Der Ministerrat und seine Protokolle

Mündliche Anbringen von Beteiligten sind erforderlichenfalls ihrem wesentlichen Inhalt nach in einer Niederschrift festzuhalten. Niederschriften über Verhandlungen (Verhandlungsschriften) sind derart abzufassen, daß bei Weglassung alles nicht zur Sache Gehörigen der Verlauf und Inhalt der Verhandlung richtig und verständlich wiedergegeben wird.Footnote 1

So lautet aktuell – in den darauffolgenden Absätzen im Detail spezifiziert – eine der zentralen gesetzlichen Bestimmungen in der österreichischen Verwaltung, wie Niederschriften zu führen seien; solches gilt auch für das Führen von Protokollen. Ein einheitliches Verwaltungsverfahrensgesetz gibt es erst seit 1925, aber Protokolle wurden in der österreichischen Verwaltung auch vorher schon geführt.Footnote 2 Es geht um die Transformation augenblicklicher verbaler Akte in ihre auf Dauer angelegte, schriftliche und formalisierte Feststellung.

Ich habe das Glück, mit einem strukturell recht homogenen Korpus an Protokollen arbeiten zu dürfen, die aus der Verwaltung der Habsburgermonarchie herstammen. Die in Frage stehenden Länder, so formuliert es Robert Musil im Kakanien-Kapitel in einer an vermittelter Distanz des Erzählens kaum zu übertreffenden Konstruktion, sind als vom Arm der Verwaltung umschlungen vorzustellen:

So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. Und was für Länder! (Musil 1998, I, 32)

Die Struktur dieses Staatswesens (und Musil ist, wie bekannt, ein Insider desselben (vgl. zuletzt Plener und Wolf 2020) wird von innen her durch weiße (d. i. in der Lesart von Macho auch: beschriftbare, vgl. Macho 2003) Straßen gewährleistet, die ihre Entsprechung in der alles umschlingenden Verwaltung finden. In der Ordnung dieser Verwaltung steht der Monarch an oberster Stelle, doch den Staat geordnet zu regieren, lässt sich zu keiner Zeit ohne einen umfassenden (umschlingenden) Apparat bewerkstelligen. Zur Vorbereitung der monarchischen Entscheidungsfindung und für die Leitung der Staatsverwaltung traten 1848 an Stelle der Hofstellen Ministerien. Zusammen bildeten sie ein Kollektivorgan, den Ministerrat. Er lenkte auf höchster Stelle die Gesetzgebung und leitete die Verwaltung. Während des Neoabsolutismus 1852–1860 wurde übergangsweise das Kollektivorgan Ministerrat zu einem Koordinationsorgan Ministerkonferenz herabgestuft, und 1867 wurde der Wirkungskreis des Ministerrates eingeengt, inhaltlich durch den Entzug von Angelegenheiten, die der Gemeinsame Ministerrat übernahm, territorial durch die Abtrennung Ungarns, für das ein eigener Ministerrat zuständig wurde.

Durch diese Institution Ministerrat – bzw. nach 1867: durch diese drei Institutionen – gingen wichtige und prinzipielle Angelegenheiten, von Entscheidungen ad personam wie Ordensverleihungen, Gnadenbezeigungen, Pensionen und dergleichen bis hin zu größeren Fragen wie der Errichtung von Universitäten, Bau- und Infrastrukturprojekten wie z. B. im Eisenbahnwesen. Auch Fragen der Verfassungs- und Verwaltungsreformen sind hier überliefert. Außenpolitik und Militärangelegenheiten im engeren Sinne waren als Teil der monarchischen Prärogative nicht Teil des Wirkungskreises der Ministerräte und spielten daher nur indirekt in ihre Tätigkeit hinein. Die Tätigkeit der Ministerräte ist für die Verwaltung der Habsburgermonarchie zentral, zieht man in Betracht, dass der Kaiser den über den Ministerrat vermittelten Vorschlägen der cisleithanischen Ministerien in über 90 % der Fälle folgte.Footnote 3

Meine Rolle für die Ministerratsprotokolle-Edition – um dies vorweg ›zu Protokoll zu geben‹ – ist die eines technischen Editors, d. h. im Konkreten befasse ich mich mit der Datenmodellierung und mit der »Umwandlung« von archivalisch überlieferten Protokollen zu Transkripten, zu digitalen Dokumenten (die dann mit Hilfsdaten angereichert werden) und letztlich zu Editionsdaten, die in dem hybriden Editionsansatz, der aus einer XML-Quelle sowohl eine WebapplikationFootnote 4 als auch eine gedruckte Edition erstellt, das zentrale Ziel der Editionsarbeit sind.Footnote 5

Für den Bestand der österreichischen Ministerratsprotokolle vor 1867 ist festzuhalten, dass diese in gedruckter Fassung seit 2015 abgeschlossen vorliegen, also die Editionsarbeit an dieser ›ersten Serie‹ beendet ist; für die Weiterentwicklung von Daten und für den Zugriff auf die Daten konnte auf ein in sich geschlossenes Korpus zurückgegriffen werden. Im Zuge der Transformation der auf 28 Bänden beruhenden Daten konnte überhaupt erst ein einigermaßen vollständiges Bild von der Verfasstheit dieser spezifischen administrativen Textsorte in Bezug auf a) ihre textstrukturelle und b) textsortengenerische Bestimmtheit gewonnen werden. Daraus konnten die das Korpus bestimmenden Valenzen abgeleitet werden, welche konzeptionell und technisch das Zielformat der nun in Bearbeitung befindlichen Serie 3, ›Cisleithanische Ministerratsprotokolle‹, ergeben.

Datenmodelle

Im generischen Möglichkeitsraum des Protokolls, der sich im Bereich des Administrativen im Wesentlichen vom stenographischen Verbatim-Protokoll über Verlaufsprotokoll, Ergebnis- und Beschlussprotokoll bis zu den Grenzfällen wie der Beilage zum Protokoll erstreckt,Footnote 6 sind die Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie (genau gesagt: vor 1867 »Österreichs«, danach jene »Cisleithaniens«, also der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder) zwischen Verlaufs- und Beschlussprotokoll angesiedelt.

Diese Textsorte ist praxeologisch eine Folge einer stattgehabten Kabinettssitzung, die sie beschreibt und post factum schriftlich fixiert. Jede Sitzung des Ministerrats ist in Zeit und Raum definiert, üblicherweise fand sie an einem Ort statt, selten – das war mitunter bei über mehrere Tage fortgesetzten Sitzungen der Fall – auch an mehreren. Die Tage, an denen eine Sitzung stattfand, stehen ebenso fest; die meisten der Sitzungen fanden an einem einzelnen Tag statt, manche dauerten über Mitternacht an, mitunter trafen sich die Kabinette aber auch an mehreren Tagen über einen längeren Zeitraum zu einem bestimmten Thema. Die Sitzungen sind intern und extern nummeriert (die Ministerratszahl »M.R.Z.« zählt die Sitzungen des Jahres, die Kabinettszahl »K.Z.« bezieht sich auf die Vermerke der Bücher der Kabinettskanzlei).Footnote 7

Angesprochen ist damit bereits, dass die Sitzungen auch durch anwesende Personen gekennzeichnet sind; üblicherweise sind dies die Minister der aktuellen Regierung. Den Vorsitz führt normalerweise der Ministerpräsident, bei Anwesenheit des Monarchen präsidiert dieser. Über die fehlende oder unterbrochene Anwesenheit von Anwesenheitsberechtigten führten die Protokollanten ebenso Buch wie über zusätzlich beigezogene Personen, etwa Auskunftspersonen aus den nachgeordneten Ministerien oder Minister anderer Regierungen – solche sind meist nur bei einzelnen Tagesordnungspunkten anwesend.

Die Sitzungen sind weiters durch ihre Gegenstände definiert. Das Spektrum reicht von einem einzelnen bis zu über 20 Tagesordnungspunkten, wobei diese längeren Sitzungen meist einzelne Ordensverleihungen, Auszeichnungen oder ähnliche rasch zu beschließende Punkte beinhalten.

So weit, so alltäglich – und aus der administrativen Praxis protokollführender Körperschaften geläufig. Dennoch ist mit diesen Eckdaten zu Zeit, Ort, handelnden Personen und Gegenständen im Wesentlichen alles zur Sitzung als Ereignis gesagt, was sich abstrakt sagen lässt.Footnote 8

Das so bestimmte Ereignis »Sitzung« wird nun in die Aufschreibesysteme der Bürokratie überführt; seine auf Dauer gestellte schriftlich dokumentierte Repräsentation ist das Protokoll. Jedes Protokoll ist durch die Angabe der oben genannten Bestimmungselemente an die Sitzung gebunden, diese sind dann auch die vorgedruckten Kernelemente der Niederschrift. Darüber hinaus geben die einem anderen Teil der Verwaltung zugehörigen Bücher der Kabinettskanzlei Auskunft über zeitgleich stattfindende Ereignisse, die den Kaiser betrafen (das Aufschreibesystem der k. u. k. und später der k. k. Administration ist immer schon vernetzt, wie auch seine Ablagesysteme).

Der zur Ministerratskanzlei gehörende Protokollführer erstellte während und nach der Sitzung ein Schriftstück, das bereits ab dem Jahr 1848, also noch im Jahr der Gründung der Institution Ministerrat, auf vorgedruckten Formularen basierte; den Mantelbogen zur Sitzung II vom 19. August 1882 zeigt Abb. 1.Footnote 9

Abb. 1
figure 1

Protokoll II vom 19.08.1882, Mantelbogen (AT-OeStA/AVA Ministerratspräsidium, Cisleithanische Ministerratsprotokolle, Karton 18, MRZ 67, Bild: Richard Lein, für dieses Drittmaterial gilt keine Creative-Commons-Lizenz)

Von jedem dieser Protokolle existierte nur ein einziges Exemplar, das nach der Verfertigung durch den Schriftführer unter nicht mehr im Einzelfall rekonstruierbarer Beteiligung weiterer Akteure innerhalb der Ministerratskanzlei vom Vorsitzenden, im Normalfall dem Ministerpräsidenten, unterfertigt wurde. In einem darauffolgenden Rundlauf durch die Ministerien erhielten die Minister Einsicht in das Protokoll; dies wurde auch zur Korrektur des Wortlauts und teilweise für Ergänzungen genutzt – daher stammen die Einschübe in den halbbrüchig niedergeschriebenen Konvoluten, die von nachträglichen Eingriffen in die dokumentierte ›Wahrheit‹ zeugen.

Neben Einschüben wie z. B. einer Randbemerkung des Justizministers Alois Pražák im Protokoll vom 9. September 1882, »Ich habe dabei die weitere Beschlussfassung dem Ministerrate vorbehalten, indem ich versuchte, dermal noch einen Beschluss nicht zu fassen«, finden sich in den Protokollen auch Bemerkungen des Kaisers wie die in Abb. 2 wiedergegebene Stelle zum Tagesordnungspunkt, »XI. Wünsche der Alttschechen in Bezug auf die Prüfungsverordnung für die Prager Universität« (in derselben Sitzung), durch die sich Franz Joseph einverstanden erklärt mit den Bemerkungen des Justizministers zur Vermeidung weiteren Aufsehens anlässlich der Forderungen der Jungtschechen, dass an der böhmischen Universität Prag auch die deutsch[sprachig]en Studenten Kenntnisse des Tschechischen nachweisen sollten; das »sehr richtig« bezieht sich dann auf die Passage »Der Finanzminister müsste jedenfalls davor warnen, dass man jetzt lediglich in Folge des Lärms, bevor noch so viel Zeit vorübergegangen ist, um sich [Seitenwechsel] [] zu []ern[] tue.« Die ersten Zeilen der Rückseite sind verbrannt; sinngemäß dürfte es darauf hinausgelaufen sein, man müsse darauf achtgegeben, dass die Regierung nicht durch öffentlichen Druck zum Einlenken gezwungen werden könne.

Abb. 2
figure 2

Protokoll vom 19.08.1882 mit Randnotiz Franz Josephs I.: »Sehr richtig« (AT-OeStA/AVA Ministerratspräsidium, Cisleithanische Ministerratsprotokolle, Karton 18, MRZ 67; Bild: Richard Lein, für dieses Drittmaterial gilt keine Creative-Commons-Lizenz)

Der praktische Umgang mit den Ministerratsprotokollen deutet auch auf die andere Richtung der Abläufe: Das zu erstellende schriftliche Substrat der Entscheidungsfindung strukturiert auch die Abläufe selbst, das (vorgedruckte) Protokoll regelt als Handlungsanweisung – hier nahe den diplomatischen und militärischen Bedeutungsbereichen des Wortes – damit auch jene Vorgänge, die es dokumentiert. Der mündliche Vorgang Sitzung orientiert sich an den Gepflogenheiten und Vorgaben, die mit dem schriftlichen Vorgang der Dokumentation und seinen Erfordernissen zusammenfallen.

Die Protokolle des Bestandes Österreichischer Ministerrat vor 1867 liegen im Staatsarchiv samt allfälliger Beilagen in einen vorgedruckten »Mantelbogen« eingeschlagen vor;Footnote 10 in der überwiegenden Zahl der Fälle sind mehrere dieser Konvolute in der Reihenfolge ihres Entstehens zusammengebunden.Footnote 11 Beim Bestand der cisleithanischen Ministerratsprotokolle ab 1867 ist der Erhaltungszustand anders: 1926 wurde dieser gesammelt in den Justizpalast übersiedelt; große Teile davon fielen dem Brand vom 15. Juli 1927 zum Opfer, sodass der Bestand lückenhaft ist. Von einer Vielzahl der beschädigten Akten wurden in den Jahren 1929–1930 maschinschriftliche Abschriften angefertigt, die heute einen besseren Erhaltungszustand dokumentieren als die beschädigten, ›bröseligen‹ Originale. Weitere Abschriften sind in verschiedenen Archiven bekannt: Zunächst sind das solche, die in den 1920er Jahren für die tschechoslowakische Republik angefertigt wurden und die nun in Prag lagern. Weiters verwendet die Edition Abschriften aus den Nachlässen des Sektionschefs Ludwig Alexy sowie des Redakteurs der ›Neuen Freien Presse‹ Hugo Pollak – letztere sind zum Großteil in Gabelsberger-Kurzschrift überliefert, sie wurden für die Edition in Normalschrift transkribiert und damit zugänglich gemacht.

Protokolle edieren

Aus der beschriebenen Überlieferungssituation ergibt sich für die am Institute for Habsburg and Balkan Studies im Rahmen eines Langzeitprojekts der Österreichischen Akademie der Wissenschaften edierten Protokolle des cisleithanischen Ministerrats eine neue Herausforderung auch in Bezug auf die Fragestellung, wie dieser lückenhafte Bestand zu edieren sei. Der Editionsplan der cisleithanischen Ministerratsprotokolle sah für die acht Bände noch elf Teilbände vor, die aber aufgrund von Funden zuvor unbekannter Abschriften aus anderen Quellen und damit einer Erweiterung des Quellenmaterials bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt um mehrere Teilbände auf zumindest sechzehn Bindeeinheiten ausgedehnt wurden.

Das Edieren dieser Protokolle folgt einem definierten Ablauf technischer Vorgänge (um nicht zu sagen: einem Protokoll), der in Abb. 3 wiedergegeben ist und an anderer Stelle bereits hinsichtlich der Schnittstellen zwischen Datenverarbeitung und Geschichtswissenschaft dokumentiert wurde (vgl. Kurz u. a. 2019)Footnote 12.

Abb. 3
figure 3

Workflow-Diagramm zur digitalen/hybriden Edition Ministerratsprotokolle, Bild: Stephan Kurz, https://mrp.oeaw.ac.at/data/meta/mrpactivitydiagram.gv.svg (modifiziert), lizenziert unter CC-BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de

Bereits vor dem eigentlichen Edieren liegen die überlieferten Protokolle aus dem Bestand der cisleithanischen Ministerratsprotokolle mit einem signifikanten Teil der oben beschriebenen Eckpunkte (Datum, Ort, Liste der Tagesordnungspunkte) transkribiert vor. Hierzu wurden vor allem die oben genannten separat geführten und gelagerten gebundenen Abschriften der Tagesordnungen aller Sitzungen herangezogen: Sie sind komplett überliefert, folglich ist durchgängig nachvollziehbar, worüber die Minister in ihren Sitzungen verhandelten – wenn sich auch über weite Strecken nicht im Detail rekonstruieren lässt, was genau gesagt und beschlossen wurde. Die Liste der Tagesordnungspunkte erleichtert das Auffinden bestimmter Themen und darüber hinaus die Einordnung eines Dokuments in den Arbeitskontext der anderen beiden Ministerräte nach 1867; so lässt sich bei Materien, die mehrere Ministerräte (ungarischer und/oder cisleithanischer und/oder gemeinsamer) betrafen, im Detail nachzeichnen, wie die Entscheidungsabläufe zwischen den Gremien waren. Eine solche Synopse über alle drei Serien sowie die ebenfalls bereits digital verfügbaren Metadaten zu den Archivalien aus dem ungarischen Ministerrat ist ein Alleinstellungsmerkmal dieser digitalen Edition bzw. der Webapplikation, die aus ihren Daten gespeist wird. Zuvor lieferten sowohl die erste Serie (österreichischer Ministerrat) als auch die zweite Serie (Gemeinsamer Ministerrat, herausgegeben von der ungarischen Akademie der Wissenschaften) nur grobe thematische und chronologische Übersichten über die Sitzungen jeweils eines Bandes.Footnote 13

In den Protokollbüchern der Kabinettskanzlei sind die »Allerhöchsten Entschließungen« verzeichnet, mit denen der Monarch das in den Regierungssitzungen Besprochene bestätigte; auch die auf Papier festgehaltene Dokumentation dieses Akts ist durchgängig überliefert. Die »Ah. E.« sind in der Logik dieser Protokolle und der Ordnung des kakanischen Gouvernements das Endergebnis jeder Sitzung, daher werden auch diese bereits vor der Edition der Protokolltexte separat verzeichnet.

Diese Parameter bilden das Gerüst für jedes der zu edierenden Protokolle. In der Folge werden die textuellen Leerstellen zwischen a) dem Protokollkopfregest mit Tagesordnung und Teilnehmern (es sind dies bis 1918 ausschließlich Männer) und b) den Unterschriften (des Vorsitzenden für die Richtigkeit des Protokolls, des Kaisers für die angestrebte Umsetzung des in der Sitzung Beschlossenen) aufgefüllt.

Für die digitale Edition im Allgemeinen und die digitale Edition der Ministerratsprotokolle im Speziellen hat sich als explizite Markupsprache der vom Konsortium der Text Encoding Initiative (kurz: TEI) gepflegte de facto-Standard zur Textauszeichnung in XML als Zielformat sowohl für die längerfristige Archivierung als auch für die Anzeige mithilfe einer Webapplikation herauskristallisiert.Footnote 14 Aufgrund der Verfasstheit der Ministerratsprotokolle ist eine Aufarbeitung nach dem parlaFormat-Schema (Erjavec und Pančur 2019), welches Elemente des TEI-Taggings dramatischer Texte ebenso aufnimmt wie für den nonverbalen Bereich Marker aus dem linguistischen und sprechaktbezogenen Tagrepertoire der TEI-Guidelines (»es gilt das gesprochene Wort«), nicht zweckmäßig, wenn auch Überschneidungen in den Anforderungen an die Auszeichnung bestehen.

Das Datenmodell der Ministerratsprotokolle in TEI strebt nach Vermeidung unnötiger Redundanzen; es orientiert sich, was die Strukturdaten betrifft, im Wesentlichen an der Einteilung in »text divisions« (div)Footnote 15 unterschiedlichen Typs (@type) – eine Sitzung ist in Tagesordnungspunkte unterteilt. In der Mikrostruktur des Textes ist es bei dieser Textsorte Protokoll, die sich auf Treffen realer Personen bezieht, relevant, die sprechenden und handelnden Personen, ihre Rolle und institutionelle Verankerung sowie die raumzeitliche Einordnung sowohl der stattgehabten Sitzung als auch des in der Sitzung besprochenen Inhalts festzuhalten. Dies geschieht in den XML-Dokumenten über die TEI-Elemente date (Datum), rs (referencing string: Zeichenketten, die auf bestimmte benannte Entitäten wie einen Ort, eine Person oder eine Institution verweisen). Nachdem Protokolle v. a. administrativer Ereignisse grundsätzlich stabile Form und ähnliche Leerstellen aufweisen und die Aufzeichnungspraktiken seit dem späten 18. Jahrhundert dahingehend wenig voneinander abweichen, liegt ein grundlegend ähnliches Datenmodell auch anderen Protokolleditionen zugrunde, sodass die Vergleichbarkeit der Daten unterschiedlicher Quellen auch auf der technischen Ebene gegeben ist.Footnote 16

Die in den Dokumenten referenzierten Entitäten werden gemeinsam mit anderen ähnlich gelagerten Daten aus anderen Projekten in der »Modularen Prosopographischen Registratur« (MPR) kuratiert;Footnote 17 sie wurden in den vergangenen drei Jahren zunächst aus Digitalisaten von Registern der bislang gedruckten Bände importiert und sodann um Abschriften aus den Staatshandbüchern und anderen Quellen erweitert. Zum Stand August 2022 sind dort 1948 Institutionen, 1830 Personen und 1511 Orte erfasst, eine Mehrzahl davon unter Angabe von Normdatenidentifikatoren vor allem aus der Gemeinsamen Normdatei (GND) bzw. aus GeoNames zum Zweck der Desambiguierung und Identifikation der Entitäten sowie der Anbindung an externe Linked Open Data-Ressourcen.

Zur Verwaltung bibliographischer Verweise verwendet die Edition die Softwarelösung Zotero mit einer öffentlich einsehbaren Gruppenbibliothek,Footnote 18 welche über das Zotero-Plugin für MS Word und einen eigenen CSL-Formatierungsstil in die Protokolldaten eingepflegt werden. Aus den Zitationen werden über die TEI-Stylesheets XML-Processing-instructions, welche den bibliographischen Datensatz als JSON beinhalten, gefolgt von dem via CSL formatierten Eintrag. Diese Processing-instructions werden dann je nach Ausgabeformat weiter verarbeitet: Die Webapplikation erzeugt daraus Links auf die Einträge in der Zotero-Bibliothek; für die Druckausgabe werden über den CSV-Export und ein Python-Script BibTeX-Daten generiert, welche dann mithilfe eines BibLaTeX-Stils (BBX/CBX) für die Bibliografie des jeweiligen Bandes verwendet werden.

In das oben beschriebene XML-Zielformat gelangen die zunächst als Word-Dokumente vorliegenden Transkripte in einem mehrstufigen Transformationsverfahren, welches die doppelte Verwendung der Daten in der Web- und Printversion in Betracht nimmt; hier werden unter anderem Identifikatoren für einzelne Dokumente/Abschnitte/Elemente vergeben, kalendarische Daten herausgefiltert, automatisiert Links zwischen den Protokollen und zu Drittquellen v. a. aus dem ANNO-Bestand an Digitalisaten von dort erfassten Periodika gesetzt, Abkürzungen aufgelöst, Word-Formatvorlagen in TEI-Elemente verwandelt sowie die manuell vergebenen Verweise auf die vom Editionsteam verwendete Entitätsdatenbank weiterverarbeitet. Dass beim Scheren solcher Datenmengen über einen Kamm (üblicherweise umfasst ein Band der Edition im Druck zwischen 500 und 1000 Seiten) die Beschaffenheit dieses Kammes mitunter nachgebessert werden muss, versteht sich von selbst. Technisch sind diese Schritte in XSL-T implementiert.

Zu Abschluss der Arbeiten an den beiden im ersten Halbjahr 2022 in der neuen hybriden Erscheinungsweise publizierten Bände II (1868–1871) und III/1 (1871–1872) (Kletečka/Lein 2022; Koch 2022) ist vor allem die Abbildung der Registratur in das Zentrum der Aufmerksamkeit des Editionsteams geraten: die kategoriale Unterschiedlichkeit der Anforderungen an ein Register zu einem Buch im Vergleich zu den Entitätsdaten und -links bei jeder Nennung einer Person in einer Web-Ansicht. Die beiden erfüllen medial bedingt unterschiedliche Funktionen: Hover und Touch sind UX-Elemente, die sich in analoge Bücherwelten genauso wenig zurückschlagen lassen, wie die über AJAX nachgeladenen Entitätsinformationen ohne großen buchbinderischen Aufwand Ausfaltungen entsprechen können;Footnote 19 ein passables Register muss z. B. im Text genannte Eisenbahnlinien, Ministerien oder Statthaltereien thematisch zusammenhalten, es darf auch nicht jede einzelne Nennung bspw. eines häufig genannten, weil gegenwärtigen oder angesprochenen Monarchen im Register aufscheinen – seine Funktion ist, die zu einem Begriff oder einem Konzept relevanten Passagen rasch auffindbar zu machen (auch und insbesondere dort, wo sie vielleicht nur der:m mit dem spezifischen Zeithorizont des jeweiligen Bandes vertrauten Leser:in gleich erschließbar wären, wenn also Zeitgenoss:innen der k. k./k. u. k. Verwaltung selbstverständlich geläufige Personalia im 21. Jahrhundert zu Suchrätseln im Staatshandbuch werden).

Um die Auffindbarkeit auch von möglicherweise mit heutzutage nicht mehr gebräuchlichen Begriffen verhandelten Gegenständen zu gewährleisten, hat das Editionsteam unter Berücksichtigung der Register der bereits erschienenen Bände aus der ersten Serie Österreichischer Ministerrat 1848 eine im Wesentlichen der Geschäftseinteilung der Ministerien folgende Liste von Sachschlagworten erarbeitet, die verwendet wird, um zu Beginn eines Tagesordnungspunktes, bei umfassenderen Punkten, welche mehrere Materien berühren, auch zu Beginn einzelner Absätze – bei Themenwechseln innerhalb des wiedergegebenen Gesprächsverlaufs auch an beliebigen Stellen – eine Sacherschließung vorzunehmen, welche dem Publikum für Web und Print gleichermaßen zur Orientierung an die Hand gegeben wird und damit die Finde- und Navigationsmöglichkeiten erweitert.

Die in der Webansicht erwünschte und als unabdingbares feature des digitalen Möglichkeitsraums angepriesene Verlinkung von allem mit jedem stößt die Lesenden an die Grenze der Benutzbarkeit, andererseits fallen fehlerhafte oder über die Bandgrenzen hinweg inkonsistente Registereinträge – sowohl betreffend die Verweisziele, als auch die Namensschreibungen – erst bei ihrer Massierung und den Versuchen auf, sie als eindeutige Strings zu parsen, und damit mitunter 40 Jahre nach dem Erscheinen der verdienstvollen Bände.Footnote 20

Mit der Umstellung der Edition auf ein XML-gestütztes Single-Source-Verfahren bei der Erstellung auch der gedruckten Bücher (»hybride Edition«), die nach wie vor in ähnlichem Gewand erscheinen, erweiterte sich der Zuständigkeitsbereich des Editionsteams auch in Richtung der Druckvorlage, sodass eine weitere Abzweigung im Arbeitsablauf eingerichtet werden musste, die genau dieser kategorialen Unterscheidung Rechnung trägt: Die Umformung des Textes, der als Mengentext in der Edition seit jeher linear gedacht ist (die Ministerratsprotokolle-Edition verzeichnet die in den Protokollen erhaltenen Randbemerkungen und Korrekturen der Regierungsmitglieder in einem alphabetisch gezählten Fußnotenapparat), ist kein Darstellungsproblem, das sich von der linearen Ansicht eines einzelnen Protokolls unterscheidet; anders verhält es sich mit den Entitätsdaten als Grundlage für das Register. In der LaTeX-Pipeline greift das Editionsteam auf Positiv- und Negativlisten zurück, um einzelne Entitäten generalisiert ein- und auszuschließen (bspw. werden die Nennungen von »Wien«, »Franz Joseph I.« oder »Cisleithanien« ausgeschlossen und müssen an doch relevanten Stellen jeweils einzeln ›aktiviert‹ werden), zudem werden basierend auf den Entitätstypen Regeln erstellt, nach denen z. B. im Protokolltext genannte Institutionen zusätzlich oder ausschließlich Ortseinträge im Register generieren. Auch die Benennung einzelner Entitäten wird bei der automatisierten Erstellung von Registern relevant: So erhalten Personen, deren Adelsstand sich im Editionszeitraum veränderte, mitunter mehrere Bezeichner (prefLabels, bevorzugte Labels/Bezeichner), die jeweils auf den höchsten Stand zum zeitlichen Ende des Bandes (Datum des letzten edierten Protokolls) verweisen. Personenvorkommen sollten darüber hinaus mit Sachschlagworten verbunden im gedruckten Register aufscheinen, um besonders bei den Ministern eine Zuordnung zu den in einem Tagesordnungspunkt behandelten Gegenständen unmittelbar sichtbar zu machen (und für leichte Auffindbarkeit zu sorgen nach der groben Regel, dass ein Registereintrag nicht mehr als drei Seitenverweise beinhalten sollte). Technisch gelöst wird dies einerseits durch speziell benannte Relationen zwischen den in der MPR-Datenbank erfassten realen Institutionen und Klassenkonzepten, die der Einfachheit halber ebenfalls als Institutionen gespeichert werden, andererseits durch systematische Umformung bspw. von Orts- und Institutionennamen im Zuge der XSL-Transformation der XML-Daten in prozessierbare LaTeX-Dateien.

Schwundstufen und Protokollersätze

Für die Edition der cisleithanischen Ministerratsprotokolle kommen – wie oben angedeutet – weitere Komplikationen hinzu, die sich einerseits auf den Geltungsbereich der Sitzungen beziehen, andererseits auf den Erhaltungszustand der überlieferten Quellen (ein drastisches Beispiel zeigt die Abb. 4):

Abb. 4
figure 4

Protokoll vom 02.01.1896, Brandakt (AT-OeStA/AVA Ministerratspräsidium, Cisleithanische Ministerratsprotokolle, Karton 31, MRZ 1, Bild: Richard Lein, für dieses Drittmaterial gilt keine Creative-Commons-Lizenz)

Zum ersten ist mit der Einführung der sogenannten Separatprotokolle eine zusätzliche Form der Verwaltung des Regierens, wenn nicht gleich der Regierung selbst, erreicht: Ab 1896 wird der Monarch in manchen Belangen nur mehr informiert über Entscheidungen, die sachlich schon vom Kreis der Minister getroffen wurden. Die diesen Protokollen zugrunde liegenden Sitzungen sind eine neue Komponente, sie ändern die Verfasstheit der ›Governance‹. Das ist auch der Grund, warum die betreffenden Protokolle im Rahmen der Edition als Sonderfall behandelt werden.

Auch die Frage der Adressaten der Protokolle beeinflusst die Funktionsweise der Regierungsmaschinerie und ihrer schriftlich festgehaltenen Hinterlassenschaft, wie sich im Vergleich der verschiedenen amtierenden Ministerräte zeigt:

Während die Protokolle des cisleithanischen Ministerrats über die Zeit an Umfang und Genauigkeit der Wiedergabe des Diskussionsverlaufs abnehmen, was auf Bedeutungszuwachs der nachgeordneten Stellen hindeuten könnte,Footnote 21 bleibt im Gemeinsamen Ministerrat der Stellenwert des Festhaltens besprochener Materien annähernd gleich – im Abgleich zwischen den beiden Regierungen der Reichshälften werden die jeweiligen Positionen im Protokoll fast stenographisch festgehalten.

Zum zweiten ist die Editionsarbeit an der ›dritten Serie‹ komplexer wegen der angesprochenen löchrigen Überlieferungssituation des an sich zusammenhängenden Bestandes cisleithanischer Ministerratsprotokolle: Der editorische Aufwand erweitert sich durch die Suche nach Abschriften einzelner Tagesordnungspunkte in anderen Beständen oder auch anderen Archiven in den Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie, in vielen Fällen auch um das Einbeziehen älterer Sekundärquellen, die auf die 1927 verbrannten Bestandteile noch zugreifen konnten, sowie auf andere Quellgattungen wie etwa die Memoiren oder Nachlässe einzelner handelnder Personen.Footnote 22 Beispielsweise wären das für den aktuell in Arbeit befindlichen Band V (1893–1900) Ergänzungen durch die Transkription der oben erwähnten Gabelsberger-Abschriften von Hugo Pollak sowie Protokollabschriften aus dem Familiennachlass Thun. Die Quellen der Ministerratsprotokolle werden ergänzt durch Ministerratsvorträge, die zu vielen Agenden in den Ablagesystemen der Fachministerien in Kopie aufbewahrt wurden. Als geschlossener Archivbestand liegen diese für das Finanzministerium von Ende 1899 bis einschließlich 1917 vor. Wo keine Originalprotokolle oder nur Bruchstücke derselben vorliegen, haben die Vorträge der Minister einen besonderen Quellenstatus, da auf ihnen zumindest teilweise auch die Protokolle selbst beruhen bzw. beruht haben müssen.

Durch die ausgesprochen ›löchrige‹ Überlieferungssituation (Abb. 4) des an sich zusammenhängenden Bestandes der cisleithanischen Ministerratsprotokolle ergibt sich zum einen das Problem, dass jederzeit in den Beständen vieler Archive der Nachfolgestaaten, aber auch in Privatarchiven oder Nachlässen immer wieder Protokollabschriften auch nach der Fertigstellung eines Bandes auftauchen können. Zum anderen ist es möglich, auf Basis der Aktenlage den wesentlichen Inhalt der meisten der gänzlich oder großteils verbrannten Protokolle zu rekonstruieren. Die Einarbeitung späterer Fundstücke und die Rekonstruktion ist zwar nicht Teil des Arbeitsauftrages der Mitarbeiter des Editionsprojektes, dennoch ist es sinnvoll, das Datenmodell für Erweiterungen in dieser Richtung offen zu halten, damit bei Änderung der Auftragslage solche Funde und Rekonstruktionen nachgereicht werden können.

Die bereits jetzt genutzten ergänzenden Quellen, die aus einem faktisch beschränkten Kreis von Archivbeständen herrühren, noch mehr aber mögliche zukünftige Ergänzungen, deren Herkunft derzeit nicht klar definiert werden kann, machen Erweiterungen für das Datenmodell notwendig, besonders dort, wo Quellen voneinander abweichen oder Protokollteile aus mehreren Quellen rekonstruiert werden. Hier muss das TEI-Datenformat über mehrere witness-Elemente (Textzeuge) und die Auszeichnung der betreffenden Passagen mit @source-Attributen (Quellenangabe) nachgeschärft werden, um eine Zuordnung zwischen Quelle und Textbaustein zu gewährleisten.Footnote 23

Jenseits des Protokolls

Für’s Protokoll: Die angesprochenen Herausforderungen sind letztlich Details aus der konkreten Arbeit mit Daten – und mit Menschen, die die Registraturen dieser Daten verwalten wie die Protokolle, die zwischen diesen Daten vermitteln. Der Aspekt der dabei zur Anwendung kommenden Protokolle im technischen Sinn musste weitgehend ausgeblendet bleiben, es steht aber fest, dass auch diese menschengemachte und damit Akteuren verpflichtete Regelsätze sind. Die Neutralität der Infrastruktur gegenüber den in ihr abgelegten und verwalteten Inhalten ist ein hohes Gut.

Obwohl sich die Datenströme aus den historischen Ministerratsprotokollen nicht tagesaktuell ändern (um bspw. KontumazbestimmungenFootnote 24 nachzujustieren), sondern nur in größeren Blöcken ergänzt werden, welche den neu erscheinenden Bänden entsprechen, sind ihre Inhalte über eine Programmierschnittstelle (API) abgreifbar. Damit wird in der späten Rückschau den Protokollen – sie waren Verschlusssache! – auch ein maschinenlesbares Protokoll überstülpt, das hoffentlich auch weiter Zustimmung und Aufmerksamkeit erfahren wird.Footnote 25