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Dass es nicht nur eine oder die Rhetorik gibt, zeigt sich an unterschiedlichen Reaktionen, wenn das Stichwort ‚Rhetorik‘ fällt. Vielfach wird Rhetorik gleichgesetzt mit Propaganda und Manipulation, anderenorts denkt man an ausdifferenzierte Figurenkataloge zur Gestaltung ‚schöner‘ Sprache und wieder andere Gesprächsteilnehmer/innen sind überzeugt von der grundsätzlich rhetorischen Verfasstheit jeglicher Sprachäußerung. Auch und gerade im interdisziplinären Austausch zeigen sich Differenzen, die oft gar nicht auf ein verschiedenes Grundverständnis von Rhetorik zurückzuführen, sondern unterschiedlichen disziplinären Pragmatiken geschuldet sind. Der vorliegende Band geht auf eine am 5. und 6. November 2021 in Münster durchgeführte Tagung zurück,Footnote 1 die der Frage nachging, welchen Gebrauch von Rhetorik verschiedene Fachdisziplinen machen. Deswegen firmierte die Tagung – und der Tagungsband übernimmt den Obertitel – unter der Überschrift ‚Rhetoriken‘. Mit dem Plural sind unterschiedliche Verstehensweisen und Auffassungen von Rhetorik angesprochen, die in Beiträgen verschiedener Fachvertreter/innen dargelegt und reflektiert werden. Neben Rechts- und Literaturwissenschaftler/innen aus wiederum verschiedenen Teilbereichen ihrer Fächer bzw. aus unterschiedlichen Philologien sind dies auch die Philosophie und natürlich die Disziplin der Rhetorik selbst, die in Deutschland als eigenständiges Fach nur in Tübingen übrig geblieben ist bzw. dort von Walter Jens 1967 wieder eingeführt wurde. Ein besonderer Akzent der Tagung und auch dieses daraus resultierenden Tagungsbands liegt auf dem interkulturellen Aspekt, drängt sich doch die Frage auf, ob und wie universal die Rhetorik bzw. wie eurozentristisch sie letztlich ist. Nur weil wir davon ausgehen, dass die Rhetorik im antiken Griechenland ihren Ursprung hat, bedeutet das nicht, dass die ganze Welt einem gemeinsamen, auf Aristoteles, Cicero und Quintilian zurückführenden Rhetorikverständnis folgt und folgen muss. Deshalb wurden bewusst Beiträge zur jüdischen, zur arabischen sowie zur chinesischen Rhetorik aufgenommen, wobei gewiss auch hier zu sehen ist, dass man nicht von der jüdischen, der arabischen und der chinesischen Rhetorik sprechen kann. Jedenfalls regt die historisch und kulturell begründete Pluralisierung und Differenzierung der Rhetorik dazu an, nach dennoch bestehenden Gemeinsamkeiten und Verbindungen zu suchen.

Dietmar Till spürt in seinem Beitrag, der eine Transformationsgeschichte der Rhetorik liefert, Formen nicht-persuasiver Rhetorik nach. Sein Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich in der Folge des von Aristoteles in seiner Rhetorik explizierten Rhetorikverständnisses ein Bild von der Rhetorik als Kunst der Überredung durchgesetzt hat. Allerdings verweist er darauf, dass das epideiktische Genre, die Lobrede, die neben der Rede vor Gericht und der politischen Beratungsrede mit zum Kernbereich der antiken Rhetorik gehört, gerade nicht auf Überredung setzt, sondern eine ästhetische Wirkabsicht im Blick hat. Ästhetik und Überredung widersprechen einander freilich nicht, vielmehr steht für die alten Rhetoriken der Redeschmuck im Dienst der Persuasion. Tatsächlich war die Rhetorik über die Jahrhunderte hinweg epideiktisch ausgelegt, da die politischen Rahmenbedingungen Deliberation eher nicht zuließen. Im 18. Jahrhundert, so zeigt der Beitrag, vollzieht sich die Transformation der Persuasionsrhetorik in eine bereits in der epideiktischen Tradition angelegte Rhetorik der Prosa. Während im 19. Jahrhundert die Rhetorik auf die Stilistik, die Lehre von den Tropen und Figuren, reduziert wird, kommt es im 20. Jahrhundert zu einer Wiederentdeckung der Persuasion. Jenseits des Neoaristotelismus zeichnet sich in der US-amerikanischen Forschung eine bemerkenswerte Verschiebung des rhetorischen Paradigmas ab, indem der alten Rhetorik des Streits eine Rhetorik der Verständigung gegenübergestellt wird. Auch der sich Ende des 20. Jahrhunderts etablierenden feministischen Rhetorik ging es um Pluralisierung und kommunikatives Miteinander. Ein Blick auf die deutsche Rhetorikforschung der Gegenwart beleuchtet die Spannbreite zwischen einem fortwirkenden neuaristotelischen Rhetorikverständnis und einer Rhetorik, die im Gefolge der Habermas’schen Diskurstheorie auf kooperatives Handeln setzt.

Die rhetorische Situation wird im Beitrag von Rüdiger Campe als Struktur der anwaltlichen Rede und damit als Alternativform zur neuzeitlichen Kommunikation gefasst, wie sie etwa George Herbert Mead in seiner Sozial- und Kommunikationstheorie dargelegt hat. Die rhetorische Situation der Advokatur ist dreistellig, bestehend aus dem anwaltlichen Redner, dem Klienten, für den er spricht, und dem Richter, zu dem er spricht. Fürsprache ist also die Rede für einen anderen, d. h. den Klienten, vor dem Anderen, d. h. dem Richter. Aufgerufen wird eine philosophische Debatte, in der es darum geht, ob die advokatorische Rede ein Modell für die gesellschaftliche Kommunikation der Moderne darstellen kann. So fordert etwa Gayatri Chakravorty Spivak, die Advokatur als Strukturmodell für Vergesellschaftung, insbesondere für Klassengesellschaften, als theoretischen Ausgangspunkt und für politische Handlungskonzepte zu entwickeln. Am Beispiel von Thomas Hobbes‘ Leviathan zeigt der Beitrag in seinem zweiten Teil, wie die rhetorische Sprechsituation in der Frühen Neuzeit zu einer privatrechtlichen Figur der Repräsentation umgebaut wird. Hobbes setzt Autorität, d. h. Verfügungsgewalt über Worte und Handlungen, mit Besitz, d. h. Verfügungsgewalt über Güter, parallel und macht damit die redende und handelnde Person zum Agenten und zum Produkt einer vertraglichen Kommunikation. Damit tritt an die Stelle der rhetorischen dreistelligen Sprechsituation die duale Kommunikationssituation nach dem Vorbild des Vertrags. Ein kurzer Blick auf drei Beispiele aus der Literatur um 1800 (Goethes Werther, Schillers Don Carlos, Hölderlins Elegie „Heimkunft“) verdeutlicht das Fortwirken der rhetorischen Fürsprache im gesellschaftlichen Interaktions- und Kommunikationszusammenhang der Moderne.

Der Beitrag von Ulrike Babusiaux befasst sich mit der Bedeutung der Rhetorik für das römische Recht, das traditionell als überzeitlicher Kern der Rechtswissenschaft gilt. Er argumentiert, dass Skepsis gegenüber der Rolle der Rhetorik für die römischen Juristenschriften, die Mitte des 20. Jahrhunderts in der Forschung zum römischen Recht vorherrschend war, einer differenzierteren Sichtweise gewichen ist. Erläutert wird, dass das Rhetorikverständnis der romanistischen Rechtswissenschaft durch aktuelle Anliegen der Privatrechtswissenschaft determiniert ist. Damit verbindet sich die Frage nach den Implikationen des jeweiligen Rhetorikverständnisses für die Privatrechtswissenschaft, aber auch für die Rechtswissenschaft als Gesamtdisziplin. Der Beitrag zeichnet den Streit unter Juristinnen über die Bedeutung der Rhetorik für die römischen Juristenschriften nach, die als Teil der lateinischen Literatur betrachtet werden. Paradigmatisch betrachtet wird im Hinblick auf Werkindividualität und Rhetorik der römischen Rechtsgelehrte Papinian, dessen kasuistisch erscheinende Fallketten als dialektisch-rhetorische Amplifikation gelesen werden können. Papinian macht, wie der Beitrag verdeutlicht, klare Anleihen bei der Statuslehre. Ethos und Pathos werden gezielt eingesetzt, um die rechtliche Argumentation amplifizierend zu unterstützen.

Über die mit der politischen Beratung verbundenen Schwierigkeiten und Dilemmata im alten China handelt der Beitrag von Reinhard Emmerich am Beispiel zweier Schriften des Gelehrten Han Fei (ca. 280–233 v. u. Z.), dem „Shui nun“ und dem „Nan yan“. Es wird deutlich, dass die Beratung (Zureden mit dem Ziel des Überzeugens) als rhetorisches Genre in hohem Maße abhängig ist von Wohlwollen und Einsicht des zu Beratenden, d. h. des Herrschers. Die Texte, deren Argumentationsstruktur und rhetorische Verfasstheit genau analysiert und hinsichtlich ihrer Funktion und möglichen Adressatenbezüge diskutiert werden, sind getragen vom Bewusstsein äußerster Gefährdung, in die sich der Berater bringen kann, und raten daher zu äußerster Vorsicht und Differenziertheit. Wie auch in der westlichen Rhetorik spielt die Frage der Angemessenheit eine wichtige Rolle; an ihr bemessen sich die zum Einsatz kommenden rhetorischen Mittel. Zu den diskutierten Merkwürdigkeiten des Texts gehört es, dass sich der Autor des „Shui nun“ nie bei seinem Namen nennt, mitunter aber aus der Ich-Perspektive und bisweilen aus der Perspektive eines auktorialen Beobachters über eine dritte Person schreibt. Dass der Berater eigentlich immer nur Fehler begehen kann, egal ob er weitschweifig und blumig schreibt oder geradlinig, wird zugespitzt im „Nan yan“ zum Ausdruck gebracht.

Elisabetta Mengaldos Beitrag diskutiert den engen Zusammenhang von Rhetorik und Episteme. Er zeigt, wie sich die inventio/ars inveniendi und die Topik, die in der antiken Rhetorik noch eng miteinander verbunden waren, zwischen Späthumanismus und der Zeit des Barock auseinander differenzieren. Dabei werden Galileo Galilei, Francis Bacon und Alexander Gottlieb Baumgarten als Kronzeugen herangezogen. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung war der wissenschaftliche Fortschritt mit seinen Entdeckungen und Erfindungen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren die Begriffe ‚Entdeckung‘ und ‚Erfindung‘ noch nicht vollständig voneinander gelöst, doch wird deutlich, dass sich die ars inveniendi zunehmend in Richtung Fiktionalität entwickelte, während die Topik in Form von loci communis in Kollektaneen einging und für Formen der Kurzprosa prägend wurde. Bei Baumgarten ist die Übertragung von inventio und Topik von der Logik bzw. Rhetorik auf die Ästhetik zu beobachten. Schließlich wird an Lichtenbergs Sudelbüchern die Reaktivierung und Umfunktionierung alter topischer Verfahren im Hinblick auf die Er-Findung von Neuem vorgeführt.

Gegen den Eurozentrismus der Rhetorikforschung argumentiert Thomas Bauer. In seinem Beitrag stellt er mit der Figur der Kināya ein rhetorisches Element vor, für das es in der griechischen und lateinischen Rhetorik keine Entsprechung gibt. Am Anfang des Artikels steht ein instruktiver Überblick über die Entwicklung der arabischen Rhetoriklehre bis hin zur sog. ‚Standardtheorie‘. Diese kann, weil semiotisch begründet, als ‚Referenztheorie‘ bezeichnet werden. Für die Erklärung der Kināya ist allerdings eine vorgängige Vergleichstheorie unabdingbar. Bei der Kināya handelt es sich um eine Implikationsreferenz, insofern als ein Nachgezogenes das Nachziehende mitmeint. Ein nichteigentlicher Ausdruck ist nämlich nicht notwendigerweise ein übertragener Ausdruck. Sprechende Beispiele zeigen, dass die Kināya auch im Deutschen vorkommt und, wie die Analyse von Eduard Mörikes Gedicht „Denk es, o Seele“ vor Augen führt, für die Gedichtanalyse überaus ergiebig ist. Wo die Forschung eine Metapher gesehen haben will, zeigt Bauer, wie durch fortschreitende Konkretisierung Verdichtung und eine zunehmend dringlicher werdende Aussage zustande kommen. Während eine Metapher übertragene Rede ist, vollzieht sich in Mörikes Gedicht zugespitzte veritative Rede. Auf diese Weise wird gleichzeitig sowohl Allgemeingültiges ausgesagt als auch individuelle Betroffenheit ausgelöst. Implizierendes und Impliziertes sind gleichermaßen real und eben nicht tropisch. Die Kināya ist also, wie der Beitrag vorführt, kein ornatus zur Ausschmückung der Rede, sondern die im Fall von Mörikes Gedicht einzig mögliche Form, den Sachverhalt auszudrücken.

Der Beitrag von Rudolf Drux dokumentiert den rhetorischen Blick der germanistischen Literaturwissenschaft und fokussiert dabei auf den jungen Goethe, indem er dessen Ode „Wanderers Sturmlied“ zum Ausgangspunkt nimmt. Er zeigt in drei Schritten die ‚kalkulierte Spontaneität‘, die Ton und Gestus der Frankfurter Hymnen bestimmen. Das poetologische Postulat einer ‚herzrührenden Schreibart‘, wie es etwa in Johann Jakob Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) vorgetragen wird, in Verbindung mit der sich aus der Rhetorik herschreibenden Forderung nach emphatischer Deklamation liegen Goethes Sturm und Drang-Dichtung ebenso zugrunde wie das Vorbild Pindars, dessen vermeintlicher Verzicht auf ein festes Metrum dem Ideal des ‚Originalgenies‘ in besonderer Weise entgegenzukommen schien. Die Analyse erweist Goethes Hymnen als Produkt eines genau kalkulierten Kompositionsprozesses, bei dem die bewährten Mittel der rhetorischen Stillehre wirkungsvoll umgesetzt werden. Als paradox erscheint dabei, dass sich das Originalgenie denn doch auf die formalisierten Grundlagen der Schulrhetorik stützt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass das Genie letztlich rhetorisch verfasst ist. Eine weitere Paradoxie liegt darin, so macht der Beitrag deutlich, dass eben das Missverständnis Pindars, dessen Lyrik ohne metrische Regeln auskomme, zur Ausbildung einer neuen Art von Lyrik beitrug.

Auch wenn die Gerichtsrede heute verfallen scheint, findet sie gleichwohl immer noch statt. Thomas-Michael Seibert identifiziert, ausgehend von der Praxis vor Gericht, drei Rhetoriken i. S. v. Strategien: Sachlichkeit, Kampfrhetorik und informale Prozessrhetorik. Sachlichkeit zielt auf Klarheit und orientiert sich an den Tatsachen, die forensisch das Ergebnis der Beweisaufnahme sind. Eine besondere Rolle spielt dabei die Fehlerargumentation, die auf der Seite der Sachlichkeit durchaus auch selbst produziert, aber vor allem auf der gegnerischen Seite aufgespürt wird. Das zentrale Anliegen des rhetorischen Produkts der Sachlichkeit ist es, ergebnisneutral zu verfahren. Die Kampfrhetorik trägt der Tatsache Rechnung, dass Agonalität jeden Rechtsstreit bestimmt. Auch Fehleraufweis kann ein kampfrhetorisches Mittel sein. Ein anderes Mittel ist das Ablehnungsverfahren, bei dem Befangenheit geltend gemacht wird. Kampfrhetorik zielt häufig auf Verlängerung und Aufschub des Verfahrens, rhetorisch gestützt durch das klassische rhetorische Mittel der amplificatio. Im Rahmen der informalen Prozessrhetorik hat, wie der Beitrag beobachtet, die Bedeutung von sog. deals zugenommen, für die es weder Redeformeln noch Formregeln gibt. Der Zweck, so argumentiert Seibert, müsse sich rhetorische Verschleifungen gefallen lassen. Form, lautet eine weitere Feststellung, könne durch Widerstand verändert werden.

Stefan Arnold und Martina Wagner-Egelhaaf diskutieren in ihrem Beitrag die Rhetorik als gemeinsame Grundlage von Recht und Literatur bzw. von Rechts- und Literaturwissenschaft. Dabei gehen sie auf unterschiedliche Verwendungen des rhetorischen Paradigmas in Rechts- und Literaturwissenschaft ein. Während in der Literaturwissenschaft die Rhetorik vielfach auf die Figurenlehre reduziert wird, hat sie in der Rechtswissenschaft insgesamt einen schweren Stand, gilt sie doch häufig als etwas der ‚eigentlichen‘ juristischen Aussage Hinzugefügtes, das die Rede lediglich gefälliger machen soll und daher den Verdacht des Scheins auf sich zieht. Der Beitrag plädiert für ein umfassendes und grundlegendes Verständnis des Rhetorischen, das jegliche Äußerung in Recht und Literatur prägt. Am Beispiel des Projekts „Rhetoriken. Begründung und Geltung in Recht und Literatur“ wird auf die Vielgestaltigkeit der Rhetorik verwiesen und ausgeführt, wie in beiden Disziplinen, der Rechts- und der Literaturwissenschaft, Geltungsbegründungen rhetorisch geprägt sind. Auf literaturwissenschaftlicher Seite wird dies am Beispiel der Poetik des 18. Jahrhunderts exemplifiziert, die ihre Geltung nicht zuletzt über eine Rechtssemantik zu begründen sucht. Auf rechtswissenschaftlicher Seite wird auf die rhetorische Faktur von Gerichtsurteilen aufmerksam gemacht. Der Beitrag stellt eine differenzierende Matrix vor, mittels derer der Geltungsbegriff aufgefächert werden kann, um ihn so vertiefenden Analysen nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern gerade auch in der Literaturwissenschaft, in der ‚Geltung‘ als disziplinärer Terminus wenig eingeführt ist, zur Verfügung zu stellen.

Der Beitrag von Regina Grundmann befasst sich mit der jüdischen Tradition der Responsa, die in Form eines Gutachtens religiöse Antworten auf schriftlich gestellte Anfragen geben, eine weit über tausend Jahre alte, bis heute praktizierte Form. Der Großteil der gestellten Fragen bezieht sich auf die praktische Halacha, das jüdische Religionsgesetz. Dabei nimmt der Beitrag unterschiedliche Rhetoriken in den Blick, wie sie sich in Responsa der drei großen jüdischen Denominationen, der Orthodoxie, des Konservativen Judentums und des Reformjudentums, zeigen. Während orthodoxe Responsa ausgeprägt Bezug auf die Tradition nehmen und überlieferte Argumentationsmuster verwenden, z. B. den Bescheidenheits- oder den Autoritätstopos sowie Metaphoriken des (richtigen) Wegs oder der Hell-Dunkel-Unterscheidung, distanzieren sich die Responsa des Konservativen Judentums, das eine Synthese von Tradition und Moderne für möglich hält, von traditionellen Autoritäts- und Hierarchiekonzepten. Stattdessen wird ein formalisiertes, transparentes und den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie verpflichtetes Entscheidungsverfahren vertreten, das nichtnormativ argumentiert, Quellen kontextualisiert und pluralistisch ausgerichtet ist. Die Respondent/innen – wie im Reformjudentum können auch Frauen Responsa verfassen – legen ihre persönlichen Positionen offen und geben auch alternativen Meinungen Raum. Teilweise wird ein durchaus wissenschaftlicher Anspruch verfolgt. Trotz ihrer formalen Transformationen der Responsa legen die im Konservativen Judentum verfassten Responsa Wert darauf, Teil der überlieferten Responsa-Tradition zu sein. Das Gleiche gilt für das Reformjudentum, in dem es auch kritische Sichtweisen auf das Genre Responsa gibt. In reformjüdischen Responsa wird der Kollektivcharakter der gegebenen Antworten betont, die sich indessen lediglich als Vorschlag oder Empfehlung verstehen. Die Halacha wird zwar in die Entscheidungsfindung einbezogen, ist aber nicht mehr die alleinige oder oberste Autorität. Wissenschaftliche Erkenntnisse genießen einen hohen Stellenwert. Es wird eine persönliche, nichthierarchische Kommunikationssituation hergestellt, die Diskussionen befördert. Der Artikel führt unterschiedliche rhetorische Verfahrensweisen performativer Persuasion vor Augen.

Eine rückblickende Reflexion von Marcus Schnetter über Vielfalt und Einheit der Rhetorik(en), wie sie in den Beiträgen dieses Bandes diskutiert wurden, beschließt die versammelten interdisziplinären und interkulturellen Perspektiven. Beobachtet werden disziplinäre Ein- und Ausschlüsse sowie die Etablierung eines rhetorischen Referenzkanons. Überlegungen zum Verhältnis von Diskursanalyse und Rhetorik ergänzen das Bild eines offenen, sich nicht systematisch schließenden Paradigmas der Rhetorik(en).