Schlüsselwörter

1 Einleitung

Neben der geläufigen Behauptung, dass für eine nachhaltige Stadtentwicklung eine „grundlegende“ Transformation der sozial-ökologischen Systeme zentral sei, wird heute häufig dem Konzept der Resilienz und hier insbesondere dem der „urbanen Resilienz“ große Bedeutung zugeschrieben. Urbane Systeme, so die dabei geäußerte Meinung, sollen möglichst „anpassungs- und transformationsfähig gestaltet werden“ (Ziehl 2020, S. 9). Ein Kernthema aktueller Diskussionen um die Resilienz ökologischer Systeme ist, so gesehen, der Zusammenhang zwischen Stabilität und Beharrungsvermögen eines Systems auf der einen Seite und Veränderung und gefordertem radikalen Wandel auf der anderen.Footnote 1 In der Ökologie war es C.S. Holling (1973), der den Begriff „Resilienz“ prominent in verschiedene wissenschaftliche Debatten einbrachte und damit aktuelle Diskussionen weit über die Ökologie hinaus prägte (siehe Rink et al. in diesem Band). Auch wenn Holling und andere zumindest rhetorisch immer wieder versuchten, das Konzept der Resilienz gegen traditionelle Gleichgewichtsmodelle der Ökologie abzugrenzen, müssen zumindest bestimmte systemerhaltende Faktoren im Vorhinein als zentral oder tragfähig definiert werden, da sonst kein Maßstab bzw. keine Blaupause für ein Zurückpendeln oder Abprallen (lateinisch: resilire) gefunden werden kann. Der Status quo dient damit auch in ökologischen Resilienzkonzepten als (idealtypischer) Referenzpunkt.

Ökosysteme im Denkmodell Hollings können mittels verschiedener Rückkopplungsprozesse externe Störungen mal mehr, mal weniger erfolgreich abfedern. Entweder kehren sie in ihren (implizit) idealen Zustand zurück oder die Rückkopplungen werden durch die Störungen derart verarbeitet, dass das gesamte System in einen anderen Systemzustand übergeht. Hier werden Konzepte von Grenzen, Schwellenwerten oder thresholds zentral. Bestimmte Grenzen dürfen nicht überschritten werden, wenn nicht ein anderes, häufig von großen Unsicherheiten gekennzeichnetes System das Ergebnis sein soll.

Dieses Denkmodell wurde insbesondere seit der Gründung des Stockholm Resilience Centre im Jahre 2007 medial erfolgreich vermarktet. Es fand mittlerweile mit der Ansicht, dass für die Anpassungsfähigkeit des (Erd-)Systems bestimmte Grenzen und Kipppunkte (tipping points) nicht überschritten werden dürfen, auch in Diskussionen in der Umwelt- und Klimapolitik Eingang (vgl. Schellnhuber et al. 2004), hat aber ebenso in verschiedenen Diskussionen der Stadtforschung erfolgreich Einzug gehalten (vgl. Ziehl 2020). Das dahinter liegende Verständnis von Resilienz geht davon aus, dass urbane Ökosysteme zwar innerhalb bestimmter Grenzen Veränderungen und Schocks absorbieren können, ab einem gewissen Belastungsniveau treten jedoch irreversible Schäden und unvorhersehbare Systemänderungen ein. Mit Blick auf die extremen Folgen menschlicher Eingriffe in Ökosysteme umreißt das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen somit einen sicheren Handlungsraum, wobei man mit Schwellenwerten einen Sicherheitsabstand zu bestimmten Kipppunkten aufzeigen möchte (Rockström et al. 2009; Steffen et al. 2015).

Ganz abgesehen von der umstrittenen Datenlage, der begrifflichen Unschärfe und der damit verbundenen Ungenauigkeit bei der Ermittlung solcher Schwellenwerte (vgl. Montoya et al. 2018a/b oder Pimm 2017) sind die Kausalitäten und Unsicherheiten im Zusammenwirken verschiedener Faktoren solcher Modelle kaum abbildbar (vgl. hierzu allein Paasche et al. 2020). Grundlegend stellen Konzepte der Belastungsgrenzen und von Resilienz eine konservative Sichtweise auf Natur, Stadt und Ökologie dar (vgl. Davidson 2010). Da die Diskussion um Resilienz seit einigen Jahren nun auch auf soziale Prozesse im Sinne einer „urbanen Resilienz“ angewandt wird, nimmt es nicht wunder, dass diese althergebrachte Sichtweise sich auch hier wiederfindet.

Auf den folgenden Seiten soll daher die Idee der „urbanen Resilienz“ mit dem Begriff des Experiments verglichen werden, sodass hiermit zumindest eine Ergänzung zur Resilienzmetapher im Umgang mit unvermeidbaren Unsicherheiten und Wissenslücken skizziert werden kann.

2 Experiment, Labor und Resilienz

Das Experiment spielt seit der frühen Neuzeit eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der modernen Gesellschaft, da hierdurch neue Formen der Wahrheitsfindung zumindest theoretisch vor den Augen einer oft skeptischen Öffentlichkeit präsentiert werden können. An dieser Stelle werden Realexperimente relevant. Realexperimente sind Experimente, die nicht im Rahmen (natur-)wissenschaftlicher Arbeiten konstruiert und durchgeführt werden müssen. Das Konzept knüpft an die These an, dass (urbane) Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zunehmend in Prozesse der „experimentellen“ Wissensproduktion einbezogen werden (Groß et al. 2005; Groß und Hoffmann-Riem 2005; Latour 2011). Da vor dem Hintergrund unvermeidbarer Wissenslücken über die Erfolgsaussichten experimenteller Strategien selten Konsens besteht, kommt der Frage entscheidende Bedeutung zu, wie man bei gegebenen Unsicherheiten dennoch zu Entscheidungen und zum Handeln kommen kann. Dahinter steht die Beobachtung, dass die Anwendung von gesichertem wissenschaftlichen Wissen eher seltener zu werden scheint und die gesellschaftliche Entwicklung zunehmend von Prozessen durchzogen ist, in denen Ungewissheit und Nichtwissen eine maßgebliche Rolle spielen (Groß und McGoey 2023). Innovations- und Forschungsprozesse werden in die Gesellschaft verlagert und erhalten damit einen quasi-experimentellen Charakter. Für die Durchführung dieser Experimente (z. B. in urbanen Reallaboren) reicht es nicht aus, wenn sie lediglich mit dem Verweis auf Forschungszwecke legitimiert werden bzw. die Legitimation nur damit begründet wird und andere Aspekte, wie z. B. das transdisziplinäre Potenzial zum Lösen von Nachhaltigkeitsproblemen, nicht gleichbedeutend im Zentrum stehen. Daher steigt die Bedeutung von Stakeholder-Beteiligung und im weiteren Sinne von Partizipationsprozessen.

Urbane Quartiersentwicklungen als „laborähnlich“ zu rahmen, hat in der Stadtsoziologe eine lange Tradition, wie eindrücklich die klassischen Studien der Chicagoer Schule der Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen (vgl. Park 1929, weiterführend auch Gieryn 2006, Gross 2009, Steverson und Melvin 2021). Das hiervon inspirierte Konzept des Realexperiments geht von dem Normalfall aus, dass man über das, was man nicht weiß, doch einiges wissen kann und dass geordnetes Ausprobieren in Realexperimenten der effektivste Weg ist, sich selbst zu korrigieren und weiterzukommen (vgl. Puttrowait et al. 2018). Erkanntes Nichtwissen kann dabei als Basis für Entscheidungen genutzt werden (Groß 2016). Will man dem folgen, dann muss man sich mit Realexperimenten kritisch auseinandersetzen, denn es ist, wie oben angedeutet, gerade die Abweichung von der Hypothese, die eine Quelle produktiver Überraschung darstellen kann. Anders ausgedrückt: Wenn ein Experiment insofern scheitert, als sich die Hypothesen als unbrauchbar erweisen, ist es erfolgreich. Durch einen experimentellen Zugang werden demnach Überraschungen gefördert und es wird auch versucht, sie zu kontrollieren, um Lerneffekte daraus zu generieren. Sie zeigen, dass man bestimmte Dinge nicht wusste, anders formuliert: Nichtwissen wird deutlich.

Mit Nichtwissen verbundene Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten werden im Experiment konstruktiv zur Generierung neuer Erkenntnisse genutzt. Sie sind damit Hilfsmittel, um durch systematisches Ausprobieren Neues zu generieren. Damit wird eine Offenheit gegenüber nicht intendierten Nebenfolgen sowie überraschenden Ereignissen infolge externer Schocks nicht nur als Anpassungsressource gefordert, sondern Offenheit ist Voraussetzung für das Experiment und für die daran beteiligten menschlichen Akteure.

Soll „Experiment“ hier nicht gleichbedeutend mit jeglicher Form von Veränderung oder evolutionärem Prozess verstanden werden, dann muss es von „Trial and Error“ abgegrenzt werden. Zwischen dem Ausprobieren im Sinne von Versuch und Irrtum, dem Testen im Sinne des praktischen Erfolges sowie dem Experiment als einer gesellschaftlichen Praxis – die wissenschaftliche Erkenntnis, Kontrolle und theoretische Durchdringung der jeweiligen Zusammenhänge – wird hier unterschieden (Parthey und Wahl 1966). Bei Realexperimenten geht es, so verstanden, explizit um aktives und bewusstes Entscheiden und Handeln unter den Bedingungen des Nichtwissens. Dies muss dann sinnvollerweise auch das Bewusstsein der Möglichkeit des Scheiterns und die klare Kommunikation darüber mit einschließen.

Aktuelle Diskussionen zu Living Labs, urbanen Experimenten oder Reallaboren im Stadtumbau, bauen zwar (implizit) auf der Idee des Realexperiments auf, aber die Möglichkeit des Scheiterns wird im Grunde nicht diskutiert. Im Gegenteil, als reallaborbasierte Stadtforschung wird heute vor allem ein Bündel an Projekten beschrieben, die erfolgreich im Vorhinein definierte Problemlösungen auf den Weg bringen sollen. Dazu gehört an zentraler Stelle die partizipative Integration verschiedener Akteure, auch von außerhalb der Wissenschaft. Im Unterschied zum prozessbezogenen Vorgehen im Labor steht im Design von Reallaboren die Erreichung eines gesellschaftlich erwünschten Ziels („Nachhaltigkeit“) im Vordergrund. Es scheint daher gelegentlich so zu sein, dass nicht die Suche nach Wahrheit und „neuen Fakten“ den Prozess antreibt, sondern Strategien des Erfolges und der Wirksamkeit (Bergmann et al. 2021).

In Reallaboren müssen zudem Rahmenbedingungen hingenommen werden, die nicht immer kontrollierbar sind und die aktiv und reflexiv mit eingebunden werden müssen. Dadurch werden Realexperimente zu Einzelfällen, deren Übertragbarkeit, wenn sie überhaupt angestrebt wird, die Forschenden vor neue Herausforderungen stellt. Man könnte sagen, dass experimentelle Arbeit, so verstanden, eher den Charakter von suchenden oder gestaltenden Aktivitäten aufweist, wie sie in der explorativen Feldökologie oder auch bestimmten Strängen der Architektur vorkommen. Man plant zwar, Maß wird jedoch am Bau genommen und entsprechend muss gegebenenfalls umgeplant werden. Reallabore sind, so verstanden, urbane Möglichkeitsräume (Parodi und Beecroft 2021), Testzentren für Innovationen (Frey et al. 2022) oder auch Freiraumgestaltungen (Räuchle 2021), die situationsspezifisch angepasst werden können.

Da die meisten der in Deutschland durchgeführten Realexperimente in eingerichteten Reallaboren im Zeichen der Nachhaltigkeit stehen, müssen sie sich mit ihrer expliziten Normativität auseinandersetzen. Konnten sich klassische Experimente im Labor zumindest idealtypisch auf Werturteilsfreiheit stützen, so ziehen in Reallaboren allein durch die Einbeziehung nicht wissenschaftlicher Akteure politische, ästhetische oder auch religiöse Vorstellungen in die Prozesse der Wissensproduktion ein. Abgesehen davon ist die Ausrichtung auf das Leitbild „Nachhaltigkeit“ (Bergmann et al. 2021) in der Reallaborforschung insofern problematisch, als dass Fehlschläge und Abweichungen, die in experimentellen Settings sogar erwünscht sein können, nur dann als erfolgreich betrachtet werden können, wenn sie als hilfreich für eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung aufgefasst werden (vgl. Bleicher und Groß 2021). Zusammen mit der situationsspezifischen Logik von Realexperimenten wird so auch die Verallgemeinerungsfähigkeit der erreichten Ziele schwierig, da das neue Wissen immer hinsichtlich einer wie auch immer definierten „Nachhaltigkeit“ (z. B. lokal auf Quartiersebene) bewertet werden muss.

Mehr noch: Zumindest idealtypisch muss Realexperimenten, die im Rahmen der Reallaborforschung stattfinden, auch ein Scheitern oder zumindest das unerwartete Abweichen von gesetzten Zielen sowie das Auftreten von nicht intendierten Nebenfolgen erlaubt werden (David und Groß 2019, weiterführend Mica et al. 2023). Folgt man Karl Poppers Experimentverständnis, dann sind Hypothesen dann sinnvoll, wenn sie mit Blick auf eine Falsifikation formuliert werden (Popper 2005). Damit wird wissenschaftlicher Fortschritt als ein fortlaufender Prozess aufgefasst, in dem neue Theorien durch wiederholte Experimente verfeinert und erweitert werden. Ein Experiment kann, so gesehen, dann erfolgreich sein, wenn es scheitert – wenn es zeigt, dass die Hypothesen unbrauchbar waren. So verstanden, sind Experimente erfolgreich, wenn unerwartete Veränderungen den involvierten Experimentator*innen das eigene Nichtwissen bewusst machen (Hypothese falsifiziert), da erst dies den Impuls für die Generierung neuen Wissens liefert.

Anstatt bei Realexperimenten genaue Wiederholung anzustreben, behilft man sich häufig mit Konzepten der „Imitation“ oder der „nachahmenden Wiederholung“ (Howaldt et al. 2017). Hier hilft also die Idee der Nachahmung oder Nachbildung, die erst gar nicht die genaue Kopie anstrebt, aber dennoch erlaubt, Aussagen und Hypothesen gezielt so zu formulieren, dass sie sich als falsch erweisen können.

3 Prävention und Widerstandsfähigkeit

Es finden sich viele weitere Konzepte von Resilienz und Vulnerabilität in der sozialwissenschaftlichen Literatur seit den 1980er-Jahren, die auf den ersten Blick oft wenig miteinander zu tun haben. Das Gemeinsame vieler dieser Untersuchungen zu sozial-ökologischen Fragen liegt darin, dass sie auf die Arbeiten von Holling und seinem Team zurückgreifen (vgl. Linkov und Trump 2019).

Holling versuchte bereits in den 1990er-Jahren, seine Definition von Resilienz von jener der Ingenieurwissenschaften abzugrenzen, indem er die technische Resilienz bzw. Belastbarkeit als die traditionellere Variante bezeichnete. Holling legt bei seinem Konzept der Resilienz den Schwerpunkt auf Bedingungen fernab eines Gleichgewichtszustands, bei denen Instabilitäten bewirken, dass ein System in ein anderes Verhaltensregime, d. h. in einen anderen Stabilitätsbereich, umschlägt. Der entscheidende Punkt ist nun, dass Holling daran anschließend folgert, dass in diesem Fall Resilienz die Größe der Störeinwirkung abbildet, welche das System noch verkraften kann, bevor Strukturveränderungen nötig werden (Holling 1996, S. 33). Mit anderen Worten: Es geht um das Ausmaß der durch externe Störeinflüsse hervorgerufenen Veränderungen, die ein System bewältigen kann, bevor es in einen qualitativ anderen Zustand übergeht.

Der Unterschied zu einem Verständnis von Resilienz als reines „Zurückfedern“ ist jedoch kaum erkennbar, wenn man es auf soziale und besonders urbane Systeme überträgt. In beiden Fällen geht es um die Frage nach der Robustheit eines Systems, also um die Fähigkeit, den bestehenden Zustand zu erhalten, bzw. darum, zu erkennen, wie dies gelingen kann und welche Störeinflüsse akzeptabel sind, bevor das System zusammenbricht und in einen anderen Zustand übergeht. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass im ersten Fall sich das Verständnis von Resilienz an der Rückkehr in einen definierten Ausgangszustand orientiert. Im zweiten Fall wird die Frage gestellt, wie weit sich ein System von diesem Ausgangszustand wegbewegen kann, bevor es zusammenbricht oder zumindest eine wichtige Grenze überschritten hat.

Resilienz beinhaltet damit auch verschiedene Präventionsmaßnahmen wie beim Hochwasserschutz in der Stadtplanung. Dass Prävention wiederum wenig mit experimentellen Prozessen zu tun hat, die auf die Möglichkeit grundlegender Änderungen gerichtet sind, wird hier besonders deutlich. Dies gilt auch für die Planung und Ausgestaltung resilienter Prozesse, mit denen als unerwünscht eingeschätzte Ereignisse abgewendet werden sollen. Die Beschreibung von Resilienz als Toleranz eines Systems gegenüber Störungen von außen verweist zudem – zumindest implizit – immer auf einen Idealtypus, einen früheren (Gleichgewichts-)Zustand, der als Ziel eine Erholung von einer radikalen Veränderung vorsieht (recovery). Neil Adger (2000, S. 361) beschreibt soziale Resilienz entsprechend als „die Fähigkeit von Gemeinschaften, externe Schocks auf ihre soziale Infrastruktur zu überstehen“.

Zudem ergänzen diese Bestimmungsversuche das Element der Identität. Resilienz bezeichnet dann die „Fähigkeit des Systems, seine Identität gegenüber internen Veränderungen und externen Schocks und Störungen zu bewahren“ (Gunderson und Holling 2002, S. 2). Was immer nun im Einzelnen mit Funktion, Struktur und Identität gemeint sein mag, die Referenzpunkte für Resilienz fußen auf einem Idealzustand, der sich potenziell genau aus jenen dem System inhärenten Mechanismen und Funktionen zusammensetzt, die selbst Grund für eine Störung oder Krise gewesen sein könnten (z. B. grüne Gentrifizierung). Im Resilienzdiskurs, insbesondere in der Nachfolge Hollings (1978), wird jedoch häufig suggeriert, dass Störungen immer von außen kommen. Wenn eine Störung überstanden ist, ist es demnach am besten, wieder in den Normalzustand überzugehen und aus der Störung gelernt zu haben, um beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein.

4 Resilienz und Ordnung

Während die traditionelle Auslegung von Resilienz sinnvollerweise eher auf die Fähigkeiten eines Ökosystems oder einer gesellschaftlichen Gruppe verweist, mit externen Einflüssen (z. B. Extremereignissen) umzugehen, umfasst die neuere Literatur sogar die radikale Transformation, bei der bestehende Strukturen und Funktionen nicht mehr erhalten bleiben sollen. Um dies ebenfalls mit Resilienz in Verbindung zu bringen, schreiben Folke et al. (2010): „Also erfordert eine absichtliche Transformation den Abbau der Resilienz des Alten und den Aufbau der Resilienz des Neuen.“ Wofür steht dann noch Resilienz?

Auf urbane Prozesse angewandt scheinen wiederum zwei Strömungen in der Resilienzdiskussion maßgeblich zu sein: Die erste bezieht sich auf die eng an die Ingenieurwissenschaft und frühe Ökologie um Holling angelehnte Sichtweise, wonach die Stabilität bestehender Ordnungsmuster trotz äußerer Störungen aufrechterhalten werden soll. Die zweite versucht, Anpassungsleistungen sozialer Systeme gegenüber verschiedenen, oft als zerstörerisch wahrgenommenen Stressfaktoren zu erfassen.

Zusammengenommen geht es also um das alte Spannungsverhältnis zwischen potenziell zerstörerischer Veränderung und dem Erhalt sozialer Ordnung. Dies ist nicht nur in der Soziologie schon immer ein Kernthema gewesen, es war in vielerlei Hinsicht eine der wichtigsten Fragen der Sozialwissenschaften des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts – ganz ohne Resilienzbegriff (vgl. Oberthür 2021). Bereits der Namensgeber der Soziologie Auguste Comte sah in der Ordnung der Gesellschaft und deren Organisation das Hauptthema der neuen Wissenschaft, die sich auf die Untersuchung der Differenz zwischen Statik und Fortschritt konzentrieren sollte. Comte hatte für die Analyse seiner Soziologie den Krisenbegriff aus der Medizin übernommen, um auf unerwartete und radikale Änderungen hinzuweisen, welche die politische und soziale Ordnung stören können (Repplinger 1999). Anstatt Ordnung und Fortschritt als miteinander unvereinbar zu betrachten, wollte Comte zeigen, dass gesellschaftliche Ordnung nur denkbar ist, wenn sie mit Fortschritt (franz.: le progrès, gelegentlich auch mit „Dynamik“ übersetzt) einhergeht, genauso wie Fortschritt nur erfolgen kann, wenn er auf verlässlicher Ordnung fußt (Comte 1923, S. 7).

Über 150 Jahre später liest sich das bei Folke et al. (2010) folgendermaßen umständlich: „Durch Transformation hervorgerufene Veränderungen im kleineren Maßstab ermöglichen Resilienz in größeren Maßstäben. Indessen hängt die Kapazität zur Transformation im kleineren Maßstab von der Resilienz in anderen Maßstäben ab.“ Veränderungen auf der Mikroebene, so das Argument von Folke et al., ermöglichen Resilienz auf der Makroebene, wobei die Veränderungen auf der Mikroebene auf verlässlichen Strukturen (Ordnung) auf anderen Ebenen fußen müssen. Konkreter werden die abstrakten Ausführungen in der Resilienzrhetorik praktisch nie. Auch bei Holling liest man lediglich: „Einerseits sind destabilisierende Kräfte wichtig, um Vielfalt, Resilienz und Chancen zu bewahren. Andererseits sind stabilisierende Kräfte wichtig für die Aufrechterhaltung der Produktivität und der biogeochemischen Kreisläufe“ (1996, S. 32). Man erfährt zumindest, dass Ordnung und Veränderung Teil desselben Prinzips seien. Bei Comte bedeutet dieses Prinzip, dass man es ständig mit sozialer Bewegung zu tun hat. In dieser mache sich zum einen eine „verhängnisvolle Tendenz“ zur Auflösung einer bestehenden Ordnung breit, zum anderen wirke gleich eine weitere Tendenz zur Verfestigung einer neuen Ordnung dagegen (Comte 1923, S. 1–11, 391–452).

Würde man in weiten Teilen der Resilienzliteratur, die sich mit sozioökologischen Systemen befasst, das Wort „Resilienz“ mit „Ordnung“ ersetzen, wäre konzeptuell wahrscheinlich wenig Unterschied zu bemerken. Zumindest soziologisch (und sicherlich auch darüber hinaus) scheinen die Resilienzbeschreibungen für das bessere Verständnis sozioökologischer Prozesse lediglich altbekannte Einsichten zu liefern.

5 Ordnung und Dynamik früher und heute

Etwas elaborierter finden sich Ausführungen zum Spannungsverhältnis zwischen Ordnung und Dynamik bei George Herbert Mead in den 1920er-Jahren. Für Mead besteht das gesellschaftliche Kernproblem darin, „Mittel und Wege zu finden, wie sich Ordnung und Struktur in der Gesellschaft bewahren und dennoch die Veränderungen durchsetzen lassen, die notwendig sind und in der Realität ständig vor sich gehen“. Daher fragt er sich: „Wie kann man jene Veränderungen in geregelter Form zuwege bringen und gleichzeitig Ordnung bewahren?“ Und er fährt fort: „Die Veränderung einer gegebenen Gesellschaftsordnung bedeutet scheinbar deren Zerstörung, und dennoch verändert sich die Gesellschaft und [sie muss] sich verändern“ (Mead 1969, S. 57). So gesehen wäre Resilienz in einem weiten Verständnis, wie es sich teilweise in der Literatur findet, gleichbedeutend mit Gesellschaftsentwicklung.

Beschränkt man jedoch zur Beschreibung von Innovations- und Transformationsprozessen Resilienz, im Einklang mit der Etymologie des Begriffs, auf ein Konzept der Widerstandsfähigkeit oder des Schutzes, kann es im Kern fast nur um Besitzstandwahrung und den Erhalt des Status quo gehen – wenn der Begriff nicht jegliche Bedeutung verlieren soll. Eine solche Verwendung, die sich mal der einen, mal der anderen Extremvariante von Resilienz zuwendet, findet sich im sogenannten adaptiven Management, einem in der Ökosystemforschung etablierten Vorgehen der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit mit dem Ziel, Unsicherheiten im Laufe der Zeit durch Lernen und Anpassung in den Griff zu bekommen. Dieses Vorgehen wird mittlerweile auch für die Analyse und praktische Anwendungen in gesellschaftlichen Bereichen angewandt, wobei hier nicht nur von resilienten Prozessen, sondern gelegentlich auch von Experimenten im Rahmen von Managementprozessen gesprochen wird. Auch wenn Forschung unter dem Label „adaptives Management“ schon mal als „experimentell“ bezeichnet (Norton 2002; Walters und Holling 1990) oder sogar quasi-experimentell rekonstruiert werden kann (z. B. Cook et al. 2004), bewegt sich die konzeptuelle Grundlage dieses aus dem Ökosystemmanagement stammenden Ansatzes in sehr konservativen Gefilden, da sich immer eine Seite an eine andere anpassen soll oder muss. Walters und Holling (1990) behelfen sich daher mit dem Begriff „active adaptation“, um auf die Neuausrichtung nach jedem gemessenen Störeinfluss im Ökosystemmanagement zu verweisen. Orientiert wird sich aber auch hier an früheren Ausgangszuständen, die implizit als Idealzustand aufgefasst werden.

Bryan Norton hingegen versteht adaptives Management als experimentell, weil es „eine Verpflichtung zur Ungewissheit und zur ständigen Anpassung unserer Ziele und Verpflichtungen durch Experimentieren und Beobachten“ (Norton 2002, S. 172 f.) beinhalte. Ganz abgesehen davon, dass Norton hier das Experimentelle u. a. damit definiert, dass es experimentell sei, liefert er keine weiteren konzeptuellen Erläuterungen (auch nicht in seinem Opus magnum Sustainability von 2005).

6 Schiffsreparaturen auf hoher See

Anpassung und Resilienz sind also nicht auf die (experimentelle) Generierung von Innovation ausgerichtet, sondern auf Vermeidung und Abwehr, auf das Reaktionsvermögen auf eine Bedrohung von außen. Im Kern geht es um die richtige Wahl des Weges des geringsten Widerstandes. Norton, der gern von experimentellem Management spricht, nutzt hierfür das berühmte Gleichnis des Schiffers auf hoher See von Otto Neurath (1932, S. 206): „Wie Schiffer sind wir“, schreibt Neurath, „die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ Auf dem Meer können die Schiffer das Schiff umbauen, indem sie einzelne Teile ab- oder anbauen oder vorhandene Einzelteile anpassen oder restaurieren. Norton versucht nun, seinen Begriff vom Experiment im adaptiven Management mit Neuraths Gleichnis zu verdeutlichen. Er interpretiert es wie folgt:

„Sobald einzelne Planken aufgrund von Witterung und starker Beanspruchung schwächer werden, ersetzen wir sie, indem wir auf den stärksten übrigen Planken stehen und die schwächsten ersetzen. Im Prinzip wäre es möglich, sämtliche Planken zu ersetzen, wodurch sich rein physikalisch ein ‚neues‘ Schiff ergibt – d. h., jede Planke ist neu, aber das Schiff bleibt dasselbe und muss auch nicht neu getauft werden.“ (Norton 2005, S. 107)

Anders ausgedrückt und auf urbane Prozesse übertragen: Es ist nicht das Ziel, innovative Strategien und Neuerungen der Stadtentwicklung anzustoßen, sondern es geht lediglich darum, den Verfall eines Stadtteils oder Quartiers hinauszuzögern, indem man sozusagen hinterherrepariert. Dies illustriert in perfekter Weise den Pfad der Resilienzdebatte, nämlich die Neigung, nichts Neues zu entwickeln, sondern dem Ideal eines Status quo (Struktur, Funktion und Identität) anzuhängen. Norton fährt weiter fort, indem er sagt: Die Analogie zu Neuraths Schiff „veranschaulicht die Idee einer stückweisen Verbesserung eines Glaubenssystems, in dem keine Überzeugung letztlich privilegiert ist, auch wenn einige für sehr lange Zeiträume unhinterfragt akzeptiert werden“ (ebd., S. 107 f.). Dieses Verständnis mag den Kern der Ökosystem-Debatte um Resilienz sowie des adaptiven Managements repräsentieren, aber sicherlich nicht den Kern experimenteller Strategien. Mit Realexperimenten ist das bewusste Hervorrufen von Neuerungen, innovativen Lösungen und Umstrukturierungen gemeint, die potenziell zu Veränderungen führen sollen (nicht: müssen), die nicht an die Ausgangszustände zu erinnern brauchen. Dabei ist der strategische Umgang mit Nichtwissen zentral.

Folgt man Nortons Auslegung von Neurath, dann landet man bei Abwehr- und passiven Anpassungsstrategien. Raum für Experimente von Individuen oder Institutionen in und mit ihren natürlichen und sozialen Umwelten ist somit nicht vorgesehen. In Nortons Sichtweise bedeutet „Experiment“ Anpassung so weit wie nötig, um den Status quo nicht zu gefährden bzw. möglichst schnell wiederherzustellen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das adaptive Management heute mit dem Modebegriff „Resilienz“ oft in einem Atemzug genannt wird. Dass es schon allein bei den ökologischen Herausforderungen der Gegenwart, wie dem Klimawandel oder der Umstellung auf erneuerbare Energiesysteme, um grundlegende Veränderungen und damit eine Veränderung bestehender Strukturen gehen könnte, wird dabei leicht aus den Augen verloren.

7 Resilienz als urbane Mode?

„Resilienz“ hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Modewort in Politik und Ökologie – und vielen anderen Bereichen – entwickelt. Menschen sollen sich resilient entwickeln, Gesellschaften auch. Die Welt ist bedroht, es gilt, ökologische Grenzen zu achten. Versteht man Resilienz darüber hinaus als Allheilmittel, nicht nur für einen besseren Umgang mit Extremereignissen, dann besteht jedoch die Gefahr der Ausblendung wichtiger Fragen. Die wichtigste Frage ist sicher nicht immer die, wie man bestimmte Ökosysteme oder städtische Entwicklung stabiler oder robuster machen sollte, um zum Beispiel durch eine Rezession oder andere Ereignisse ausgelöste Schocks abzufedern, sondern die, wie die Welt umgestaltet werden kann, damit die bestehenden Probleme, die zu den Schocks führen, nicht mehr auftreten oder zumindest Horizonte für ihre Transformation sichtbar werden (vgl. allein Folke et al. 2010). Da auch bei den Diskussionen um planetarische Grenzen weder das Planetarische noch die Grenzen klar definiert sind, wie es Montoya et al. (2018b) provokant zusammenfassten, erschöpfen sich die Vorschläge normalerweise in Allgemeinplätzen à la:

„Das Resilienz-Denken legt nahe, dass solche Ereignisse [neuartige Schocks, MG] Möglichkeiten für eine Neubewertung der gegenwärtigen Situation bieten, soziale Mobilisierung anstoßen, Erfahrungs- und Wissensquellen für das Lernen neu kombinieren und Neuartigkeit und Innovation fördern können. Das könnte zu neuen Formen von Anpassungsfähigkeit oder möglicherweise zu transformatorischen Veränderungen führen.“ (Folke et al. 2010, o. S.)

Zudem kann die Frage nach den Grenzwerten des gesellschaftlichen Eingriffs in Ökosysteme, wie es Schlesinger (2009) oder Pimm (2017) kritisch formulierten, leicht als Abwarten missverstanden werden. Das Fokussieren auf Kipppunkte und Grenzwerte verstärkt die Gefahr, allmähliche Veränderungen zu übersehen, die sich im Laufe der Zeit aufsummieren und zu unvermeidbaren Schäden führen können. Daher werden Kipppunkte in Teilen der Ökologie heute als sehr kritisch eingeschätzt. Da Kipppunkte und damit verbundene Grenzwerte auf Modellrechnungen basieren und in der Realität kaum zu messen sind, stellen sie keinen sinnvollen Indikator für Ökosystemzustände dar, wie Hillebrand et al. (2020) ausführen (siehe weiterführend auch Yang et al. 2022). Wenn sie aber schwer zu messen sind, dann sind sie als Entscheidungshilfe für politische Handlungsträger*innen insbesondere in städtischen Kontexten gänzlich ungeeignet.

8 Wider die Beliebigkeit des Resilienzbegriffs

Eine Schnittmenge im Resilienzdiskurs scheint also die Verbesserung der Anpassungsfähigkeit („enhancing adaptive capacity“ heißt es bei Holling und Kollegen gerne) zu sein. Selbstverständlich ist es wichtig, einigermaßen unbeschadet durch Krisen zu kommen, aber es sollte auch möglich sein, alternative Strategien zu entwickeln, in denen die Ursachen für die Krisen zumindest erkannt werden. Die Resilienzliteratur, die auch mit der Rhetorik der ökologischen Belastungsgrenzen (Rockström et al. 2009) arbeitet, suggeriert dies zwar gelegentlich, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ihre Herkunft im traditionellen Resilienzdenken nicht ohne Weiteres abschütteln kann – jedenfalls nicht, ohne in schwer aufzulösende Paradoxien zu geraten oder eben in eine Beliebigkeit des Resilienzverständnisses (vgl. Groß 2014). Hier scheint der experimentelle Umgang mit erkanntem und damit potenziell „nützlichem Nichtwissen“ (Wehling 2015) zumindest eine Möglichkeit zu bieten, einen Analyserahmen zu schaffen, der zeigt, wie urbane Akteure trotz unvermeidbarer Wissenslücken konstruktiv Neues generieren können.

Es geht also oft nicht um Anpassungsressourcen, sondern um einen Weg ins Unbekannte. Das Konzept des Realexperiments impliziert das Hinter-sich-Lassen alter Strukturen und Funktionen, da diese die Gründe für wahrgenommene Probleme beherbergen. Fälle, in denen es sich eher um nicht oder gar anti-resiliente Prozesse handelt, scheinen oft die erfolgreicheren zu sein, da sich erst hierdurch Neuerungen herausschälen, die sich von früheren Systemzuständen grundlegend unterscheiden (vgl. Taleb 2013). Zunehmend hat man es im Anthropozän mit neuen Stadtkonzepten zu tun, deren Gestaltung sich gar nicht mehr sinnvoll an früheren Zuständen und historischen Daten orientieren kann (vgl. Collier und Devitt 2016; Reinermann und Behr 2017). Dementsprechend verlangen „resiliente“ Prozesse in der Stadtentwicklung nach offenen experimentellen Strategien, da häufig keine Blaupausen für das Erreichen struktureller Veränderungen vorhanden sind.

Man darf abschließend festhalten, dass ein genereller Aspekt der Entwicklung einer experimentellen Stadtkultur darin bestehen könnte, dass Akteure in urbanen Räumen mit zunehmender Erfahrung ein besonderes Bewusstsein für Nichtwissen entwickeln, was wiederum dazu führen könnte, dass Strategien für den Umgang mit vorstellbaren Überraschungen auch im Rahmen von Resilienzkonzepten möglich werden.