Selbstbeschreibungen des Formalen

Über Protokolle nachzudenken, heißt, über die Aufdringlichkeit distanzierter Beobachtungsweisen nachzudenken. Es heißt nachzudenken über die Frage, ob und wie normative Erwartungen komplementär ergänzt werden durch Observanzen, die sich nicht im Schreiben, sondern im Aufschreiben habitualisieren, über »observing systems« als »Aufschreibesysteme« (von Foerster 1981; Kittler 2003). Also heißt es auch nachzudenken über die Praxis und die Folgeprobleme solcher Habitualisierung, die – so lässt sich nach einer langen Tradition soziologischen Denkens sagen – mit dem Ausdruck ›formale Organisation‹ treffend bezeichnet ist. Es heißt nachzudenken über »Selbstbeschreibungen« organisierter Sozialsysteme, die deren laufende Selbstbeobachtungen »durch ein Substitut, nämlich eine Chiffrierung« ersetzen, die »durch ihren Text operationsleitend wirkt« und deshalb in Organisationen Schriftform haben muss (Luhmann 2000, 417, in entschlossener Preisgabe der idealtypischen Bürokratiemetapher zugunsten eines Begriffs empirischer Sozialität: Organisation). Wenn Protokolle solche Texte bzw. Schriftformen sind, dann ermöglichen sie, dass eine Organisation sich an sich selbst orientiert. Sie überbrücken die Schwierigkeit, dass kein Sozialsystem »tun (kann), was es ist« (Luhmann 2000, 417), dadurch, dass sie ihm ermöglichen zu sein, was es tut – bzw. sich für das zu halten, sich mit dem zu verwechseln, was es tut. Dazu muss dieses System sich in seinem Tun (wieder)erkennen können, es braucht ein materiales Substrat dieses Tuns. In Organisationen dient dem die Schriftform. Nachdenken über Protokolle heißt folglich Nachdenken über eine Pragmatik des Gedächtnisses von Organisationen, eine Pragmatik operativer Schließung (Protokolle ermöglichen Entscheidungen, indem sie sie als Text chiffrieren) und informationeller, mit Weber: sachlicher Öffnung. Im Medium der Schriftform, im Medium formalisierter Schriftlichkeit kann die Organisation ein System sein, das sich als Entscheidungsnetzwerk versteht.

Aber diese Pragmatik ist verführerisch, denn sie legt die Orientierung am Eigensinn nahe. Die Schriftform kann sich selbst genügen und die Selbstgenügsamkeit doch zugleich, da sie Chiffre ist, mit Sinn und Welt anfüllen. Sinn und Welt werden zu Gehalten organisationaler Selbstbeschreibung – durch nichts als Vertextung, durch nichts als Verschriftlichung, durch nichts als »Aktenmäßigkeit« (Weber 1980, 126). Alles, was Welt ist, kann auf diese Weise in einer Organisation als deren Form und in deren Façon wieder vorkommen und erscheint dort als originäre Form, weil alles außerhalb der Organisation formlos, alltäglich beliebig erscheint (»lose, wie die Deutschen sagen«, Lenin 1970, 243, dabei ›lose‹ i.O. dt.). Daraus kann eine, wenn man so sagen kann, übergriffige Prätention werden. Weber hat mithin gute Gründe für die These, »der Typus des rationalen legalen Verwaltungsstabes« – Organisation – sei »universaler Anwendung fähig und er ist das im Alltag Wichtige. Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung« (Weber 1980, 126).

Das aber heißt: Nicht nur »auch da, wo mündliche Erörterung tatsächlich Regel oder geradezu Vorschrift ist« (Weber 1980, 126; kursiv ML), sondern gerade da muss verschriftlicht werden. So wird die Differenz zur Mündlichkeit als Bruch mit Persönlichkeit, mit Subjektivität, mit Interessiertheit, mit Leidenschaft, mit Irrationalität inszeniert. Diese Inszenierung wird zum Selbstverständnis eines modernen, »mit Organisationen durchsetzten Zeitalter(s)« (Luhmann 2000, 101). In ihren Texten entwirft die Organisation ihren Eigensinn zur Persona der Objektivität; Weber nutzt das geschickt dazu, Bürokratie als moderne Ersetzung antiquierter personaler Herrschaft zu bestimmen (was in seinem sowohl normativen als auch resignativen Duktus einfach heißt: diese Ersetzung von ihr zu fordern). Denn die Schriftform ist die Chiffre der »unpersönlichen Ordnung« (Weber 1980, 124). Sie macht Unpersönlichkeit zum Synonym von Rationalität. Durch sie, »durch ihren Text« (Luhmann 2000, 101) also kann eine Organisation sich als Ordnung erkennen und sich an sich selbst im Sinne dieses Erkennens orientieren. Sie kann eine eigene Persona entwickeln, eine Larve der Schriftform, und in dieser Persona handelnd kann sie schließlich auch von anderen Beobachtern wie von sich selbst erkannt werden. »Die Möglichkeit, sich nach außen zu versetzen« (Luhmann 1995, 41) wird zur Voraussetzung jeglicher Formalisierung, also zur Voraussetzung organisationalen Beobachtens, das damit zu rechnen lernt, beobachtet zu werden.

Protokolltexte dienen der Inszenierung organisationalen Eigensinns als gesellschaftliche Objektivität. Die Chiffre dieser Objektivität ist die Entscheidbarkeit, die in Protokollform als Alternativengedächtnis auftritt und die Zurechnung der dadurch vorbereiteten Entscheidung offener hält als die Form der Entscheidung selbst. Aber für objektiv kann gehalten werden, was entscheidbar ist, genauer: was als entscheidbar chiffriert ist. Das ist die Kehrseite von Heinz von Foersters berühmtem Satz, dass »wir« »nur die Fragen (entscheiden können), die prinzipiell unentscheidbar sind« (von Foerster 1993, 73). Denn alle Fragen, für die Entscheidbarkeit nachgewiesen werden kann, können folglich nicht »wir« entscheiden. Die entscheidet die Organisation, und diesem Nachweis dient das Protokoll sowohl in seiner Vorsatz- als auch ins einer Berichtsform. Wo immer Sinn in Schriftform gebracht wird, steht diese bürokratische Möglichkeit im Raum. Schriftform ist Protoform des Aktenmäßigen, wie Mündlichkeit Substrat der Schriftform ist. Darum hängt das Selbstverständnis der Organisation am Protokoll.

Je unsicherer eine Organisation ihrer selbst also ist, je komplexer ihre Umweltverhältnisse werden, desto ausufernder wird sie sich verschriftlichen. Je mehr sie sich aber verschriftlicht, desto zahlreicher werden die Entscheidungsvorbereitungen, desto größer wird der Entscheidungsdruck, desto häufiger wird entschieden werden, desto mehr Entscheider werden bestimmt werden, desto dringender werden Verfahren der Entscheidung über Entscheider (Kompetenzstreitigkeiten) werden, und desto wahrscheinlicher wird die Schriftform nicht die Funktionalität der Organisation chiffrieren, sondern ihre Dysfunktionalität. Über Protokolle nachzudenken, heißt deshalb auch, über prätentiöse Objektivität nachzudenken, die noch die zufälligste, unverständlichste Menschlichkeit in Alternativform bringt, damit deren Entscheidbarkeit nachweist und dieses Menschliche aus dem organisierten Raum bzw. von den Entscheidungen ausschließt. In diesem Entscheidbarkeitsstolz liegt die narzisstische Seite des Administrativen. Dieser Narzissmus ernährt sich von allem Mündlichen und Informellen und zeigt sich in einer Informationssucht, die dem eigenen Handeln immer Recht gibt (decision making ist tatsächlich uncertainty absorption, vgl. hellsichtig Simon 1997; March und Simon 1958). Er zeigt sich zugleich in einem gesteigerten Interesse an Ordnungsmechanismen, die die Informationsflüsse kanalisieren. Beidem können Protokolle dienen. Sie dokumentieren einerseits allfällige mündliche Kommunikation in der erwähnten chiffrierenden Weise und abstrahieren interaktive Kommunikation zu organisationaler Kommunikation. Neben diesen Berichtsformen des Protokolls treten andererseits Zusammenfassungen, Aufbereitungen, Kanalisierungen, die Mehrdeutigkeiten und Ungewissheiten in entscheidbare Alternativform bringen und dadurch ihrerseits Informalität als »boundedly rational« chiffrieren (Simon 1997, 88). So oder so steuern sie einen Überfluss, zu dem sie selbst beitragen. Auch wenn sie den Akten vorgeheftet werden (vgl. Niehaus 2011, 142), sind sie doch Teil der Akten. Selbst wenn sie die in den Akten gebündelten Prozesse straffen, zusammenfassen und auf Entscheidbarkeit zuspitzen, löschen sie die Prozesse selbst nicht, sondern fügen sich ihnen ein. Vermutlich kann man sagen, dass die Protokolle selbst auf diese Weise den Platz jener Unentscheidbarkeit einnehmen, die sie als entscheidbar chiffrieren.

Unterleben

Der Frage des Nichtschriftlichen, v. a. der Frage der Mündlichkeit in formalen Organisationen widmet sich soziologisch kaum Sorgfalt, so wie übrigens organisationssoziologische Fragen generell eher im Schatten des Fachinteresses stehen. Wo sie nicht mittels einer kaum hinterfragten Rede vom Informalen (Ausnahme in einer allerdings eher lexikalischen Überblicksdarstellung: Tacke 2015) über das nachdenkt, ›was sonst noch passierte‹, interessiert Soziologie sich heute eher für Netzwerkstrukturen und exportiert die Fragen nach dem Verhalten im Sozialsystem Organisation dorthin. Bürokratiephänomene und -probleme werden dadurch zu Anachronismen und außer Acht gestellt. Zurechnungsfragen werden übermäßig prominent und häufig in naiven Begriffen gefasst, Fragen der Materialität von Kommunikation spielen praktisch gar keine Rolle, und die Spezifika des Mündlichen sowie der Wahrnehmung bleiben allenfalls vage. Mit Medientheorie und Mediengeschichte stehen außerdem Wissenschaftszweige zur Verfügung, denen man die Frage nach den empirischen Vollzügen formalisierter Kommunikation mehr oder weniger ganz überlassen kann. Dadurch sind Fragen wie die nach Form und Funktion des Protokollarischen verschwunden, und es bleibt unbeachtet, dass Protokolle eine Prozessform der allzu voreilig für statisch gehaltenen Organisation sind (und als solche sich auch z. B. in digitalen Netzwerken finden). Für den Moment ist nur wichtig, dass Protokolle mit der Formalisierung von Wahrnehmungen und damit mit der ›Konvertierung‹ (vgl. Vismann 2012, 403) von Wahrnehmung in Kommunikation und von Mündlichkeit in Schriftlichkeit zu tun haben.

Die ältere Literatur bis in die späten 1970er Jahre thematisiert immerhin dieses Problem. Sie dreht sich dabei um professionalisierte Interaktion unter Anwesenden – etwa in Schulen, Universitäten, Gerichten, Krankenhäusern, Kirchen, und es lohnt sich kurz bei der Nachfrage zu verweilen, warum das so ist. Schon bei der Frage nach Formularen spielten diese Organisationsformen eine besondere Rolle (vgl. Plener, Werber und Wolf 2021). Wichtig, möglicherweise sogar entscheidend wichtig für eine mögliche Soziologie des Protokollarischen ist, dass professionalisierte Interaktionen (die sogenannten klassischen Professionen) offenbar der eigenen Organisierbarkeit besonders stark misstrauen (vgl. etwa Luhmann 1972), ihr aber auch besonders leicht anheimfallen (ein Analogon übrigens zur Ideologieanfälligkeit dieser Professionen, die auf dem Boden einer spezifischen Reflexionseitelkeit gedeiht). Diese merkwürdige Paradoxie von Misstrauen und Sehnsucht dürfte nun eng mit dem Selbstverständnis dieser Professionen als »people-processing« zusammenhängen (vgl. Goffman 1983, 8). Denn dieses bedingt und bewirkt jene für Organisationen sonst untypische Interaktionsgebundenheit, die – das ist der interessante Punkt – anfällig macht für’s Protokollarische und für’s Bürokratische bzw. für »bureaucratic processing« (Goffman 1983, 14) insgesamt. Nicht die Komplexität der Entscheidungsprozesse ist in diesen Kontexten sehr hoch, nicht das entscheidungsleitende Vorsatzprotokoll ist hier also dominant. Sondern die turbulente Seite der Kommunikation, das Zufällig-Menschliche und damit der Anspruch, die ›prinzipiell unentscheidbaren Fragen‹ selbst zu entscheiden, sind als Binnenwelt der Organisation stets gegenwärtig und müssen kontrolliert werden. Protokolliert wird kaum das Verhalten der ›Leute‹ in den Komplementärrollen (dafür gibt es Formulare), sondern das Verhalten der professionalisierten Beobachter, der Leistungsrollen (vgl., angelehnt an Parsons, Stichweh 1988). Ihr Verhalten ist es, das in tendenziell ausufernden Interaktionen (›Meetings‹) organisational formatiert und ›evaluiert‹ wird, und dies wird akzeptiert – obwohl es wegen des Rückschnitts eines generalistischen, nahezu höchstpersönlich interpretierten Selbstverständnisses auf eine spezialisierte Berufsrolle auch Frustration verursacht.

Die Sitzungs- und Gesprächsprotokolle dieser Interaktionen haben vermutlich praktisch keine entscheidungsvorbereitende Funktion. Sie dokumentieren vielmehr sehr wahrscheinlich (eine empirische Prüfung versucht der hier vorgelegte Entwurf nicht) die Reklamation des Unentscheidbaren als Formvarianten der Professionalität, sie dokumentieren die Widerstände gegen die Verberuflichung (im Sinne der Formalisierung einer Mitgliedschaftsrolle, in der Austauschbarkeit erwartet wird). Sie bringen die Praxis des Sich-nach-außen-Versetzens als Verteidigung eigener Professionalität zu Papier, mit der vielleicht unbeachteten, aber weitreichenden Folge, dass nur die Leistungsrollen sich als jenes ›wir‹ verstehen, das das Unentscheidbare entscheiden kann. Dieser Effekt lässt sich generell in organisationalen Interaktionen beobachten; es bildet sich ein geselliges »Underlife« (vgl. Goffman 1961, 199, für »practices […] being to a social establishment what an underworld is to a city«), das in den Meetings sichtbar und erfahrbar wird. Die Protokolle dieses ›wir‹ sind wie Tagebücher, Alltagsaufzeichnungen einer Flucht nicht vor der Bürokratie, sondern in die Bürokratie, aber sie haben den präzisen Sinn der Darstellung und also der Formalisierung dieses Selbstverständnisses, dieser Selbstbehauptung gegen die Organisation mit den Mitteln der Organisation. Dagegen bleibt, soweit sie nicht durch Partizipationsregeln in diese Flucht einbezogen wird, die Seite der Komplementärrollen (Schüler, Klienten, Patienten usw.) indifferente Umwelt.

Das hat Tradition. In lakonischer Klarheit hatte Max Weber die Organisationsformen der klassischen Professionen unter dem Anstaltsbegriff gefasst und damit eine spezifische Unfreiheit adressiert, die einer »oktroyiert[en]« Mitgliedschaft (Weber 1980, 28). Er meinte damit territorial gerahmte, bezugsgruppenspezifisch ausnahmslos inkludierende, aber nichtkorporative Sozialformen (den Staat, vor allem aber die Kirche), deren Ordnungen »den Anspruch [erheben] zu gelten für jeden, auf den bestimmte Merkmale […] zutreffen, einerlei ob der Betreffende persönlich […] beigetreten ist und vollends: ob er bei den Satzungen mitgewirkt hat« (Weber 1980, 28, vgl. 429). Dass Herrschaft, wie bereits zitiert, »im Alltag primär Verwaltung« sei, zeige sich an der modernen »Prokreation« »massenhafter öffentlicher Betriebe: Schulen, Armenanstalten, Staatsbanken, Versicherungsanstalten, Sparkassen usw.«, die allesamt »keine Mitglieder und Mitgliedschaftsrechte, sondern nur heteronome und heterokephale Organe aufwiesen« (Weber 1980, 429) und genau in diesem Sinne der Bürokratisierung ihre ad hominem erfahrbare Gestalt gegeben haben. Aus dieser Erfahrung speist sich die zeitgenössische Bürokratiekritik als Kritik einer unentrinnbaren Unterworfenheit unter eine Herrschaft, die identifiziert, registriert und rekrutiert. Diese Herrschaft wird als rechnender Beobachter erfahren, der auch Inklusionschancen vermittelt, indem er etwa Bildungskarrieren ermöglicht, dem gegenüber es aber keine Symmetriechance gibt, weil er einfach kein Gegenüber ist.

Man kann dem, wie erwähnt, durch partizipative Modi zu begegnen versuchen, die aus Inklusionschancen Quasimitgliedschaftsrechte machen. Dennoch erinnert gerade die ›massenhafte Prokreation‹ von Anstalten an eine Unentrinnbarkeit anderer Art: es gelingt der Bürokratie nicht, die ganze Gesellschaft zu erfassen, auch nicht und schon gar nicht durch ein ›Mehr desselben‹. Die anstaltsförmige Inklusion ist – wie die Diskussion um die Kirchenmitgliedschaft aktuell anschaulich zeigt – dysfunktional, und dies nicht deswegen, weil sie die Publikumsseite adressiert, aber nur auf der Leistungsseite Distinktionschancen bietet, sondern weil sie prätendiert, Inklusion als Zugehörigkeit zu ermöglichen und sogar zu erzwingen. Es sind, heißt das, nicht oder nicht vorrangig Anstaltsorganisationen, die den Inklusionsimperativ der funktional differenzierten Gesellschaft ermöglichen, aber sie sind es, die die Schattenseiten dieses Imperativs plausibilisieren. Für die komplementäre Publikumsrolle wirkt sich diese Organisation als Disziplinierung aus, und dies gerade in den Interaktionen, die zum Schauplatz des ›people-processing‹ werden und ihre Examens- und Verhörqualität nie völlig ablegen können. »People-processing« setzt eine Klientel bzw. eine Komplementärrolle voraus, die ohne Seitenwechsel transformiert werden soll, und dafür wird sie in entscheidbare Form gebracht. Dafür gibt es zwar ein Protokoll, aber eines, das seine Gestalt an den zu entscheidenden Gegenständen nicht oder kaum ändert, das also selbst gerade nicht prozessiert wird; ein Regularium. Sein Vollzug kann in Formularen festgehalten werden, dem dominanten Medium von Anstaltsorganisationen.

Zur Protokollfrage dürften jedoch Begegnungen werden, die die Komplementärrolle personalisieren und subjektivieren in dem Sinne, dass Mitgliedschaft zur Motivfrage wird. Es mag dann um Fragen der Beteiligungsbereitschaft gehen, um Provokation einer Selbstsichtbarmachung, um Personalisierungspraktiken und dergleichen. Oder anders formuliert: Die ›Möglichkeit, sich nach außen zu versetzen‹, wird zwar anerkannt, ihres subversiven Sinns aber enthoben und als Entscheidungsvorbereitung operationalisiert. Der Insassenstatus wird also zu einem Mitgliedschaftsstatus aufgewertet, aber nur im Protokoll, nur in der Mitschrift von Äußerungen, die auf Motive zugerechnet werden und, weil Insassen eben motivindifferente Zugehörige sind, als Äußerung allererst provoziert werden müssen. Das gilt vermutlich weniger für jene Protokolle, die Entscheidungsprozesse ordnen, als für jene, die Wahrnehmungen von Wahrnehmungen beobachten (etwa mündliche Interaktion) und in Schriftform bringen. In jedem Fall aber wird das, was die Organisation beobachtet, im Protokoll und durch das Protokoll zu ihrer eigenen Welt. Die Schriftlichkeit, die Aktenmäßigkeit ist ihr Weltspiegel. Anders gesagt: je weiter der formale Organisationsgrad einer Anstalt voranschreitet, desto unplausibler und unbefriedigender, nämlich nicht operationalisierbar ist die Motivindifferenz der Insassen; mit dem Bürokratisierungsgrad steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Insassen in Mitglieder konvertiert werden und Zugehörigkeit als Entscheidung operationalisiert wird.

Die Komplikation dabei liegt in der Möglichkeit, auch dies anstaltsförmig zu ordnen, die Gesellschaft selbst zum Organisationsprojekt zu machen und die Operationalisierung der Mitgliedschaftsentscheidung im Rahmen von »Überwachen und Strafen« zu halten (Foucault 1994). Es gibt dann jene »zone of indifference« (Barnard 1968, 167) nicht, die die formalisierte Mitgliedschaftsentscheidung der Observanz und damit auch den Protokollen entzieht und die verhindert, dass die Persona jeglichen Mitglieds zum Spiegelbild der Organisation werden muss. Stattdessen wird die ›Möglichkeit, sich nach außen zu versetzen‹, zur permanenten Infragestellung der organisationalen Autorität, und Zugehörigkeit wird zum Kontrollprojekt. Für Anstalten – Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Kasernen – wäre das zwar schwer zu ertragen, aber auch erwartbar, und es würde als Passage verstanden, die durchgestanden werden muss (Hospitalisierung ist eine déformation professionnelle des Personals, nicht der Insassen). Wird jedoch die Gesellschaft selbst zu einem solchen Kontrollprojekt, wird also möglicherweise jegliche Sozialität als ›people-processing‹ konzipiert, dann wird es unerträglich. Nicht nur, dass es dann keine soziale Umgebung mehr gibt, die nicht unter individuell indisponible Zugehörigkeitsbedingungen gestellt wird. Nicht nur, dass es jenes Unentscheidbare nicht mehr gibt, das keinem Vorsatzprotokoll unterworfen ist. Alles wird zur entscheidbaren Frage, alles muss entschieden werden, aber alles ist auch bereits entschieden – nur eben nichts durch den Einzelnen, der stattdessen laufend daraufhin unter Verdacht steht, sich etwa (noch) nicht entschieden zu haben. Dieser Verdacht ist überall, und sein Medium ist, auch hier, die Schriftform. Schrift beglaubigt jeden Verdacht.

Routinen des Informalen

Der alltägliche Fall sieht anders aus. Trennt man Organisationen von Anstalten und versteht man sie, wie das die gesamte ältere soziologische und die gesamte aktuelle betriebswirtschaftliche Literatur tut, als kooperative Sozialformen zum Zwecke des Erreichens festgelegter und bilanzierbarer Ziele, dann werden Protokolle die Form von Pflichtenheften bzw. Plänen und von Zwischen- und Schlussprüfungen annehmen. Sie werden den Sinn haben, die Zielerreichung als Pfad zu organisieren sowie am Ende Erfolg und Misserfolg auf Akteure und Entscheider zurechnen zu können. Sie werden hochgradig standardisiert sein und der Formularform nahekommen, sie werden quantifizierende Kommunikations- und diagrammatische Darstellungsstile bevorzugen (vgl. Hoof 2015). Aber sie werden auch die nichtstandardisierten, nichtmessbaren und nichtlegitimierbaren Irrationalitäten in Erinnerung halten – als ihre Schattenseite, die sich als die Domäne der Eingeweihten erweist, weil nur Eingeweihte wissen und zu schätzen wissen, dass Rationalität begrenzt ist (in diesem Sinne spricht Luhmann von »brauchbarer Illegalität« und Brunsson von »Hypocrisy«, Luhmann 1995, 304 ff. und Brunsson 2002). Sie werden in vielen Hinsichten zur Schriftform der Routine werden, nachgerade zu deren Synonym (Luhmann 1994; Stinchcombe 1990) (ein exemplarischer Fall sind die Prüfprotokolle der Bahn für die ICE-Radreifen, deren Bruch 1998 zum Unfall in Eschede geführt hat, vgl. Schütz 2019). Möglicherweise sind diese Protokollformen daher die am stärksten individualisierten von allen, die sich in Organisationen finden lassen; sie führen Individualität als internes, unverzichtbares Erfahrungs- oder Arkanwissen mit – als »routine ground« im Sinne von Garfinkel (1967) –, das aus den formalisierten bzw. standardisierten Abläufen, aber nicht aus der Organisation selbst herausgehalten wird. Solche Organisationsformen privilegieren Selbstbeschreibungen, die auf Interaktivität, Geselligkeit, Turbulenz verzichten und Gesellschaft als Umgebungsrest ihrer selbst verstehen – aber eben auch auf die von Weber gefürchteten ›massenhaften prokreativen‹ Übergriffe verzichten.

Sicherlich protegiert dieser Verzicht in der organisationalen Binnenwelt arkane oder sich arkan gebärdende Kooperationsformen, die auf Komplizenschaften hinauslaufen und die entsprechenden Geselligkeitsrituale mit Kompromittierungen des individuellen Gewissens verknüpfen, die also latente Mitwisserschaft als Drohpotential pflegen. Diese Mitwisserschaft fußt auf protokollarischen Praxisformen, die wie die ›brauchbaren Illegalitäten‹ in der Entscheidungsfindung und der Aufgabenerledigung nicht formalisiert, sondern routinisiert und habitualisiert sind; vermutlich kann man so weit gehen zu sagen, dass wie die Routinen, so auch die Habitūs zu Protokollen des Geschehens werden. Die Körper und Gesichter vollziehen nicht nur die organisationale Praxis, machen sie nicht nur ansprechbar und wahrnehmbar; sie sind auch selbst Protokolle der Mitgliedschaft; sie tragen und zeigen etwa, in Herlinde Koelbls (1999) Formulierung, die »Spuren der Macht«, Spuren des Kapitals, Spuren der Arbeit, und sie sind Aufzeichnungen jener kompromittierenden Komplizenschaften, die man (genau besehen gar nicht verharmlosend) als Karriere bezeichnet. »Wohl dem, der ›keine Narbe hat‹« (Hahn 2016, 72, in Anspielung auf ders 2010).

Je komplexer die Aufgaben und die Umgebungen und je höher die Ansprüche an Geltung und Erfolg, desto wahrscheinlicher werden Interaktionsformen erforderlich sein, die das Zurücktreten des Individuums hinter seiner Stellenbeschreibung vermeiden bzw. als einengend empfinden. Dann werden die Körperspuren verblassen, weil ein aktiver, ja aktivistischer Modus des Sichverhaltens in der Mitgliedschaftsrolle erwartet werden wird und weil Komplizenschaften durch Stellenwechsel ersetzt werden. Das Aufzeichnungsbedürfnis exaltiert, schon weil Personen nicht mehr als Systemgedächtnis fungieren können, aber auch weil die Organisation zu einem hochgradig unruhigen Milieu wird, in dem das Handgemenge der Karriereinteressen mühsam an Sachfragen rückgebunden werden muss. Aber dieses Aufzeichnungsbedürfnis kondensiert an Individualisierungsinteressen, weswegen den Akten Protokolle vorangestellt werden müssen, die diese Interessen als Ertrag oder Produkt von Interaktionen unter Anwesenden sichtbar machen. Die Organisation wird zu einer Umgebung, in der sich Individualität als geselliger Stil zeigt und zeigen muss und dabei subtilen Protokollen folgt. Die »Corporate Identity« wird erfunden als organisationale Form, scharfe Rivalität um Distinktionschancen als lose integrierten, beweglichen Zusammenhang zu inszenieren. Das Meeting wird, wenn ich mir diese leicht kalauernde Anspielung erlauben darf, zum »deep play« der Mittelschichten (vgl. für die Anspielung Luhmann 1993), und dafür wird das schriftliche Protokoll (eben noch allfälliger »Verächtlichmachung« ausgesetzt; Vismann 2011, 119) neu erfunden. Es muss jetzt dem so teaminspirierten wie rivalitätsbegabten Individuum nicht länger verwehren, sondern gerade ermöglichen, seine interaktiven Gaben auszuspielen.

Damit gewinnt die Frage an Brisanz, wie Wahrnehmung und Kommunikation verknüpft sind und ob diese Verknüpfung strategisch instrumentalisiert oder widerständig ironisiert werden kann; wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit vermittelt werden können und freie Rede in gebundenen Text übersetzt oder übertragen werden kann; ob und wie Schriftlichkeit rücksichtloses Verhalten moderieren und reserviertes Verhalten provozieren kann, usw. In den gängigen organisationssoziologischen Schriften finden sich, wie erwähnt, diese Fragen bislang nur in der flauen Fassung einer in aller Formalisierung mitlaufenden Informalität thematisiert, die als Schlendrian, Klatsch, Heuchelei oder halblegale Routine bezeichnet und auf diese Weise als magmatische Unordnung abgeheftet wird, die dem Protokoll aus funktionalen Gründen entzogen bleibt oder bleiben muss.

Das Gegenteil ist aber, wie bereits angedeutet, der Fall: dieses Magma aus Interaktionen ist bereits ›faktisches‹, also hergestelltes, dargestelltes Verhalten, das den gewohnten sachlichen und zeitlichen Determinationen der formalisierten Protokolle die Habitūs und Routinen wie Protokolläquivalente zur Seite stellt – die sich auch deshalb durchsetzen, weil sie kaum oder jedenfalls unzuverlässiger formalisierbar sind, höhere Überraschungs- und Zufallsaffinität aufweisen, das Unentscheidbare als Subversion des Entscheidbaren präsent halten und daher nicht zuletzt unterhaltsamer und verführerischer sind. Sie sind eine, vielleicht die wichtigste Form, in der die Gesellschaft in der Organisation wieder vorkommen kann. Entsprechend sind einerseits Protokolle gesucht, die Individualität nicht ignorieren oder exkludieren, sondern indizieren und in die Formalstruktur der Entscheidungsnetzwerke namens Organisation zumindest als Markierung einer Chance eintragen können.Footnote 1 Die organisationalen Geselligkeiten werden dann nicht zuletzt dazu gebraucht, starre Protokollformen auszumanövrieren, indem sie weniger gehemmt und beherrscht als inspiriert und rauschhaft inszeniert werden, so dass die Beteiligten, wie Benjamin (1972, 125) notiert, in allem Rausch doch soweit die Nerven behalten, dass sie sich selbst aus dem Protokoll herauszustreichen versuchen. Sie übernehmen, hieße das, die organisationale Funktion der Unterscheidung (wenn nicht sogar Trennung) des Amtlichen vom Persönlichen selbst, aber nur dann, wenn in der Interaktion der formalisierte Erwartungs- und Verhaltensstil nicht ohnehin dominiert. Das Gesellige wird zur Komplementärform der Routine; beide sind protokollarische Inszenierungen, die das Unentscheidbare im Entscheidbaren sehen und pflegen und daher weder Konkurrenten noch Rivalen der formalen Protokolle sind, sondern deren ermöglichende Ergänzung, deren Verstärker und deren Katalysator.

Prätentiöse Observanz

Wir kommen auf die Anstaltsform zurück, um fragen zu können nach im engeren Sinne organisierten, von Bürokratie durchsetzten und in Goffmans Sinne »totalen« Gesellschaftsformen (Goffman 1961). Wie verhalten sich die Protokolle dann? Operationalisieren und ordnen sie das Verhalten des Alltags in äquivalenter Weise zu den Entscheidungen der Organisation? Sind sie Medien der Übersetzung der Formalstruktur in die Alltagskommunikation? Können sie die Verhaltenserwartungen auch im Alltag so stark determinieren, dass sie einerseits die erwähnten ›brauchbaren Illegalitäten‹ und Routinen zu Formen des Alltagslebens machen und andererseits den Verdacht abweichender Motivlagen forcieren, der aus dem Amalgam von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft entstehen kann? Ist, um den Hintergrund dieser Überlegung (die ich Wolfgang Hilbig und Adolf Endler verdanke) beim Namen zu nennen, das ›Leseland DDR‹ (und gleiches ist für die ČSSR gesagt worden, für die UdSSR, die VR China und andere Erziehungsdiktaturen) im Grunde ein Schreibland? Sie könnte verstanden werden als dichtes Geflecht einander nicht bloß beobachtender, sondern diese rekursiven Beobachtungen auch protokollierender Beobachter, wie es am präzisesten formuliert ist in den beiden Filmen von Annekatrin Hendel über Sascha Anderson und über Paul Gratzik (Hendel 2014 und 2011) sowie in den subtil unbestechlichen Dokumentationen, die Kata Krasznahorkai und Sylvia Sasse (2019; vgl. jetzt auch Andrew und Green 2021) zur Performativität der Geheimdienste vorgelegt haben.

Die Texte, die durch diese Schreiber produziert worden sind, sind ersichtlich beobachterrelativ verfasst worden, sie hatten einen bürokratischen Beobachter vor Augen, dem sie mit ihren Mitschriften des Alltäglichen das Substrat seiner Vorsatzprotokolle lieferten, und sie hatten auch die Entscheidungsprozesse vor Augen, die auf der Grundlage der Mitschriften verlässlich ins Laufen kamen. Können diese Texte, die ein riesiges Archiv – heute auch der Forschung zugänglich (vgl. exemplarisch Kowalczuk 2013) – aufbewahrt, als Selbstbeschreibungen einer auf ›people-processing‹ programmierten Anstaltsorganisation verstanden werden, die ›prokreativ‹ in die Gesellschaft hineinwächst und dort ein ähnliches ›Unterleben‹ entfaltet, wie es die Leute in den formalen Organisationen zu tun pflegen? Könnte man also vermuten, dass nicht die allgegenwärtigen Spitzelprotokollanten auf der Suche nach einem offenzulegenden ›underlife‹ der Insassen sind, sondern selbst ein solches führen? Immerhin: Lenins Entwurf einer revolutionären Organisation (Lenin 1970) entwickelt den Gedanken eines nervösen, selbstlosen Beobachtens, das auf Gelegenheiten zum Umsturz wartet, um diese, sollten sie auftauchen, unverzüglich zu ergreifen, und diese spezifisch revolutionäre Professionalität bestünde darin, sich in die beobachteten Lücken selbst sogleich einzufügen. Diese selbstlose Unverzüglichkeit versteht Lenin in einem gar nicht weit etwa von Parsons entfernten, energetischen Sinne als Entscheidung – und man könnte sagen: diese professionellen Revolutionäre beobachten, während sie warten, und sie schreiben, während sie beobachten. Sie protokollieren, wenn auch nicht in Absicht eines ›people-processing‹, so doch in Absicht eines ›society-processing‹, und weil sie sich in einer Situation zugleich völliger Entschlossenheit und völliger Ungewissheit befinden – eine Situation, die auch durch eine tatsächliche Revolution nicht beendet werden kann, weil die Professionalität der Revolutionäre kein anderes Bezugsproblem kennt –, protokollieren sie unablässig alles, nichts nicht.

Der Staat, der dabei entstehen kann, ist totalitär in dem Sinne, dass es keinen akzeptablen sozialen Status jenseits der individuell nicht wählbaren, ›oktroyierten‹ Zugehörigkeit gäbe; dass es von ihm keine Ausnahme gibt. Das Wort Anstalt käme gleichwohl in den Selbstbeschreibungen nicht oder nur für diejenigen Formen verschärfter Zugehörigkeit vor, die mit der Neutralisierung von Abweichungen befasst sind – diese würden sich als Anstalten bezeichnen, während der totalitäre Anstaltsstaat selbst sich als Gesellschaft bezeichnen würde. Diese nun tatsächlich organisational ›durchsetzte‹, nämlich ausnahmslos alle ihre Vollzüge einer Programmierungsabsicht unterziehende Gesellschaft würde alle Ordnung bei sich selbst und in ihrer Umwelt nicht Gesellschaft, sondern ungeordnete Sozialität sehen, ein Substrat ihrer ordnenden Bemühungen: in ihrer Umwelt sind wilde, rohe, zufällige Unentscheidbarkeiten, die durch die Anstalt selbst in geordnete, kultivierte, rationale Entscheidungen überführt werden.

Wenn Sozialität prozessiert werden soll, nicht Leute (kein unerheblicher Unterschied), dann richtet sich auch der Verdacht auf Sozialität. Er richtet sich beispielsweise auf die Mutmaßung, Komplexität führe nicht nur zu ausufernden Unentscheidbarkeiten, sondern auch zu Vergemeinschaftungsprozessen in jenem ›Wir‹, das diese Unentscheidbarkeiten zu entscheiden vermag – während die Organisation eben erst ein entscheidungsermöglichendes und -vorbereitendes Protokoll durchlaufen muss und diesem ›Wir‹ gegenüber notorisch zu langsam ist. Zahlreiche Hase-und-Igel-Spiele zwischen Observanz und Observierten verdanken sich dem, und auch Lenins Konspirationsidee eines unerkannt abwartenden Beobachterrevolutionärs ist dem Versuch geschuldet, schneller als dieses ›Wir‹ zu sein und sich durch scharfe Plötzlichkeit in einen Vorteil zu bringen. Einerseits aber hat sich sogleich gezeigt, dass diese Plötzlichkeit nicht zugleich in die Protokolle als formaler Prozessschritt eingetragen und diese Protokolle unterbrechen kann. Andererseits hat die Organisation mit diesem ›Wir‹ gleich zweifach zu tun: sie findet es in ihrer Umwelt, und sie findet es in ihrer Innenwelt. Es residiert dort, in Luhmanns ironischer Terminologie, auf der »Systemebene« der Interaktion; ein Begriffsvorschlag, den Luhmann gerade für eine Anstaltsorganisation entwickelt hat (vgl. zuerst Luhmann 1972). Das Interesse der Protokollanten gilt der Interaktion unter Anwesenden, genauer: unter füreinander Anwesenden (und also nicht, wie Lenin präferierte, fabrik- und zweckmäßig in Stellenmatritzen arrangierten Calculi, vgl. Lehmann 2011, 105–122). Diese Observanz und ihre Chiffrierpraxis zu verstehen, heißt, sie auf diese Systemebene zu verlegen.

Zunächst besteht darin keine soziologische Hürde, solange man den Bezugsrahmen der Interaktion unter füreinander anwesenden, einander nicht zuletzt physisch wahrnehmenden Beobachtern als soziales Geschehen ernst nimmt; unter diesen Beobachtern kann nur zunächst nicht die Organisation sein, da diese zwar selbstredend und sehr effizient beobachten kann, der aber die Wahrnehmung verschlossen ist. Die interaktive Systemebene ist, Goffman (1983, 2) folgend, bestimmt als »environment[] in which two or more individuals are physically in one another’s response presence«, »body to body«. Dadurch sei es auf dieser Ebene einerseits unmöglich, die geläufigen Raumdistanzen und -grenzen des sozialen Alltags aufrechtzuerhalten, andererseits aber möglich, sie zu unterlaufen, und Goffman betont das sogar, indem er öffentliche Räume auf dieser Ebene in nichtöffentliche und intime Räume (und vice versa) konvertiert:

This body to body starting point, paradoxically, assumes that a very central sociological distinction may not be initially relevant: namely, the standard contrast between village life and city life, between domestic settings and public ones, between intimate, long-standing relations and fleeting impersonal ones. After all, pedestrian traffic rules can be studied in crowded kitchens as well as crowded streets, interruption rights at breakfast as well as in courtrooms, endearment vocatives in supermarkets as well as in the bedroom. If there are differences here along the traditional lines, what they are still remains an open question (Goffman 1983, 2).

Möglicherweise ist nicht nur die Kontextdifferenz von Straße und Küche oder die von langdauernden Ehen und flüchtigen Affären, sondern eben auch die von formaler Mitgliedschaft und Alltagsleben und die von Formalstruktur und Gesellschaft weniger kategorisch, als die Strukturanalyse üblicherweise annimmt, und auch weniger trennscharf, als die individuelle Seelenhygiene hofft. Dass Goffman wie nach ihm Luhmann hier von einer Ebenendifferenz spricht, die in jede soziale Sphäre hineinkopiert werden kann, muss sicher ernster genommen werden, als dies bisher geschehen ist (vgl. aber Heintz und Tyrell 2015), eben weil diese Ebenen durch Protokolle konvertierbar sein dürften. Entscheidend dafür ist nicht, dass der Protokollant sich verbirgt. Denn einerseits ist diese revolutionäre Professionalität eine letztlich allen Beteiligten bekannte und insofern eher lächerliche als gefährliche Prätention. Und andererseits überrascht es in den gegebenen organisational durchsetzten, anstaltsförmigen Kontexten niemanden, dass auch jegliche Interaktion diesem ordnenden Interesse unterworfen ist. Face-work am Abendbrottisch ist dann zwar anders als face-work in der Firmenkantine; aber nicht grundsätzlich anders. Überall spielt die organisational-bürokratische Prätention der Unpersönlichkeit, die durch Schriftlichkeit in Textform repräsentiert wird, eine Rolle; vielleicht: die Hauptrolle, und das heißt, dass sie von allen Beteiligten akzeptiert ist.

Vielleicht kann man diese allgemein werdende Akzeptanz des Unpersönlichen (sie zeigt sich etwa in der Annahme, naturwissenschaftliche Beobachtungen seien der geheimdienstlichen Bestechlichkeit unzugänglicher als geisteswissenschaftliche oder künstlerische, weil letztere eine Affinität zum Mehrdeutigen – zu jener Unentscheidbarkeit, die ›wir‹ entscheiden können – und zum Mitschreiben hätten) als totalitäre Hospitalisierung bezeichnen. Ihr Symptom wäre eine Affinität zur Geselligkeit, aber zu einer unpersönlichen Geselligkeit, in der es zu einer Art Überbietungskonkurrenz protokollarischen oder protokollaffinen Verhaltens kommt, durch das jeder Beobachter seine Beobachter zum Schreiben verführt und sich deshalb eben nicht ungesellig-zurückhaltend, sondern gewissermaßen betont überschießend verhält. Die alles entscheidende Frage in solchen Kontexten ist ersichtlich nicht mehr, wer schreibt, sondern: wer liest.