Einleitung Protokolle

Das Protokoll ist eine Textsorte, die ihrem Anspruch nach institutionell produzierte oder verbürgte Wahrheit festschreibt. Seine Autorität basiert auf zwei Voraussetzungen: einerseits ganz spezifische Vorkehrungen und formale Vorgaben seiner Entstehung, ohne die das Protokoll keine Gültigkeit hat, und andererseits die Kopräsenz des Protokollierenden zum Ereignis (Niehaus und Schmidt-Hannisa 2005, 8). In den allermeisten Fällen halten Protokolle mündliche Reden fest, sei es mit Fokus auf den Inhalt (Verlaufsprotokoll) oder zur Erfassung der Resultate (Ergebnisprotokoll) (Niehaus 2005, 693). Darüber hinaus können auch Sachverständigengutachten und Augenschein protokolliert werden. Gerichtsverfahren, Jahreshauptversammlungen und andere offizielle Veranstaltungen benötigen Protokolle zu ihrer Beurkundung;Footnote 1 »ein nichtprotokolliertes Verhör ist kein Verhör« (Niehaus und Schmidt-Hannisa 2005, 8). Man kann das als Spezialfall der Maxime »Quod non est in actis non est in mundo« verstehen (Vismann 2000, 89). Das gilt auch für Disziplinarverfahren, die im Fall von Dienst- oder Standesvergehen von öffentlichen Bediensteten, im Rahmen dieses Beitrags der österreichischen Zwischenkriegszeit, eingeleitet wurden. Während über Protokolle in Gerichtsverfahren schon einiges an rechtshistorischer und medienwissenschaftlicher Forschungsliteratur vorliegt, auf die hier auch Bezug genommen wird (Vismann 2000 und 2011; Niehaus und Schmidt-Hannisa 2005; Niehaus 2011, 2014), haben Protokolle in Disziplinarakten noch deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommen.Footnote 2

Disziplinarverfahren für öffentlich Bedienstete waren in weiten Teilen Gerichtsverfahren nachempfunden.Footnote 3 Auch wenn in einzelnen Punkten davon abweichende Bestimmungen im Disziplinarrecht nach der Dienstpragmatik von 1914 (Gesetz vom 25. Jänner 1914, RGBl. Nr. 15, im Folgenden: DP) galten, kann man wohl davon ausgehen, dass juristisch gebildete Beamte mit diesem Hintergrund bis zu einem gewissen Grad vertraut waren.Footnote 4 Davon ausgehend wird zunächst ein Blick darauf geworfen, was die 1914 und darüber hinaus geltende Strafprozessordnung von 1873 über Protokolle zu sagen hat. Besonders interessieren dabei die Rolle des Protokollführers und die Praxis der Protokollierung. Im nächsten Schritt wird für das Disziplinarverfahren nach der DP in Augenschein genommen, welche Teile von Disziplinarakten Protokollcharakter haben und wie diese zustande kommen. Das Spektrum an Stilen und Stimmen, welches dabei sichtbar wird – von Amtsdeutsch bis Umgangssprache, letztere teils wortgetreu, teils in der Wiedergabe durch den ProtokollantenFootnote 5 –, macht diese Akten zu einer für Historiker:innen ausgesprochen aussagekräftigen Quelle. Letztlich geht es in den Verfahren um Wahrheitsfindung, allerdings nicht im Sinne einer universellen Wahrheit oder im Sinne der Konvergenztheorie als Übereinstimmung mit den Tatsachen. Eher geht es in Richtung einer Konsenstheorie, also auf Basis des Einverständnisses von sachverständigen Einzelnen und Gruppen. Da dies aber angesichts der unterschiedlichen Standpunkte und Interessen von Anklage und Verteidigung nicht immer gegeben ist, hat man es wohl mit Wahrheit im Sinne der Kohärenztheorie zu tun, also als Ergebnis der Kohärenz einer Aussage mit anderen Aussagen (Schneider 2013, 121; Frank 2019, 174). Diese Aussagen werden mündlich geäußert und in Protokollen dingfest gemacht. »Die mündliche Handlung wird zu einer Wahrheitsgarantie der schriftlichen und umgekehrt macht ihre Verschriftlichung eine ursprüngliche Handlung wahrheitsfähig« (Vismann 2000, 86). Konkret wird dieses Suchen nach und Erfassen einer plausiblen Wahrheit als Basis für ein Erkenntnis über Schuld oder Unschuld in einem Fallbeispiel aus der Niederösterreichischen Landesverwaltung des Jahres 1927 nachvollzogen.

Protokolle in der Strafprozessordnung

Zur der Zeit als die DP in Kraft trat, galt die Strafprozessordnung von 1873 (im Folgenden: StPO).Footnote 6 Wie später noch ausgeführt wird, war gerade das 19. Jahrhundert eine Epoche, in der die Stimme, der mündliche Auftritt vor Gericht, an Bedeutung gewann (Vismann 2011, 112 ff.). In besagter StPO wird zu Protokollen grundlegend festgehalten:

Jeder Gerichtssitzung muß ein Schriftführer beiwohnen und das Protokoll darüber aufnehmen. Sowohl diese Schriftführer, als die zur Führung der Protokolle bei Vorerhebungen und Voruntersuchungen wegen Verbrechen und Vergehen zu verwendenden Personen müssen zur Führung der Protokolle beeidigt sein (StPO 1873 §23).

Das gilt auch für die Phase der Erhebungen im Vorverfahren (also vor der Hauptverhandlung):

Ueber alle gerichtlichen, zur Untersuchung gehörenden Handlungen sind Protokolle aufzunehmen; es muß außer dem Beamten, welcher die Handlung vornimmt oder leitet, stets ein beeideter Protokollführer gegenwärtig sein (StPO 1873 § 101).

Der/die Beschuldigte und sein/ihr Verteidiger hatten auch das Recht in die Akten dieser Voruntersuchungen Einblick zu nehmen. Schriftführer wie auch andere seitens des Gerichts am Prozess beteiligte Personen durften bei Befangenheit diese Funktion nicht ausführen. Auch die beschuldigte Person konnte den Ausschluss befangener Beteiligter verlangen.

Für die Protokolle der Vernehmungen zur Vorbereitung des Verfahrens galten sehr klare Regelungen. Diese Protokolle mussten zeitgleich oder unmittelbar danach aufgenommen werden und Angaben zu Ort und Datum sowie zu den gegenwärtigen Personen enthalten. Die Fragen des Untersuchungsrichters waren nur soweit niederzuschreiben, als es zum Verständnis einer Antwort erforderlich ist. Die Antworten waren

in der Regel blos ihrem wesentlichen Inhalte nach erzählungsweise aufzunehmen. Nur wo es für die Beurtheilung der Sache wichtig oder wo zu erwarten ist, daß die Vorlesung des Protokolles in der Hauptverhandlung erforderlich sein werde, ist der Vernommene unter Beibehaltung seiner eigenen Ausdrücke redend anzuführen (StPO 1873 § 104).

Dieser Paragraph nimmt schon die mögliche Verlesung des Protokolls vorweg, die allerdings gewissen Beschränkungen unterlag, wie weiter unten ausgeführt wird. Bei der Aufnahme hatte der Richter das Protokoll laut zu diktieren, so dass es die Anwesenden hören konnten. Auch der/die Vernommene durfte dem Protokollführer diktieren, dieses Recht konnte ihm aber entzogen werden, so er es missbrauchte – worin so ein Missbrauch besteht wurde im Gesetz nicht erklärt (StPO 1873 § 104). Wenn es fertiggestellt wurde, so war das Protokoll den vernommenen Personen vorzulegen, die es genehmigen und unterzeichnen mussten. »Denn erst durch die Genehmigung wird das Protokoll zu einer gültigen Version der Wahrheit.« (Niehaus 2014, 477). Unterzeichnen mussten es auch die beteiligten Beamten, der Protokollführer und die Zeug:innen. Im Falle einer Nichtgenehmigung durch den/die Vernommene/n war dies im Protokoll zu vermerken (StPO 1873 § 105). Der folgende Paragraph verfügte die Unveränderbarkeit des Protokollierten. Darin

darf nichts Erhebliches ausgelöscht, zugesetzt oder verändert werden. Durchstrichene Stellen müssen noch lesbar bleiben. Erhebliche Zusätze oder Berichtigungen, die ein Vernommener seiner Aussage beifügt, sind am Rande des Protokolles oder in einem Nachtrage zu bemerken und auf die im § 105 bezeichnete Art zu genehmigen und zu unterschreiben (StPO 1873 § 106).Footnote 7

Michael Niehaus versteht Streichen als Gegenbegriff zum Protokollieren, speziell, wenn es nicht um harmloses Korrigieren von Irrtümern geht und legt dar, warum Streichungen ein so empfindlicher Punkt in Protokollen sind:

Interessant ist der weniger harmlose Fall, dass etwas zunächst als aufschreibenswürdig erschienen ist, es dann aber aus welchen Gründen auch immer angeraten scheint, das Aufgeschriebene wieder zu streichen. […] Das Protokoll nimmt als privilegierte Form der Wahrheitsverwaltung für sich in Anspruch, mit den Tatsachen übereinzustimmen – wie kann dann etwas, das mit den Tatsachen übereingestimmt hat, nun als mit den Tatsachen nicht übereinstimmend erklärt werden? Wird die Streichung sichtbar […], so hat es den Anschein, als könnten Tatsachen per Federstreich nachträglich in Nicht-Tat-sachen verwandelt werden (Niehaus 2014, 476).

Schließlich bestimmte das Gesetz noch, dass ein Protokoll, das aus mehreren Bögen bestand, mit einem Faden zusammengeheftet werden musste, dessen Enden mit dem Gerichtssiegel befestigt wurden (StPO 1873 § 107). Abgesehen von Vernehmungsprotokollen gab es auch solche, die auf Augenschein und Sachverständigenaussagen beruhten. Ein Augenscheinprotokoll war so abzufassen,

dass es eine vollständige und treue Anschauung der besichtigten Gegenstände gewähre. Es sind demselben zu diesem Zwecke erforderlichenfalls Zeichnungen, Pläne oder Risse beizufügen; Maße, Gewichte, Größen und Ortsverhältnisse sind nach bekannten und unzweifelhaften Bestimmungen zu bezeichnen (StPO 1873 § 117).Footnote 8

Protokolle mussten auch über etwaige Hausdurchsuchungen (StPO 1873 §§ 142–144) oder die Eröffnung beschlagnahmter Schriftstücke (StPO 1873 § 147) verfasst werden. Sogar bei Vollstreckungen der Todesstrafe musste ein Protokollführer anwesend sein (StPO 1873 § 404).

Bei der Vernehmung von Zeug:innen oder Beschuldigten war Wert darauf zu legen, dass keine Suggestivfragen gestellt werden. Zeug:innen seien

zuvörderst zu einer zusammenhängenden Erzählung der den Gegenstand des Zeugnisses bildenden Thatsachen, sodann aber zur Ergänzung derselben und zur Hebung von Dunkelheiten oder Widersprüchen zu veranlassen. Der Zeuge ist insbesondere aufzufordern, den Grund seines Wissens anzugeben. Fragen, durch welche ihm Thatumstände vorgehalten werden, welche erst durch seine Antwort festgestellt werden sollen, sind möglichst zu vermeiden, und wenn sie gestellt werden müssen, im Protokolle ersichtlich zu machen (StPO 1873 § 167).

Dasselbe galt sinngemäß auch für beschuldigte Personen (StPO § 200). Kam es nun zur Hauptverhandlung, so musste über diese wiederum ein Protokoll geführt werden, das Vorsitzender und Schriftführer unterschreiben mussten. Dieses Protokoll sollte die Namen der anwesenden Personen enthalten und alle wesentlichen Vorkommnisse beurkunden. Es sollte anführen, welche Zeugen und Sachverständigen vernommen, und welche Aktenstücke vorgelesen wurden, ob die Zeugen und Sachverständigen beeidigt wurden, oder aus welchen Gründen die Beeidigung unterblieb. Schließlich umfasste es auch alle Anträge der Parteien und die vom Vorsitzenden oder dem Gericht darüber gefällten Entscheidungen.

Der Vorsitzende hat, wo es auf Feststellung der wörtlichen Fassung ankommt, auf Verlangen einer Partei sofort die Verlesung einzelner Stellen anzuordnen. Der Antworten des Angeklagten und der Aussagen der Zeugen oder Sachverständigen geschieht nur dann eine Erwähnung, wenn sie Abweichungen, Veränderungen oder Zusätze der in den Acten niedergelegten Angaben enthalten, oder wenn die Zeugen oder Sachverständigen in der öffentlichen Sitzung das erste Mal vernommen werden (StPO 1873 § 271).

Wenn der Vorsitzende oder der Gerichtshof es angemessen fand, konnte auch die stenographische Aufzeichnung aller Aussagen und Vorträge angeordnet werden. Diese waren binnen achtundvierzig Stunden in gewöhnliche Schrift zu übertragen, dem Vorsitzenden oder einem von ihm beauftragten Richter zur Prüfung vorzulegen und dem Protokoll anzuschließen. Die beteiligten Parteien waren berechtigt, in das Protokoll Einsicht zu nehmen und Abschriften zu machen. Ein separates Protokoll musste darüber angefertigt werden, wenn sich das Gericht zur Beschlussfassung in das Beratungszimmer zurückgezogen hatte (StPO 1873 § 272).

Ein korrektes Protokoll der Hauptverhandlung war auch deshalb wesentlich, weil eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein Urteil auch dann eingebracht werden konnte, wenn entscheidende Tatsachen »undeutlich, unvollständig oder mit sich selbst im Widerspruche« waren. Für nichtig konnte ein Urteil auch erklärt werden, wenn Widersprüche zwischen den protokollierten Aussagen und Urkunden einerseits und den Angaben der Entscheidungsgründe, die darauf beruhen sollten, bestanden (StPO 1873 § 281, 5).

Protokolle in der Dienstpragmatik

Nun soll das Augenmerk auf das Disziplinarverfahren gelegt werden. In den Bestimmungen zu den Disziplinarsenaten wird verfügt, dass die Vorstände der betroffenen Behörden aus der Zahl der ihnen unterstehenden rechtskundigen Beamten die Protokollführer für die Disziplinarverhandlungen zu bestimmen haben (DP § 106). Analog zur StPO ergibt sich, dass im Disziplinarverfahren in zwei Phasen Protokolle verfasst wurden: Erstens in Untersuchungen, die der Verhandlung vorausgingen: in manchen Fällen, wie sich weiter unten an einem Fallbeispiel zeigen wird, bereits vor der Beantragung des eigentlichen Verfahrens,Footnote 9 und jedenfalls nach der Einleitung des Verfahrens. Zweitens verfasste ein Schriftführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein Protokoll.

Der vom Leiter der Behörde beauftragte UntersuchungskommissärFootnote 10 befragte zunächst Personen, die Relevantes zum Gegenstand des Disziplinarverfahrens zu sagen hatten. Auch die beschuldigte Person hatte in dieser Phase die Gelegenheit, sich ausführlich zu äußern. Die jeweiligen Vernehmungsprotokolle mussten vom Untersuchungskommissär und der vernommenen Person unterschrieben werden. Zeug:innen wurden üblicherweise anders als im Strafverfahren nicht vereidigt. Falls eine Vereidigung für die Wahrheitsfindung doch unerlässlich war, konnte der Untersuchungskommissär (wenn er selbst kein richterlicher Beamter war) das zuständige Bezirksgericht um die »eidliche Vernehmung« ersuchen (DP § 119).

Auf Basis dieser Vernehmungen beschloss nun die Disziplinarkommission in einer Sitzung gegebenenfalls eine Verweisung zur mündlichen Verhandlung. Laut DP § 121 hatten der beschuldigte Beamte und sein Verteidiger nach Zustellung des Verweisungsbeschlusses das Recht, die Verhandlungsakten (mit Ausnahme der Beratungsprotokolle der Kommission) einzusehen und von ihnen Abschrift zu nehmen.

Ergab die Untersuchung allerdings nicht genug stichhaltige Gründe, so wurde das Verfahren eingestellt oder es wurde lediglich eine Ordnungsstrafe verhängt. Dafür musste keine Kommission zusammentreten, vielmehr konnte eine solche – etwa eine Verwarnung – auch vom Leiter der Behörde, in der die beschuldigte Person beschäftigt war, erteilt werden (DP § 113).

Kam es zu einer mündlichen Verhandlung (DP § 123–125), so mussten die Vernehmungsprotokolle der Kommission zur Kenntnis gebracht werden. In den Erläuterungen Alfons Langers zur DP kommen hier auch die Grenzen menschlicher Aufnahmefähigkeit und Aufmerksamkeit zur Sprache:

Zum Beweisverfahren gehört ferner die Verlesung der im Vorverfahren aufgenommenen Protokolle. Hierin ist – wie die Einschränkung »soweit erforderlich« beweist – nicht eine zwingende Vorschrift gegeben, den Untersuchungsakt Blatt für Blatt herunterzulesen. Dieser Vorgang wäre dem Verhandlungszwecke schädlich, weil das Verlesen von Protokollen sich, je länger diese Aktenstücke sind, mit um so größerer Tonlosigkeit vollzieht, daher für die aufmerksamen Zuhörer eine Pein, für die unaufmerksamen ein Schlafmittel ist und das Vorgelesene nur zum geringsten Teil vom Hörer aufgenommen, behalten und gewürdigt wird. In dieser Weise den Prozeßstoff vorzuführen, ist einfach unmöglich, und kann die Folge haben, daß auch die Beisitzer schon vor der Verhandlung über den Fall ihr Urteil bilden und die mündliche Verhandlung zur leeren Förmlichkeit des endlichen Gerichtstages herabsinkt (Langer 1914, 81 f.).

Es wird an dieser Stelle von Langer empfohlen, jedenfalls nicht die Vernehmungsprotokolle jener Personen zu verlesen, die in der mündlichen Verhandlung ohnehin noch einmal vernommen werden. Aus dem ausführlichen Zitat geht hervor, welches Gewicht die mündliche Verhandlung für den Ausgang des Disziplinarverfahrens hat. Es ist jene Arena, in der verbindlich (vorbehaltlich einer Berufung), auch ergänzend zu den Vorerhebungen die in Protokollform präsent waren, festgestellt wurde, was genau vorgefallen ist und wie das Vorgefallene, auch unter Berücksichtigung des Vorlebens und der familiären Verhältnisse der beschuldigten Person, zu ahnden sei. Nur im Rahmen der mündlichen Verhandlung durfte die Entscheidung fallen, die anschließend im Erkenntnis bekannt gemacht und begründet wurde.

Dieser Unmittelbarkeitsgrundsatz aus dem Strafrecht hat auch heute noch Geltung. Cornelia Vismann (2011, 112–129) hat gezeigt, dass dieser Grundsatz, manifestiert in der persönlichen, mündlichen Aussage vor Gericht, im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Dabei geht es einerseits um das Recht des Einzelnen, vor Gericht Gehör zu bekommen, das der Rechtswissenschaftler Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach zugunsten des Beschuldigten hervorhebt. Andererseits, und hier bringt der namhafte Jurist Carl Joseph Anton Mittermayer die Mündlichkeit tendenziell eher gegen den Beschuldigten in Stellung, weil in der Situation der Anwesenheit auch parasprachliche Aspekte betrachtet werden können, die auf den Wahrheitsgehalt des Gesagten schließen lassen:

die treueste Wiedererzählung des Gesagten ersetzt den Vortheil nicht, welchen man hat, wenn man selbst hört; die Miene des Beschuldigten, sein Ton, seine ganze Haltung, die Tränen, welche seine Reue zeigen, die Begeisterung, mit welcher er spricht, sie alle gehen für den Richter, welcher den Beschuldigten gar nicht sieht, und welchem nur die Gerichtsprotocolle vorgelegt werden, verloren (Mittermaier 1816, 327 f., zitiert in Niehaus 2014, 475).Footnote 11

In Strafprozessverfahren war die Verlesung von Protokollen wie bereits erwähnt nur in bestimmten Fällen zulässig, während für Disziplinarverfahren lockerere Bestimmungen galten (Langer 1914, 84).

Entsprechend den Bestimmungen der StPO musste ein Protokoll über die mündliche Verhandlung angefertigt werden (DP § 130). Dieses Protokoll trägt Charakteristika eines Ergebnisprotokolls wie auch eines Verlaufsprotokolls. Es besteht aus formalen Teilen wie Datum, Gegenstand und anwesende Personen, aber auch aus Mitschriften von Vernehmungen in der Verhandlung. Dazu empfiehlt Langer, nur jene Teile detailliert zu erfassen, die etwas neu Vorgebrachtes enthalten. »Wird nur das im Vorverfahren Gesagte wiederholt, so genügt ein Hinweis auf das betreffende Aktenstück des Untersuchungsaktes.« (Langer 1914, 84). Aus den Schlussvorträgen von Disziplinaranwalt und Verteidiger wiederum seien nur die Anträge, nicht aber deren Ausführung und Begründung zu Protokoll zu nehmen (die damit, weil nicht im Protokoll, auch nicht in der Welt sind). Anders als im Zivilprozess musste das Protokoll nicht von Parteien und Zeug:innen »agnosziert« werden, somit konnte der Protokollführer sich während der Verhandlung auf Notizen beschränken und erst im Nachhinein eine Reinschrift anfertigen. Diese musste von ihm und dem Vorsitzenden unterzeichnet werden. Das Erkenntnis wiederum musste binnen acht Tagen an den beschuldigten Beamten und den Disziplinaranwalt übermittelt werden. Binnen vierzehn Tagen konnte dagegen Berufung eingelegt werden.

Fallbeispiel: »Was sich ein Beamter der Republik erlaubt«

Sämtliche Quellenzitate in diesem Kapitel beziehen sich auf den Disziplinarakt Dr. Karl Hübner, Niederösterreichisches Landesarchiv, Landesregierung, Präsidium 1903–1940, Karton 15, 227D 1927.

Im Oktober 1927 erschienen in niederösterreichischen sozialdemokratischen Lokalblättern (Volksstimme 1927, Der Abend 1927) Berichte darüber, dass ein hoher Beamter der Bezirkshauptmannschaft Mödling im August dieses Jahres während seiner Amtsstunden ein äußerst ungehöriges Benehmen an den Tag gelegt habe. »Was sich ein Beamter der Republik erlaubt« titelte die »Volksstimme aus dem Wienerwald«. Was war geschehen?

Zunächst soll zum besseren Verständnis der Kontext beschrieben werden: in den Jahren zuvor hatten sieben Freidenker aus dem Bezirk Mödling ihren eigenen und den Austritt ihrer Kinder aus der katholischen Kirche bekanntgegeben. Die Bezirkshauptmannschaft ignorierte allerdings die Abmeldungen der Kinder, weil sie den Standpunkt vertrat, dass ein Austritt keinen Konfessionswechsel darstelle und die Kinder somit weiterhin römisch-katholisch blieben. Grundlage dafür stellte eine gesetzliche Regelung von 1868 dar.Footnote 12 Als diese Kinder dem Religionsunterricht fernblieben, wurde ihren Eltern mit Zwangsmaßnahmen gedroht. Die Freidenker bekämpften den Standpunkt der Bezirksbehörde beim Verwaltungsgerichtshof – mit Bezug auf Bestimmungen des Vertrags von St. Germain, der jedem Staatsbürger das Recht zugestand, sein Bekenntnis frei zu wählen. Sie erhielten Recht (Der Tag 1927, 7). Im Mai 1927 entschied überdies der Verfassungsgerichtshof, dass Kinder unter sieben Jahren von konfessionslosen Eltern ebenfalls als konfessionslos gelten sollten. Dieser Entscheid bildete den Stein des Anstoßes im vorliegenden Fall.

Laut Aussage des Vermittlungsbeamten beim paritätischen Arbeitsnachweis für die Textilindustrie Karl Sallmuther hatte der Bezirkskommissär Karl Hübner bei einem Zusammentreffen der beiden bei der Bezirkshauptmannschaft Mödling im August 1927 seine Unzufriedenheit damit zum Ausdruck gebracht, dass er Sallmuther gefragt habe, ob dieser wisse, was er von der Entscheidung halte. Die Antwort folgte nonverbal:

Hierauf sah ihn Hübner eine Weile an, erhob sich von seinem Sessel, nahm die vor ihm auf dem Schreibtisch liegende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes und strich sich damit über denjenigen Teil des verlängerten Rückens, auf den er für diese Frechheit mit Recht 25 mit einem gut eingewässerten Haselnußstock verdienen würde (Volksstimme 1927, 5).Footnote 13 .

Dass ein Beamter sich mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs die Kehrseite abwischt, und sei es nur andeutungsweise, war unerhört. Nachdem von Karl Sallmuther eine Beschwerde an den Leiter der Behörde gerichtet wurde, war eine Disziplinaruntersuchung nicht zu vermeiden.Footnote 14 In dieser Beschwerde monierte Sallmuther, der auch Gründer des Mödlinger Freidenkerbundes war,Footnote 15 weiters, dass Hübner mit Aussagen wie »Sie sind der Freidenker – und ich bin der Andere« oder der scherzhaften Bezeichnung Sallmuthers als »Außenminister der Freidenker« eine Parteilichkeit zum Ausdruck gebracht habe, die einem öffentlichen Beamten nicht angemessen sei. Am 26. Oktober 1927 schrieb der Landesregierungsrat Karl Karwinsky an den Vorsitzenden der Disziplinarkommission bei der niederösterreichischen Landesregierung und ersuchte um Einleitung des Disziplinarverfahrens. Diesem Schreiben beigeschlossen waren die Beschwerde Sallmuthers, die erwähnten Zeitungsartikel, eine Äußerung des Beschuldigten in Verteidigung gegen die Beschwerdeschrift, eine Stellungnahme des Referenten für Kultusangelegenheiten, Protokolle der Vernehmungen von Kanzleikräften und Sallmuthers sowie eine Skizze der Büroräumlichkeiten, in denen die umstrittene Begegnung stattgehabt hatte. Diese Voruntersuchungen, größtenteils vom Regierungsoberkommissär bei der Bezirkshauptmannschaft Mödling Dr. Oskar Hofmokl im Lauf des Septembers 1927 durchgeführt, enthielten also genügend Material, um ein Disziplinarverfahren zu beantragen.

Was besagten diese Unterlagen? Zunächst finden wir die Perspektive des beschuldigten Bezirkskommissärs. Karl Hübner hob in seiner ausführlichen Äußerung hervor, dass er mit Sallmuther, der als Vertreter der Freidenkerortsgruppe Mödling mit Ansuchen um Austritt aus der katholischen Kirche befasst war, eine Meinungsverschiedenheit über ein kürzlich gefälltes Verfassungsgerichtsurteil hatte. Das Urteil besagte, dass Kinder unter sieben Jahren ihren Eltern im Religionsbekenntnis folgen würden, wenn die Eltern nach einem Kirchenaustritt religionslos werden. Sallmuther war der Ansicht, dass diese Entscheidung uneingeschränkt gelten würde, während Hübner davon ausging, dass die Religionszugehörigkeit der Kinder, wenn sie schulpflichtig werden, erneut geprüft werden müsste. In diesem Kontext hatte er zu Sallmuther gesagt, dass das Urteil des Verfassungsgerichtshof für ihn als Freidenker nicht viel wert wäre (weil es nur sehr junge Kinder beträfe) und habe eine schriftliche Fassung des Urteils, das er in der Hand gehalten hatte, wieder auf den Schreibtisch gelegt. Im Übrigen habe er auch das Wort »Außenminister« sicher nicht verwendet.

Es ist eine klare Entstellung, daraus eine derart unanständige Szene zu konstruieren. Die Tür meines Amtszimmers stand fortwährend weit offen, die nebenan befindlichen 2 Kanzlistinnen waren Zeuginnen der gesamten Unterredung.

Tatsächlich enthält der Akt sogar eine Skizze, die verdeutlicht, wie das Amtszimmer und das davor befindliche Büro, in dem die Schreibkräfte Nemc, Schrutka und Kaufmann arbeiteten, angelegt sind (s. Abb. 1). Auch sie kamen als Zeuginnen zu Wort.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Disziplinarakt Dr. Karl Hübner, Niederösterreichisches Landesarchiv, Landesregierung, Präsidium 1903–1940, Karton 15, 227D 1927)

Skizze der Büroräumlichkeiten in der Bezirkshauptmannschaft Mödling

Die Kanzleibedienstete Marie Nemc (Schreibtisch rechts oben in der Skizze) gab zu Protokoll, dass jede Partei, die zu Karl Hübner wollte, durch den Büroraum gehen müsste. Sallmuther sei am 27. August 1927 etwa um halb vier nachmittags erschienen und hatte nach dem Verbleib einiger Akten und Dokumente gefragt. Nemc habe ihm erklärt, dass diese gegenwärtig bei der niederösterreichischen Landesregierung liegen würden. Hübner, der Sallmuther mutmaßlich an der Stimme erkannt hatte, kam aus seinem Amtszimmer und begann mit Sallmuther ein Gespräch über das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs, das er auch aus seinem Amtszimmer holte und im Zimmer der Kanzleikräfte vorlas. Nemc gab an, dass sie dem Gespräch nicht weiter gefolgt habe, aber aufmerksam wurde, als es darum ging, was die beiden Herren jeweils von der Gesetzesänderung hielten.

Hübner ging sodann in sein Bureau, um anscheinend in einem Gesetzbuche nachzusehen, wobei ihm Sallmuther folgte. Nach einer kurzen Unterredung hörte ich deutlich durch die Türe die Worte Hübner’s: »Was denken Sie, Herr Sallmuther, von der Entscheidung«. Die Antwort Sallmuther’s habe ich nicht so verfolgt, wohl aber dessen bald darauf gestellte Gegenfrage »Und was halten Sie, Herr Doktor, von dieser Entscheidung.« Es trat sodann eine Redepause ein. Ich hörte ein Geräusch, das dem Auflegen von Akten auf einen Tisch gleichkommt und noch einige dem Abschluss einer Unterredung beinhaltende Worte, an welche ich mich aber nicht mit Bestimmtheit erinnere. Ich kann daher nicht behaupten, dass Hübner gesagt hätte, »So, jetzt wissen Sie, was ich von der Entscheidung halte.« Die genannten Herren habe ich während ihrer Unterredung durch die Türe nicht sehen können.

Die Kanzleikraft Hermine Struschka, die im selben Zimmer wie Nemc, mit einem Schreibtisch näher beim Amtszimmer Hübners (oben mittig in Abb. 1), tätig war, bestätigte bei ihrer Vernehmung den Besuch Sallmuthers und die Unterredung zwischen ihm und Hübner über die Frage der Konfessionen von Kindern. Sie stellte fest, dass es »hiebei zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden genannten Herren kam, ohne dass jedoch die Debatte einen erregten Ton angenommen hätte.« Sie habe aber weitergearbeitet und dem Inhalt des Gesprächs keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt.

Eine weitere Kanzleikraft, Barbara Kaufmann, war am 27. August 1927 nicht anwesend gewesen, wohl aber etwa vierzehn Tage später, als Sallmuther wieder ins Amt kam und den Kanzleikräften von dem Vorfall (so wie in der Zeitung »Volksstimme des Wienerwaldes« beschrieben) erzählte. Nemc gab an, sie und Kaufmann haben Sallmuther daraufhin gesagt, dass er sich gewiss irren würde, da beide Kanzlistinnen Hübner so etwas nicht zutrauten.

Nun kommen wir zur Sichtweise des Beschwerdeführers, der die Untersuchung und das Verfahren in Gang gebracht hatte. Sallmuther seinerseits bekräftigte in seiner Vernehmung die Anschuldigungen der Parteilichkeit und der unanständigen Geste mit dem Verfassungsgerichtsurteil und fügte noch hinzu, dass Hübner kein unparteiischer Staatsbediensteter, sondern ein »Vertreter der Klerisei« sei. Er gab darüber hinaus auch an, dass Marie Nemc sich dahingehend geäußert habe, dass es gut sei, wenn dieser Vorfall in die Zeitung komme. Barbara Kaufmann habe ihre Zustimmung in Worten und durch Nicken geäußert. Nemc hatte außerdem hinzugefügt, dass sie von Hübner auch schon Grobheiten einstecken hatte müssen. Sie habe außerdem bestätigt, dass Hübner das Wort »Außenminister« verwendet habe. In dieser Phase des Verfahrens machte zudem ein Referent des Landesamts I/5Footnote 16 eine Äußerung dazu, inwiefern Hübner bereits über das Verfassungsgerichthofurteil Kenntnis haben konnte. Die Vernehmungsprotokolle und Äußerungen sind jeweils von der vernommenen Person und Dr. Oskar Hofmokl (mit der Bemerkung »vor mir« und dem Amtstitel »Landesregierungsrat«) unterzeichnet.

Am 29. Oktober trat die Disziplinarkommission zusammen, um über den Antrag der Landesamtsdirektion zu beraten (DP § 113). Sie kam zu dem Schluss, dass gegen Hübner ein Disziplinarverfahren einzuleiten sei und ersuchte die Landesamtsdirektion II um die Bestellung eines Untersuchungskommissärs. Dieser, ein Landesregierungsrat,Footnote 17 führte noch einmal Vernehmungen der schon erwähnten Personen durch und holte zusätzlich Stellungnahmen des Bezirkshauptmanns Dr. Adalbert Pamperl und Dr. Erich Liemert-Weiß, eines hohen Beamten der Bezirkshauptmannschaft, ein. Diese waren zwar nicht Zeugen der Auseinandersetzung zwischen Sallmuther und Hübner gewesen, bescheinigten Hübner aber eine einwandfreie Persönlichkeit, Fachkenntnisse und Disziplin, sodass es schlechterdings unmöglich gewesen sei, dass dieser solche Unflätigkeiten begehen könnte. Die Kanzleikräfte Nemc, Struschka und Kaufmann unterzeichneten am 18. November 1927 ein weiteres mit »Protokoll« betiteltes Schriftstück, in dem Marie Nemc »auf das Bestimmteste« erklärte, dass sie das Wort »Außenminister« nicht gehört hatte und nicht die Worte »es wäre gut, wenn das in die Zeitung käme« verwendet hatte. Barbara Kaufmann erklärte, dass sie so eine Äußerung nicht getätigt habe, weder in Worten noch durch zustimmendes Nicken.

Sallmuther wiederum bekräftigte seine Vorwürfe und unterstrich die Anschuldigung, Hübner sei ein Vertreter der Klerisei mit Beschwerden, die von Personen kamen, die aus der Kirche austreten wollten und von der Behörde Schwierigkeiten gewärtigt hatten. Karl Hübner unterstrich in seiner weiteren Äußerung die juristische Ebene. Seine Frage an Sallmuther, »In welcher Funktion kommen Sie immer noch zu uns?«, sei keine »Frozzelei« gewesen, sondern ein indirekter, höflich gemeinter Hinweis darauf, dass Sallmuther sich in einer unzulässigen Weise verhalten hatte, da er nicht berechtigt gewesen sei, die Kanzleiräume zu betreten und die Kanzleikräfte um Auskunft zu bitten. Das sei ausschließlich Aufgabe der Referenten.

Im Zuge der Vorerhebungen wurden nun auch noch vier Personen aus Mödling als Zeugen und Zeuginnen befragt, die in den vorhergehenden Jahren Parteienverkehr mit Karl Hübner in Religionsangelegenheiten hatten. Diese Aussagen sollten vermutlich belegen, dass der Bezirksoberkommissär in der Bevölkerung keinesfalls als parteiischer »Vertreter der Klerisei« gesehen wurde.

Der Verweisungsbeschluss zur mündlichen Verhandlung ist mit 23. Dezember datiert, die mündliche Verhandlung fand schließlich am 10. Jänner 1928 statt.Footnote 18 Außer den Mitgliedern der Kommission waren noch Karl Hübner sowie Karl Sallmuther und der Bezirkshauptmann von Mödling Dr. Adalbert Pamperl als Zeugen vorgeladen. Als Resultat der Verhandlung wurde erkannt, dass Hübner von allen Vorwürfen freizusprechen sei, da es für die Vorwürfe Sallmuthers keine weiteren Beweise gab als dessen eigene Aussage, die von den als Zeuginnen fungierenden Kanzleikräften nicht gestützt wurde. Im Wesentlichen folgte die Kommission der Argumentation Hübners, er sei als Beamter objektiv in seiner Amtsführung. Wenn er gesagt hätte, Sallmuther sei der Freidenker und er, Hübner, der Andere, so sei dies im Sinne von »der nicht politische Engagierte« gemeint gewesen. Die Disziplinarkommission entschied, dass Hübner kein Dienstvergehen begangen hatte. Ob Karl Sallmuthers Beobachtung zutreffend und die darauf Bezug nehmende Beschwerde berechtigt war, können wir anhand der protokollierten Aussagen und Raumskizzen nicht feststellen, ebenso wenig, ob die Kanzleikräfte die Wahrheit gesprochen hatten oder etwa aus Sorge um ihren Arbeitsplatz und das dort herrschende Klima eine Unanständigkeit ihres Vorgesetzten abgestritten hatten. Außer Sallmuther und Hübner gab es freilich keine Zeug:innen dessen, was im Amtszimmer vorgefallen war, es stand Aussage gegen Aussage. Die Kommission entschied im Zweifel und im Konsens für den Bezirksoberkommissär Hübner.

Abschließende Bemerkungen

In den protokollförmigen Teilen von Disziplinarakten kommt die besondere Stärke dieser Quellengattung zum Vorschein: ihre Vielstimmigkeit – wenn auch gefiltert durch die Regeln der Protokollerfassung und die Perspektive und den persönlichen Stil des Untersuchungskommissärs. Wiedergegeben werden Stellungnahmen von Personen ebenso wie Begegnungen, Frage-und-Antwort-Abläufe zwischen öffentlich Bediensteten und ihren Vorgesetzten, aber auch, im Falle von Zeug:innen, die nicht zur Behörde gehören, zwischen Bürger:innen und Behörden. Wie das Fallbeispiel gezeigt hat, ging es nicht nur darum, sprachliche Handlungen festzuhalten. Es wurde einiger Aufwand betrieben um herauszufinden, ob eine Kanzleikraft, die sich bei offener Tür im Nebenzimmer befindet, wahrnehmen konnte, was im Büro ihres Vorgesetzten vorfiel. Hatte der inkriminierte Bezirksoberkommissär tatsächlich, wie der freidenkerische Beschwerdeführer behauptete, eine unanständige Geste und damit eine Verunglimpfung einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vollzogen, oder hatte er dieses Schriftstück einfach mit erklärenden Worten auf den Schreibtisch gelegt? Hatte die eine Kanzleikraft zu Sallmuthers Ausführungen zustimmend genickt oder nicht?

Das Protokoll beurkundet Stellungnahmen in Vernehmungen und Verhandlungen und ist dadurch eine gewichtige Textsorte. Dennoch reicht dieses Gewicht nicht immer aus, um dem Unmittelbarkeitsgrundsatz in einem Verfahren, das der Wahrheitsfindung dienen soll, zu genügen. Im Gerichts- wie auch im Disziplinarverfahren bedarf es mitunter der erneuten Vernehmung einer Person vor den Augen und Ohren der Verfahrensbeteiligten. Verlesene Vernehmungsprotokolle und neuerliche Aussagen fließen zusätzlich in das Protokoll der mündlichen Verhandlung ein, das dann die Basis für das Erkenntnis, das Dokument über das in der Verhandlung gefällte Urteil, bildet. In unserem Beispiel sehen wir mehrere Stellungnahmen und wiederholte Einvernahmen von Beteiligten im Vorfeld der abschließenden mündlichen Verhandlung. In der Verhandlung selbst wurde allerdings nur eine sehr reduzierte Gruppe von Zeugen vorgeladen, nämlich Karl Sallmuther selbst und der Bezirkshauptmann. Verzichtet wurde dagegen auf die Ladung der Kanzlistinnen oder von Personen aus dem Freidenkermilieu. Dadurch, dass dem Beschwerdeführer somit nur Vertreter der Behörde gegenüberstanden, ergab sich ein klares Ungleichgewicht. Diese Ladungspraxis mag auch damit begründet werden, dass in Disziplinarverfahren eher Protokolle verlesen werden durften als in Strafprozessen vor Gericht, bei denen persönliches und mündliches Auftreten von Zeug:innen und Beschuldigten strenger geboten war. Die Chancen von Karl Sallmuther auf Erfolg seiner Beschwerde steigerte sie freilich nicht.