1 Qualitätsbegriffe

Qualität ist zu einem Wort der Alltagssprache geworden und zählt zu den 2000 häufigsten Wörtern im Deutschen.Footnote 1 Wenn überhaupt, wird Qualität vielfach entsprechend dem Begriffsverständnis des Deutschen Instituts für Normung (DIN) und der International Organization for Standardization (ISO) als Grad definiert, in dem durch ein Produkt oder eine Dienstleistung Anforderungen erfüllt werden (Zollondz 2014). Solche Anforderungen betreffen im Fall von Sachverständigengutachten in Kinderschutzverfahren etwa (a) die Unvoreingenommenheit der oder des Sachverständigen, (b) die wissenschaftliche Herangehensweise und (c) die tatsächliche Beantwortung der Fragestellung des Gerichts sowie (d) Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Darstellung im Gutachten. Diese Anforderungen und Unterpunkte werden in den „Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht“ genannt, die 2019 in einer zweiten überarbeiteten Fassung veröffentlicht wurden. Erarbeitet wurden die „Mindestanforderungen“ in einer Arbeitsgruppe, in der juristische, psychologische und medizinische Fachverbände, die Bundesrechtsanwalts- und Bundespsychotherapeutenkammer vertreten waren und die vom Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz begleitet wurde. Ergänzt werden könnte, (e) dass Sachverständige dabei unterstützen sollen, Sorgeberechtigte von einer Inanspruchnahme von Hilfen zu überzeugen, sofern Anhaltspunkte für eine Gefährdung oder Problemlagen, die sich zu einer Gefährdung entwickeln könnten, vorliegen.Footnote 2

Der hier angelegte Qualitätsbegriff ist nicht alternativlos, da er sich auf die Verwertbarkeit von Sachverständigengutachten durch Gerichte beschränkt. Insbesondere im Gesundheitswesen hat sich im Anschluss an die von Donabedian (1966) eingeführte Unterscheidung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität ein etwas anders akzentuierter Qualitätsbegriff durchgesetzt, der (a) im Bereich der Prozessqualität die Erfahrung der Betroffenen stärker einbezieht und (b) im Bereich der Ergebnisqualität empirische Befunde auswertet und daraus je nach der vorliegenden Evidenz in Form von Leitlinien sehr konkrete Empfehlungen für Vorgehensweisen und Befundinterpretationen zu spezifischen Situationen gibt. Besonders deutlich tritt die Divergenz zu den „Mindestanforderungen“ bei Fragen hervor, die sowohl von psychologischen als auch von medizinischen Sachverständigen begutachtet werden können. Beispielsweise empfehlen im Hinblick auf die, keinem Fachgebiet eindeutig zuzuordnende Exploration von Kindern zu im Raum stehenden Gefährdungsereignissen die „Mindestanforderungen“ nur sehr allgemein eine Exploration beteiligter Kinder (s. u. S. 12), während die für den medizinischen Bereich geltende Kinderschutzleitlinie (AWFM 2019, S. 202 f.) einen deutlichen Imperativ formuliert, strukturierte Explorationsverfahren, wie etwa das revidierte NICHD Protokoll (Noeker & Franke 2018) einzusetzen, das auch näher erläutert wird. Der Bindungsgrad solcher Leitlinien hängt vom Evidenzgrad ab. Gibt es zu einem Thema nicht ausreichend bestätigte (replizierte) empirische Befunde, so greifen Leitlinien auch auf den Expertenkonsens zurück. Liegen zahlreiche Studien und Metastudien zu ein und derselben Fragestellung vor, erreichen heilberufliche Leitlinien den Evidenzgrad S3. Ein solches hohes Qualitätsniveau erreicht auch die S3-Kinderschutzleitlinie, wobei es allerdings zu beachten gilt, dass im Gegensatz zu manchen anderen medizinischen Fragestellungen, wo Laborwerte und Wirkung von Pharmaka problemlos interkulturell übertragen werden können, Befunde zum Beispiel zu Befragungen im Kinderschutz doch sehr stark vom jeweiligen Rechtssystem abhängig sind. Da die meisten Befunde hierzu aus dem angloamerikanischen Bereich, also aus dem Bereich des ‚Common Law‘ stammen, ist deren Übertragbarkeit auf die Verhältnisse in Deutschland nicht automatisch gegeben. In den Heilberufen ist Qualitätssicherung, d. h. die Beachtung des anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse im Sinne einer ‚lege artis‘ Behandlung eine originäre Aufgabe etwa des Arztes oder der Ärztin. Qualitätssicherung in den Heilberufen ist im Sozialgesetzbuch V geregelt, betrifft aber nicht den Bereich der Begutachtung. Während im Gesundheitswesen bestimmte Institutionen, wie z. B. der medizinische Dienst der Krankenkassen im Einzelfall die Einhaltung von Leitlinien, Vorgaben in der Krankenbehandlung überprüfen können, ist bei Gerichtsgutachten das auftraggebende Gericht der zentrale Akteur in der Qualitätskontrolle. Zudem haben sich Sachverständige bei Erhalt eines Gutachtensauftrages selbst zu prüfen, ob er die Expertise für die an ihn/sie herangetragene Fragestellung besitzt.

Einen wieder anderen Akzent setzten die von der American Psychological Association (APA) beschlossenen Empfehlungen für das Vorgehen von psychologischen Sachverständigen in Kinderschutzverfahren vor amerikanischen Gerichten (APA 2013). Die Maßstäbe, an denen die Qualität eines Sachverständigengutachtens zu messen ist, werden hier wesentlich aus der Berufsethik abgeleitet. Entsprechend werden Aspekte, die sich nicht ohne weiteres an einem Gutachten ablesen lassen, betont, beispielsweise das Bemühen um die Aktualität des eigenen Fachwissens (Guideline 5) sowie die selbstkritische Reflexion möglicher eigener Vorurteile (Guideline 6).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Qualitätsbegriff und die daraus abzuleitenden Maßstände, die an Sachverständigengutachten anzulegen sind, nicht ohne weiteres feststehen. Es ist aber naheliegend, dass den Interessen der Gerichte als Auftraggeber, die selbst wiederum dem Kindeswohl und der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien verpflichtet sind, eine wesentliche Rolle zukommt. Ob als Grundlage für Beurteilungen von Qualität sehr allgemeine, von empirischen Befundlagen weitgehend abgekoppelte Mindestanforderungen ausreichen, erscheint dagegen weniger sicher. Möglicherweise wäre es hier ein Fortschritt zu konkreten Themen empirische Befundlagen im Hinblick auf eine angemessene Begutachtungspraxis auszuwerten. Zudem stellt sich die Frage, ob und wenn ja, welche berufsethischen Verpflichtungen für Sachverständige, jenseits der Verwertbarkeit des Sachverständigengutachtens im Verfahren, gelten. Während es im Kontext der Heilbehandlung entsprechende Verpflichtungen im Standesrecht und Kontrollen durch dafür vorgesehene Institutionen gibt, stellt für Gutachten die Rezeption durch die Gerichte häufig die einzige Qualitätskontrolle dar. Soweit diese vor allem darauf fokussieren, ob Schlussfolgerungen und Empfehlungen im Gutachten aus richterlicher Sicht einleuchtend sind, geraten ethische (wie methodische) Aspekte leicht aus dem Blick.

2 Qualitätsdiskussion um Sachverständigengutachten

In der Diskussion um die Qualität von Sachverständigengutachten in Kinderschutzverfahren lassen sich prinzipiell mindestens fünf Ebenen unterscheiden: Eine erste Ebene bilden (a) Rückmeldungen von Gerichten oder anderen Professionellen, eine zweite Ebene (b) Rückmeldungen von Eltern bzw. Kindern. Daneben gibt es (c) wissenschaftliche Analysen von Sachverständigengutachten. Wichtig sind weiterhin noch (d) Ergebnisse von Initiativen und Modellversuchen zur Qualitätsentwicklung. Zudem ist es sinnvoll die Diskussion (e) in Befunde zur Qualität von Kinderschutzverfahren insgesamt einzubetten.

2.1 Rückmeldungen von Gerichten oder anderen Professionellen

Es liegen bislang aus Deutschland keine Studien vor, die systematisch Rückmeldungen von Gerichten zu Sachverständigengutachten in Kinderschutzverfahren erhoben hätten. Allerdings liegen generell zu Gutachten in Familiensachen aus einer Studie Einschätzungen von mehr als 170 Richterinnen und Richtern vor (Labs 2014). Für die Studie wurden alle Amts- und Oberlandesgerichte angeschrieben. Insgesamt 57 % der Richter und Richterinnen berichteten sehr positive oder eher positive Erfahrungen, während 42 % gemischte Erfahrungen angaben. Häufiger Kritikpunkt war ein fehlender roter Faden von den Befunden zur Beantwortung der Fragestellung. Zudem kann anhand der hohen Anzahl in Kinderschutzverfahren eingeholter Sachverständigengutachten (Bindel-Kögel & Seidenstücker 2017, S. 173: 43%) vermutet werden, dass Gerichte diese häufig für verwertbar halten. Richterinnen und Richter am Oberlandesgericht Celle haben für sich Standards zu Sachverständigengutachten formuliert, von denen angenommen werden darf, dass sie aus richterlicher Perspektive sowohl als notwendig angesehen als auch für erfüllbar gehalten werden (Arbeitsgruppe von Richterinnen und Richtern der Familiensenate des OLG Celle 2015). Bemerkenswert ist, dass Explorationen und Beobachtungen als Methoden hier für unverzichtbar bzw. regelmäßig erforderlich angesehen werden, während dies für standardisierte Testverfahren nicht gilt. Für letztere wird verlangt, dass sowohl ihr Einsatz als auch der Verzicht hierauf konkret begründet wird. Allerdings enthalten die Standards keine Angaben dazu, inwieweit sie bei vorgelegten Gutachten als erfüllt angesehen werden. International hat eine Reihe von Studien untersucht, wie Prozesse von Verständnis und Beurteilung von Sachverständigengutachten bei Richterinnen und Richtern ablaufen. Mehrfach hat sich dabei gezeigt, dass sowohl im Detail die Wissenschaftlichkeit der Inhalte von Sachverständigengutachten als auch die für die Beurteilung von Gutachten vorgeschlagenen Kriterien als vielfach schwer verständlich empfunden werden (z. B. Gatowski et al. 2001; Canela et al. 2019). Listen von Kriterien zur Beurteilung der Qualität ganzer Gutachten hatten teilweise wenig Nutzen, da Richterinnen und Richter sich in der Praxis auf Aussagen zu den im Einzelfall besonders unklaren oder strittigen Punkten konzentrierten und dabei flexibel Kriterien zur Qualitätsbeurteilung einsetzten (Taipale 2019). Jenseits empirischer Forschung liegen für Deutschland einzelne höchstrichterliche Entscheidungen vor, die sich indirekt, d. h. über die Auseinandersetzung mit Entscheidungen der Vorinstanzen, mit den jeweils im Verfahren vorliegenden Sachverständigengutachten beschäftigen. Am häufigsten wird dabei vermerkt, dass sich Lücken in der Entscheidung der Vorinstanz auch in der Argumentation im Sachverständigengutachten finden. Dies betrifft etwa eine unklare Einordnung festgestellter Probleme und Einschränkungen im Hinblick auf die Gefährdungsschwelle, fehlende Ausführungen bezüglich konkret zu erwartender Schädigungen eines Kindes und fehlende Abwägungen zu Nutzen und Risiken eines Eingriffs (z. B. BVerfG 1 BvR 528/19, Entscheidung vom 21.09.2020; 1 BvR 1178/14 Entscheidung vom 19.11.2014).

2.2 Rückmeldungen von Eltern bzw. Kindern

Rückmeldungen von Eltern zu Prozess und Ergebnis von Begutachtungen in Kinderschutzverfahren finden sich vereinzelt in qualitativen Studien (z. B. Berghaus 2020). Dort wird insbesondere eine empfundene Lebensweltferne von Sachverständigen und ein empfundenes mangelndes Interesse für die Sichtweise von Eltern kritisiert. Zwei Projekte, in denen Beschwerden von Eltern gesammelt und ausgewertet wurden, fanden erwartungsgemäß eine mehrheitlich kritische Sicht auf Sachverständigengutachten (Dürr und Dürr-Aguilar 2012; Institut für Kinder- und Jugendhilfe 2020). Kritisiert wurden insbesondere psychiatrische Diagnosen, die dem Erleben der Betroffenen nicht entsprachen, sowie ein empfundenes fehlendes Verständnis für die Situation des Kindes im Gutachten, was dann aus Sicht der Eltern unterlassene oder aber überzogene Eingriffe zur Folge hatte. Systematische Erhebungen bei Eltern bzw. Kindern nach einer Begutachtung stehen aus. Es wird daher möglicherweise als leicht empfunden, vorliegende negative Rückmeldungen zur Seite zu schieben. Da aber auf der anderen Seite mehrere Studien negative Folgen von Kindesherausnahmen für die psychische Gesundheit und Lebenserwartung betroffener Eltern aufgezeigt haben (Wall-Wieler et al. 2018a, b), stellt sich zumindest die Frage, ob es möglich ist, die empfundene Fairness des Vorgehens und die Verständlichkeit des Ergebnisses bei Begutachtungen durch Änderungen im Vorgehen zu erhöhen (z. B. durch eine direkt für die Eltern geschriebene Zusammenfassung in einfacher Sprache).

2.3 Wissenschaftliche Analysen von Sachverständigengutachten

Empirische Studien zur Qualität von Sachverständigengutachten in Deutschland gehen bislang vom Werkgedanken aus, d. h. einer abgelöst vom spezifischen Verfahrenskontext und -verlauf möglichen und sinnvollen Bewertung von Gutachten als eigenständigem und abgeschlossenem Werk. Erste Studien hatten vor allem Gutachten bei elterlichen Streitigkeiten um Fragen von Umgang, Betreuung und Sorge im Blick (z. B. Terlinden-Arzt 1998). Stürmer (2018) berichtet allerdings über eine Vollerhebung von familienrechtspsychologischen Gutachten der Jahre 2010 und 2011 aus einer Region (OLG Bezirk Hamm). In der Stichprobe waren mehrheitlich (54 %) Gutachten zu Fällen von § 1666 BGB enthalten. Die Auswertung war an den „Mindeststandards“ orientiert. Gefunden wurde in der GesamtstichprobeFootnote 3 eine mehrheitlich fehlende Übersetzung der Beweisfrage des Gerichts in psychologische Fragen (59,5 %), regelhaft fehlende Begründungen für die Auswahl von Verfahren (95 %) sowie eine überwiegend fehlende methodenkritische Erörterung von Schlussfolgerungen (75 %). Ebenfalls kritisiert wurde die hohe Anzahl an Explorationen ohne angegebenen Leitfaden und von unstrukturierten Beobachtungen. Die Befunde verdeutlichen einerseits die bedenkliche Diskrepanz zwischen Empfehlungen zur Qualität von Sachverständigengutachten und tatsächlicher Praxis. Andererseits wird im Hintergrund auch die methodische Schwäche dieses Ansatzes zur Qualitätssicherung sichtbar. Bislang wurde nämlich kein positiver Zusammenhang zwischen eingehalten Mindestanforderungen und der von Gerichten und Verfahrensbeteiligten eingeschätzten Verständlichkeit von Gutachten belegt. Vor allem aber wurde noch kein Zusammenhang zwischen eingehaltenen Mindestanforderungen und der tatsächlichen Aussagekraft (Validität) von Gutachten aufgezeigt. Für Prognosegutachten bei Straftätern sind solche Validierungen beispielsweise erfolgt und es wurde ein Zusammenhang zwischen der Einhaltung dort geltender Standards und zutreffenderen Vorhersagen gefunden (z. B. Wertz et al. 2018). Im Bereich der Gutachten im Kinderschutzverfahren hat bislang aber keine Studie Unterschiede in weiteren Fallverläufen in Abhängigkeit von Ergebnissen der Begutachtung, der Umsetzung von Empfehlungen in Gerichtsentscheidungen und der Einhaltung von Mindestanforderungen untersucht.

2.4 Ergebnisse von Initiativen und Modellversuchen zur Qualitätsentwicklung

Nachdem wiederholt auf das Problem hingewiesen wurde, dass in den meisten Verfahren mit Gutachten keine weiteren Sachverständigen der gleichen Fachrichtung beteiligt sind, sodass die inhaltliche Qualitätskontrolle von fachfremden Personen, in erster Linie dem Gericht, geleistet werden muss, wurde in einem Modellversuch erfolgreich ein Peer-Review-Verfahren für Gutachten erprobt (Kannegießer et al. 2021). Dabei wurden anonymisierte Sachverständigengutachten von anderen Sachverständigen im Hinblick auf ihre Qualität beurteilt und Rückmeldung gegeben. Es zeigte sich, dass Gutachten häufig ähnlich beurteilt wurden und insbesondere Sachverständige, die keinem Institut oder Qualitätszirkel angehören, von den Rückmeldungen profitierten. Qualitätszirkel als Teil von gutachterlichen Praxen oder freiwilligen Zusammenschlüssen, stellen ein verwandtes Instrument der Qualitätssicherung dar, allerdings ist nicht bekannt, wie viele Sachverständige solchen Zirkeln angehören und inwieweit im Lauf der Zeit wachsende persönliche Beziehungen zwischen den Sachverständigen Rückmeldungen beeinflussen.

2.5 Befunde zur Qualität von Kinderschutzverfahren

Als Teil von familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren tragen Sachverständigengutachten zur Ausgestaltung des Kinderschutzsystems in Deutschland bei. Daher besteht die Möglichkeit, dass sie zur Überwindung bekannter Probleme des Kinderschutzsystems in Deutschland beitragen oder Teil vorhandener Probleme sind (für einen Überblick Kindler 2021). Drei bekannte Probleme betreffen (a) schwierige Abgrenzungen zwischen Vernachlässigung als Form von Kindeswohlgefährdung und „bloß“ unzureichender Fürsorge als Hilfeanlass und in der Folge häufig ineffektive Schutz- und Hilfemaßnahmen für vernachlässigte Kinder (z. B. Kindler 2016), (b) hohe Raten unbehandelt bleibender Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit und vermeidbarer Beeinträchtigung des Bildungsverlaufs bei Kindern, die Gegenstand einer Kinderschutzintervention werden (z. B. Ganser et al. 2016) und (c) ausgeprägte Defizite im Ausmaß, in dem von Kinderschutzmaßnahmen betroffene Kinder sich einbezogen und gehört fühlen (Zimmermann et al. 2021). In wie vielen Fällen Sachverständigengutachten zu diesen Mängeln im Kinderschutzsystem oder aber zu ihrer Vermeidung beitragen, wurde bislang nicht untersucht. Naheliegend ist aber, dass Sachverständigengutachten im Einzelfall zu einem Abbau dieser Probleme beitragen sollten, da in ihnen fachliche Bewertungen zur Qualität von Fürsorge und Erziehung vorgenommen werden und Maßnahmen zur Abwendung von Gefährdung vorgeschlagen werden, die auch innerorganismisch aus bereits beim Kind entstandenen Beeinträchtigungen und Belastungen resultieren können. Zudem bestehen in der Regel Kontakte zwischen Sachverständigen und Kindern, die zwangsläufig als Teil von Ohnmacht oder aber Beteiligung erlebt werden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Forschung zur Qualität von Sachverständigengutachten in familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren in einem noch frühen Stadium befindet. Vor allem wurde bislang meist versucht Qualität unabhängig von Interessen der Nutzerinnen bzw. Nutzern und dem Erleben von Betroffenen sowie unabhängig von Außenkriterien der Aussagekraft zu bestimmen, was die Gefahr formalistischer, ihr übergeordnetes Qualitätsziel (aussagekräftige und zugleich verständliche Gutachten) verfehlender und nicht praktikabler Kriterienkataloge birgt. Im Verhältnis zu einer Situation gänzlich ohne Maßstäbe stellen aber auch solche Kriterienkataloge einen relativen Fortschritt dar und eine häufig feststellbare Diskrepanz, etwa zwischen den „Mindestanforderungen“ und tatsächlich bei Gericht vorgelegten Sachverständigengutachten, scheint belegt, wenn auch die Bewertung dieses Befundes schwierig ist, da die Eignung der OperationalisierungenFootnote 4 der verschiedenen Mindestanforderungen in vorliegenden Studien schwer zu beurteilen ist. Mindestens drei Folgerungen für die Auswertung von Sachverständigengutachten können aber, zumindest vorläufig, gezogen werden: (a) Eine routinehafte Auswertung vorgelegter Sachverständigengutachten entlang eines detaillierten Katalogs von Qualitätskriterien für Gutachten erscheint bislang eine unrealistische Anforderung an die Praxis darzustellen. Denkbar ist aber ein Einsatz im Peer-Review unter Sachverständigen, zumindest bis bessere, tatsächlich evidenzbasierte Kriterien zur Verfügung stehen. (b) Sofern ein Sachverständigengutachten grundsätzlich verwertbar erscheint, könnte eine Möglichkeit darin bestehen zu prüfen, inwieweit Bewertungen zu den bislang hauptsächlich unklaren Punkten im Fall vorgetragen werden, die den Einzelfall und den wissenschaftlichen Hintergrund wissenschaftlich tragfähig und nachvollziehbar verschränken. Ein solches Vorgehen würde sich zumindest an bisherigen Daten dazu orientieren, wie Gutachten genutzt werden. (c) Noch weitgehend unbehandelt sind in der Forschung zwei Probleme zur Qualität von Sachverständigengutachten, nämlich wie Gutachten es möglichst vermeiden zu einer (erneuten) Ohnmachtserfahrung für Betroffene zu werden und Schwächen des Kinderschutzsystems zu reproduzieren.

3 Auswertung und Analyse der Qualität von Sachverständigengutachten im Einzelfall

Vorgeschlagen wird ein zweistufiges Vorgehen mit (a) einer Eindrucksbildung zur Eignung, Wissenschaftlichkeit und Nachvollziehbarkeit des gesamten Gutachtens und (b) einer genaueren Analyse der Aussagen im Gutachten und ihrer Begründung zu den besonders unklaren oder strittigen Punkten im konkreten Kinderschutzverfahren. Die juristische Kommentarliteratur zu § 163 FamFG hat sich bislang auf die erste Stufe dieses Vorgehens konzentriert. Beispielsweise empfiehlt Heilmann (Heilmann/Heilmann 2020, § 163 FamFG, Rn. 57) ein vorliegendes Gutachten insgesamt im Hinblick auf Nachvollziehbarkeit, Überzeugungskraft und Überprüfbarkeit zu beurteilen. Ähnlich nennt Hammer (Prütting & Helms/Hammer 2020, § 163 FamFG, Rn. 29) unter Rückgriff auf eine Entscheidung des BGH zu einem Betreuungsgutachten (BGH Entscheidung vom 09.11.2011, XII ZB 286/11) wissenschaftliche Begründung, innere Logik und Schlüssigkeit als Kriterien der Gesamtprüfung eines Sachverständigengutachtens. Hammer (2023 Rz. 29a) hat hierzu auch einige leicht überprüfbare Kriterien aus der Diskussion extrahiert, die sich auf ein Sachverständigengutachten insgesamt anwenden lassen (z. B. die Offenlegung von Informationsquellen, einbezogenen Hilfskräften und Bewertungskriterien, ein multimodales Vorgehen mit eigenen Erhebungen für jedes Kind sowie die Trennung von Untersuchungsergebnissen und Bewertungen).

Angelehnt an diesen Diskussionsstand wäre es möglich, sich bei der Lektüre eines Gutachtens im Hinblick auf Eignung, Wissenschaftlichkeit und Nachvollziehbarkeit folgende vier Fragen zu stellen:

  • Gibt es in einem Gutachten Hinweise auf Voreingenommenheit gegenüber der zu begutachtenden Familie (z. B. pauschale Abwertungen einer bestimmten Herkunft, kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung; deutliche, nicht begründete Bevorzugung der Angaben einer Person oder Stelle), gegenüber einem Elternteil z. B. dadurch dass die von diesem Elternteil berichteten Inhalte im Konjunktiv wiedergegeben werden, während die vom anderen Elternteil referierten Inhalte im Indikativ dargestellt werden, gegenüber beteiligten Institutionen (z. B. pauschal negative Sicht auf Jugendämter oder stationäre Einrichtungen) oder in Frage kommenden Maßnahmen (z. B. nicht begründete Ablehnung oder Aussparung ambulanter Hilfen zur Erziehung)?

  • Gibt es Anzeichen, dass der Rahmen der Begutachtung in bedeutsamer Weise missverstanden wurde, indem etwa Kindeswohldienlichkeit und Kindeswohlgefährdung verwechselt wird, fehlerhaft argumentiert wird, die Eltern hätten ihre Erziehungsfähigkeit nicht nachweisen können oder die Fragestellung nicht beantwortet wird?

  • Gibt es Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Begutachtung insgesamt oder am Verständnis der Rolle von Wissenschaft? Wenn hier rechtliche Bewertungen vorgeschlagen werden , ist wichtig, dass in Anerkennung der Letztverantwortung des Gerichts (a) die begrenzte tatsachenwissenschaftliche Perspektive, aus der solche Vorschläge stammen, klargestellt wird und (b) vor allem die Argumentationskette so klar beschrieben wird, dass das Gericht tatsächlich eine eigene Bewertung vornehmen kann, (c) Subjektivität bei Schlussfolgerungen methodisch kontrolliert und begrenzt wird. Vor diesem Hintergrund steht die Wissenschaftlichkeit eines Gutachtens vor allem dann deutlich in Zweifel, wenn Schlussfolgerungen mangels Struktur im Gutachten nicht als solche erkannt werden können, sie ohne Begründung für sich stehen oder selbst nahe liegende Zweifel an der Gültigkeit von Schlussfolgerungen nicht erörtert werden (z. B. fehlende Sprachkenntnisse als alternative Erklärung für auffällige Testresultate). Ein weiterer Grund für Zweifel an der Wissenschaftlichkeit eines Gutachtens könnte darin bestehen, dass ein „Erfahrungsbericht“ vorgelegt wird, der sich weder wissenschaftlicher Erhebungsmethoden noch des Rückgriffs auf wissenschaftliche Literatur bedient, um das eigene Erleben der oder des Sachverständigen zu kontrollieren.

  • Fehlt es einem Gutachten darüber hinaus insgesamt an Nachvollziehbarkeit? Wissenschaftlichkeit fördert generell Nachvollziehbarkeit. Im Einzelfall kann aber eine Sprache, die keinerlei Rücksicht darauf nimmt, dass Gutachten im familiengerichtlichen Verfahren nicht für andere Wissenschaftler, sondern für Laien geschrieben werden, auch selbst zur Hürde für die Nachvollziehbarkeit werden. Ein zweites grundsätzlicheres und von der Wissenschaftlichkeit des Vorgehens unabhängiges Problem kann sich ergeben, wenn aus der Fragestellung des Gerichts zwar fachwissenschaftliche Fragen abgeleitet und beantwortet werden, es aber unklar bleibt, was daraus nun für das Gericht folgen soll. Ein Gutachten, das etwa verschiedene Probleme im Fürsorgeverhalten von Eltern auflistet, aber keine klaren Hinweise darauf gibt, ob dies nun aus Sicht der bzw. des Sachverständigen mit ziemlicher Sicherheit zu einer erheblichen Schädigung betroffener Kinder führt, ist unter Umständen für ein Gericht nur sehr schwer verwertbar. Im Hintergrund dieses Problems steht die Sorge durch die Verwendung von Rechtsbegriffen, wie Kindeswohlgefährdung, könnten Sachverständige ihre Kompetenzen überschreiten (z. B. „Mindestanforderungen“, s. u. S. 15). In der Folge entsteht manchmal eine Kluft zwischen tatsachenwissenschaftlichen Ergebnissen im Gutachten und deren rechtlicher Würdigung, die wiederum vom Gericht ohne besondere Sachkunde nur schwer überwunden werden kann. Tatsächlich hat sich aber das Verständnis von Rechtsbegriffen wie Kindeswohlgefährdung in der Zusammenarbeit von Human- und Rechtswissenschaft entwickelt. Wie die Definition des Begriffs durch den Bundesgerichtshof zeigt („gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, daß sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen läßt“: BGH Beschluss vom 14.07.1956, IV ZB 32/56), enthält der Begriff zudem untrennbar sowohl beschreibende als auch bewertende Elemente (sprachphilosophisch handelt es sich also um ein sogenanntes „thick concept“: Kirchin 2013). Daher kann aus tatsachenwissenschaftlicher Sicht natürlich erörtert werden, ob eine Gefährdung vorliegt. Entscheidend für den Respekt vor der Verantwortung des Gerichts, ist daher weniger, ob rechtliche Bewertungen vorgeschlagen werden oder nicht, sondern dass (a) die begrenzte tatsachenwissenschaftliche Perspektive, aus der solche Vorschläge stammen, klargestellt wird, (b) die Letztverantwortung des Gerichts betont wird und (c) vor allem die Argumentationskette so klar beschrieben wird, dass das Gericht auch tatsächlich eine eigene Bewertung vornehmen kann.

Die kritische Lektüre eines Gutachtens insgesamt anhand dieser vier Leitfragen führt gegebenenfalls zu Nachfragen, die im Verfahren nach der Erstattung des Gutachtens noch beantwortet werden müssen. Die Bereitschaft als Richterin oder Richter solche Fragen zu formulieren, ist Teil eines aufgeklärten Umgangs mit Sachverständigengutachten. Auch ein Gutachten, das in seiner Gesamtheit keine Fragen aufwirft, kann aber an Stellen, die für die Entscheidung des Gerichts zentral sind, falsch sein, daher stellt die Auseinandersetzung mit ausgewählten Aussagen eines Gutachtens zu eben solchen Punkten die eigentlich entscheidende Ebene der Auswertung und Qualitätsprüfung dar. Der Gesamteindruck von einem Gutachten ist nur ein Indiz für die Tragfähigkeit einzelner Befunde und Schlussfolgerungen. Als Indiz muss dieser Gesamteindruck zurückstehen, soweit eine spezifischere Prüfung bestimmter Aussagen möglich ist. Die Bewertung bestimmter Schlussfolgerungen und dahinterstehender wissenschaftlicher Methoden sowie Theorien ist im Anschluss an die sogenannten Daubert-Kriterien (Testbarkeit der Theorie hinter einer Aussage, Prüfung der Fehlerrate, Veröffentlichung der Theorie oder Methode in wissenschaftlichen Zeitschriften mit Peer-Review, Akzeptanz in der Wissenschaft) der Hauptansatzpunkt der US-amerikanischen Rechtsprechung zur Zulässigkeit wissenschaftlicher Expertise in Gerichtsverfahren (Faigman & Monahan 2005), sodass hier kein völliges Neuland betreten wird.

4 Qualitätsprüfung zentraler Aussagen im Gutachten

Welche entscheidungserheblichen Punkte im Einzelfall vor der Gutachtenserstattung besonders unklar oder strittig waren, entscheidet darüber, welche Befunde und Aussagen in einem Sachverständigengutachten für das Gericht von besonderer Bedeutung sind und daher intensiv geprüft und ausgewertet werden sollten. Eine einfache Systematik unterscheidet drei Punkte, die in Einzelfällen besonders klärungsbedürftig sein können. Nachfolgend wird eine Reihe von Hinweisen für die Qualitätsprüfung zu jedem der drei Punkte gegeben.

  1. a)

    In manchen Fällen ist grundlegend unklar, was in der Familie an schädlichem Tun oder Unterlassen notwendiger Fürsorge bereits vorgefallen ist oder mit ziemlicher Sicherheit droht.

  2. b)

    Manchmal scheint klar, was bereits vorgefallen ist, es bleibt aber zunächst unklar, ob dies als Kindeswohlgefährdung zu werten ist (z. B. in Fällen miterlebter Partnerschaftsgewalt) bzw. ob die Gefahr fortbesteht (z. B. wenn eine Misshandlung eingeräumt wird, aber eine deutliche Verbesserung der familiären Situation vorgetragen wird).

  3. c)

    In manchen Fällen ist klar, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, es ist aber unklar, inwieweit die Sorgeberechtigten zur (Mitarbeit bei der) Abwehr der Gefahr bereit und in der Lage sind und, damit zusammenhängend, welche Maßnahmen denn zur Abwehr der Gefahr überhaupt geeignet sind.

4.1 Qualitätsprüfung von Aussagen zu schädlichem Tun, dem Unterlassen notwendiger Fürsorge und zugespitzten Risikolagen

Setzen die Unklarheiten bereits damit ein, was in der Familie an schädlichem Tun oder Unterlassen notwendiger Fürsorge bereits vorgefallen ist, so gibt es Fälle mit einem Schwerpunkt des Klärungsbedarfs auf der Beschreibung alltäglicher Fürsorge und Erziehung, was vor allem für Fälle mit möglicher chronischer Vernachlässigung relevant ist. In einer anderen Gruppe von Fällen liegt der Schwerpunkt des Klärungsbedarfs bei der Prüfung im Raum stehender herausgehobener Gefährdungsereignisse (z. B. einem Missbrauchsereignis). In einzelnen Fällen sind beide Schwerpunkte relevant. Für den Schwerpunkt der Beschreibung alltäglicher Fürsorge gibt es bislang nur wenige relevante Standards. Ein relevanter, sowohl in den „Mindestanforderungen“ als auch in den Richtlinien der American Psychological Association (APA) erwähnter Standard betrifft ein multimodales Vorgehen des oder der Sachverständigen bei der Erhebung. Genau hieran können sich Gerichte an dieser Stelle im Moment orientieren. Ein multimodales Vorgehen bedeutet, dass die Erhebung auf vielfältige Art und Weise geschieht. Nach dem Aggregationsprinzip, das der Bundesgerichtshof im Rahmen der Prüfung aussagepsychologischer Methodik anerkannt hat (BGH 30.7.1999, 1 StR 618/98, Rn. 22), führt die Zusammenschau mehrerer, für sich genommen schwach aussagekräftiger Anhaltspunkte zu einer insgesamt deutlich aussagekräftigeren Bewertung (für die dahinterstehende Messtheorie siehe Rushton et al. 1983). Die in Frage kommenden fünf Wege zur Erhebung der Qualität alltäglicher Fürsorge und Erziehung sind (a) Untersuchungen des Kindes im Hinblick auf Pflegezustand, Entwicklung und Gesundheit, soweit dies Rückschlüsse auf erfahrene Fürsorge und Erziehung erlaubt (z. B. schwere Zahnschäden als Folge mangelnden Zähneputzens); (b) Erhebungen bei den Eltern zu ihrer Praxis von Fürsorge und Erziehung sowie den psychologischen und sozialen Grundlagen von Fürsorge und Erziehung bei ihnen (z. B. Wissen über die Entwicklung von Kindern, Verarbeitung der selbst als Kind erfahrenen Fürsorge und Erziehung); (c) Erhebungen bei Kindern zur erfahrenen Fürsorge und Erziehung; (d) direkte Beobachtung von Fürsorge und Erziehung sowie der von den Eltern gestalteten Umgebung für Fürsorge und Erziehung (Wohnung); (e) Erhebungen bei Informationspersonen, die mit dem Alltag von Fürsorge und Erziehung in der Familie vertraut sind und denen eine neutrale Bewertung prinzipiell zugetraut werden kann. Im Einzelfall können einzelne Wege versperrt sein (z. B. in der Familie lebende Kinder sind noch nicht sprachfähig). Multimodalität bemisst sich also daran, inwieweit mehrere oder alle der nicht versperrten Wege zur Erhebung alltäglicher Fürsorge und Erziehung genutzt werden.

4.1.1 Begutachtung der Erziehungsfähigkeit

Die Beschreibung alltäglicher Erziehung und Fürsorge in einer Familie läuft teilweise unter dem Begriff einer Begutachtung der „Erziehungsfähigkeit (für eine Forschungsübersicht siehe Zumbach & Oster 2021). Wird Erziehungsfähigkeit verstanden als an den Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientierte Einschätzung der Geeignetheit der Gesamtheit elterlicher Einflüsse auf Wohlergehen und Entwicklung des Kindes (Kindler 2006), so sind zwei potenzielle weitere Standards festzuhalten. Der erste Standard betrifft die Orientierung an den Bedürfnissen eines jeden konkret betroffenen Kindes, die teils alterstypisch, teils individuell sein können (z. B. beim Vorliegen einer stärkeren psychischen Beeinträchtigung bei einem Kind mit Autismus) und die an irgendeiner Stelle im Gutachten herausgearbeitet werden müssen. Der zweite Standard betrifft einen geeigneten, weil umfassenden, aber übersichtlichen, da strukturierten Ansatz bei der Beschreibung der Gesamtheit der elterlichen Einflüsse, meist in Form einer Unterscheidung mehrerer Dimensionen der Erziehungsfähigkeit. Es gibt verschiedene Ansätze zur umfassenden und geordneten Beschreibung elterlicher Einflüsse (Zumbach & Oster 2021). Mit Steinhauer (1991) können etwa die Dimensionen Pflege und Versorgung, Bindung, Vermittlung von Regeln und Werten sowie Förderung unterschieden werden. Ein umfassender Ansatz bedeutet nicht, dass alles gleich wichtig ist. Hier können mit Gründen Schwerpunkte gesetzt werden. Welche Dimensionen der Erziehungsfähigkeit nach Steinhauer (1991) von besonderer Bedeutung sind, hängt etwa vom Alter und der Entwicklung des Kindes ab, da beispielsweise die Dimension „Pflege und Versorgung“ in der frühen Kindheit sowie bei manchen chronisch kranken Kindern bzw. Kindern mit Behinderungen besonders bedeutsam ist und ansonsten mit zunehmendem Alter eines Kindes an Aussagekraft verliert. Die Dimension der Vermittlung von Regeln und Werten, die alltagssprachlich mit dem Begriff Erziehung gemeint ist, gewinnt wiederum erst mit dem zweiten Lebensjahr von Kindern Bedeutung. Insgesamt wird Gerichten daher empfohlen, in Kinderschutzverfahren die Güte der Beschreibung alltäglicher Fürsorge und Erziehung in Gutachten, die insbesondere für Fälle mit chronischer Vernachlässigung von großer Bedeutung ist, derzeit an den Kriterien (a) eines multimodalen Vorgehens bei der Erhebung, (b) der Bezugnahme auf die herausgearbeiteten Bedürfnisse betroffener Kinder und (c) eines umfassenden, aber übersichtlich strukturierten Ansatzes bei der Erfassung der Gesamtheit elterlicher Einflüsse festzumachen.

Der Einsatz standardisierter diagnostischer Verfahren, häufig auch als Tests bezeichnet, zählt nicht zu den hier empfohlenen Maßstäben. Zwar sind solche Verfahren in kleineren Bereichen als ein nicht zu unterschreitender Standard anzusehen (z. B. bei der Erfassung des Entwicklungsstands von Kindern). In den meisten relevanten Bereichen stellen sie jedoch nur eine Möglichkeit der Erhebung dar oder fehlen ganz. Beispielsweise können in einem Fragebogen Sichtweisen von Kindern auf die Strafintensität in der Erziehung durch Mutter bzw. Vater erhoben werden (Erziehungsstil-Inventar, ESI, Krohne & Pulsak 1995), während Eltern in einem anderen Fragebogen Angaben dazu machen können, inwieweit sie ihr Kind als besonders anstrengend und sich selbst als überfordert empfinden (Eltern-Belastungs-Inventar, EBI, Tröster 2010). Diese Informationen sind für das Verständnis alltäglicher Fürsorge und Erziehung prinzipiell interessant und Verfahren, wie die beispielhaft genannten, haben den Vorteil, dass aufgrund festgelegter Fragen und Auswerteprozeduren die Subjektivität der bzw. des Sachverständigen kontrolliert und die Objektivität damit erhöht wird. Auf der anderen Seite sind derartige Verfahren (a) häufig nicht einsetzbar, etwa wenn Eltern aus Kulturen stammen, für die das Verfahren nicht validiert wurde oder wenn andere Bearbeitungshindernisse vorliegen (z. B. funktionaler Analphabetismus), (b) meist leicht durchschaubar und damit im spezifischen Kontext einer Begutachtung auch leicht manipulierbar und (c) in der Interpretation schwierig, da vorhandene Normen nicht auf die Schwelle von Gefährdung hin definiert wurden, sondern in der Regel nur eine mehr oder weniger ungünstige Situation als auffällig erfassen. Selbst wenn keine standardisierten Verfahren eingesetzt werden, sondern Eltern und Kinder unstrukturiert oder halbstrukturiert exploriert bzw. beobachtet werden, ergibt sich allerdings aus der geforderten Wissenschaftlichkeit des Vorgehens die Notwendigkeit, sich bei der resultierenden Beschreibung auf etablierte Konzepte und Konstrukte aus den Humanwissenschaften zu beziehen.

4.1.2 Klärung von Gefährdungsereignissen

Soll geklärt werden, ob sich im Raum stehende herausgehobene Gefährdungsereignisse tatsächlich ereignet haben, kommt vielfach der Rechtsmedizin eine besondere Bedeutung zu, da Verletzungen und Mangelerscheinungen bei Kindern teilweise Rückschlüsse auf die Art der Verursachung erlauben. Zu den hierfür gegenwärtig am besten fundierten diagnostischen Vorgehensweisen enthält die medizinische Kinderschutzleitlinie (AWFM 2019) detaillierte Empfehlungen und Zusammenstellungen des Forschungsstandes, die als Orientierung verwendet werden können, wenn hier Unsicherheiten oder Streitigkeiten im Verfahren auftreten. Für die psychischen Folgen von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch sind solche Rückschlüsse regelhaft nur schwer möglich, da diagnostizierbare Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ätiologisch vergleichsweise offen sind, also verschiedene Einflüsse zu ein und demselben Störungsbild führen können. Während die Diagnose anhand festgelegter Kriterien nach der International Classification of Diseases (ICD) in der jeweils gültigen Fassung multiaxial erfolgt, d. h. mit einer Beschreibung des Befundes auf sechs Achsen (klinisch-psychiatrische Syndrome, umschriebene Entwicklungsrückstände, Intelligenzniveau, körperliche Symptomatik, assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände, globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus), ist ein Rückschluss auf verursachende Bedingungen in der Regel allenfalls unter Beiziehung sonstiger verfügbarer Informationen möglich, wofür aber keine Standards existieren. Tatsächlich liegt die entscheidende Bedeutung kinderpsychiatrischer Diagnostik häufig auch mehr auf dem Herausarbeiten notwendiger Maßnahmen zur Abwehr einer vorhandenen Gefährdung. Soweit nicht andere Beweismittel, etwa in Form von Zeugenaussagen oder Videoaufzeichnungen existieren, die Rückschlüsse auf einzelne Gefährdungsereignisse erlauben, kommt den Angaben betroffener Kinder hier häufig großes Gewicht zu, zumindest wenn interpretierbare körperliche Befunde fehlen. Deshalb gibt es auch eine intensive Debatte darüber, wie Angaben von Kindern zu Gefährdungsereignissen erhoben und ausgewertet werden sollen (s. a. Rechtliche Vorgaben zur Kindesanhörung und kindgerechte Anhörung [Kap. 5]). Als Ergebnis der Debatte und der zugehörigen Forschungsprogramme können für Sachverständigengutachten, in denen Kinder zu Gefährdungsereignissen exploriert werden, zwei Standards festgehalten werden. Zum einen gibt es erprobte und unterstützende strukturierte Formen der Exploration von Kindern, wie das revidierte NICHD-Befragungs-Protokoll (Lamb et al. 2018), die sowohl der Belastung von Kindern entgegenwirken, als auch die Zuverlässigkeit und Verwertbarkeit von Angaben erhöhen. Es ist daher ein wichtiger Standard für Sachverständige, ein solches, strukturiertes Vorgehen zu wählen. Zum anderen gibt es Verfahren der Analyse kindlicher Angaben zu einzelnen Gefährdungsereignissen, die in strittigen Fällen unter Umständen Hinweise auf eine Erlebnisbegründetheit der Angaben herausarbeiten können. In Deutschland hat sich insbesondere das Verfahren der kriterienorientierten Aussagenanalyse etabliert (Greuel et al. 1998), das gegenüber Laieneinschätzungen (Gongola et al. 2017) belegbar helfen kann, erlebnisbegründete Schilderungen zu erkennen (Oberlader et al. 2021). Die Methodik ist nicht unumstritten, da sie (a) von Betroffenen im Strafverfahren häufig als diskriminierend empfunden wird (Fegert et al. 2018), (b) mit der im Strafverfahren gültigen Unschuldsvermutung entwickelt wurde (Ausgangspunkt ist die sogenannte „Nullhypothese“ (Spezifizität), die Aussage des Kindes könnte gelogen sein) und nicht ganz klar ist, welche Anpassungen in der Methodik und vor allem in der Interpretation im Übertrag auf das familiengerichtliche Kinderschutzverfahren mit seiner Zukunfts- und Kindeswohlorientierung (Sensitivität) erforderlich sind, (c) der Anwendungsbereich eingeschränkt ist, etwa im Hinblick auf sehr junge und psychisch sehr schwer belastete Kinder (vgl. König & Fegert 2006), und (d) aus einer nicht belegbaren Erlebnisbegründung in den Angaben von Kindern immer wieder der Fehlschluss gezogen wird, damit sei belegt, dass Gefährdungsereignisse nicht stattgefunden hätten. Auch wenn deshalb mit Gründen in manchen Fällen von einer Anwendung der Methodik abgesehen werden muss oder Anpassungen vorgenommen werden können, stellt die Prüfung, ob eine aussagepsychologische Analyse von Angaben möglich ist und gegebenenfalls die Durchführung einer solchen Analyse einen, sogar in Strafverfahren relevanten Standard dar (z. B. BGH Beschluss vom 03.05.2019, 3 StR 462/18), sofern andere Möglichkeiten der Klärung, ob sich im Raum stehende Gefährdungsereignisse ereignet haben, fehlen.

Zusammenfassend ist festzuhalten

Wenn in einem Kinderschutzverfahren geprüft werden muss, inwieweit von bestimmten Gefährdungsereignissen auszugehen ist, so gibt es eine begrenzte Anzahl an Strategien, die hier potenziell zu aussagekräftigen Ergebnissen führen (Unterstaller 2006; Vrolijk-Bosschaart et al. 2018). Zwei dieser Strategien, nämlich Rückschlüsse aus Verletzungsmustern und belastbare Angaben betroffener Kinder, werden häufig über Sachverständigengutachten abgedeckt. Bei rechtsmedizinischen Gutachten zu Verletzungsmustern und möglichen Rückschlüssen auf die Entstehung können sich Gerichte bei der Qualitätsprüfung daran orientieren, ob den Empfehlungen der medizinischen Kinderschutzleitlinie (AWFM 2019) gefolgt wurde, was gegebenenfalls durch Rückfragen zu klären ist. Werden Kinder als Betroffene um Auskunft gebeten, so ist der wichtigste Qualitätsstandard, ob eine unterstützende, strukturierte Explorationsmethode eingesetzt wurde. Ein weiterer Standard ist es zu prüfen, ob durch eine aussagepsychologische Analyse vorhandener Angaben eines Kindes mehr Klarheit erreicht werden kann.

4.1.3 Zugespitzte Risikolagen

Mit zugespitzten Risikolagen sind Fälle gemeint, in denen es keinen Hinweis darauf gibt, dass sich Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch bereits ereignet hätten, aber eine so schwerwiegende Gefahrensituation vorliegt, dass in einem Kinderschutzverfahren zumindest geprüft werden muss, ob die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung genommen wird. Die beiden wichtigsten Fallgruppen sind hier jüngere, noch nicht zum Selbstschutz fähige Kinder mit einem psychisch schwer erkrankten Elternteil und Kinder, die (meist aufgrund einer Partnerschaft der Mutter) in potenziell engem Kontakt zu einem Sexualstraftäter stehen. In beiden Fallgruppen werden häufig Gutachten eingeholt. In der ersten Fallgruppe (jüngere Kinder mit psychisch schwer erkranktem Elternteil) können bei der Qualitätsprüfung zentraler Aussagen in einem eingeholten Sachverständigengutachten drei Aspekte berücksichtigt werden: (a) Ausgehend vom Prinzip der funktionalen Orientierung, wonach sich Menschen mit ein- und derselben psychiatrischen Diagnose in ihrer Fähigkeit, Elternfunktionen zu erfüllen, bedeutsam unterscheiden, wird die Gefahrensituation, zumindest im Hauptsacheverfahren, nicht allein aus der psychiatrischen Diagnose erschlossen, sondern die Fähigkeit zur Erfüllung von Elternfunktionen wird konkret geprüft (Benjet et al. 2003). (b) Ein zweites Prüfkriterium erfordert, dass konkret erörtert wird, wie psychisch erkrankte Elternteile, im Rahmen ihrer Steuerungsmöglichkeiten, ihre Kinder in Symptome einbeziehen oder nicht einbeziehen, da Menschen mit psychischen Erkrankungen sich zu ihrer Erkrankung verhalten und dies für die weitere Entwicklung betroffener Kinder von großer Bedeutung ist. (c) Steuerungsmöglichkeiten betreffen schließlich nicht nur individuelle Fähigkeiten und Einsichten von Elternteilen, sondern auch deren soziale Ressourcen, die Freiheitsgrade schaffen, weshalb als dritter Maßstab für Qualität hier festzuhalten ist, dass Gefährdungsbeurteilungen zugespitzter Risikolagen aufgrund schwerer psychischer elterlicher Erkrankungen eine Beschreibung des sozialen Umfeldes beinhalten müssen.

Bei der Beurteilung des Ausmaßes der Gefahren, die sich für Kinder aus einem Zusammenleben oder engen Kontakt mit einem Sexualstraftäter ergeben, zeigt sich derzeit eine rasche Entwicklung von Rechtsprechung und fachlichen Vorgehensweisen, sodass Standards nur sehr vorläufig formuliert werden können. Zum einen ist hier, aufbauend auf Delikten und persönlichen Merkmalen des Sexualstraftäters, eine forensische Einschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit mittels standardisierter und belegbar vorhersagekräftiger Verfahren notwendig. Diese Einschätzung ist zwar grob, auch wenn mittlerweile mehrere geprüfte Verfahren vorliegen (Helmus 2021), weil die generelle Rückfallwahrscheinlichkeit, nicht die Rückfallwahrscheinlichkeit bezogen auf die vom Gerichtsverfahren betroffenen Kinder, eingeschätzt wird und zudem alle Verfahren unter einer hohen Rate nicht bekanntwerdender Rückfälle in Familien leiden. Trotzdem handelt es sich um einen notwendigen Bestandteil der gegenwärtig besten möglichen Einschätzung, wobei einige Studien darauf hindeuten, dass die Prognose durch einzelfallbezogene Faktoren aus einer Analyse der Deliktgeschichte noch etwas verbessert werden kann (Dahle & Lehmann 2018). Zum anderen ist eine Einschätzung der Schutzfähigkeiten anderer, für betroffene Kinder verantwortlicher Bezugspersonen, meist der Mutter, erforderlich (Graf et al. 2018). Bei der Qualitätsprüfung von Sachverständigengutachten zu diesem Aspekt zugespitzter Risikolagen kann daher darauf geachtet werden, ob die Einschätzung im Gutachten auf beiden Bausteinen, Rückfallwahrscheinlichkeit und Schutzfähigkeiten aufbaut und hierzu in der Literatur verankerte Methoden hergezogen werden.

4.2 Aussagen zu ziemlich sicher drohenden erheblichen Schädigungen, Art der Schädigung und fortbestehenden Gefahren

Steht unstrittig oder als Ergebnis von Beweiserhebungen fest, welchen Erlebnissen und welcher Art von Fürsorge ein Kind in einer Familie ausgesetzt ist, so kann die Frage in den Vordergrund rücken, ob ohne deutliche Verbesserung der Situation des Kindes eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit vorhergesagt werden kann. Diese Frage stellt sich weniger bei ganz klassischen Formen der Kindeswohlgefährdung, wie schweren körperlichen Misshandlungen oder einem innerfamiliären sexuellem Missbrauch, da hier schon seit längerem gezeigt wurde, dass ein Aufwachsen unter diesen Bedingungen die große Mehrheit betroffener Kinder erheblich schädigt. Entsprechend liegt in den großen hierzu vorhandenen Studien die Rate resilienter Kinder, die trotz chronischer Misshandlung oder chronischem Missbrauch eine positive Entwicklung durchlaufen unter 10 % (für eine Forschungsübersicht siehe Bolger & Patterson 2003). Kritisch wird die Frage aber bei Gefährdungsformen mit einem breiten Übergangsbereich zu bloßen Hilfebedarfen (Vernachlässigung, psychische Misshandlung) oder bei nicht-klassischen Formen von Gefährdung (z. B. miterlebte Partnerschaftsgewalt, chronische Hochstrittigkeit), die allenfalls in einem Teil der Fälle als Kindeswohlgefährdung einzuordnen sind.

Sind die in einem Sachverständigengutachten gegebenen Antworten zur Frage der Vorhersehbarkeit erheblicher Schädigungen für ein Verfahren besonders bedeutsam, so können Gerichte die Qualität solcher Aussagen anhand von zwei Kriterien prüfen. Zum ersten sollten Sachverständige hier vortragen, was über Verläufe grob vergleichbarer Fälle bekannt ist. Beispielsweise zeigen Beobachtungsstudien bei der Mehrzahl der in der frühen Kindheit emotional schwer vernachlässigten Kinder erhebliche langfristige Schädigungen (Egeland 1997), gleiches gilt für einen großen Teil der Kinder, die wiederholte, verletzungsträchtige und in Muster von Kontrolle und Demütigung eingebettete Partnerschaftsgewalt miterleben müssen (s. a. Kinder und Jugendliche im Kontext häuslicher Gewalt – Risiken und Folgen [Kap. 22]) während bei chronischer Hochstrittigkeit der Eltern nur ein kleiner Teil der Kinder langfristige Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit zu erleiden scheint und stattdessen häufig eine starke oder vorzeitige Distanzierung von den Eltern eintritt (Johnston et al. 2009). Diese Hintergrundinformationen sind für Sachverständige meist nicht einfach zu geben, weil der Fokus vieler Studien nur darauf liegt, ob Kinder mit Gefährdungserfahrungen überzufällig häufiger Probleme zeigen, nicht um wie viel häufiger sie Probleme zeigen. Es ist aber genau die Stärke der Effekte, die für die vom Gericht vorzunehmende Bewertung wichtig ist. Zum zweiten ist ausgehend von diesen Hintergrundinformationen anhand von Befindlichkeit, Verhaltensanpassung und Bewältigungsstrategien des einzelnen Kindes zu erörtern, inwieweit diese Punkte im Einzelfall eine genauere Einschätzung ermöglichen. Tatsächlich kann etwa eine schwere depressive oder suizidale Entwicklung bei einem Kind mit hochstrittigen Eltern eine Bewertung der Situation als Kindeswohlgefährdung im Einzelfall rechtfertigen, auch wenn dies nicht generell für die ganze Fallgruppe gilt. Die Möglichkeit zur genaueren Prognose im Einzelfall besteht teilweise deshalb, weil Befunde zu natürlichen Verläufen von Störungen und Entwicklungsauffälligkeiten (für eine Forschungsübersicht siehe Koenen et al. 2013), zu Problemkaskaden, also aufeinander aufbauenden Abfolgen von Problemen (z. B. Patterson et al. 1992), und zur Wirkung ungünstiger Bewältigungsformen vorliegen (z. B. Simon et al. 2010), auf die sich Sachverständige hier stützen können. Jenseits prognostischer Relevanz, die von der etablierten Definition des Begriffs der Kindeswohlgefährdung betont wird, sind viele Gerichte auch bereit, gegenwärtiges Leiden eines Kindes, also erhebliche Beeinträchtigungen der Befindlichkeit und vermeidbare Schmerzen, bei der Beurteilung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung zu berücksichtigen. Hierzu Informationen vorzutragen, kann zwar nicht unbedingt als Standard angesehen werden, ist aber sinnvoll.

In manchen Fällen wird nicht bestritten, dass es zu Gefährdungsereignissen gekommen ist. Bestritten wird stattdessen, dass die Gefahr fortbesteht. Beispielsweise kann es sein, dass mit einem elterlichen Augenblicksversagen, das sich nicht wiederholen wird, Wirkungen von Reue oder einer bedeutsamen Verbesserung der persönlichen oder familiären Situation argumentiert wird. Ohne eine fortbestehende Gefahr macht die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung wenig Sinn, zumindest aber sind Eingriffe in Elternrechte ausgeschlossen, da es ihnen an Erforderlichkeit mangelt. Sind Aussagen im Gutachten zur Frage einer fortbestehenden Gefahr zentral, so können von Gerichten zwei Maßstäbe an die Qualität entsprechender Aussagen angelegt werden. Zum einen sollte geprüft werden, ob mindestens ein belegbar aussagekräftiges, standardisiertes Verfahren zur Einschätzung des Risikos wiederholter Gefährdung eingesetzt wurde bzw., ob argumentiert wurde, warum dies nicht möglich war. Mehrere solcher Verfahren liegen vor (für eine Forschungsübersicht siehe Van der Put et al. 2017). Speziell die Situation in Deutschland erörtern zudem Zumbach et al. (2020, S. 120 ff.). Darüber hinaus und besonders in Fällen, in denen kein standardisiertes Verfahren zur Verfügung steht, ist, zweitens, eine einzelfallbezogene Analyse von Risiken und Schutzfaktoren sinnvoll. Wichtig ist hier eine Systematik, die Stereotype zu vernachlässigenden oder misshandelnden Eltern nicht nur doppelt. Misshandelnde Eltern werden etwa meist als aggressiv und feindselig, vernachlässigende Eltern als emotional distanziert und arm porträtiert. Entsprechend wird ein hohes Maß an elterlicher Impulsivität und Ärger in der Regel zutreffend als Risiko für (weitere) Misshandlung beurteilt. Dass ausgeprägte Ängste eines Elternteils einen nahezu gleich aussagekräftigen Risikofaktor darstellen, wird dagegen leicht ausgeblendet, weil es dem Stereotyp misshandelnder Eltern nicht entspricht. In ähnlicher Weise werden bei Kindesvernachlässigung eine elterliche Depression, mehrere jüngere Kinder, die versorgt werden müssen, und Armut häufig zutreffend als Risikofaktoren für wiederholte Vernachlässigung erkannt. Hingegen wird die dem Stereotyp widersprechende, aber ebenfalls gewichtige Rolle einer elterlichen Geschichte von Kriminalität und antisozialen Handlungen möglicherweise fälschlich nicht berücksichtigt. Eine individuelle Analyse von Risiken und Schutzfaktoren stellt deshalb eine fachliche Aufgabe dar, die nicht ohne Fachkenntnisse erledigt werden kann. Zusammenstellungen der Befundlage, auf die sich Sachverständige berufen können, finden sich etwa bei Stith et al. (2009) und Mulder et al. (2018).

4.3 Aussagen zur Bereitschaft und Fähigkeit von Sorgeberechtigten zur Abwehr vorhandener Gefahren in Verbindung mit Aussagen zu geeigneten Maßnahmen der Abwehr

Aussagen von Sorgeberechtigten zu ihrer Bereitschaft und Fähigkeit zur (Mitarbeit bei der) Abwehr vorhandener Gefahren sind nur relevant, soweit sie sich auf prinzipiell geeignete Maßnahmen zur Abwehr vorhandener Gefahren beziehen. Daher hängen beide Aspekte zusammen und werden hier gemeinsam erörtert. Ein Kriterium bei der Auswertung und Qualitätsprüfung von Aussagen in Sachverständigengutachten zu geeigneten und erforderlichen Maßnahmen, um vorhandene Gefahren abzuwehren ist die Bezugnahme auf Wirkungsstudien. Die Befundlage macht es Sachverständigen hier aber nicht leicht, weil (a) zwar international die Anzahl entsprechender Untersuchungen rapide zunimmt (z. B. Chaffin et al. 2012; Dozier & Bernard 2019), die dort geprüften Hilfekonzepte und Schutzmaßnahmen örtlich in Regel aber nicht vorhanden sind, sodass nur Grundgedanken zur Wirksamkeit dieser Hilfekonzepte übertragen werden können, (b) Forschung zur Wirkung von Hilfen und Schutzmaßnahmen im Kinderschutz in Deutschland selbst erst allmählich entsteht. Hieraus ergibt sich, dass Empfehlungen in Sachverständigengutachten Wirkungsbefunde erörtern sollen (s. a. Hilfen und Schutzkonzepte bei Misshandlung und Vernachlässigung [Kap. 32], Hilfen und Schutzkonzepte bei sexueller Gewalt [Kap. 33]), örtlich vorhandene Erfahrungen mit Hilfekonzepten aber ebenfalls eine wichtige Rolle spielen können. Erforderlich ist jedoch eine fallbezogene Analyse der Problemlagen in Familien, die Ansatzpunkte für Interventionen sein können und müssen. Besonders strittig ist häufig die Frage, ob ambulante Hilfen im Einzelfall als ungeeignet beurteilt werden müssen. Eine Systematik potenziell relevanter Gründe für einen Ausschluss ambulanter Hilfen wird in einem Text dieses Kurses erörtert (Hilfen und Schutzkonzepte bei Misshandlung und Vernachlässigung [Kap. 32]). Zusammenfassend wird empfohlen, die Qualität von Aussagen in Sachverständigengutachten zur Eignung und Erforderlichkeit von Maßnahmen zur Abwehr vorhandener Gefahren daran festzumachen, ob beruhend auf einer Analyse von Problemen in der Familie, die für die Entstehung bzw. Aufrechterhaltung von Gefährdung verantwortlich zu machen sind, und unter Bezugnahme auf Wirkungsforschung und Erfahrungsbestände ein Konzept entwickelt wird, das dann der Abstimmung mit der Familie und dem Jugendamt bedarf. Wenn ambulante Hilfen als ungeeignet beurteilt werden, ist eine eigene, auf die Literatur bezogene Begründung zweifellos erforderlich.

Zwei der potenziell relevanten Gründe für einen Ausschluss ambulanter Hilfen, eine fehlende Bereitschaft zur Mitwirkung sowie überdauernde Einschränkungen der Fähigkeit, von ambulanten Hilfen zur Erziehung zu profitieren, berühren das zweite Tatbestandsmerkmal des § 1666 Abs. 1 BGB unmittelbar. Als Hintergrund sind fachliche Festlegungen zu geeigneten und erforderlichen Maßnahmen jedoch auch darüber hinaus relevant, da Eltern wissen müssen, bei was ihre Mitarbeit erforderlich ist, da sie nur dann entscheiden können, ob sie hierzu bereit sind. Heilmann (Heilmann/Heilmann 2020, § 1666 BGB, Rn. 38) hält die bloße verbale Beteuerung der Bereitschaft zur Mitwirkung für nicht ausreichend. Dies gilt natürlich auch für Aussagen in Sachverständigengutachten zur Bereitschaft und Fähigkeit von Sorgeberechtigten zur (Mitarbeit bei der) Abwehr vorhandener Gefahren. Zumindest sollte im Gutachten (a) die bisherige Hilfegeschichte im Hinblick auf die Mitarbeit bei und den Nutzen von ambulanten Hilfen ausgewertet werden, (b) erörtert werden, ob überdauernde Einschränkungen der Fähigkeit, von ambulanten Hilfen zur Erziehung zu profitieren, bei den Eltern vorliegen und (c) diskutiert werden, ob es Punkte gibt, an denen sie dazulernen wollen, da Kontrolle allein nicht zu einer Wiederherstellung der elterlichen Erziehungsfähigkeit führen kann.

In manchen Fällen werden von Beteiligten sogenannte methodenkritische Gutachten oder Stellungnahmen vorgelegt, um die Prüfung und Auswertung eines vorliegenden Sachverständigengutachtens in eine bestimmte Richtung zu lenken. Zwar bestehen aufgrund von Intransparenz in der Vertragsgestaltung und Bezahlung häufig Zweifel an der Neutralität solcher methodenkritischen Gutachten oder Stellungnahmen, die zudem mangels eigener Datenerhebung regelmäßig nicht für bessere alternative Entscheidungsgrundlagen sorgen. Trotzdem können methodenkritische Gutachten oder Stellungnahmen im Einzelfall sinnvolle Fragen aufwerfen, denen im Verfahren nachgegangen werden sollte. Allerdings zeigen sich hier häufig sehr deutlich die Gefahren einer übermäßig formalistischen Prüfung von Sachverständigengutachten mittels Checklisten, die weder tatsächliche Auswirkungen von Mängeln im Gutachten auf die Aussagekraft noch auf die Verständlichkeit berücksichtigen.

Forschung und Praxisentwicklung zur Auswertung und Qualitätsprüfung bei Sachverständigengutachten befinden sich offenkundig noch in einem frühen Stadium. Dies bedingt eine gewisse Vorläufigkeit der gegebenen Empfehlungen. Ungelöste Probleme betreffen derzeit in erster Linie (a) fehlende Befunde zu Aussagekraft und Nutzen qualitativ verschiedener Sachverständigengutachten in Kinderschutzverfahren, (b) Prozesse der gewinnbringenden Verarbeitung von Gutachten durch Richterinnen und Richter sowie (c) Möglichkeiten, den Prozess der Begutachtung für Eltern und Kinder möglichst wenig belastend zu gestalten und Erfahrungen von Ausgrenzung und Ohnmacht möglichst wenig zu doppeln. All diese Wissenslücken führen notwendig zu Unsicherheiten im Hinblick auf die Frage, was gute Qualität in Sachverständigengutachten bedeutet. Auf der anderen Seite wäre dieser Beitrag nicht möglich, wenn es in den letzten Jahren nicht bereits einige intensive Diskussionen und erste Forschungen gegeben hätte. Ein wichtiger nächster Schritt in Deutschland ist die Ergänzung der nur beschränkt aussagekräftigen und praxistauglichen Prüfung der Qualität gesamter Gutachten zugunsten einer stärkeren Prüfung je nach Verfahren besonders relevanter Befunde und Aussagen in Gutachten.