Die Kabinettskanzlei war eine Schaltstelle im Regierungssystem der Habsburgermonarchie. Dort liefen Gesetze, Verordnungen, aber auch einzelfallbezogene Entscheidungen der Regierungsstellen ein, um die Sanktion des Kaisers zu erhalten. Eine große Zahl an Bittschriften erweiterte den rasch zunehmenden Einlauf, der für den Kaiser aufbereitet werden musste. Als moderne Organisation hatte sie klar definierte Aufgaben, einen Personalstab und durch Instruktionen festgelegte Arbeitsabläufe.Footnote 1

Für einen Ethnographen, der sich für die Regierungstätigkeit der Habsburgermonarchie und die Rolle des Kaisers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert hätte, wäre die Kabinettskanzlei ein ähnlich spannendes Untersuchungsfeld gewesen, wie der Conseil d’État für den französischen Anthropologen Bruno Latour. Er hat die Fremdheit der Verfahren dieser obersten verwaltungsrechtlichen Instanz in Frankreich zum Ausgangspunkt genommen, um die spezifischen Denkstile der Mitglieder und die Eigenlogik rechtsstaatlicher Verfahren zu rekonstruieren (vgl. Latour 2002, 261–269).Footnote 2 Unser Ethnograph wäre ebenso fasziniert gewesen von der Verwaltungskultur der Kabinettskanzlei. Er hätte die hoch dekorierten Beamten und ihre Aktivitäten am Schreibtisch wie im Vorzimmer des Kaisers bei den Audienzen aufmerksam verfolgt. Er wäre zweifellos ebenso wenig der Gefahr einer Exotisierung erlegen wie Bruno Latour in seiner Feldarbeit im Conseil d’État. Unser Ethnograph hätte die Feldarbeit und die daran anschließenden Reflexionen genutzt, um die Praxis des Regierens in ihrer Eigenlogik und ihrer Veränderung zu erfassen.

Mit diesem fiktiven Ethnographen habe ich mein eigenes analytisches Interesse an der Kabinettskanzlei umrissen. Ich bin inspiriert von den ethnographischen Studien von Behörden, kann deren methodische Anregungen allerdings nur bedingt umsetzen. Der Zugang zum Feld ist durch die zeitliche Distanz ausgeschlossen. Als Historiker muss man deshalb die Logik des Regierens mit anderen Strategien erschließen. Ich nutze die Aufzeichnungen der Kabinettskanzlei, um den Beamten bei ihrer Arbeit gewissermaßen über die Schulter zu schauen. Die Protokollbücher vermitteln einen einzigartigen Blick auf die gesamte Regierungstätigkeit in der Zeit von Kaiser Franz Joseph, weil alle Gesetze, Verordnungen, aber auch einzelfallbezogene Entscheidungen der Regierungsstellen die Zustimmung des Kaisers erforderten.Footnote 3 Die Geschäftsbücher der Kanzlei wurden nicht eingerichtet, um die Regierungstätigkeit zu dokumentieren, sondern für die Steuerung der eigenen Verwaltungstätigkeit.Footnote 4 Die Beamten der Kabinettskanzlei führten nicht nur das zentrale Protokollbuch, sondern auch eine Reihe von spezialisierten Geschäftsbüchern, in denen die interne Kommunikation (Korrespondenzprotokolle), die Bittschriften an den Kaiser (Bittschriftenprotokolle) und die Angelegenheiten des kaiserlichen Hauses und des Hofes (Separatbillettenprotokolle) eingetragen wurden. Das unterstreicht den ubiquitären Charakter dieser Bücher zur Bewältigung einer rasch zunehmenden Geschäftstätigkeit. Sie folgen in ihrer Gestaltung der Diagrammatik des Formulars, dienen allerdings nicht der Gewinnung von Information, sondern der Steuerung von Abläufen.Footnote 5

Mein Beitrag setzt sich nicht systematisch mit diesen Tools und ihrem Format auseinander. Ich interessiere mich für jenen Teil der Geschäftsbücher, in denen die als Vorträge bezeichneten, schriftlichen Eingaben an den Kaiser verzeichnet und deren weitere Bearbeitung und Erledigung dokumentiert sind. Die sich über eine Doppelseite erstreckenden Einträge protokollierten sorgfältig alle Vorgänge und die einzelnen Bearbeitungsschritte. Das unterstreicht deren Bedeutung für die Verfahrenssteuerung. In dieser Hinsicht haben die Geschäftsbücher eine aktive, steuernde Funktion wie die Protokolle im engeren Wortsinn, ja sie teilen sogar deren performativen Charakter. Für den Historiker ermöglichen sie eine Art ethnographischen Blick auf jene Abläufe in der Kabinettskanzlei, die auf den Kaiser als Entscheider bezogen sind. Sie vermitteln außerdem einen ersten Eindruck von der Integration der kaiserlichen Entscheidungstätigkeit in ein Netzwerk von Akteuren. Das erschließt neue Perspektiven auf die Beteiligung des Kaisers an der Regierungstätigkeit (vgl. dazu Becker und Osterkamp 2022).

Wie lässt sich die Funktionsweise dieser Protokollbücher kurz zusammenfassen? Sie dokumentierten Verwaltungsabläufe auf einer Meta-Ebene, die durch Verdichtungen und Übersetzungen der einzelnen Verfahren bestimmt war. Die Einträge in die Protokollbücher bildeten jene Informationen in einer hoch standardisierten Form ab, die durch die Beamten der Kabinettskanzlei selbst erzeugt worden waren. Zu ihren Aufgaben gehörte die Erstellung eines reflektierten und kommentierten Auszugs aus dem an den Kaiser eingereichten Aktenkonvolut. Diese Auszüge definierten gemeinsam mit den Audienzen den Erfahrungsraum, in dem der Kaiser täglich seinen Ländern und Untertanen begegnete (vgl. Bled 1987, Kap. 8; Spitzmüller 1935, 7).

Die Auszüge als Kurzform der schriftlichen Vorträge sind immer noch in dem wohl sortierten Archiv der Kabinettskanzlei aufbewahrt.Footnote 6 Sie waren die Grundlage der Operationen in der Kabinettskanzlei. Ihre Bewegung bis hin zu dem Schreibtisch des Kaisers wurde penibel in den einzelnen Spalten des Geschäftsbuchs verzeichnet. Das ermöglichte eine flexible Steuerung von Verfahren und eine effiziente Orientierung in dem rasch wachsenden Akten-Universum der Kabinettskanzlei.

Protokollbücher der Kabinettskanzlei – Steuerungsinstrumente im Wandel?

Der ethnographische Blick auf die Abläufe in der Kabinettskanzlei ist letztlich immer auf den Kaiser gerichtet. Er war am Ende einer fast siebzigjährigen Herrschaftszeit die Identifikationsfigur der Habsburgermonarchie und wandelte sich vom aktiven Gegner einer konstitutionellen Ordnung zu deren Verwalter, was seine Entscheidungspraxis mitbestimmte (vgl. Redlich 1929, Kap. 7 und 9). Die letzten Jahre seiner Herrschaft waren allerdings durch die Ausschaltung des Parlaments und eine zunehmende Dominanz des Militärs in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geprägt (vgl. Deak 2017).

Kaiser Franz Joseph stand für Kontinuität in einer Zeit des raschen Wandels. Es benötigt keinen ethnographischen Blick, um sein distanziertes Verhältnis zu technologischer Innovation zu ermitteln. Der Einführung der Schreibmaschine in seinem unmittelbaren Arbeitsumfeld widersetzte er sich lange. Diese konservative Einstellung hatte deutliche Auswirkungen auf die bürokratische Praxis der österreichischen Staatsverwaltung und vor allem auf die medientechnologische Unterstützung der Abläufe in der Kabinettskanzlei. Grundlegende Neuerungen in der Aktenführung, der Registratur und dem Einsatz neuer Technologien wurden mit Rücksicht auf ihn aufgeschoben.Footnote 7 Die bürokratische Persona des Kaisers erschließt sich ebenfalls ohne teilnehmende Beobachtung. Er war der selbstbewusste bürokratische Ankerpunkt der Monarchie. Nicht zufällig hatte er sich auf dem Volkszählungsbogen vom 1910 als »selbständiger Oberbeamter« bezeichnet (Heindl 2013, 92).

Trotz der Verfassungsänderungen, die seine Herrschaft bestimmten, blieb er formal der Letztentscheider – eine Funktion, die er als Verwaltungsaufgabe verstand und entsprechend wahrnahm. Die legendenhaften Berichte über seinen Alltag enthalten immer Verweise auf die Arbeitsdisziplin, den frühen Arbeitsbeginn am Schreibtisch, die selbst auferlegte Verpflichtung, die Aktenberge rechtzeitig abzuarbeiten. Für seinen Nachfolger war diese Schreibtischroutine nicht mehr attraktiv – er delegierte die Aktenarbeit an den Direktor seiner Kabinettskanzlei (vgl. Reinöhl 1963).

Kaiser Franz Joseph war mit einer rasch steigenden Flut an Akten konfrontiert, die sich täglich auf seinem Schreibtisch einfanden, ohne Rücksicht auf seine sonstigen Verpflichtungen zu nehmen. In der Graphik (s. Abb. 1) erkennt man die dauernden Bemühungen der Kabinettskanzlei und der Regierung, durch Verfahrensänderungen und durch die Delegation von Entscheidungskompetenzen des Kaisers an untergeordnete Stellen diese Flut einzudämmen. Die Graphik bringt aber auch deutlich zum Ausdruck, dass die Bemühungen um eine Reduktion des Arbeitsvolumens eine Sisyphusarbeit war. Da es bis 1914 keine strukturellen Eingriffe in die Zuständigkeiten des Kaisers gab, wurde die Zunahme unterbrochen, erreichte aber rasch wieder den Stand vor der Verfahrensänderung.Footnote 8

Abb. 1
figure 1

Anzahl der Vorträge pro Jahr

Kaiser Franz Joseph verbrachte viel Zeit am Schreibtisch, einige ikonische Bilder zeigen ihn in dieser Position. Er hatte allerdings zahlreiche Schreibtische, an denen er sein Leben verbrachte. Der fiktive Ethnograph hätte für seine ethnographische Studie der Entscheidungstätigkeit des Kaisers viel Zeit auf Reisen verbracht. Die Akten folgten dem Kaiser an seine jeweiligen Aufenthaltsorte nach. Selbst wenn man Wien (Hofburg) und Schönbrunn zusammenzählt, ergibt das nur einen Anteil von 65 % aller Erledigungen. Die anderen 35 % der Vorgänge erledigte der Kaiser in Bad Ischl (knapp 7 %), aber auch auf Reisen etwa in Paris, wo ihn 176 Aktenpakete zusätzlich zu den diplomatischen Unterlagen erreichten und von ihm umgehend erledigt und retourniert wurden.

Kaiser Franz Joseph war durch ein ausgeklügeltes System von Kurieren mit der Kabinettskanzlei in einer ähnlichen Weise vernetzt, wie der heutige Telearbeiter mit dem Server des Arbeitgebers. Die Verbindung des Kaisers war jedoch deutlich exklusiver und langsamer. Betrachtet man das Netzwerk genauer, das den Entscheidungsprozess des Kaisers strukturierte, treten rasch Akteure von außerhalb der Kanzlei in den Blick. Wo immer der Kaiser an einem Schreibtisch saß, stand dieser am Ende einer langen Kette von Schreibtischen von Behörden und Hofstellen. Dort erhoben Beamte in schriftlichen Verfahren die Sachverhalte, legten umfangreiche Protokolle an und holten Stellungnahmen von untergeordneten Stellen, von Kammern und Beiräten ein. Diese erste Schicht von Erheben, Verdichten und Übersetzen erreichte dann den nächsten Schreibtisch, entweder in einer Statthalterei oder bereits in einem Ministerium. Dort wurde das Aktenkonvolut geöffnet, evaluiert, allenfalls zusätzliche Erhebungen vorgenommen und vor dem Hintergrund einer breiteren Verfahrenskenntnis und einem vertieften Wissen über die normativen Grundlagen des Verfahrens sowie der oberstgerichtlichen Entscheidungen eine weitere Schicht von juristischer Abstraktion und Übersetzung über das nun bereits angewachsene Konvolut gelegt und an den nächsten Schreibtisch weitergereicht.

Die Kabinettskanzlei ermöglicht einen Zugang zur Logik bürokratischen Schreibens, der im Gegensatz zu bestehenden Studien (vgl. Vismann 2000; Becker 2011a) die Kommunikation innerhalb der Behördenhierarchie zum Thema macht. Die Mitarbeiter der Kabinettskanzlei hatten einen geschulten Blick für die Übersetzungsleistungen und prüften deren Kohärenz. Sie erstellten auf dieser Grundlage einen Auszug, der als letzte Schicht von Abstraktion und Übersetzung über den Akt gelegt wurde, bevor er auf dem Schreibtisch des Kaisers landete.

Welche Rolle spielten die Mitarbeiter der Kabinettskanzlei in diesem kollektiven bürokratischen Schreibprozess? Sie hatten nicht die Aufgabe eines Verwaltungsgerichts. Deshalb überprüften sie nicht die Rechtsanwendung durch das Abwägen der unterschiedlichen Normenbestände.Footnote 9 Sie schrieben den Akt auch nicht fort, wie das auf den anderen Schreibtischen praktiziert wurde. In der Kabinettskanzlei wurde der Akt auf einer Metaebene dekonstruiert und analytisch kommentiert. Im Vordergrund stand die Evaluierung der von der einreichenden Stelle und deren untergeordneten Behörden vorgenommenen Übersetzungen. Stimmten sie mit der Aktenlage überein, wurden alle relevanten Stimmen in die Entscheidung mit einbezogen, war die vorgeschlagene Resolution stimmig?Footnote 10

Kaiser Franz Joseph war auf diese Vorarbeiten für seine Entscheidungsfindung angewiesen. Seinen Schreibtisch passierten mehr als 300.000 Vorgänge, die in 137 dickleibigen Protokollbänden verzeichnet waren. Für den ethnographisch inspirierten Blick ist die zusätzliche Vernetzung mit vergleichbaren Fällen interessant, die – wie in jedem anderen Amt – durch die Bereitstellung von Vorakten konkret umgesetzt wurde. Dadurch erhielt der Kaiser im jeweiligen Entscheidungsprozess Zugriff auf frühere Entscheidungen (Reinöhl 1963, 66 f., 224; Hochedlinger 2014, 62 f.). Die Registratur der Kabinettskanzlei verzeichnete Vorakten und selbst Nachakten, d. h. spätere Vorgänge mit demselben thematischen Bezug, akribisch in dem Protokollbuch.

Michael Hochedlinger sieht aus aktenkundlicher Sicht die Praxis des Priorierens, d. h. die Ermittlung von Vorakten, als wichtige Voraussetzung für die Rechtsstaatlichkeit von Verwaltung im 19. Jahrhundert (Hochedlinger 2014, 62). In diesem Sinn leistete die Registratur einer Behörde einen wesentlichen Beitrag für die Sicherstellung einer einheitlichen Beurteilung und damit für die Legitimität einer rechtsstaatlichen Verwaltung. Die verstärkte Einheitlichkeit der Willensbildung auf einer unteren Hierarchiestufe war wichtig, blieb aber letztlich auf den Zuständigkeitsbereich der einzelnen Behörde beschränkt. Sie ließ sich nicht auf das gesamte Staatsgebiet übertragen, wie zeitgenössische Kommentatoren beklagten.Footnote 11 Die Kabinettskanzlei leistete einen deutlich größeren Beitrag zu einer Einheitlichkeit der Willensbildung. Die Entscheidungen des Kaisers, die mit Hilfe des Priorierens vereinheitlicht wurden, bezogen sich auf das gesamte Staatsgebiet und zwar nach 1867 sowohl der österreichischen als auch der ungarischen Reichshälfte.

Das Protokollbuch und die Strukturierung der Arbeitsabläufe

Die Kabinettskanzlei war organisatorisch eine hybride Organisation, die nicht im Geheimen operierte, aber in ihrer Funktionsweise von den Medien nur sporadisch thematisiert wurde.Footnote 12 Die Kabinettskanzlei gehörte weder zur Staats- noch zur Hofverwaltung. Unmittelbar nach der Revolution von 1848/49 stand sie in einem Konkurrenzverhältnis zur Kanzlei des Ministerrates und später der Ministerkonferenz. 1852 reduzierte der Kaiser die Zuständigkeiten der Ministerratskanzlei und löste diese 1858 endgültig auf. Ab diesem Zeitpunkt war die Kabinettskanzlei die alleinige Schaltstelle, an der die Eingaben an den Kaiser bearbeitet wurden. Die Kabinettskanzlei setzte jedoch die bürokratische Logik fort, wie sie in der Ministerratskanzlei entwickelt worden war.Footnote 13 Sie nutzte ihre Protokolle (s. Abb. 2) zur Dokumentation und Strukturierung des Arbeitsablaufs. Diese Aufzeichnungen stellen eine gute Ausgangsbasis für den ethnographischen Blick auf die Praxisformen der Kanzlei bereit.

Abb. 2
figure 2

Kabinettskanzlei Protokoll 1879, Bd. 2;Footnote

Archivsignatur: AT-OeStA/HHStA KA Kabinettskanzlei Protokolle 63, 1879, Band 2.

durch das Haus-, Hof- und Staatsarchiv freigegeben für CC-BY 4.0 (Bild: Peter Becker)

Am Beginn jedes Eintrags, der sich auf die gesamte Doppelseite des Protokollbuchs erstreckt, steht eine Ordnungszahl, die bei späteren Verweisen zum Bezug auf einen Vorakt verwendet wird. In der zweiten Zeile finden wir bereits einen solchen Hinweis, der sich auf zwei Vorakte bezieht. Solche Verweise waren nicht selten. Sie finden sich in 20 % (exakt: 19,5 %) aller Einträge. Das zeigt einen wichtigen Aspekt dieser Protokollbücher auf: sie waren nicht nur als Kontrollinstrument, sondern als aktive Unterstützung eines standardisierten Entscheidungsprozesses gedacht. Das setzte eine hohe fachliche Kompetenz der Mitarbeiter und ein hervorragendes Indizierungssystem voraus. Beides war gegeben.

Die Kabinettskanzlei verarbeitete die Eingaben, die als Vorträge an den Kaiser gerichtet waren. Das lässt sich der zweiten Spalte entnehmen. Sie dokumentierte die relevanten Basisinformationen. Dazu zählte die Bezeichnung der Stelle, das Datum und die Aktenzahl der einreichenden Stelle. Nach der Zustellung der Resolution wurde das Aktenkonvolut an diese Stelle retourniert. In der Kabinettskanzlei verblieb lediglich die Übersetzung des Aktes in Form des bereits angesprochenen Auszugs durch den Mitarbeiter der Kabinettskanzlei. Sein Text bleibt bis heute der Bezugspunkt, wenn man sich mit der Regierungstätigkeit der Habsburgermonarchie aus der Perspektive des Kaisers beschäftigt.

Interessant sind in diesem Zusammenhang all jene Fälle, in denen das Formular zur Erfassung der Einreichung zu wenig Raum bereitstellte, weil etwa neben der offiziell einreichenden Stelle die Vorlage an die Kabinettskanzlei durch einen anderen Funktionsträger erfolgt war. In einem narrativ gestalteten Einlaufprotokoll wäre es unproblematisch, die Eingabe einer ungarischen Stelle zu verzeichnen, die außerhalb des bürokratisch definierten Weges durch einen eng mit dem Hof verbundenen ungarischen Mittelsmann eingereicht wurde. Das Formular stellte für dieses Durchbrechen der bürokratischen Routine jedoch keinen Raum bereit. Es wurde die Einreichung daher doppelt verzeichnet. In dem Feld der Eingabe erscheint die Stelle, die für die Übermittlung des Vortrags zuständig gewesen wäre. Außerhalb des Formulars, in den linken Rand, notierte man den tatsächlichen Überbringer des Vortrags und dessen Stellung innerhalb des Verfahrens. Diese Randnotiz im besten Wortsinn verweist auf den Anspruch der Protokollführung, alle Meta-Informationen, die für die Zuordnung des Vorgangs maßgeblich waren, zu erfassen – auch wenn diese nicht bei der Konzeption des Formulars berücksichtigt wurden.Footnote 15

Wer waren die Mitarbeiter der Kabinettskanzlei, die mit großer Disziplin und Engagement die bürokratische Entscheidungstätigkeit des Kaisers unterstützten? Sie wurden aus den staatlichen Behörden an die Kanzlei einberufen, ohne dass sie ein formales Aufnahmeverfahren absolviert hätten. Sie verfügten über hohe fachliche Kompetenz und profitierten von der Nähe des Kaisers, die in Auszeichnungen und Ordensverleihungen ihren sichtbaren Ausdruck fand. Sie waren in der Kabinettskanzlei als Generalisten tätig und deshalb nicht für einen speziellen Politikbereich zuständig.Footnote 16

Ihre Aufgabe in der Vorbereitung von Entscheidungen bestand vor allem in der Erstellung eines Auszugs, d. h. einer kurzen Zusammenfassung der eingereichten Akten. Sie mussten auf wenigen Seiten komplexe Sachverhalte – die Gründe für die Aufhebung einer Todesstrafe, die Genehmigung von komplexen Finanzinstrumenten, aber auch die Bewilligung von Eisenbahnkonzessionen – zusammenfassen und dabei eine erste Würdigung des vorliegenden Akts vornehmen. Die Würdigung betraf die Frage nach der Beteiligung der für eine Entscheidungsfindung relevanten Interessen, die Kongruenz zwischen der Aktenlage und der Empfehlung, sowie die Abstimmung mit anderen Ministerien, falls erforderlich.Footnote 17 Teil dieser Auseinandersetzung mit dem eingereichten Vortrag war die Erstellung eines kuren Regestes für das Protokollbuch, das den Gegenstand des Vortrags kurz beschrieb.

Blättert man durch das Protokollbuch und konzentriert sich auf die Regesten, ist man beeindruckt von der breiten Palette an Themen, die ohne erkennbare Schwerpunktbildung täglich an den Kaiser gelangten. Wenn man von der Lektüre des Protokollbuchs zu dessen statistischer Analyse wechselt, lassen sich Änderungen in den thematischen Schwerpunkten im Sinne der vertretenen Politikfelder erkennen. Damit ist eine zusätzliche Ebene der ethnographischen Untersuchung angesprochen. Meine teilnehmende Beobachtung beschränkt sich nicht auf die Arbeitsabläufe der Kanzlei, sondern erstreckt sich auf den Kaiser selbst. Mit der statistischen Auswertung seiner Entscheidungstätigkeit kann ich gewissermaßen dem Kaiser im Zeitraffer für seine gesamte Regierungszeit über die Schulter blicken (s. Tab. 1).

Tab. 1 Logistisches Regressionsmodell zu Politikfeldgruppen

Die Meta-Ebene der Protokollbücher stellt eine ausgezeichnete Basis dar, um die Regierungstätigkeit der Habsburgermonarchie und die Rolle des Kaisers aus einer synoptischen Perspektive zu analysieren. Ausgangspunkt für die statistische Analyse ist die Kodierung der Vorträge, wobei die Zuordnung zu einzelnen Politikfeldern anhand des kurzen Regests erfolgte. Diese Analyse baut somit auf der Abstraktionsleistung der Mitarbeiter der Kabinettskanzlei auf, die durch interne Revisionen auf ihre Stimmigkeit hin überprüft wurde.Footnote 18 Dennoch muss man sich im Blick auf die Ergebnisse der statistischen Analyse immer vor Augen halten, dass sich die statistisch ermittelten Veränderungen der Regierungstätigkeit auf die Kodierung von Regesten beziehen, die von Mitarbeitern der Kabinettskanzlei erstellt wurden.

Die Resultate der statistischen Analyse (Tab. 1) bestätigen weitgehend die bisherige Einschätzung der Regierungstätigkeit, eröffnen jedoch neue Perspektiven. Die Neuordnung des Staates und die Suche nach einem Ausweg aus der Finanzkrise dominierten deutlich die Regierungstätigkeit der 1850er Jahre.Footnote 19 Mit etwas mehr als 295 Gesetzen und Verordnungen pro Jahr wurde in dieser Zeit, in der die Regierung und der Kaiser auf die Mitwirkung eines gewählten Parlaments verzichteten, eine Produktivität im Bereich der Gesetzgebung erreicht, die erst zu Beginn des Krieges 1914 übertroffen wurde.Footnote 20 In dieser Zeit entschied der Kaiser, unterstützt durch den Reichsrat unter der Leitung des Freiherrn von Kübeck, auffallend eigenständig. Das zeigt sich an der, immer nur relativ gedachten, häufigen Ablehnung von Resolutionen, wie sie von den Ministerien vorgeschlagen worden waren und in der eigenständigen Erledigung von Vorträgen.Footnote 21

Die politisch sensiblen Vorgänge in der Kabinettskanzlei waren eng verzahnt mit den Debatten im Ministerrat oder der Ministerkonferenz. Wer die eigenständigen bzw. ablehnenden Entscheidungen des Kaisers verstehen will, darf sich nicht auf die Vorgänge in der Kanzlei beschränken, sondern muss die Stellungnahmen der anderen Akteure mit einbeziehen. Verfolgen wir aus dieser Perspektive die Bemühungen des Justizministers, die notwendig gewordene Neuorganisation der Justizverwaltung in Galizien nach seinen Vorstellungen umzusetzen. Seine Pläne wurden vom Ministerrat unterstützt, vom Kaiser jedoch verworfen. Dieser teilte dem Justizminister mit, dass sein Konzept finanziell nicht realisierbar wäre. Er lehnte daher den Antrag des Justizministers ab, wobei diese Ablehnung im Zusammenhang mit den konkurrierenden Vorstellungen von Ministerrat und Reichsrat zur Neuorganisation der Justiz gesehen werden muss (vgl. Kletečka, 2014, 101–104). Der Justizminister diskutierte am 18. Oktober 1850 einen revidierten Vorschlag im Ministerrat, der gemeinsam mit dem Finanzminister und »Vertrauens- und Fachmännern, welche die Verhältnisse des Landes genau kennen«, erarbeitet worden war. Dieser Vorschlag fand schließlich die Zustimmung des Kaisers.Footnote 22

Die zaghaften, wenn auch nachhaltigen Schritte hin zur Rückkehr zu einem konstitutionellen System nach der Niederlage im Krieg von 1859 waren begleitet von einer deutlich verringerten legislativen Tätigkeit, die sich auf etwa 130 Gesetze und Verordnungen pro Jahr reduzierte (vgl. Adlgasser et al. 2015, XXVII–XXXVII; Rumpler 2015, 14–17; Judson 2015; vgl. auch Brauneder 2014, 127–134). Der Wille des Kaisers zum eigenständigen Handeln setzte sich nach der Niederlage von Solferino fort, wenn auch in deutlich geringerer Form.Footnote 23 Die thematischen Schwerpunkte der Regierungstätigkeit lagen vor allem in den Bereichen Schule und Kirche. Dazu trugen die Konflikte um die Stellung der Protestanten in den österreichischen wie den ungarischen LändernFootnote 24 ebenso bei wie die Neuregelung des Unterrichtswesens durch die Auflösung des Kultusministeriums, die Einrichtung eines Unterrichtsrates sowie die Neugestaltung der Finanzierung von Schule und Kirche auf lokaler Ebene. Die Übertragung des Unterrichtswesens in die Kompetenz der Länder im Jahr 1860 und deren bildungs- und sprachpolitischen Initiativen trugen ebenso wie die beginnenden Organisationen der Lehrer zu einer Stärkung dieses Politikfeldes am Schreibtisch des Kaisers bei. Die Verlagerung der schul- und vor allem sprachpolitischen Agenden auf die unterste Ebene der Verwaltung machte diese zum Ansatzpunkt für nationalistische Bildungspolitik und führte damit zum erneuten Bedeutungsanstieg dieses Politikfelds in Zeiten intensivierter Nationalitätenkonflikte.Footnote 25

Nach der Niederlage gegen Preußen und dem Ausgleich mit Ungarn gab es eine Phase einer langen und stabilen Regierungstätigkeit. Das schlug sich in einer leicht gestiegenen legislativen Tätigkeit (ca. 155 Gesetze und Verordnungen pro Jahr) und in einer deutlich reduzierten Bereitschaft des Kaisers nieder, die Resolutionsentwürfe seiner Minister abzulehnen bzw. eigenständig zu entscheiden. Die Neugestaltung der parlamentarischen Mitbestimmung drückte sich in einer deutlichen Stärkung dieses Politikbereichs aus, wenngleich die Wahlreform unter Taaffe und die Konflikte innerhalb des böhmischen Landtags zwischen Deutschen und Tschechen in den 1880er Jahren zu einer noch stärkeren Akzentuierung dieses Politikbereichs führten (vgl. Höbelt 2015). Aufschlussreich ist die starke Bedeutung von Symbolpolitik ab den 1890er Jahren, wobei das Regierungsjubiläum 1898 mit allen seinen Veranstaltungen sicherlich einen wichtigen Beitrag leistete.Footnote 26 Aus einer regionalen Perspektive ist auffällig, dass die böhmischen Länder keine vorherrschende Rolle eingenommen hatten, sondern Niederösterreich mit Wien dominierte. Das ist deshalb interessant, weil damit das stärkere Engagement im Bereich der Symbolpolitik in diesen politisch krisenhaften Jahrzehnten nicht die Krisengebiete, sondern die Zentren der politischen Inszenierung bevorzugt hatte.Footnote 27

Der Spielraum für negative bzw. eigenständige Entscheidungen durch den Kaiser reduzierte sich mit der Konstitutionalisierung ab den 1860er Jahren. Die verstärkte Zustimmung zu den Vorschlägen der Ministerien drückte auch ein erhöhtes Vertrauen des Kaisers in die Funktionsfähigkeit der Regierung und des politischen Systems aus. Das zeigt sich an der negativen Korrelation zwischen Stabilität der Regierung und des Parlaments einerseits und der Wahrscheinlichkeit einer negativen bzw. eigenständigen Entscheidung des Kaisers andererseits. Das Vertrauen des Kaisers in die Regierung wurde von Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal in einer Unterredung mit Joseph Redlich explizit angesprochen, jedoch zu einer Zeit, als dieses Vertrauen im Vergleich mit der Regierung Taaffe bereits deutliche Brüche erhalten hatte. Aehrenthal betonte im Jahr 1909, »dass die Regierung an der Krone eine feste Stütze habe« (Fellner und Corradini 2011, 265).Footnote 28 Das widerspricht der deutlich gestiegenen Tendenz zur Ablehnung von Vorlagen der Regierung. Mehr als 15 % aller negativen Resolutionen fielen in diesen Zeitraum.Footnote 29

Der bisherige Blick über die Schulter des Kaisers hat sich auf die Eigenständigkeit und den thematischen Bezug der Entscheidungen konzentriert. Verfolgt man zusätzlich die Art der Vorgänge, die auf seinem Schreibtisch landen, wird ein weiterer wichtiger Aspekt des Regierungs- und Herrschaftssystems der Habsburgermonarchie sichtbar. Die Kabinettskanzlei bereitete vor allem Einzelfallentscheidungen für den Kaiser vor. Mehr als 90 % (exakt 92,9 %) aller Vorträge, die auf dem Schreibtisch des Kaisers landeten, betrafen die Bereitstellung von Unterstützungsleistungen für einzelne Personen (vor allem mit einem Bezug zum öffentlichen Dienst), das Mikromanagement von Behörden sowie die Verleihung von Orden und Auszeichnungen. Der Kaiser klammerte sich an die breite Palette an Entscheidungen, die ihm noch aus der Zeit seiner Vorgänger vorbehalten war. Das betraf etwa studienrechtliche Fragen (Wiederantritt bei negativer Staatsprüfung, Zulassung von verheirateten Kandidaten für das Studium der Chirurgie) sowie die Besetzung von einzelnen Stellen (vgl. Reinöhl 1963, 184, 192). Die zunehmende Arbeitsbelastung zwang den Kaiser, einige dieser Entscheidungen an untergeordnete Stellen zu delegieren. Die Zuerkennung von Gnaden und die Auszeichnung von verdienten Personen blieb jedoch in der exklusiven Kompetenz des Kaisers; auf diese Herrscherrechte »blieb er von allem Anfang eifersüchtig bedacht«, wie Erich Graf Kielmansegg notierte (Kielmansegg 1966, 33). Doch stellte sich in diesem Bereich dasselbe Problem, das selbst im Bereich der Nobilitierungen zum Tragen kam: der Kaiser benötigte Informationen über jene Personen, die für einen Gnadenerweis, eine Auszeichnung oder die Erhebung in den Adelsstand infrage kommen würden. Die Minister sollten deshalb in ihren Vorträgen derartige Anregungen einbringen, eine Diskussion dieser Agenden durch den Ministerrat bzw. die Ministerkonferenz verstand der Kaiser dagegen als Einmischung in seine Rechte als Souverän – »da sie allein Ausfluß der kaiserlichen Gnade sind«.Footnote 30

Über die kaiserliche Gnade entschied allein der Kaiser, über die Begünstigten entschieden die Ministerien, weil sie alleine über das Informationsnetzwerk verfügten, um die besonders verdienstvollen Staatsdiener und Zivilpersonen zu identifizieren bzw. die Zuverlässigkeit der Angaben von Bittstellern zu überprüfen. Der Kaiser überprüfte seinerseits die Argumentation der Minister und etablierte laut Erich Graf Kielmansegg, dem Statthalter von Niederösterreich, ein informelles Quotensystem. Ein Minister konnte nur einmal pro Woche einen derartigen Antrag stellen (Kielmansegg 1966, 29, 50 f.).

Die präsentierte Seite aus dem Protokollbuch (Abb. 2) dokumentiert einen Vortrag, der für diese Art von Eingaben typisch war. Unter Kabinettszahl 2918 sind drei derartige Vorgänge in einem Vortrag zusammengefasst. Bei Einzelfallentscheidungen wurde ein solcher Sammelvorgang immer häufiger verwendet, um die rasch steigende Zahl an Vorgängen in den Griff zu bekommen (vgl. Reinöhl 1963). Die Steigerung der Zahl schriftlicher Vorträge war ein Resultat der erweiterten Staatstätigkeit aber auch der spezifischen Abläufe in der Kabinettskanzlei. Sie war mit vielen Einzelfallentscheidungen zweimal befasst. Darauf verweist im Protokollbuch ein Kürzel, das eine Entscheidung referenziert, die dem Vortrag zeitlich vorausgegangen war. Mit dem Kürzel »Ab Imp« wird die Beurteilung einer Bittschrift angezeigt, die dem Kaiser bereits vorgelegen war – und ihn außerhalb des Informationsflusses erreicht hatte, der durch das Protokollbuch der Kabinettskanzlei strukturiert wurde. Bittschriften wurden getrennt protokolliert und vom Kaiser einer Art Triage unterzogen. Die von ihm als höchst relevant identifizierten Petitionen erhielten das bereits erwähnte Kürzel zugewiesen. Sie wurden an die zuständigen Behörden zur Evaluierung der in den Bittschriften angesprochenen Ansprüche und deren Begründungen weitergeleitet. Die Beurteilung durch die Behörden erfolgte in Form eines Vortrags, der in das Protokollbuch der Kabinettskanzlei eingetragen wurde und dann erneut auf dem Schreibtisch des Kaisers landete.Footnote 31

Die Kabinettskanzlei war der Ort, an dem sich mehrere Informationsflüsse überkreuzten. Die mit dem Hinweis auf das Kürzel »Ab Imp« angesprochenen Bittschriften erreichten die Kabinettskanzlei und den Kaiser, ohne eine vorausgehende Übersetzung erfahren zu haben. Sie waren der direkte Ausdruck eines Begehrens, das allerdings in einer Sprache präsentiert wurde, die durch das Genre der Bittschriften bereits strukturiert war. Für eine Entscheidung durch den Kaiser war dieser unmittelbare Ausdruck unzureichend. Er benötigte die trügerische Sicherheit der behördlichen Übersetzung, d. h. der bürokratischen Erhebungen und amtlichen Einschätzung von Bedürftigkeit und Würdigkeit der Bittsteller.

Die Kabinettskanzlei beschränkte sich in ihrer Dokumentation auf die bürokratischen Erhebungen und Übersetzungen. Ihre Aufzeichnungen bieten allerdings ein erhebliches Mehr an Informationen, mit denen man die Einbettung der Entscheidungsprozesse nicht nur in die Informationsflüsse – formal wie informell – der Kabinettskanzlei, sondern ebenso in gesellschaftliche und wirtschaftliche Netzwerke verfolgen kann. Einen ersten Anhaltspunkt bietet das pointiert gestaltete Regest des Vorgangs. Es verzeichnet im Fall von Gnadengaben die Akteure, deren aktives Einschreiten eine Behörde zur Erstellung eines Vortrags motiviert hatte. Eine statistische Auswertung eröffnet den Blick auf die Rolle von Akteuren, die man mit Regierungstätigkeit im 19. Jahrhundert nicht unbedingt in Verbindung bringt. Frauen lassen sich relativ häufig als Akteurinnen identifizieren. Eine Zuordnung des Geschlechts ist in etwa 70 % aller Fälle möglich. Von diesen waren mehr als 18 % Frauen. Sie waren vor allem Empfängerinnen von Gnadengaben, die sie über Bittschriften beantragten und die dann über den Weg der bürokratischen Evaluierung auf den Schreibtisch des Kaisers zurück gelangten.

Die Kabinettskanzlei operierte als Schnittstelle zweier Entscheidungsprozesse. Auf der einen Seite standen die Diskussionen im Ministerrat, bzw. der Ministerkonferenz, wo alle Vorhaben der distributiven und regulativen Politik behandelt wurden und ein Konsens gefunden werden sollte. Dieser Entscheidungsprozess wurde durch die Kanzlei des Ministerrates vorbereitet und strukturiert. Eng damit verbunden war, auf der anderen Seite, die Letztentscheidung des Kaisers, der sich in etwa drei Viertel aller Fälle an den Vorschlägen der einreichenden Stelle orientierte. Die Zustimmung des Kaisers zu den Vorlagen der cisleithanischen Ministerien lag sogar deutlich jenseits der 90 % (Innen 93,3, Justiz 94,1, Finanz 94,4, Handel 93,5, Ackerbau 92,5, Unterricht 92,5, Eisenbahn 90,8).

Die Kabinettskanzlei verarbeitete nicht mechanisch den Einlauf und leitete diesen an den Kaiser weiter. Sie hatten immer die beiden Entscheidungsprozesse im Blick. Wenn ein Vortrag an den Kaiser gerichtet wurde, der Budgetrelevanz hatte und noch keine Zustimmung des Finanzministers vorlag, wurde dieser dem Kaiser erst dann vorgelegt, nachdem in der Ministerkonferenz eine Meinungsbildung stattgefunden hatte. Problematisch waren Konflikte unter den Ministern, weil in diesem Fall der Kaiser Position beziehen musste. Er war daran interessiert, einen Konsens herbeizuführen und diesen als Letztentscheider formal zu vollziehen. Wenn kein Konsens erreicht werden konnte, folgte der Kaiser häufig dem Votum des Innenministers (vgl. Becker und Osterkamp 2020, 851 f.).

Die Kabinettskanzlei verzeichnete im Protokollbuch nicht explizit diese Aushandlungsprozesse, die der Entscheidung des Kaisers vorausgingen. Es dokumentierte eben nur jenen Teil der Abläufe, die für eine kaiserliche Entscheidung notwendig waren. Deshalb stellt die Struktur des Protokollbuches nicht nur eine Meta-Ebene des Entscheidungsprozesses dar, sondern präsentiert dem Leser ein idealtypisches und stark reduziertes Bild dieses Prozesses. In den Einträgen selbst wird mehr an Komplexität sichtbar, als das Schema es erlauben würde. Durch eine sorgfältige Lektüre des Protokollbuchs und eine gemeinsame Lektüre der Ministerratsprotokolle und des Protokollbuchs der Kabinettskanzlei lassen sich diese Aushandlungsprozesse erschließen.

Ich habe bereits die Randnotizen erwähnt, die nicht formell autorisierte Akteure mit erfassten und die Dokumentation des Ergebnisses einer Vorselektion von Bittschriften, die dem Letztentscheider die damals geäußerte Präferenz wieder in Erinnerung rufen sollte. In seltenen Fällen, die nicht über das Protokollbuch, sondern über die Verschränkung zwischen Protokollbuch und Audienzlisten einerseits und eine tiefergehende Fallanalyse andererseits greifbar werden, lässt sich ein spannender Rollenwechsel des Kaisers feststellen. Nadja Weck hat in ihrer Fallstudie zu den Entscheidungen in Eisenbahnangelegenheiten festgestellt, dass der Kaiser sich in einer Audienz dazu bewegen ließ, sich beim Handelsminister für eine bestimmte Routenführung einzusetzen – damit er vom Handelsminister diese Variante zur Letztentscheidung vorgelegt erhält (vgl. Witzmann 2021, W2).

Das Protokollbuch und die Entscheidungsprozesse

Als ethnographischer Beobachter der Entscheidungstätigkeit des Kaisers ist man davon beeindruckt, wie sehr diese dem Prinzip der Schriftlichkeit verpflichtet war. Das setzte den Raum des Wirklichen mit dem Textraum in eine kurzschlüssige Verbindung (vgl. Vismann 2000, 89). Quod non est in actis, non est in mundo: Dieses Credo beherrschte die Entscheidungstätigkeit des Kaisers, weil er sich durch den exklusiven Fokus auf die Akten den Einflüsterungen von Ratgebern zu entziehen glaubte. Das konfrontierte ihn jedoch mit einer Problematik, die seinem Entscheidungsprozess inhärent war und auf die ich kurz eingehen möchte. Gemeint ist nicht die Selektivität der Abbildung von Wirklichkeit als Sachverhalte in bürokratischen Prozessen. Das ist bekannt und muss hier nicht näher erörtert werden. Es handelt sich vielmehr um die Erweiterung von Komplexität beim Weg des Aktes durch die Instanzen. Dabei wurde die Sachverhaltsfeststellung mit einer amtlichen Beurteilung auf der Grundlage von intern festgelegten Entscheidungsprämissen, allfälligen weiteren Erhebungen und der Einbindung von Stellungnahmen der Interessenvertreter angereichert.

Die Entscheidungen des Kaisers waren auf Vorträge bezogen, die von diesen Anreicherungen wesentlich geprägt waren. Seine Entscheidungssituation wurde von seiner Stellung am Ende eines hierarchisch strukturierten Verfahrens bestimmt, in dem bereits mehrere Entscheidungen getroffen worden waren. Welches Ausmaß an Kontingenz war in dieser Situation noch möglich? Für seinen Anspruch, ein souveräner Entscheider zu sein, war diese Kontingenz von zentraler Bedeutung. Doch wie konnte er Alternativen zu einer vorgeschlagenen Resolution entwickeln, mit der die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens fortgeschrieben wurden? Er konnte nicht auf alternative Erhebungen zurückgreifen, und mit dem Ende des Neoabsolutismus verlor der Reichsrat die Funktion, speziell für den Kaiser eine alternative Perspektive zu den Vorlagen der Ministerien bereitzustellen.Footnote 32 Ab diesem Zeitpunkt konnte der Entscheidungsprozess nur durch eine kritische Lektüre der eingereichten Unterlagen offengehalten werden. Damit wurden die Mitarbeiter der Kabinettskanzlei beauftragt. Sie mussten die Vorträge gezielt auf die Kohärenz von Sachverhaltserhebung und Stimmigkeit des Entscheidungsentwurfs hinterfragen und ihre Beobachtungen in ihre Auszüge einbeziehen. Das leistete einen wichtigen Beitrag zur Kontingenzregulierung (s. Tab. 2).Footnote 33

Tab. 2 Logistische Regression zur Entscheidungsdauer

Durch die penible Erfassung der im Protokollbuch vorgesehenen Verfahrensschritte sind wir in der Lage, die Bemühungen des Kaisers zu erfassen, den Spielraum für eigenständige Entscheidungen zu bewahren. Als empirischen Ansatzpunkt verwende ich die Zeit, die ein Vorgang benötigte, um den Entscheidungsprozess zu durchlaufen. Es gab zwar immer wieder Ausreißer, weil der Kaiser auf Verschleppung setzten konnte, um nicht einflussreiche Akteure durch eine offene Ablehnung zu brüskieren. Dadurch öffnete sich ein Fenster für das informelle Aushandeln von alternativen Lösungen, denen der Kaiser dann zustimmen konnte. Bei der Entscheidung über die Statuten des Prager Kunstvereins verzögerte er etwa die Erledigung um 3 Jahre, 8 Monate und 11 Tage.Footnote 34

Die Entscheidungen des Kaisers waren ein Nadelöhr in dem Regierungssystem der Habsburgermonarchie. Wie Abb. 1 zeigt, stand der Kaiser unter einem zunehmenden Zeitdruck, weil sein Zeitbudget der rasch wachsenden Zahl an Vorgängen nicht flexibel angepasst werden konnte. Das erforderte die Einhaltung einer strikten Disziplin, für die Kaiser Franz Joseph bekannt war. Dieselbe Disziplin verlangte er auch von seinem unmittelbaren Mitarbeiterstab, von den Beamten der Kabinettskanzlei. Sie mussten die Arbeit – die Registrierung von Vorgängen, deren Verortung in den Indizes, Protokollen und archivierten Vorträgen, die Erstellung eines eigenen Meta-Dokuments, das den gesamten Vorgang inhaltlich wie verfahrensmäßig zusammenfassend reflektierte – schnell und pünktlich erledigen. Die in der österreichischen Bürokratie so weit verbreiteten Rückstände (unerledigte Akten, für die eigene Verzeichnisse geführt wurden) und die von Verwaltungsexperten stark negativ besetzten Schieber (die Weiterleitung von Akten an andere Stellen, um sie mit verfahrensmäßig kaum begründeten Nachfragen vom eigenen Schreibtisch und aus dem eigenen Rückstandsverzeichnis zu entfernen) waren für die Beamten der Kabinettskanzlei unbekannt.Footnote 35 Rückstände gab es, wenn überhaupt, nur auf dem Schreibtisch des Kaisers und dort waren sie ein gezielt eingesetztes Instrument der Verweigerung einer Entscheidung, die – aus der Sicht von Erich Graf Kielmansegg – für die einreichende Stelle eine nicht ganz eindeutige Signalwirkung hatte (vgl. Kielmansegg 1966, 29).

Die Entscheidungen des Kaisers sind im Protokollbuch so abgebildet, wie sie dem idealtypischen Modell eines Entscheidungsprozesses entsprechen. Dieses Modell bildet den Prozess in einer ausreichenden Qualität ab, um intern als Steuerungsinstrument und von dem Historiker als Auskunftsmittel für die Rekonstruktion von Entscheidungsabläufen genutzt werden zu können. Die Erfassung des Datums, an dem die einzelnen Arbeitsschritte gesetzt wurden, ist dabei ein wichtiger Anhaltspunkt. Es finden sich im Protokollbuch vier Spalten mit Angaben zum Zeitpunkt der Erledigung: die Bezeichnung der Eingabe enthält das Datum des Einlaufs, die erste und zweite Spalte der zweiten Seite lassen Raum für den Eintrag des Datums, an dem der Vorgang an den Bearbeiter der Kabinettskanzlei übergeben wurde bzw. an dem der Akt dem Kaiser auf dem Schreibtisch vorgelegt wurde. Die letzte Spalte ist der formalen Beschreibung der »Allerhöchsten Entschliessung« vorbehalten. Hier finden sich der Ort und das Datum der Entscheidung.

Die Entscheidungen des Kaisers erfolgten relativ rasch. In mehr als 60 % aller Fälle traf der Kaiser seine Entscheidung spätestens 10 Tage, nachdem der Vorgang in der Kabinettskanzlei eingereicht worden war. Angesichts der hohen Zahl an Entscheidungen, die der Kaiser nicht in Wien, sondern an Schreibtischen getroffen hatte, die an unterschiedlichen Orten der Monarchie und sogar im Ausland aufgestellt waren, ist das eine beachtliche Leistung. Diese wird noch beeindruckender, wenn man die Entscheidungsdauer selbst betrachtet, d. h. den Zeitraum, in dem ein Vorgang am Schreibtisch des Kaisers lag. Die strikte Arbeitsdisziplin des Kaisers lässt sich statistisch nachvollziehen. In über 80 % der Fälle war der Akt innerhalb von zwei Tagen wieder vom Tisch des Kaisers. Die Protokollbücher vermitteln aus dieser Perspektive den Eindruck von der Kabinettskanzlei als einer gut geölten Verwaltungsmaschine, die einem Kaiser zuarbeitete, der sich mit eiserner Disziplin einem rasch wachsenden Berg an Entscheidungen entgegenstemmte.Footnote 36

Die Entscheidungen des Kaisers wurden jedoch nicht alle innerhalb weniger Tage getroffen. Die Varianz ist gering, aber dennoch vorhanden. Sie lädt dazu ein, sich die Frage zu stellen, wo und unter welchen Bedingungen die zusätzlichen Tage investiert wurden. Eine Einzelfallanalyse wäre durchaus zielführend, aber mit der großen Zahl an Vorgängen nur äußerst selektiv realisierbar. Eine solche Vorgangsweise würde immer mit dem schalen Beigeschmack behaftet sein, dass die gewählten Beispiele nur einen sehr begrenzten Aussagewert für die Gesamtzahl der Vorgänge mit einer längeren Bearbeitungsdauer hätten. Ich habe mich daher für eine multivariate Statistik entschieden, die für einzelne Variablen die Wahrscheinlichkeit einer längeren Bearbeitungszeit im Vergleich zu einem Referenzwert berechnet.

Die Entscheidungen des Kaisers werden hier in einen statistisch-mathematischen Referenzraum projiziert, der eine zusätzliche Meta-Ebene einzieht – die nicht auf dem juristisch-bürokratischen Referenzsystem des Kaisers und seine Mitarbeiter beruht. Ich möchte hier nicht näher auf die Logik der angewandten Verfahren eingehen. Sie nutzen die Unterschiede in der Varianz für eine vergleichende Betrachtung der Entscheidungsdauer. Je stärker rot unterlegt die Werte sind (s. Tab. 2), desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer längeren Dauer, je stärker grün die Einfärbung ist, desto höher ist sie. Wenn man die Tabelle einer nur kursorischen Betrachtung unterzieht, zeigt sich die geringe Relevanz von zwei Variablen: Politikfeld und Regionalbezug. Es hat keinen signifikanten Einfluss auf die Entscheidungsdauer, ob es sich um eine Gnadengabe, die Besetzung einer Professur, die Genehmigung eines Anleiheprojektes oder eine Eisenbahntrasse handelte. Das ist an sich ein interessantes Resultat. Es weist uns darauf hin, dass die unterschiedliche Komplexität der Vorgänge und der damit verbundene Umfang der Akten keine Rolle für die Festlegung der Bearbeitungsdauer hatten – weder auf den Schreibtischen der Beamten noch auf dem Schreibtisch des Kaisers. Das ist nur dann möglich, wenn diese Vorgänge hervorragend aufbereitet auf dem Schreibtisch des Kaisers eintrafen und die Beamten der Kabinettskanzlei über die Fähigkeit verfügten, rasch und kompetent komplexe Sachverhalte zu erfassen und zu kommentieren.Footnote 37 Eine Ausnahme von der oben postulierten Regel, dass Politikfelder keinen Einfluss auf die Erledigungsdauer hatten, machen die beiden Politikfelder Außenpolitik und Militär, die jedoch nicht zu jenem Teil der Regierungstätigkeit zählen, die in diesem Protokollbuch systematisch erfasst ist. Sie tauchen nur dann auf, wenn sie einen direkten Bezug zum Kompetenzbereich der anderen Ministerien hatten, wie etwa im Bereich des internationalen Handels, der internationalen Standardisierungsabkommen etc. Diese seltenen Fälle waren offenbar so gut vorbereitet und mit den anderen Ministerien abgestimmt, dass die durchschnittliche Erledigungsdauer sogar geringer war als bei Entscheidungen im Politikfeld Bildung und Kultus, das von mir als Referenzwert herangezogen wurde.

Die Entscheidungen des Kaisers waren in ihrer Dauer auch nicht davon abhängig, welche Region sie betrafen. Lediglich die Entscheidungen mit einem Bezug zu Niederösterreich und Wien waren davon ausgenommen. Hier könnte Wien als Sitz des Ministerrates und der Zentralstellen eine Erklärung bieten. Denn von diesen Stellen kamen auch jene internen Protokolle zur Kenntnisnahme des Kaisers, die an seinem Schreibtisch nicht bevorzugt behandelt wurden und deshalb eine etwas längere Bearbeitungszeit hatten. Das zeigt sich an dem Effekt, den die einreichende Stelle auf die Bearbeitungsdauer hatte. Vorgänge aus dem Ministerrat und der Ministerkonferenz hatten eine deutliche höhere Wahrscheinlichkeit, mehr als acht Tage in der Kabinettskanzlei bzw. mehr als einen Tag am Schreibtisch des Kaisers zu verbringen, als Einreichungen aus den sonstigen Zentralstellen. Das hing mit den bereits erwähnten Protokollen zusammen, die von dort an den Kaiser eingereicht wurden. Die Ministerratsprotokolle wurden vom Kaiser bereits gelesen und korrigiert, bevor sie den Ministern vorgelegt wurden. Er erhielt sie direkt vom Außenminister, der ja auch Minister des Kaiserlichen Hauses war, ohne Umweg über die Kabinettskanzlei. Wenn die Protokolle von allen Ministern bestätigt worden waren, reichte sie der Ministerpräsident über die Kabinettskanzlei dem Kaiser zur Kenntnisnahme ein. Es ist verständlich, dass Kaiser Franz Joseph diese Unterlagen, die er bereits kannte, nicht prioritär behandelte und daher mehr Zeit für die Vidimierung in Anspruch nahm.Footnote 38

Die Entscheidungen des Kaisers waren in ihrer Dauer am stärksten durch die Periode bestimmt, in der sie getroffen wurden. Der Herrschaftsstil von Franz Joseph änderte sich – vor allem aufgrund der Verfassungsänderungen und aufgrund der Notwendigkeit, auf politische Krisen zu antworten. Die Ergebnisse der Regressionsanalyse für die einzelnen Perioden – errechnet im Vergleich zur Zeit des Neoabsolutismus – sind aufschlussreich. Sie zeigen eine deutliche Beschleunigung der Erledigungen in der Kabinettskanzlei im Allgemeinen und am Schreibtisch des Kaisers im Besonderen in den Jahrzehnten eines funktionierenden parlamentarischen Systems und stabiler Regierungen. In der Zeit des Neoabsolutismus, die hier nicht gesondert ausgewiesen ist, waren die Bearbeitungs- und Entscheidungszeiten deutlich länger, was mit der Dreiecksbeziehung zwischen Kaiser, Reichsrat und Ministerrat erklärt werden kann.Footnote 39 Die Bearbeitungsdauer verlängerte sich erneut ab der Jahrhundertwende, wobei die Ausdehnung des Entscheidungszeitraums in diesem Zeitraum ausschließlich zu Lasten der Vorbereitungsarbeit in der Kabinettskanzlei ging. Abstimmungserfordernisse stiegen offensichtlich, sobald das parlamentarische System diese Funktion nicht mehr erfüllen konnte und auch die Regierung instabil wurde.Footnote 40

Die Entscheidungen des Kaisers folgten weitgehend den Empfehlungen der einreichenden Stellen. Darauf habe ich bereits hingewiesen. Die geringe Zahl an Fällen, in denen der Kaiser sich gegen die Empfehlung wandte oder eine gänzlich andere Entscheidung traf, macht eine statistische Analyse schwierig. Dennoch ist das Ergebnis der Regressionsanalyse in Bezug auf die Art der Resolution eindeutig. Sobald der Kaiser von den Empfehlungen der einreichenden Stellen abwich, nahm seine Entscheidung längere Zeit in Anspruch. Die logistische Regression zeichnet ein eindeutiges Bild, das auch von bivariaten Auswertungen unterstützt wird: die erhöhte Bearbeitungszeit geht bei einer selbständigen Entscheidung stark zu Lasten der Vorbereitungszeit und nicht der eigentlichen Entscheidungszeit.

Die Entscheidungen des Kaisers wurden durch das Protokollbuch der Kabinettskanzlei gesteuert. Der idealtypische Ablauf vom Einlauf über dessen Bearbeitung hin zur Vorlage beim Kaiser und der Erledigung durch den Kaiser scheint in diesen strittigen Fällen mehr zu verbergen als zu offenbaren. Es treten Akteure aus dem Blick, die in diesem Ablauf nicht integrierbar sind, es werden Beziehungen zu anderen Informationsflüssen und Entscheidungsprozessen nicht direkt nachgewiesen, weil diese für den dokumentierten Ablauf in der Kabinettskanzlei nicht von zentraler Bedeutung waren. Die Beobachtung, dass eine eigenständige Entscheidung des Kaisers die Vorbereitungszeit und nicht die Entscheidungszeit erhöhte, vermittelt den Eindruck, dass hier wichtige Prozessabläufe im Formular der Kabinettskanzlei nicht abgebildet waren. Das betraf die spätestens 1867 eingeführte, tägliche Vorlage des Einlaufs durch den Kabinettsdirektor ebenso wie die Kontrolle der Vorträge auf Kohärenz, auf die erforderliche Abstimmung mit anderen Stellen sowie auf die Stimmigkeit der vorgeschlagenen Resolution durch die Mitarbeiter der Kabinettskanzlei.Footnote 41

Die Entscheidungen des Kaisers waren eingebunden in ein Netz von Texten und Meta-Texten, in ein feines Gespinst von Indices und sonstigen Referenzierungen. Die Kabinettskanzlei war ein erweiterter Denk- und Handlungsraum des Kaisers. Die dort tätigen Beamten mussten die Logik seiner Entscheidungsfindung immer mit reflektieren, wenn sie sich dem Indizieren, Kommentieren und Übersetzen widmeten. Der Informationsraum, in dem der Kaiser agierte, war strukturiert durch Abstraktionsleistungen und Übersetzungen, er war auch hochgradig rekursiv. Die an ihn herangetragenen Vorgänge, zu denen er eine Entscheidung treffen musste, waren ihm häufig bereits aus anderen Quellen bekannt: bei Einzelfallentscheidungen waren es oftmals Bittschriften, bei Regierungsentscheidungen kannte er den Inhalt schon aus dem Protokoll der Ministerratssitzung und bei großen Infrastrukturprojekten baten Betroffene um eine Audienz, um ihre Position dem Kaiser direkt vorzustellen. Dieser rekursive Charakter des Entscheidungsprozesses fand keinen Niederschlag in die Kabinettskanzleiprotokolle. Sie dokumentieren einen Entscheidungsprozess, der sich selbst genügte und nur innerhalb des Referenzierungsraums der Kabinettskanzlei verortet wurde. Dieser Prozess ist als modern inszeniert, weil er klar strukturiert und von sozialen Einflüssen isoliert erscheint – und auf einen Letztentscheider zugeschnitten war, der als anfangs noch jugendlicher Held agierte und mit seinem unermüdlichen Einsatz am Schreibtisch die Gefahren für die Monarchie bannte.

Die Entscheidungen des Kaisers waren in dem Protokollbuch somit nur ungenügend abgebildet. Dennoch erfüllte das Protokollbuch seine Rolle als Steuerungsinstrument, weil es die wesentlichen Etappen eines modernen bürokratischen Prozesses erfasste. Es behielt diese Bedeutung auch in jenen Zeiten, in denen die Beamten der Kabinettskanzlei die Angaben zum Beginn der Bearbeitung und zur Weiterleitung an den Kaiser nicht mehr erfassten (vgl. Reinöhl 1963, 287). Die bürokratische Routine war zu diesem Zeitpunkt ausreichend stark entwickelt, um diesen Verfall der Disziplin kompensieren zu können. Fehlende Information zu wesentlichen Elementen des Entscheidungsprozesses waren den Beamten ja durchaus vertraut, weil das Formular ohnehin nur einen Teil des gesamten Vorgangs abbildete.

Schluss

Das Protokollbuch der Kabinettskanzlei ermöglicht einen ethnographischen Blick auf die Arbeitsabläufe in der Kabinettskanzlei und die Entscheidungsfindung am Schreibtisch des Kaisers. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vernetzung des Kaisers und seiner Kanzlei mit einer Vielzahl von hierarchisch gestaffelten Behörden, die dem Kaiser vermittelt über die Vorträge der Ministerien Sachverhaltsdarstellungen und Resolutionsvorschläge, aber auch Stellungnahmen von Interessenvertretungen und Experten auf den Schreibtisch legten. Die Beamten der Kabinettskanzlei legten auf die bereits vorliegenden Schichten von Übersetzungen eine weitere Schicht, in der ein Verwaltungsvorgang und sein Wirklichkeitsbezug indiziert, kommentiert, reflektiert und manchmal auch kritisiert wurde.

Die statistische Analyse der Eintragungen im Protokollbuch vermittelt einen Blick auf die Entscheidungspraxis des Kaisers im Zeitraffer. Wir können die Entscheidungssituationen ermitteln, in denen der Kaiser ablehnend auf Resolutionsvorschläge reagierte oder eine eigenständige Entscheidung traf. Diese Situationen traten gehäuft in der Zeit des Neoabsolutismus auf und später immer dann, wenn eine Parlamentskrise oder die häufigen Regierungskrisen das Vertrauen des Kaisers in die Konsensbildung außerhalb seiner Kabinettskanzlei erschütterten. Der Blick über die Schulter des Kaisers lässt den ethnographisch gestimmten Historiker ernüchtert zurück. Die knappe Ressource Zeit nutzte der Kaiser vor allem für eine Unzahl von Einzelfallentscheidungen, was die Möglichkeit für strategisches Denken und die Entwicklung von Visionen für die Zukunft der Monarchie reduzierte.Footnote 42