „At any rate, we do well to begin with Aristotle in building up our concept of rhetoric”Footnote 4 (dieses Zitat wird aufgegriffen und kontextualisiert von Dietmar Till in diesem Band).

Hiermit wird unmittelbar die Frage nach dem Kanon der Rhetorik aufgeworfen. Vergleicht man die zentralen Referenzpunkte dieses Bandes, sticht hervor, dass die zeitgenössischen Rhetoriken immer noch maßgeblich von den antiken Quellen inspiriert sind. Ausreißer sind insofern die Beiträge zu Rhetoriken anderer Kulturkreise. So enthalten sich die Beiträge von Reinhard Emmerich und Regina Grundmann eines Verweises auf die griechisch-römische Rhetorikliteratur. Im Beitrag von Thomas Bauer findet die Rhetorik Aristoteles‘ zwar in einem Zitat Erwähnung, das aber lediglich angeführt wird, um hieran die weitverbreitete Ignoranz ‚westlicher‘ Kulturgeschichtsschreibung gegenüber der arabischen Rhetorik zu belegen. Im Übrigen kommen die hier versammelten Aufsätze nicht ohne den Verweis auf Aristoteles, Cicero und/oder Quintilian aus. Damit ist in Grundzügen bereits ein Kanon ‚alter Rhetorik‘ skizziert.

Es wäre nun keine eigens nennenswerte Feststellung, hieraus zu schließen, dass die Rhetoriken in einer langen Tradition stehen. Durchaus von Belang ist aber die damit einhergehende Beobachtung, dass sich die Rhetorikforschung nicht gänzlich von dem Etikett des bildungsbürgerlich Gelehrten freizeichnen kann. So legen die Rhetoriken oftmals einen Schwerpunkt auf die Betrachtung von Vergangenem, zeichnen sich daher nicht so sehr durch ein ausgeprägtes Gegenwartsinteresse aus wie ‚junge‘ Wissenschaftsdisziplinen;Footnote 5 und selbst rhetorische Untersuchungen ohne primär historische Untersuchungsgegenstände operieren tendenziell auf einem eher abstrakt-theoretischen Level. Zeitgenössische Phänomene, konkrete Themen der Jetztzeit, sie werden – so der subjektive Eindruck, dem sicherlich Gegenbeispiele entgegengehalten werden könnenFootnote 6 – vergleichsweise selten mit einem rhetorischen Zugriff angegangen. Nicht zuletzt ist die rhetorische Enzyklopädie ein Historisches Wörterbuch. Zudem demonstrieren Beiträge der Rhetoriken oft nicht nur profunde Geschichtskenntnisse und beeindruckende Belesenheit, sondern sind darüber hinaus auch Ausweis beachtlicher Fremdsprachenkenntnisse, insbesondere der ‚Alten Sprachen‘, was sich an dem behänden Umgang mit lateinisch-griechischen termini technici sowie fremdsprachigen Zitaten ablesen lässt. Mit dieser Feststellung ist gar keine negative Wertung verbunden, die auch angesichts des vorrangegangen Satzes geradezu karikativ in Frage gestellt würde; allein sei hierauf hingewiesen und zugleich gefragt, ob sich die Rhetorikforschung hierdurch nicht auch zum Teil selbst im Wege steht, weil die komplexe FachterminologieFootnote 7 die Rezeption durch ‚moderne‘ Fächer hemmt, überhaupt ihre Popularisierung auch außerhalb der Wissenschaft erschwert.Footnote 8

Insofern kann man darüber nachdenken, ob sich nicht die derzeit populäre Diskursanalyse durch rhetorische Kategorien ergänzen ließe, soweit sich das Untersuchungskorpus, wie häufig zu beobachten, auf eine überschaubare Anzahl von Texten beschränkt. Mit Diskursanalyse meine ich hier übrigens durchaus zwei voneinander abgrenzbare diskursanalytische Methoden, nämlich zum einen die eher an der Sprachverwendung interessierte linguistische Diskursanalyse, zum anderen aber auch die vor allem Machthierarchien fokussierende sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Man muss dabei gar nicht so weit gehen, dass man (mit schnell als kolonialisierend missverstehbarem Unterton) fordert, dass die zeitgenössische Rhetorik „von den modernen Wissenschaften Zuständigkeitsterrain zurückerobern“ müsse.Footnote 9 Es genügt bereits der Hinweis, dass die Rhetorik hilfreiche analytische Kategorien bereithält – namentlich die Figurensystematik, die Argumentationslehre sowie die metatextuellen Kategorien der rhetorischen Situationalität, Positionalität und Medialität –, die etwa von der Diskursanalyse ergänzend in Erwägung gezogen werden könnten, ohne dass deswegen der methodische Zugriff oder das primäre Erkenntnisinteresse derselben korrumpiert würde.Footnote 10

Ganz konsequent lässt sich das hiermit und auch bereits anfangs gezeichnete Bild einer vernachlässigten oder isolierten Rhetorik freilich nicht durchhalten. Denn entgegen diesem oft bemühten Gemeinplatz wurde die Rhetorik durchaus sektoral rezipiert und damit zu einem multidisziplinären Fach, eben den Rhetoriken.Footnote 11 Aufgegeben werden muss dafür indes ein Anspruch auf systematisch-dogmatische Geschlossenheit, wie er in der Rechtswissenschaft gepflegt wird, die aber auch genau deshalb „disziplinären Isolationismus“ und „asymmetrische Interdisziplinarität“ zu bedauern hat.Footnote 12 Dagegen wird die Transdisziplinarität der Rhetorik gerade durch die dem Tagungstitel gemäße Vielfalt der in diesem Buch versammelten Stimmen und Themengebiete belegt. Die hier versammelten Beiträge schlagen einen Bogen in geschichtlicher Hinsicht von der Antike bis in die Neuzeit, versammeln interkulturelle Perspektiven und besprechen Rhetorik in philosophischer, kommunikationstheoretischer, rechts- und literaturwissenschaftlicher Absicht. An dieser Pluralität zeigt sich, dass die Rhetorik als operativ geschlossene, einheitliche Disziplin nurmehr als Wunschvorstellung existiert, sie in der Praxis vielmehr als ein jeweils individuell und disziplinär genauer zu konkretisierendes „Frageinteresse“ fortbesteht.Footnote 13 Um den Vorzug dieses bescheidenen Selbstverständnisses zu erkennen, ist wieder ein Vergleich mit dem sozialen Feld des Rechts dienlich. Denn die diesem eigene Tendenz zur Arkanisierung, Autonomisierung und Institutionalisierung seines Wissens, Jargons und Habitus errichtet eine Grenze, hinter der Theorie, Technik und Praxis eines ganzen Berufsstandes dem außenstehenden Laien weitgehend unverständlich und unzugänglich bleibt.Footnote 14 Rhetoriken haben dagegen aufgrund ihrer Offenheit und Anschlussfähigkeit gegenüber der multidisziplinären Mehrfachperspektivierung im emphatischen Sinne das Potenzial, „IntegrationswissenschaftFootnote 15 zu sein.