Die in Westberlin nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (neu)gegründete Technische Universität und die Freie Universität erhielten mit dem Gesetz über die Universitäten des Landes Berlin vom 16. Juli 1969 ein neues Hochschulgesetz (vgl. FU Berlin 1969a; Tent 1988, 378–383; Kubicki und Lönnendonker 2008, 83–106). Die Hochschulreform sollte nicht nur personell-strukturelle Probleme an den Universitäten lösen, sondern im Anschluss an die Protestereignisse von Achtundsechzig auch deeskalierend wirken. Mit Blick im Folgenden auf die FU Berlin zeigt sich, dass das rasche Ansteigen der Studierendenzahlen in Richtung Massenuniversität den Typ der westdeutschen Ordinarienuniversität an ihre Grenzen brachte (vgl. Kubicki und Lönnendonker 2008, 106). Die Freie Universität – gegründet als Reformuniversität, in der auch die Studierenden in allen Gremien stimmberechtigt waren (vgl. ebd., 85) – unterschied sich somit schon bald nicht mehr von den Hochschulen in Westdeutschland.

Am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften (11) war die Hochschulreform mit dem Streit um die Neugliederung des Fachbereichs in den 1970er Jahren Ausgangspunkt für das Eintreten größtmöglicher Selbstbestimmung auf institutioneller Ebene durch den Fachbereichsrat. Die dazu verfassten Protokolle – einsehbar im FU Archiv – finden interessanterweise Erwähnung in den Dahlemer Vorlesungen des Berliner Professors für Religionswissenschaft Klaus Heinrich (1927–2020). Gegenstand dieses Beitrages ist damit das Verhältnis zu den Beschlussprotokollen der Fachbereichsratssitzungen in den Dahlemer Vorlesungen. Seine Untersuchung erlaubt nicht nur eine Neubestimmung der Vorlesungen, sondern gibt einen wichtigen Einblick in hegemonietheoretische Aspekte der Textsorte Protokoll (vgl. Niehaus und Schmidt-Hannisa 2005).

Heinrichs Vorlesungen an der FU Berlin konzentrierten sich auf religionsphilosophische Fragen der antiken Mythologie sowie deren Fortleben in Renaissance und Moderne. Ein widerkehrendes Moment bildeten zudem ideologiekritische Ansätze, die sich seit Heinrichs Habilitationsschrift Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen (1964) wie ein roter Faden durch dessen Werk zogen und insbesondere in dessen Kritik der bundesdeutschen gesellschaftlich-verdrängten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hervortraten.

Als ein bereits typografisch auffälliges Merkmal der Dahlemer Vorlesungen sind hochschulpolitische Vorbemerkungen den einzelnen Vorlesungssitzungen vorangestellt und bereits im Schriftbild vom Rest des Textes abgehoben. An die Studierenden gewandt sprach Heinrich regelmäßig über die Tätigkeiten des Fachbereichsrats, dem er angehörte, und bezog klare Position, wenn es darum ging, für die größtmögliche Selbstbestimmung des Fachs Religionswissenschaft an der FU Berlin einzutreten. Diese Vorbemerkungen – bis jetzt nicht Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung – enthalten vielfache Verweise auf die Protokolle der Fachbereichsratssitzungen.

Die Vorlesungen lassen sich somit vielleicht lesen als eine Art Supplement-Protokoll einer in den 1970er Jahren andauernden Auseinandersetzung über fachgeschichtliche Autonomie eines ›kleinen Faches‹Footnote 1. Um diese These zu überprüfen wird im Folgenden die Herstellungsgeschichte dieser Texte genauer in den Blick genommen. Konkret werden dazu Textstellen untersucht, in denen die Fachbereichsratssitzungen selbst Thema sind und sich die Vorlesungen selbsterklärt als protokollarische Instanz wirkmächtig in Szene setzen.

Zur Form von Klaus Heinrichs Dahlemer Vorlesungen

Bei Heinrichs Dahlemer Vorlesungen – benannt nach dem Ortsteil im Bezirk Steglitz-Zehlendorf, in dem ein Großteil der Gebäude der FU Berlin angesiedelt sind – handelt es sich um religionswissenschaftliche Vorlesungen seit 1970, die zunächst im Verlag Stroemfeld/Roter Stern verlegt wurden und seit 2019 im ça ira-Verlag erscheinen. Die Vorlesungsreihe ist fortlaufend und basiert auf den Transkripten von Tonbandmittschnitten der Vorlesungen – zu Beginn herausgegeben von Wolfgang Albrecht, Rüdiger Hentschel, Hans-Albrecht Kücken, Peter Lux, Ursula Panhans-Bühler, Jürgen Strutz und Irene Tobben.

Die Vorlesungen erfreuten sich – sicherlich insbesondere auch aufgrund der charismatisch-intellektuell und politisch scharfsinnigen Persönlichkeit Klaus Heinrichs – großer Popularität. Thomas Alkemeyer hat die Performanz Heinrichs im zeitgeschichtlichen Kontext an der FU Berlin der frühen 1970er Jahre untersucht; eine Art der Performanz, die sich nicht denken lässt ohne jene Gruppe Studierender »[g]anz vorn, oft im Schneidersitz auf dem Boden eines überfüllten Vorlesungs- oder Seminarraums« sitzend und »begierlich jedes Wort ihres Meisterdenkers aufsaugend, alles protokollierend oder mit dem Kassettenrekorder aufzeichnend« (Alkemeyer 2019, 50). Für Alkemeyer verkörpern Professoren wie Uwe Wesel, Hans-Georg Rappl und Klaus Heinrich Intellektuelle und Akademiker, deren professorale Performanz sich nach 1968 absetzte von dem distanzierten und hierarchisch-elitären Selbstverständnis der Universität und seiner Ordinarien im deutschsprachigen Raum (vgl. ebd.). Alkemeyer arbeitet die performative Praxis und die in-Szene-gesetzte Professorabilität heraus, deren Hochschullehrer »zu Kristallisationskernen inneruniversitärer Stilkulturen« (ebd., 56, Herv. i. O.) avancierten. Ein entsprechender Habitus in Auftritt und Sprechen wurde von Studierenden inkorporiert.

Neben Alkemeyers Analyse der Performanz einzelner professoraler Akteure an der FU Berlin steht zur Frage, inwiefern bereits auf Ebene der Herstellungsgeschichte der Dahlemer Vorlesungen textuelle Verfahren der anti-institutionellen Selbstreflexion und Kritik zu finden sind. Mediale Aspekte der Textgenese sorgen an dieser Stelle dafür, dass die Vorlesungen Genregrenzen überschreiten: Es gibt Ein- und Zwischenrufe, spontane Diskussionen zu Sachfragen, medientechnisch bedingte Lücken bei der Aufnahme des Gesprochenen sowie die den Texten eingeschriebene Ko-Präsenz seiner Zuhörerschaft. Somit lassen sich die Vorlesungen zunächst einmal als Transkriptionen mündlich gehaltener Vorträge kategorisieren. Lässt sich jedoch auch von Protokoll sprechen?

Michael Niehaus und Hans-Walter Schmidt-Hannisa sehen die »grundlegende Funktion [der Textsorte Protokoll] darin, nach festgelegten Selektionskriterien ausgewählte Ereignisse in schriftliche und verbindliche Form zu überführen« (Niehaus und Schmidt-Hannisa 2005, 7). Entscheidend ist dafür ein bestimmter Ereignisbegriff, der dem Protokoll konstitutiv vorausgeht (vgl. ebd., 9). Vorkehrungen und formale Vorgaben, so etwa die Vereidung der protokollierenden Person und die Genehmigung des Protokolls durch die Beteiligten, verhelfen dem Protokoll zu seiner Autorität (vgl. ebd., 8.). Das schriftlich Festgehaltene erhält damit, »den Status einer institutionell produzierten oder verbürgten Wahrheit« (ebd.). Was aber hat es mit diesem Wahrheitsbegriff auf sich, der hier als Anspruch des Protokoll deklariert wird?

Cornelia Vismann hat gezeigt, dass sich der Wahrheitsanspruch des Protokolls historisch im Kontext einer verwaltungstechnischen Entwicklung in der römischen Antike verorten lässt. Der entscheidende Bruch ergibt sich, nachdem Akten – deren »integrale Medientechnik« (Vismann 2001, 85) das Protokollieren ist – öffentlich einsehbar wurden. Während Protokollsammlungen den Anspruch haben, eine Handlung festzuhalten, also »wahr zu sein« (ebd.), ist dieser Wahrheitsanspruch somit nun an einen Öffentlichkeitsbegriff der Speicherorte, der Akten geknüpft: »Akten werden durch öffentliche Aufbewahrung personenunabhängige, absolute Speicher« (vgl. ebd., 84), schreibt Vismann. Der Wahrheitsanspruch des Protokolls ist gebunden an einen öffentlich einsehbaren und damit institutionellen Aufbewahrungsort. So lässt sich erklären, weshalb Niehaus und Schmidt-Hannisa von institutionell produzierter, ja verbürgter Wahrheit sprechen.

Es drängt sich jedoch die Frage auf, wie das im Protokoll Festgehaltene zustande kommt und welchen hegemonialen Diskursen es dabei unterliegt. Mit Niklas Luhmann lässt sich der Begriff der institutionellen Wahrheit hinsichtlich der Frage der Konsensbildung noch weiter differenzieren. Luhmann spricht von Konsensunterstellung, die durch die Beeinflussung einer selektiven Themenfindung erfolgt. Größe und Differenziertheit des sozialen Systems beeinflussen die Konsensbildung (vgl. Luhmann 1970, 30–33).

Einschlägig ist somit, dass sich der Wahrheitsbegriff des Protokolls aus den selektiv-hegemonialen Prozessen der Konsensbildung bestimmen lässt und dass die Textsorte Protokoll – wie auch Niehaus und Schmidt-Hannisa in ihrer Einleitung hervorheben (vgl. Niehaus und Schmidt-Hannisa 2005, 14 f.) – eingespannt ist in ein System aus institutionellen Macht- und Disziplinardiskursen. Für die Forschung zum Protokoll scheint es somit entscheidend, seine Funktion weniger in einer dichotomen Matrix der Wahrheit zu verorten, als vielmehr die Hegemonieverhältnisse in den Blick zu nehmen, die die Teilhabe der verschiedenen Aktanten verun- bzw. ermöglichen.

Michael Niehaus und Hans-Walter Schmidt-Hannisa grenzen die Transkription vom Protokoll, das über Beschlusskraft verfügt, ab. Sie rücken Transkriptionen jedoch in die Nähe des Verlaufsprotokolls. Der Gültigkeitsanspruch liegt für die Transkription »ganz im Wahrheitsanspruch – oder genauer: im Richtigkeitsanspruch – einer möglichst vollständigen, also selektionslosen Abbildung […]« (ebd., 2005, 9, Herv. i. O.). Anders als für das Beschlussprotokoll lassen sich somit im Verlaufsprotokoll die hegemonialen Prozesse der Konsensbildung noch deutlicher nachzeichnen, da der Grad der Selektion an Ereignissen geringer ist.

In diesem Sinne ließe sich bei den Dahlemer Vorlesungen vielleicht von einer Art Verlaufsprotokoll des Streits am Fachbereich sprechen. Eine editorische Notiz vom September 1980 zu Band eins der Vorlesungen, Tertium datur (Heinrich, 2021) stärkt diesen Gedanken: »Auf die hochschulpolitischen Vorbemerkungen […] mochten wir – aus vielleicht ersichtlichen Gründen – nicht verzichten.« (ebd., 232). Ziel der Veröffentlichung der Vorlesungen inklusive der hochschulpolitischen Vorbemerkungen sei es gewesen, »die Diskussion, die in [den Vorlesungen] geführt wird, nicht archivierend fest[zu]schreiben. Das hieße, sie vergessen. Vielmehr ist sie wichtig genug, einer breiteren Öffentlichkeit und Kritik zugänglich gemacht zu werden.« (ebd.).

Anders als die Beschlussprotokolle der Fachbereichsratssitzungen jedoch entziehen sich die Vorlesungen den formalen Vorgaben des Protokolls: Weder ist etwa hier die Vereidung der protokollierenden Person noch die Genehmigung des Protokolls durch die Beteiligten gegeben. Zugleich besteht der Anspruch, die Auseinandersetzung der Neugliederung des Fachbereichs nicht archivierend festzuschreiben, sondern die Thematik der Neugliederung unter Einbezug der Öffentlichkeit für die gesellschaftliche Diskussion offen zu halten. Genau darin unterscheiden sich die Vorlesungen von den Beschlussprotokollen des Fachbereichsrats, die aufgrund ihrer Textform nicht für die Veröffentlichung gedacht sind. Mit der Frage der Form geht hier also ein Registerwechsel einher, der die Vorlesungen anderen (formalen) Vorgaben unterwirft. Gleichzeitig eignen sich die Vorlesungen bei Bedarf Verfahren des Protokolls an. Um dies zu zeigen, werden im Folgenden jene Stellen der Vorlesungen untersucht, in denen die Verfahren des Protokolls kritisch kommentiert werden. Wichtig ist dazu jedoch zunächst, die hochschulpolitischen Neuerungen in Westberlin zu Beginn der 1970er Jahre zu kennen.

Zur Neugliederung des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften (11)

Nach den Protesten der 1960er Jahre, die allzu oft auf die Chiffre Achtundsechzig reduziert werden, hatte das Ziel der Hochschulreform auch die Einbeziehung der revolutionierenden Studierendengruppierungen in die Mitverantwortung universitärer Gremienarbeit. Kritische Gegendarstellungen durch organisierte Bewegungen von Studierenden weisen auf Folgendes hin:

Bezahlt wurde dies [Ziel der Universitätsreform] mit der Aufgabe der Verfaßten Studentenschaft, dem AStA und des Studentenparlaments. Diese zunächst als Erfolg gefeierte Reform zielte auch darauf, das politische Potential der Studenten durch Gremienarbeit zu dämpfen, ein politisches Mandat zu unterlaufen. […] Letzthin hatten die Strategen damit die Zerschlagung studentischer Organe erreicht und konnten nunmehr dazu übergehen, die Bedingungen innerhalb der diversen Gremien systematisch einzuschränken, die erkämpfte Demokratie zu verwässern und zurückzudrängen. (Müller-Enbergs 2018, 66f.)

Die Auseinandersetzungen zwischen marxistisch-leninistischen und ›bürgerlichen‹ Positionierungen der Wissenschaft bildeten den politisch-ideologischen Hintergrund in den frühen 1970er Jahren. Sinnbildlich steht dafür auch die Auflösung des AStAs und seiner Neugründung rund 10 Jahre nach der Universitätsreform. »Vorausgegangen waren scharfe studentische Kämpfe. Im Hochschulstreik 1976/77 waren z. B. sämtliche Hochschulen der Stadt […] mit 50.000 Streikenden dicht.« (Kasi 2018, 156 f.) Auf der anderen Seite wurde die Reform von 1969 durch konservative Stimmen der Notgemeinschaft für eine freie Universität (NofU) zunehmend dafür kritisiert, dass sie zu einer zu großen Zunahme des Anteils ›linksextremistischer Professoren‹ geführt hätte (vgl. Müller-Enbergs 2018, 67).

Tatsächlich hatte mit der Reform von 1969 eine Umverteilung der Stimm- und Entscheidungsgewalt stattgefunden, die in die Zeit des dem linkspolitischen Spektrum zugeordneten FU-Präsidenten Rolf Kreibich (1971–1975) fiel. Mehr Mitbestimmung wurde geschaffen, indem neben der Gruppe Professur, der neu gefasste ›Mittelbau‹, die Studierenden sowie die Gruppe Andere Dienstkräfte in allen Gremien der Selbstverwaltung vertreten waren. Rektor und Kuratorin wurden ersetzt durch die Stelle einer Präsidentin und eines Kanzlers; die Fakultäten wurden neu in Fachbereiche gegliedertFootnote 2. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit waren das Ziel dieser Reform, die mehr Studierende der ersten Generation an die Universitäten bringen sollte; Bürokratisierung und Zunahme der Studierendenzahl waren jedoch auch eine Folge (vgl. Kubicki und Lönnendonker 2008, 89).

Das durch das Universitätsgesetz neu geschaffene Wahlgremium für die Stelle des Präsidenten, das sogenannte Konzil, sah Drittelparität der Professorinnen, Assistenten (Mittelbau) und Studierenden vor. Diese Neuerung demokratischer Mitbestimmung war auch für den Akademischen Senat und auf der Ebene der Fachbereiche zu finden, die unter Einschluss von Stimmen aus dem nichtwissenschaftlichen Personal Viertelparität besaßen. Rein rechnerisch war damit die Möglichkeit gegeben, die Gruppe Professur zu überstimmen (vgl. Tent 1988, 380 f.). Kubicki und Lönnendonker werten die Reform, die mehr Transparenz und die Grundlage für gesellschaftliche Diskussionen schaffen sollte, dennoch als Misserfolg: Anstelle von Abstimmung bestanden Verteilungs- und Interessenskonflikte zwischen den Hochschulgruppen (vgl. Kubicki und Lönnendonker 2008, 90).

Interessenskonflikte lassen sich auch auf Institutsebene des neu geschaffenen Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften (11) finden. Denn mit der Umstrukturierung zugunsten von Fachbereichen ging die für die 1970er Jahre nicht mehr endende Diskussion um die Zusammensetzung des Fachbereichs 11 einher. Dies brachte insbesondere die personell- und sachmittelbezogenen kleinen Fächer in Existenznot; darunter die Religionswissenschaft.

Die Religionswissenschaft an der FU Berlin. Über ein ›kleines Fach‹

Das Religionswissenschaftliche Institut wurde 1948 als Teil der neugegründeten Freien Universität etabliert. Lehrstuhlinhaber bis Ende der 1960er Jahre war der Religions- und Islamwissenschaftler Professor Walther Braune (1900–1989), ein Schüler des aufgrund des Nationalsozialismus emigrierten Theologen Paul Tillich (1886–1965). Klaus Heinrich trat 1968 Braunes Nachfolge an und wurde 1971 als ordentlicher Professur ans Institut berufen. Mit der Auflösung der Fakultäten einher gingen grundsätzliche Probleme der Fächerzugehörigkeit und die Aushöhlung des wissenschaftlichen Austausches, die sich für Heinrich besonders in der Trennung von interdisziplinär nahestehenden Fächern ganz physisch-räumlich ausdrückten:

Daß große und kleine Fächer zusammentraten (sie taten es buchstäblich, indem die Institute sich gegenseitig besuchten), spiegelte eine Eigentümlichkeit der alten Fakultät, zumal die philosophischen Fächer zusammenblieben. Philosophie und Soziologie, Psychologie und Ethnologie, zunächst auch die Publizistik mit einer uns damals noch abseitig erscheinenden Informationswissenschaft, Theologien und Judaistik, Religionswissenschaft und Islamwissenschaft, Ostasienwissenschaften und Iranistik […], dazu die ein uns überraschendes Eigenleben führende Entwicklungssoziologie, gehörten dem neuen Fachbereich – dem einzigen von seinen Mitgliedern selbstgewählten, mit einer eigenen Fachbereichsordnung besiegelten – an. Die Klassischen Altertumswissenschaften, die Historiker, die neueren Philologien, das Osteuropainstitut und die Politologen und leider auch die Kunstwissenschaft und die Archäologien […] waren weit weggedriftet, hatten zum Teil eigene, sich in der Tat abschottende Fachbereiche gebildet oder schwankten noch zwischen wechselnden Zuordnungen her und hin – es wiederholte sich an der Philosophischen Fakultät, was einmal schon ihrer Vorgängerin, der Theologischen Fakultät, widerfahren war (Heinrich 2012, 20).

In der Vorbemerkung seiner Vorlesung vom 23. April 1970 nannte Heinrich den Fachbereich selbst einen »Körper, dem man bereits Existenz zugesagt, ohne Organe, durch den er tätig werden kann« (Heinrich 2021, 13). Es scheint naheliegend, hier an den organlosen Körper von Deleuze und Guattari zu denken (Corps sans Organs (CsO)), der in L‘Anti-Œdipe (1972) und in Mille Plateaux (1980) ausgearbeitet wird. Für Deleuze und Guattari ist der organlose Körper besetzt von Intensitäten; ein Kraftfeld mit der Intensität gleich Null, nicht Szene, nicht Ort oder Träger, auf dem sich etwas abspielt. Die Materie ist gleich der Energie, die Produktion des Realen wird verstanden als eine intensive Größe, die bei Null beginnt. Über die Intensitäten lassen sich auch die Organe verstehen, die nur als solche erscheinen und funktionieren. Ganz im Sinne des rhizomatischen Denkens drücken sich die Organe durch beständige Energieumwandlung aus. Achsen, Vektoren, Gradienten und Schwellen sind dabei Koordinaten des organlosen Körpers, die selbst ständig unterlaufen werden (vgl. Deleuze und Guattari 1980, 189 f.).

Der Deleuze und Guattari’sche organlose Körper lässt sich nicht nur assoziativ auf Heinrichs Bemerkung über die Fachbereichszugehörigkeit des Religionswissenschaftlichen Instituts beziehen: Deleuze und Guattari erinnern uns daran, dass die Organe nicht im Widerspruch zum organlosen Körper stehen; Feind ist vielmehr die Organisation der Organe, d. h. der Organismus. Im Verweis auf Antonin Artauds Radiostück »Pour en finir avec le jugement de dieu« (Arttaud 1974)Footnote 3, auf den die Überlegung zum organlosen Körper ursprünglich zurückgeht, setzen Deleuze und Guattari das theologische System (le système théologique) mit der Operation derjenigen gleich, die den Organismus hervorbringt. Sie denken den Organismus als Schicht auf dem organlosen Körper (une strate sur le CsO), also als jene Phänomene der Akkumulation, Sedimentation, der Bindung und Hierarchisierung von organisierten Arbeitsprozessen (vgl. Deleuze und Guattari 1980, 196 f.).

Den Fachbereich mit Deleuze und Guattari als organlosen Körper zu begreifen, eröffnet den Möglichkeitsraum einer anderen Form der ›Organisation‹ in der Institution, die nicht im Register von Organismus und Organisation funktioniert. Als solche Form lesbar wird damit die Kritik gegen den Ausschluss bestimmter Hochschulgruppen bei studien-, lehr- und prüfungsbezogenen Entscheidungsprozessen oder die Kritik gegen die mit der Universitätsreform zentralisierten Macht des hochschulpolitischen Verwaltungsapparats. Gerade aber ein solch anderer Möglichkeitsraum ist mit Gründung der FU Berlin nach dem Krieg immer auch ein Prekärer gewesen. Im Folgenden der Vorbemerkung vom 23. April 1970 richtete sich Heinrichs Kritik gegen das Universitätsgesetz, das mit der Zentralisierung der Verwaltung »die früheren Selbstvertretungskörperschaften, als die monadenartig Fakultäten vor sich hin existieren konnten, ablöst« durch eine organisierte Form der Verwaltung, bei der »Beschlüsse, Entscheidungen und dergleichen von zentralen Stellen weitergegeben werden können bis in die äußersten Ärmchen und Händchen dieses Gebildes hinein« (Heinrich 2021, 14). Sicher ist auch insbesondere die in Artaud bzw. Deleuze und Guattari angelegte Opposition zu den Theologien eine interessante Perspektive auf die Religionswissenschaft an der FU Berlin in den 1970er Jahren. Denn die Gefahr des Autonomieverlusts bestand für die Religionswissenschaft konkret in mehreren Fällen.

Einschlägig ist der Einspruch vom 21. Februar 1972 der beiden Institutsräte und des Fachbereichsrats gegen den Kuratoriumsbeschluss zur Zusammenlegung des Religions- und Islamwissenschaftlichen InstitutsFootnote 4 mit der Evangelischen und Katholischen Theologie (vgl. FU Berlin, UA, 1972, 3; vgl. in den Vorlesungen auch Heinrich 1993, 90; Heinrich 2000, 35 f.). Anders als das Erkenntnisinteresse der Theologien, die auch für die Ausbildung zum Kirchendienst zuständig sind, ist das Erkenntnisinteresse des Religionswissenschaftlichen Instituts bereits mit der Satzung von 1969 als religionsphilosophisches definiert gewesen:

[Das] Interesse gilt den Religionen nicht als exotischen oder antiquarischen oder besonders ehrwürdigen Gegenständen, sondern als der ohnmächtig-mächtigen Selbstdarstellung von kollektiven Erfahrungen der Bedrohung, kollektiven Formulierungen der Angst, kollektiven Versuchen, den Bedrohungen standzuhalten und die Ursache der Angst aufzuheben. Ihr Interesse gilt dem neu zu findenden Begriff der Wissenschaft, die ihr Ziel, eine von der Angst befreite, menschliche Gesellschaft, nicht preisgeben will (FU Berlin, UA, 1969b, 1).

Mit dieser Selbstdarstellung fällt es schwer, die Religionswissenschaft als Teil einer anderen Disziplin insbesondere einer Theologie wiederzuerkennen. Zu den Forschungsbereichen am Institut zählte die Entstehung und Begrenzung des spezifischen Vernunftbegriffs des transzendentalen Subjekts und die sich daran anschließende ausgeschlossene mythologische Dimension mit ihrer ›kollektiven Verbindlichkeit‹, somit ihr Weiterwirken in modernen Mythenbildungen. Psychoanalytische Theoriebildung wurde als wissenschaftliches Modell gelehrt; der transzendental-rationalisierende Subjektbegriff außerdem auf seine historisch-kolonialen Entstehungsbedingungen untersucht (vgl. Heinrich 2000, 206).

In der Vorbemerkung vom 27. November 1975 hob Heinrich das Problem der ›Interdisziplinarität‹ für das eigene Fach hervor, welches diese »Interdisziplinarität nicht als Appendix einer starren Identität, sondern als das an Fächergrenzen nicht Halt machende Movens seiner Fragestellungen versteht.« (Heinrich 2006, 105 f.). Das Problem der Fachbereichszugehörigkeit berührt damit essentielle Argumentationsgrundlagen der eigenen Verortung; Heinrich appellierte am 27. November 1975 direkt an seine Zuhörende, von ihrem Stimmrecht bei Vollversammlungen Gebrauch zu machen (vgl. ebd., 107).

Dass das Recht auf Selbstbestimmung des Fachs klar auch an sozioökonomische Fragen gebunden war, ist spätestens seit Mitte der 1970er Jahre Gegenstand eigner Forschung. Erstmalig erschien 1974 die im Auftrag des Präsidiums des Hochschulverbandes herausgegebene Untersuchung Die Kleinen Fächer (1974/1975). Zur bundesdeutschen Situation des Fachs Religionswissenschaft sticht vor allem die unzureichende Finanzierung, die im internationalen Vergleich geringe Zahl an eigenständigen Instituten, die geringe Zahl an Doktoranden und Habilitanden sowie die Forderung nach der Einführung eines berufsqualifizierenden Abschlusses für das höhere Lehramt (Magister) ins Auge. Die Favorisierung des interdisziplinären Austauschs bei gleichzeitiger Autonomie der Fächerkulturen wurde auch 1974/1975 vom Forum des Hochschulverbandes für die Situation des Fachs Religionswissenschaft als besondere Stärke hervorgehoben.

Die schon lange bestehende fruchtbare Kooperation vornehmlich mit kleinen und großen geisteswissenschaftlichen, darunter besonders auch mit historisch- und systematisch-theologischen, orientalistischen und sozialwissenschaftlichen, teilweise auch mit medizinisch-naturwissenschaftlichen Fächern ist ausbaufähig, ja geradezu ein beiderseitiges Bedürfnis, weil in Forschung und Lehre zunehmend die Bedeutung des Themas »Religion« im menschlichen Geistes-, Kultur- und Sozialleben beachtet wird, andererseits aber auch die unerlässliche Kontrolle und Bereicherung der Behandlung dieses Themas durch neue methodische Zugänge, durch Perspektiven und Ergebnisse verschiedenster Fächer erwünscht ist (Forum des Hochschulverbandes 1975, 638, meine Herv.).

Das Recht auf Selbstbestimmung des Fachs ist auch die zentrale Frage, die in den Vorbemerkungen der Vorlesungen sowie durch Klaus Heinrich bei Institutsratssitzungen diskutiert wurde. Indem dabei scheinbar marginale Details in den Vordergrund treten, stellen die Vorbemerkungen den institutionell produzierten Wahrheitsbegriff der Beschlussprotokolle in Frage. Denn während die Fachbereichsratsprotokolle Beschlüsse und Ergebnisse dokumentieren, Dissens vermerken und Handlungsanweisungen nach getroffenen Entscheidungen geben, steht kritisch zur Frage: Wer nahm teil an diesen beschlusskräftigen Sitzungen?

Zur Frage des Protokolls in den Dahlemer Vorlesungen. Eine Neubestimmung

Die Vorlesungen inszenieren sich selbst als protokollarische Autorität im Diskurs über die Neugliederung des Fachbereichs. Ein Blick auf die kurzfristig einberufene erste Sitzung des Fachbereichsrats am 15. Juni 1970 verdeutlicht dies: Dabei stellte Heinrich in der Vorbemerkung vom 18. Juni 1970 das Problem der fehlenden Öffentlichkeit in den Fokus. Die kommenden Sitzungen sollten frühzeitiger und sichtbarer im Institut angekündigt werden, damit diejenigen mit Interesse teilnehmen könnten. Heinrich hob hervor, dass ein solcher Teilnehmer »[…] zwar kein Stimmrecht [hat], aber ich finde, es sollte möglich sein, jedem, der an einem bestimmten Punkt ein Interesse hat, zumindest ohne große Prozeduren ad hoc ein Rederecht zu geben« (Heinrich 2021, 121). Das Rederecht ist das Recht, auf das (Nicht-)Vergessen scheinbar marginaler, ephemerer Details während der Sitzung Einfluss zu nehmen. Die Vorlesungen lassen sich an dieser Stelle lesen wie das Plädoyer für ein unvoreingenommen hegemoniales Wissen zeitlich vor dem Beschluss des Protokolls.

Heinrich verstärkte den Gedanken einer kritischen Öffentlichkeit noch in den folgenden Monaten: An die Zuhörenden seiner Vorlesung gewandt forderte Heinrich am 05. November 1970 die systematische Veröffentlichung dessen, was in den offen zugänglichen, jedoch wenig besuchten Sitzungen des Fachbereichs und der Gremien beschlossen wurde.

Also ich wäre Ihnen da insgesamt dankbar – jetzt nicht als Person –, wenn Sie zum Beispiel darauf hinwirken würden, daß Protokolle dessen, was in den Fachbereichsratssitzungen geschieht, und zwar nicht nur Beschlußprotokolle, möglichst umgehend nach den Sitzungen in sämtliche Institute gelangen. Der Fachbereichsrat kann das im Augenblick nicht durchsetzen; er kann also entweder streiken […], oder er muß sich damit begnügen, daß […] wieder keine Personen da [sind], die die Formalitäten (allein von der Papierbeschaffung bis hin zu Abschriften oder Vervielfältigung oder auch nur simple Protokollaufnahmen) machen könnten. Also, es nutzt sehr wenig, wenn nur der Fachbereichsrat als Gremium vorstellig wird, wenn nicht die Institute – jetzt meine ich vor allen Dingen also die Studenten, die die Institute bilden – dagegen protestieren, daß Öffentlichkeit weitgehend sich wieder reduziert darauf, daß man weiß: bestimmten Sitzungen kann man zu bestimmten Zeiten in bestimmten Räumen beiwohnen […] (Heinrich 1986, 56).

Was die Textstelle auszeichnet, ist die Notwendigkeit einer teilhabenden kritischen Öffentlichkeit bei den Sitzungen. Heinrich kritisiert nicht die Ungültigkeit der Fachbereichsratsprotokolle. Gültig und wahr sind sie im Sinne, dass sie alle Vorgaben der Beschlussfähigkeit erfüllen. Vielmehr geht es ihm um Partizipation und Rederecht aller Institutsmitglieder. Die Stelle in den Vorbemerkungen ist zu lesen als eine solche vor dem Protokoll; jedoch ungleich Franz Kafkas bekanntem Text »Vor dem Gesetz« (1915), der mit der Ausweglosigkeit vor der allmächtig-intransparenten Autorität der Institution spielt. Heinrichs Argument ist vielmehr die Kraft von Zeugenschaft; auch wenn sie nicht stimmberechtigt ist. Die Stelle fordert damit eine Grundeigenschaft der protokollarischen Schreibhandlung heraus, die es Protokollakten nach Cornelia Vismann ermöglicht, aufgrund ihrer »präsentische[n] Struktur der protokollierenden Schriftform […] in eine Beziehung zur Sphäre der amtlich anerkannten und vermittelten Wahrheit zu treten« (Vismann 2001, 86).

Folgen wir diesem Gedankengang ließe sich dieses Textverfahren vielleicht am besten beschreiben als eine Kritik an den dem Protokoll eingeschriebenen hegemonialen Praktiken, die zum Ausdruck kommen als ein zeitlich gedachter Ausschluss: »Protokolle dessen, was in den Fachbereichsratssitzungen geschieht, und zwar nicht nur Beschlußprotokolle« (Heinrich 1986, 56) – so heißt es in der zitierten Stelle – sollten im Anschluss möglichst rasch an eine größere fachbereichsinterne Öffentlichkeit gelangen. Was im Protokoll der Fachbereichsratssitzungen letztlich festgehalten wird, ist – trotz und gerade aufgrund der restriktiven formalen Vorgaben – gebunden an hegemoniale Praktiken, welche über die Gewichtung, Aufteilung und (Aus-)Sortierung von Inhalten bestimmen – und damit bis zu einem gewissen Grad kontingent. Das Vergessen des Protokolls ist realiter ein Verdrängen seiner eigenen Machtposition. Die Vorlesungen bilden damit eine Art widerständiges, d. h. verdrängungsfreies Protokoll; dies tun sie, indem sie die Konflikte und Widersprüche der Neugliederung des Fachbereichs durch ihren rhetorisch deutlichen Appellcharakter nicht-abschließbar offen legen.

Mit dem Ziel der Subversion greifen die Vorlesungen zugleich Verfahren des Protokolls auf. Zu denken ist an die genannte Beschaffung von Schreibunterlagen sowie Abschriften und das Vervielfältigen des Beschlossenen. Als Nachteil demokratischer Mitbestimmung wird außerdem die Abwesenheit einer kritischen Masse an Teilnehmenden während der Sitzung herausgestellt. Gezielt kommen damit Praktiken zur Sprache, die das Funktionieren des Protokolls sicherstellen. So wurde hier hervorgehoben, dass zu den Vorkehrungen und formalen Vorgaben die Zeugenschaft von mit bestimmten Rollen bezeichneten Personen zählt. Diese dem Protokoll essentiellen Vorgaben jedoch werden überformt: Nicht als Individuen zu erkennende Einzelakteure treten in dieser Szene auf. Aktiviert wird vielmehr das in Eigeninitiative wirkmächtig werdende heterogene Kollektiv der (Instituts-)Mitglieder – bestehend insbesondere aus den Studierenden. Deren Ko-Präsenz soll den Protest daran stützen, »daß Öffentlichkeit weitgehend sich wieder reduziert darauf, daß man weiß: bestimmten Sitzungen kann man zu bestimmten Zeiten in bestimmten Räumen beiwohnen […].« (ebd.). Dieser Protest ist die Androhung der Abstimmung mit den Füßen. Diese Androhung lässt Druckmittel von Vollversammlungen bis Streiks und Gebäudebesetzungen denkbar werden und verweist damit auf hochschulpolitische Ereignisse um Achtundsechzig. Es ist somit m. E. gerade die Textform der Vorlesungen, die das Versprechen des Protokolls, eine institutionell produzierte, ja verbürgte Wahrheit zu konstituieren, herausfordert, indem hegemoniale Praktiken dieses Protokolls kommentiert werden. Klaus Heinrichs Dahlemer Vorlesungen lassen sich auf diese Weise als ein komplexes Geflecht an Stimmen beschreiben, in dem sich Genremerkmale unterschiedlicher Textsorten kreuzen.

Die hochschulpolitischen Vorbemerkungen bilden darin keinen Zusatz, sondern sind integraler Teil der religionswissenschaftlichen Vorlesungssitzungen und ihrer gegenwartsbezogenen Kritik. Manfred Bauschulte hat hervorgehoben, dass »[d]as religionsphilosophische Modell einer verdrängungsfreien Wissenschaft […] in ständiger Auseinandersetzung mit dem Begriff und der Vorstellung des transzendentalen Subjekts seit Kant […]« (Bauschulte 2001, 1041) stehe. Heinrichs Kritik ist adressiert an ein »transzendentale[s] Subjekt, das sich vor allem in technologischer Gestalt und Gewaltförmigkeit niederschlägt und so einen Erfahrungsbegriff abwehrt, der in der Lage wäre, das Naturwesen Mensch mit all seinen besonderen Fähigkeiten ernst zu nehmen« (ebd.). Bezüge zwischen dem Vorlesungsstoff und aktuellen Entwicklungen der Hochschulpolitik sind wichtiger Bestandteil Heinrichs religionsphilosophischen Denkens einer verdrängungsfreien Wissenschaft. Das an dieser Stelle einschlägige Beispiel, in dem das Verhältnis zwischen Vorlesungs- und hochschulpolitischen Inhalten selbst thematisiert wird, findet sich im Anschluss an die weiter oben diskutierte Stelle aus der Sitzung vom 05. November 1970 – ebenfalls in der Vorlesung ›Anthropomorphe. Zum Problem des Anthropomorphismus in der Religionsphilosophie‹ (Heinrich 1986).

Gegenstand der im Wintersemester 1970/1971 gehaltenen Vorlesung war die Anthropomorphismuskritik – Anthropomorphismus von griechisch ἄνθρωπος, ›Mensch‹ und μορφή, ›Form‹ – von der Antike bis in die Gegenwart. »Heinrich kann in anthropomorphe im Detail aufzeigen,« so hält Bauschulte fest, »wie ein direkter Weg von der vorsokratischen Philosophie eines Xenophanes zur Kritik der reinen Vernunft verläuft und von der ersten Station dieses Weges an der lógos sich ständig der téchnē bemächtigte.« (Bauschulte 2001, 1041). Heinrich zeichne diese Entstehungsgeschichte der logomorphen Kontroll- und Steuerorgane des vernunftbegabten Menschenwesens nach. Funktionierte das antike Handwerk – und damit jene ursprünglichen Kunstfertigkeiten – noch nach dem Modell anthropomorpher Götterbilder, so bauten die logomorphen Kontroll- und Steuerorgane des vernunftbegabten Menschenwesens auf diesen auf, ohne, dass dabei eine sinnliche Verbindung weiterhin existiere (vgl. ebd.). Widerhall findet diese verdrängende Anthropomorphismuskritik in den Vorbemerkungen über die Entwicklung am Fachbereich.

An die Stelle der alten Fakultäten, die Heinrich als vollkommenen technologisierte Gebilde mit formalistischem Ablauf bei gleichzeitig gegebener Anarchie in der Kooperation beschrieb, waren die Fachbereiche getreten (vgl. Heinrich 1986, 87). Straffung, Bündelung und Hierarchisierung der Verwaltungsaufgaben waren Wesensmerkmale der neuen Fachbereiche. Die Suche nach einer verdrängungsfreien Kritik des Anthropomorphismus stellt somit auch die Frage nach der ›Menschenform‹ (anthropomorphe) in der Institution Hochschule. Heinrich wollte zeigen,

daß wir nicht die Religionen ent-anthropomorphisieren müssen, sondern aus ihnen […] Korrektive gewinnen können; das heißt also: etwas lernen können von dem, was – wie immer zugerichtet es dort auftritt – unterschlagen ist in solchen Formen des transzendentalen Bewußtseins (ebd., 240).

Wie dabei der Zusammenhang zwischen Vorlesungsinhalt und Vorbemerkung zu denken ist, erklärte Heinrich exemplarisch in der Vorlesungssitzung vom 28. Januar 1971. Einleitend sprach Heinrich über den möglichen Selbstbestimmungsverlust durch ein drohendes uniformes (Instituts-)Satzungsmodell auf Fachbereichsebene. Den Hintergrund bildete die Installation einer zentraleren Verwaltungsebene der Gemeinschaftlichen Wissenschaftlichen Einrichtungen und den Direktorien (vgl. FU Berlin 1969a, § 20 Wissenschaftliche Einrichtungen). Anhand der Frage, was »diese Themen mit unserer Vorlesung zu tun [haben]?« (Heinrich 1986, 243) leitete Heinrich sodann in die Vorlesungssitzung über.

Dabei sollten für Heinrich die hochschulpolitischen Themen »insofern [mit dem Vorlesungsgegenstand] zu tun [haben], als sie mit d e r Realität allerengsten zusammenhängen, die nach ihrer formalisierten – und ständig formalisierenden – Seite hin durch den Begriff des transzendentalen Bewußtseins zu beschreiben ist« (ebd., 243, Herv. i. O.). Der Bezug zwischen Vorlesungsinhalten und Vorbemerkung entsteht über die Formalisierung verwaltungstechnischer Prozesse im Rahmen der Universitätsreform, auf die Heinrich hier mit Blick auf ein uniformes Satzungsmodell für die Institute des Fachbereichs hinwies. Mit der Universitätsreform einher gingen Zentralismus und Uniformität; die Frage des Verdrängten dieser Verwaltungsreform sind die sich neu konstituierenden Hegemonieverhältnisse. In eben diese Verhältnisse aus Sicht eines ›kleinen Fachs‹ wollten die Dahlemer Vorlesungen korrigierend und gesamtgesellschaftlich, das hieße nach Heinrich verdrängungsfrei, eingreifen.

Ausblick

In diesem Aufsatz wurde die Herstellungsgeschichte von Klaus Heinrichs Dahlemer Vorlesungen in Teilen nachgezeichnet – mit besonderem Fokus auf ihre damalige hochschulpolitische Positionierung im Streit um die Neugliederung des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften. Neben der rhetorischen Performanz des linksintellektuellen Hochschullehrers Heinrich, die Alkemeyer beschrieben hat, setzen sich die Vorlesungen selbst als protokollarische Instanz außerhalb der Fachbereichsratssitzungen in Szene. Durch die Aneignung und Kommentierung verschiedener textueller Verfahren des Protokolls entsteht so eine Art zweites Protokoll, das den Fachbereichsstreit aus der Perspektive eines ›kleinen Fachs‹ dokumentiert.

Dass mit dem Bericht des Forums des Hochschulverbandes 1974/1975 erstmalig der Diskurs über die ›kleinen Fächer‹ eine Institutionalisierung erfahren hat, hat es diesen ermöglicht, ihren Anliegen und Befürchtungen eine politische Sprache zu geben und diese ins Erkenntnissinteresse der Protokolle der Gremien zu rücken. Spätere und (bis jetzt) unveröffentlichte Vorlesungen von Klaus Heinrich belegen diese Situation als das beständige Ringen um egalitäre, d. h. quantitativ gleiche Mitbestimmung in den entsprechenden Gremien.Footnote 5 Gleichzeitig bringt die Institutionalisierung auch den ›kleinen Fächern‹ jene Probleme eines Wahrheitsbegriffs ein, die eingangs im Verweis auf Luhmann als die Unterstellung von Konsens eines Prozesses der selektiven Themenfindung beschrieben wurden. Zurecht drängt sich die Annahme auf, dass Heinrichs Vorlesungen mittels Registerwechsel eine andere Vorgehensweise präferierten. Gegenüber den formalen Vorgaben, die das Protokoll erfüllen muss, inszenieren sie sich, mit Alkemeyer gesprochen, als diskursive anti-professorale Autorität. Dies ist nicht überraschend, denn im Nachdenken darüber, wie das Protokoll schriftlich fixierten Texten Gültigkeit verleiht – sprich die für das Protokoll so bestimmende Frage der Form – fällt auf: Die Vorlesungen unterlaufen Genregrenzen und machen zugleich auf jene nur scheinbar unwichtigen oder marginalen Details aufmerksam, die andernfalls dem Vergessen anheimfallen. Für die erste Hälfte der 1970er Jahre schreiben sie das Protokoll genau dieser Details über den eigenen institutionellen Selbsterhalt eines ›kleinen‹ Berliner Fachs.