Das diplomatische Protokoll ist eine zentrale bürokratische Kulturtechnik.Footnote 1 Es umfasst die Auflistungen der Gesandten, die sich in den Verhandlungsräumen begegnen, hält die Rangordnung sowie die Pläne für das Zusammentreffen der Herrscher:innen fest und gibt die Höflichkeitsformeln und die Verhandlungssprachen vor. Solche Techniken errichten zweifelsfrei eine elitäre Kultur, die in der Außenpolitik die Vermittlung von unterschiedlichen Interessen souveräner Staaten ermöglicht und die gelegentlich so umständlich wie künstlich wirkt, sodass sich heute insbesondere Politiker:innen befreundeter Staaten gerne in Gegenkulturen wie Saunen oder Bierzelten treffen, um ihre Verbundenheit und vermutlich auch eine gewisse Volksnähe zu signalisieren.

Das offizielle diplomatische Protokoll wird immer dann angewendet, wenn Vertreter:innen zweier oder mehrerer Staaten aufeinandertreffen. Grundlage des Protokolls ist das Zeremoniell, dessen Regeln es kodifiziert und umsetzt, um bei Verhandlungen, Empfängen oder im Schriftverkehr allen Beteiligten den ihnen zustehenden Respekt zu erweisen und jede Person entsprechend ihrer Position und hierarchischen Stellung zu behandeln. So soll es einen zivilisierten Austausch ermöglichen, der insbesondere dann notwendig ist, wenn Kriege verhindert oder beendet werden, also gerade die Mittel der physischen und vielleicht auch verbalen Gewalt ausbleiben sollen (vgl. Wood und Serres 1970, 18 f.). Umgekehrt kann es auch mit Absicht gegen sich gewendet werden. Ein bewusster Verstoß gegen das Zeremoniell ist schon für sich allein genommen eine diplomatische Aussage, die weitreichende Konsequenzen hervorrufen kann.

Das Zeremoniell ist eine Kulturtechnik, die sich mit ihrer religiösen Bedeutung bereits im Alten Testament finden lässt, während höfische Zeremonien im alten Perserreich dokumentiert sind. Frühe systematische Darstellungen des Zeremoniells liegen zum Römischen Reich wie auch zu Byzanz vor, die burgundische Hofordnung, das spanische Hofzeremoniell und das Zeremoniell Ludwig XVI. wären als bekannte Ordnungssystematiken zu nennen (vgl. Hartmann 2007, 3 ff.), die in das europäische kulturelle Gedächtnis eingegangen sind.

In der byzantinischen Diplomatie bezeichnete das griechische Wort prōtókollon ein »vorgeleimtes Blatt«, das als erstes Papier an einer Schriftrolle befestigt wurde, um dort den Anlass und die Teilnehmer:innen einer Veranstaltung festzuhalten (vgl. Wood und Serres 1970, 18). Der Protokoll-Begriff wurde insbesondere mit dem Wiener Kongress wieder aufgegriffen und bezeichnet zum einen die Niederschrift einer Verhandlung, Konferenz oder Vereinbarung. Zum anderen wird heute das Protokoll synonym mit der Bezeichnung diplomatisches Zeremoniell verwendet. Durch seine Schriftlichkeit war es im 19. Jahrhundert fest im Kanzleizeremoniell verankert, das unter anderem die Ausstellung von diplomatischen Vollmachten, Akkreditierungen oder Schreiben des Königs verantwortete und Regeln zum Rang, zu den Titeln sowie den Anreden und Schlussformeln aufstellte. Eine Ausweitung der Befugnisse des Bureau du Protocole, das nunmehr auch den Umgang mit den auswärtigen Gesandten zu verantworten hatte, wies dem Protokoll schließlich diese umfassendere, das Zeremoniell integrierende Bedeutung zu (vgl. Hartmann 2007, 75–77).

Heute ist das Protokoll im Staatsrecht definiert als die »Gesamtheit der Normen und Regeln, die die äußeren Formen des Verkehrs von Staatsorganen eines Staates untereinander […] betreffen sowie auch [als] die Summe der Regelungen, die den diplomatischen Verkehr, also den Verkehr zwischen den Staaten untereinander oder zwischen Staaten und internationalen Organisationen, erfassen« (Wohlan 2014, 9). Letztgenanntes ist der Aufgabenbereich des diplomatischen Protokolls und der Schwerpunkt dieses Beitrages.

Ziel der folgenden Ausführungen ist nach weiterführenden Bemerkungen zum medialen Charakter des Protokolls die Erkundung seiner politischen Dimension als Regierungstechnologie. Dabei soll das Handeln einer Vielzahl von Akteuren beobachtet werden, die an der Ausformulierung und In-Szene-Setzung des Protokolls beteiligt sind und so gemeinsam das Aufeinandertreffen von Politiker:innen in persona, auf dem Papier oder im digitalen Raum regulieren. Zwei Fallbeispiele aus der Zeit des Kalten Krieges und aus der Übergangsphase zum War on Terror sollen hierfür die Funktion des Protokolls verdeutlichen. Das erste analysiert das Geschehen im Hotline-Raum des Pentagons, in dem die Krisenkorrespondenz zwischen den USA und der UdSSR ein- und ausging und dabei einem modernen Kanzleizeremoniell folgte. Das zweite ist dem Roman The Sum of All Fears von Tom Clancy entnommen, in dem eine fiktive Krise mit Hilfe der digitalisierten Hotline verhandelt wird.

Folgt man der Beobachtung, dass in Zeremonien »höfische Repräsentationsformen mit Verwaltungstechniken, theatralische mit administrativen Akten« (Vismann 2000, 204) verbunden sind, so rückt eine ästhetische Perspektive in den Vordergrund, die die Sichtbarmachung von Macht behandelt. Das zählt zu den zentralen Medienfunktionen, die im folgenden Abschnitt diskutiert werden sollen.

Medium Protokoll

Ein diplomatisches Protokoll ist also zunächst eine schriftlich, tabellarisch oder diagrammatisch festgehaltene Handlungsanweisung und Statusbeschreibung. Schriftlich kann festgehalten werden, welche Rechte und Pflichten ein:e Gesandt:in oder ein Staat hat, wer bei einem Empfang zuerst den Raum betreten oder auf welcher Position ein Akteur stehen oder sitzen darf. Tabellen können die Hierarchien und Aufgaben von Funktionsträger:innen speichern, in dem sie etwa die Personen entlang ihrer sozialen Position in absteigender Reihenfolge anordnen. Diagrammatische Abbildungen mögen den Sitzplan für ein Staatsdinner festhalten oder eine Personenaufstellung zu einem spezifischen Staatsempfang vorgeben. In jedem Fall wird dabei auf die Funktionen und hierarchischen Stellungen der beteiligten Personen verwiesen.

Das Protokoll ist also zunächst ein Speichermedium, das entsprechend seines griechischen Wortursprungs, dem »vorgeleimten Blatt«, die Teilnehmer:innen einer Veranstaltung festhält, dann aber zugleich die Handlungen und Verfahren für die Zukunft vorgibt und prozessiert: Aus einem Speichermedium – das schriftlich fixierte Veranstaltungsprotokoll – entwickelt sich eine Handlungsanweisung, die erworbene Hierarchien für die Zukunft festlegt: Man kann sich auf ein altes Protokoll berufen, um für künftige Veranstaltungen die gleichen Rituale und Hierarchien einzufordern. Dies hatte in der Geschichte der Diplomatie mitunter blutige Folgen in der außerpapierenen Wirklichkeit. Nicht selten wurden Protokollstreitigkeiten mit Soldaten ausgefochten, wenn ein Herrscher etwa aufgrund einer gewonnenen Schlacht eine bessere protokollarische Position erlangen wollte oder aber wenn er seine Position gegenüber aufstrebenden Staatsführern zu verteidigen hatte.

Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Londoner Kutschenstreit von 1661 (vgl. Anderson 1993, 63 f.). Die Spanier und die Franzosen stritten sich seit einiger Zeit um die protokollarische Vorrangstellung in Europa. Diese Auseinandersetzung eskalierte in London bei Anlass des Einzugs des neuen schwedischen Gesandten. Während nach dem Empfang der schwedische Gesandte in der Kutsche des englischen Königs an der Spitze des Zuges in Richtung Whitehall fuhr, beanspruchten beide Parteien den ersten Platz hinter dem königlichen Gefolge. Zur Durchsetzung dieses Vorrechts hatten sie jeweils ihre Gefolgschaft bewaffnet. Aus dem blutigen Kampf um die Präzedenz gingen schließlich die Spanier siegreich hervor, nicht zuletzt da sie zusätzlich Söldner aus der Menge der Zuschauer:innen rekrutierten. Auf lange Sicht entschied allerdings Ludwig XIV., der wohl mit diesem Verlauf gerechnet hatte, die europäische Vormachtstellung für sich: Aufbauend auf seiner militärischen und finanziellen Macht drohte er mit Krieg und konnte so vom hoch verschuldeten spanischen König eine demütigende öffentliche Entschuldigung einfordern, die den protokollarischen Vorrang Frankreichs für lange Zeit sicherte.

Das Protokoll ist also – im Gegensatz zu dem, was man zunächst annehmen könnte – keine starre Struktur unveränderlicher Handlungsanweisungen, sondern stets umkämpft und so im dauernden Wandel begriffen. So wie es als Akteur Verhalten und Zeremonien vorgibt und in Veranstaltungen eingreift, wird es umgekehrt durch Zwischenfälle, bedeutsame Ereignisse und menschliche Akteure verändert. Es schreibt Geschichten und wird von Geschichten je neu geschrieben.

Was das Protokoll von der Etikette unterscheidet, ist, dass seine Verhaltensanleitungen nicht im privaten Bereich gelten, sondern auf staatlicher Ebene wirken. Es muss staatliche Souveränität und Macht repräsentieren und im Zusammenspiel mit den anderen Akteuren alle Beteiligten auf dem diplomatischen Parkett einer Choreographie unterwerfen. Im Staatsrecht wurde diese Repräsentationsfunktion wie folgt ausgedrückt: »Repräsentieren heißt,« so Carl Schmitt (1928, 209; vgl. Depenheuer 2016, 203), »ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen.« Und ähnlich formulierte dies Heinrich Triepel (1942, 129; vgl. Depenheuer 2016, 203): »Repräsentieren heißt die Darstellung eines schwer erkennbaren Seins durch eine leichter erfaßbare Wirklichkeit.«

Diese Repräsentationsfunktion verdeutlicht ein weiteres Mal den medialen Charakter des Protokolls: Ein unsichtbares oder schwer erkennbares Sein – etwa die Bedeutung und Souveränität eines Staates – muss durch das Protokoll und die damit verbundenen symbolischen Handlungen sichtbar und damit für die Beteiligten und Zuschauer:innen leichter erfassbar werden. Dieser Prozess der Sichtbarmachung ist alles andere als trivial, da es keinen natürlichen Übersetzungsprozess gibt, sondern ein radikaler Bruch zwischen staatlicher Macht und deren Symbolisierung vorherrscht: Die Bedeutung eines Landes muss in eine Form gebracht werden, die im Wettstreit mit konkurrierenden Mächten liegt. Diese Form ist wiederum eine Konvention, die historisch von Protokoll zu Protokoll gewachsen ist und deren Bräuche und Traditionen in verbindliche Regelungen gefasst wurden. Auf dem Wiener Kongress von 1815 wurden erstmals die bis heute gültigen Regelungen beschlossen, Modifikationen erfolgen 1918 nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund des veränderten Kräftegleichgewichts sowie 1961 mit der Wiener Konvention (vgl. Sofer 1988, 195–197).

Die Besonderheit des diplomatischen Protokolls ist dabei, dass es »sich nicht mit dem Inhalt der zwischenstaatlichen Beziehungen« befasst und »auch nicht den Charakter dieser Beziehungen« (Dreimann 1981, 13) bestimmt. Es ist gewissermaßen blind gegenüber dem Gesagten, was seine Funktion als Infrastruktur und Medium im Sinne von Marshall McLuhans (1964) Mediendefinition »The medium is the message« hervorhebt: Die strukturierende und mediale Leistung, die das Protokoll eröffnet und reguliert, ist zunächst bedeutsamer als der Inhalt der jeweiligen Verhandlungen. Das Protokoll setzt Personen und andere Akteure wie Briefe und Akkreditierungen nach bestimmten Mustern in Bewegung, interessiert sich dabei aber nicht für das gesprochene oder geschriebene Wort.

Damit wäre der mediale Charakter des Protokolls umrissen: Zunächst ist es ein Speichermedium, aus dem heraus sich Konventionen entwickelt haben, die zukünftige Handlungen entwerfen. Zweitens vermag es, Macht zu visualisieren und für das Zusammentreffen mehrerer Mächte eine Choreographie zur Verfügung zur stellen. Drittens kann es daran anschließend Verhalten prozessieren, da seine Zeremonien bindend wirken und es so möglich wird, dass sich selbst verfeindete Parteien zu Verhandlungen treffen können. Eine Störung des Protokolls verweist auf seine regulierende Tätigkeit, da, wenn es nicht beachtet wird, seine Infrastruktur und handlungsleitende Funktion offengelegt wird. Widersetzt sich eine Gesandtschaft einer bestimmten Konvention, drohen die alten Vereinbarungen entwertet zu werden und leer zu laufen. Schließlich regelt es die Übertragung von Nachrichten, wie im Folgenden anhand von zwei Fallbeispielen gezeigt werden soll.

Krisenprotokoll im Kalten Krieg

Das erste Fallbeispiel behandelt die Ereignisse, die sich im Washingtoner National Military Command Center des Pentagons in den Morgenstunden des 5. Junis 1967 zutrugen und die den Beginn des Sechstagekriegs markierten (vgl. zum Sechstagekrieg Oren 2002). Nachdem Israel gerade mit einem Präventivschlag auf Basen der ägyptischen Luftstreitkräfte begonnen hatte, sendete der alarmierte sowjetische Ministerpräsident Kossygin die überhaupt erste Hotline-Nachricht nach Washington, die relevanten Text im Sinne der Krisenkommunikation zwischen den USA und der UdSSR beinhaltete. Die Hotline wurde im Nachgang der fast zum Atomkrieg eskalierten Kubakrise 1963 als Fernschreibersystem zwischen Washington und Moskau eingerichtet (vgl. zur Hotline im Sechstagekrieg und zu den folgenden Analysen Nanz 2017). Das US-amerikanische Hotline-Terminal wurde im National Military Command Center (NMCC) des Pentagons installiert, welches die Kommunikation des Präsidenten in seiner Funktion als Oberbefehlshaber bündelte und bei Bedarf eine Leitung ins Weiße Haus bereitstellen konnte.

Aufgrund der Zeitverschiebung war man in Moskau ein wenig besorgt, ob das Fernschreiben den US-amerikanischen Präsidenten zu früh am Morgen erreichen würde. Folgendes Ereignisprotokoll (s. Abb. 1) fasst das wesentliche Geschehen im Hotline-Raum der Amerikaner zusammen: Um 7:47 Uhr Washingtoner Zeit schaltete die Hotline von Testbetrieb auf Krisenmodus um und übermittelte eine Botschaft von Kossygin an US-Präsident Lyndon B. Johnson. Drei Minuten später hatte das geschulte Hotline-Team im Pentagon eine erste grobe Übersetzung angefertigt und bestätigte zwölf Minuten nach ihrem Eingang der sowjetischen Seite den Empfang der Nachricht.

Abb. 1
figure 1

Ereignisprotokoll der Hotline-Aktivitäten des 5. Juni 1967 (Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, NSF Files of Walt W. Rostow, Box 11, Folder: President – Kosygin Correspondence, Doc. 23. Public Domain)

Die erste Hotline-Nachricht der Sowjets begann mit einer Bitte um Auskunft: »The Chairman of the Council of Ministers Kosygin would like to know whether or not President Johnson is at your terminal.«Footnote 2 Diese Unsicherheit verweist darauf, dass das Protokoll zu einem Zusammentreffen beider Staatsführer im Kommunikationsraum der Hotline nicht vollständig geschrieben war. Das Problem der Adressierung war offensichtlich noch ungeklärt. Denn obgleich die Fernschreiberverbindung als Head-of-States-Leitung eingerichtet wurde, vermutete wohl Kossygin einen großen administrativen Apparat zwischen Johnson und dem US-amerikanischen Terminal, womit die schnelle Weiterleitung der Nachricht und ihre diskrete Behandlung nicht gesichert war. Nach dieser ersten tastenden Frage folgte sodann eine Bitte um die Weiterleitung des Fernschreibens an Johnson sowie der eigentliche Inhalt der Sendung.

Da es sich bei der Hotline um eine Krisenkommunikationsmedium handelt, hatte man wohl am Terminal im Pentagon das Gefühl, sogleich eine Reaktion zurückzusenden zu müssen, die allerdings aufgrund der morgendlichen Lage in Washington und der noch ausstehenden offiziellen Übersetzung zunächst ausbleiben musste. Deshalb entschied man sich, auf Zeit zu spielen, und teilte den Sowjets mit, dass Johnsons in 20 Minuten zur Verfügung stünde.

Um 8:05 Uhr erhielt dann Walt W. Rostow, der Nationale Sicherheitsberater Johnsons, eine erste Übersetzung. Neun Minuten später kündigte die amerikanische Seite eine Nachricht an und bat nach einer weiteren Minute die Mannschaft im Kreml um »stand by«. Dieser dauerte zwölf Minuten – dann endlich erfolgte die Antwort, die als Lückenfüller ein Telegramm wiederholte, das Johnson bereits am Vortrag über die normalen diplomatischen Kanäle abgeschickt hatte (im Normalbetrieb der Diplomatie wurde ein verschlüsseltes Telegramm an die Botschaft in Moskau gesendet, die das Schreiben nach der Entschlüsselung ans sowjetische Außenministerium zustellte; während der Kubakrise, in der es noch keine Hotline gab, konnte die Laufzeit eines solchen Telegramms elf Stunden betragen; vgl. Greiner 2010, 83). Das Hotline-Team hatte in der Aufregung allerdings nachlässig gearbeitet: Das Telegramm des Vortages war an Außenminister Gromyko adressiert, während die aktuelle Hotline-Nachricht Kossygin erreichen sollte. Der entsprechende Satz, der auf den Adressaten Gromyko verwies, wurde nicht herausgelöscht, was erst beim Prozess des Absendens bemerkt wurde. Deshalb unterbrach man die Übertragung, korrigierte die Nachricht und übertrug die verbesserte Version. Um 8:33 Uhr bestätigte die sowjetische Seite den Erhalt der Botschaft.

Die Verwirrung in Moskau war dennoch groß. Nicht nur die doppelte Adressierung, die immerhin korrigiert wurde, sorgte für Irritation. Auch die Ansprache Kossygins ließ im Kreml den Verdacht aufkommen, dass die US-Amerikaner die Lage nicht mit der gleichen Ernsthaftigkeit bedachten: »To Comrade Kosygin«Footnote 3 (s. Abb. 2) konnte man in der ersten Zeile der Sendung lesen, was man wahlweise als Boshaftigkeit, Humor oder eine gewisse unbedarfte Art des Hotline-Teams deuten mochte. Tatsächlich wussten die amerikanischen Hotline-Operatoren nicht, wie Kossygin zu adressieren ist – und fragten wohl vorab bei Ihren Kollegen in Moskau nach, die »Comrade Kosygin« vorschlugen.Footnote 4

Abb. 2
figure 2

»To Comrade Kosygin« (Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, NSF Files of Walt W. Rostow, Box 11, Folder: President – Kosygin Correspondence, Doc. 23c. Public Domain)

Vermutlich wurde hier eine interne mit einer externen Anrede verwechselt – jedenfalls versagte das, was man im 18. Jahrhundert mit Kanzleizeremoniell bezeichnet hatte, nämlich die Beachtung der notwendigen Form in der Schriftsprache, da das Protokoll für die Versendung von Hotline-Nachrichten offensichtlich noch nicht ausgearbeitet vorlag. Im Kreml wurde trotz einiger Irritation über diese Störung mit Blick auf die frühe Uhrzeit in Washington hinweggesehen.Footnote 5

In der Zwischenzeit wurde im Weißen Haus an der ersten richtigen Antwort gearbeitet, die dann um 8:57 verschickt werden konnte. Die Empfangsbestätigung aus Moskau verzögerte sich durch »garble on teletype«,Footnote 6 also einer medientechnischen Störung, und eine knappe dreiviertel Stunde später wurden durch die Kabel der Hotline wieder die normalen Testnachrichten gesendet.

An diesem Ereignisprotokoll sind hinsichtlich des diplomatischen Protokolls, das menschliche und nichtmenschliche Akteure der Hotline-Nutzung anleitet, vier Aspekte hervorzuheben.

Erstens schwankt das Protokoll zwischen nicht-regulierten und regulierten Verfahren, die sich durch die wiederholte Nutzung mit entsprechender Rückkoppelung einspielen und den ungekerbten Bereich des zwischenstaatlichen Zusammentreffens markieren. Bei der Einrichtung der Fernschreiberverbindungen wurden sehr viele Details vereinbart: Die Anzahl der Fernschreiber, die Kryptographie, der Verlauf des Kabels und der Backup-Funkverbindung wurden ebenso dokumentiert wie auch die Zusammensetzung der Hotline-Teams und das Procedere der Testnachrichten.Footnote 7 Dies mochte ausreichend sein für den stündlichen Testbetrieb, im Alltag des Weißen Hauses geriet allerdings die Hotline aus dem Blickfeld gleichsam wie die Hotline-Teams im Pentagon die Abläufe für eine Krisensituation offenbar nicht ausreichend trainierten. Von Nachricht zu Nachricht lernten die Teams wie auch der Stab des Präsidenten dazu, so dass die Sendungen, die im weiteren Verlauf des Sechstagekrieges folgten, zumindest protokolltechnisch routiniert vonstatten gingen.

Zweitens verweist die Problematik der Adressierung auf das Bestreben des Protokolls, die Positionen zu definieren und mit den dazugehörigen Personen zu besetzen. Die Verunsicherung bei der Adressierung stellt sich insbesondere dann, wenn das Protokoll nicht die Handlungen in einem Raum reguliert, bei dem man ein Gegenüber sehen kann, sondern wenn man mit Medientechniken verbunden ist, die nur genormte Schreibmaschinentypen übermitteln, die etwa durch die Auslöschung der Handschrift nicht auf einen individuellen Absender verweisen können. Nun mag sich dieses Problem etwa auch im Barock gestellt haben, wenn an einem Hof ein:e neue:er Gesandter:in empfangen wurde, die:den noch nie zuvor jemand gesehen hatte. Zur Akkreditierung waren dann Dokumente der jeweiligen entsendenden Hofkanzlei nötig, die mit Siegeln und Unterschriften die Funktion des:r Diplomaten:in bestätigten. Die Hotline überbrückt die Autorisierungslücke einerseits dadurch, dass bei ihr als Head-of-States-Verbindung zwischen Moskau und Washington die jeweiligen Enden präzise definiert sind. Andererseits werden diese durch eine Vielzahl von Akteuren bedient, so dass die eigentlichen Adressaten, nämlich die beiden Staatsführer in Ost und West, jenseits ihrer formalen Nennung an den Enden der Leitung zu verschwinden drohen. Die adressierenden Fragen »Wer schreibt?« oder »Wer empfängt?« wurden von den Nutzern der Hotline in ihrer Geschichte öfters gestellt und konnten vom Protokoll der Hotline nicht abschließend beantwortet werden.

Drittens ist die Störung als veränderndes Moment der Konventionen des Protokolls hervorzuheben. So ist zum einen die Aktivierung der Hotline bereits eine Störung, die den Bruch mit der diplomatischen Kommunikation im Normalzustand signalisiert. Als Krisenkommunikationsmedium auf höchster Ebene verschwindet sie im Normalzustand und gerät nicht selten in Vergessenheit. Dies erklärt auch, dass US-Präsident Johnson über die Hotline-Aktivierung seines sowjetischen Kollegen zunächst verwundert war. Zum anderen verweist die irritierende Anrede (und vielleicht auch die Druckerstörung) darauf, dass das Protokoll mit Wandel und Störungen rechnen und einen gewissen Spielraum einräumen bzw. ertragen muss, der zu Veränderungen führen kann.

Viertens rücken aufgrund der Störungen in der Adressierung sowie am technischen Medium Fernschreiber die Operationsketten des Protokolls in den Blick, mithin eine Vielzahl von Akteuren, die am Übersetzen, Schreiben, Versenden und an der Techniknutzung beteiligt sind: Denn nicht allein der Präsident als Akteur der großen politischen Linien schreibt und löst eine Krise, sondern viele menschliche und nichtmenschliche Akteure der kleinen Politik arbeiten an ihrer Bewältigung, also die Apparate, die Bediener:innen der Technik und die Übersetzer:innen – um nur einige zu nennen –, die allesamt einem Protokoll folgen und es bei Gelegenheit ändern, da Störungen hier und da Korrekturen verlangen und so das Protokoll Erneuerungsprozessen aussetzen.

Krisenprotokoll im Krieg gegen den Terror

Das zweite Fallbeispiel behandelt das diplomatische Protokoll der Hotline aus der Perspektive einer Fiktion, nämlich des Romans The Sum of all Fears von Tom Clancy. Die Handlung spielt zu Beginn der 1990er Jahren und thematisiert ganz in Zeiten des beginnenden War on Terror einen Angriff auf die USA, der scheinbar von der im Roman noch existierenden Sowjetunion initiiert wurde. Die verantwortliche palästinensische Terrorgruppe will so die beiden Länder in einen Krieg verwickeln. Während die Lage eskaliert, benutzen die Staatsführer der USA und UdSSR die Hotline, die – wie auch die tatsächlich installierte Hotline – mittlerweile digitalisiert worden ist und bei Bedarf einen Chatroom zum Austausch von Nachrichten eröffnet.

Ausgangspunkt der Krise ist ein atomarer Anschlag auf ein US-amerikanisches Football-Stadion. Nachdem der US-Präsident Fowler seinen sowjetischen Kollegen Narmonov über das Unglück informiert hat, antwortet dieser mit folgendem Hotline-Telegramm:

Authenticator: Timetable Timetable Time-

Table

Reply From Moscow

President Fowler:

We Have Noted The Event. Please Accept

Our Deepest Sympathy And That Of The Soviet

People. How Is Such An Accident Possible ? (Clancy 1992, 772)

Der unterstellte Unfall sorgt bei den Amerikanern für Ärger und Misstrauen und schürt den Verdacht, dass die UdSSR für den Angriff verantwortlich ist. Schließlich, so eine Überlegung, wären nicht viele Länder in der Lage, einen derartigen Anschlag mit spaltbarem Material durchzuführen. Die Situation eskaliert, als in Berlin ein konventioneller Angriff auf sowjetische Truppen – scheinbar als Rache der USA – ausgeübt wird. Beide Seiten stehen kurz vor einem Krieg. Fowler glaubt, dass der sowjetische Präsident die Lage nicht mehr kontrolliert und entmachtet wurde. Er schreibt mit der Hotline nach Moskau:

President Narmonov:

I Send This To You, Or Your Successor, As A

Warning

We Have Just Received A Report That A So-

Viet Submarine Is Even Now Attacking An

American Missile Submarine. […] (Clancy 1992, 861)

Der Verweis auf einen Sturz und möglichen Nachfolger beruhigt die Lage nicht. Narmonov sieht sich genötigt, in einer weiteren Hotline sich selbst zu identifizieren, um seine Absetzung zu dementieren:

President Fowler:

This Is Andrey Il’ych Narmonov Com-

Municating To You.

The Soviet Union Has Taken No Aggressive

Acts Against The United States. […] (Clancy 1992, 864)

In der Folge werden Beschuldigungen und Beleidigungen mit der Hotline übermittelt, die, wie ein Offizier anmerkt, die Situation nur verschlimmert: »These damned messages over the Hot Line are making things worse instead of better […]« (Clancy 1992, 868). Jack Ryan, stellvertretender CIA-Vorsitzender und Held des Romans, bemerkt als erster, dass Terroristen hinter den Anschlägen stehen. Um den beiden Staatsführern – und hier insbesondere Narmonov, der zugänglicher als sein eigener Präsident erscheint – die Zusammenhänge zu erläutern, muss er einen unkonventionellen Weg gehen: Da der direkte Zugang zum Machthaber versperrt ist, muss sich Ryan Zugang zum »Vorraum« der eigentlichen Machtzentrale im Kreml verschaffen, nämlich den Räumen der Hotline-Zentrale im Pentagon. Dort bittet er den wachhabenden Offizier um die Nutzung des Krisenkommunikationsmediums, dem Kanal und »Korridor zur Seele des Machthabers« (Schmitt 2008, 23):

Captain, the President has lost control. If you allow him to shut me off, your family, my family, a whole lot of people are going to die. Captain, your oath is to the Constitution, not the President (Clancy 1992, 876).

Nicht Narmonov, sondern Fowler hat die Kontrolle verloren. Während der amerikanische Präsident, der vom Camp David aus den Missbrauch seiner Hotline mitverfolgt, noch versucht, Ryans Aktivität zu stoppen, sucht der CIA-Agent bei der sowjetischen Seite Vertrauen aufzubauen. Er gibt er sich Narmonov gegenüber via Hotline zu erkennen, indem er Informationen sendet, die nur der sowjetische Präsident und er wissen können. Daher verschafft er sich Zugang zu einem Medium, das er eigentlich nicht benutzen dürfte. In der Position eines Störsenders im Kanal zwischen den beiden Staatsführern klärt er in der Folge die Umtriebe der palästinensischen Terrorgruppe auf, die die Anzettelung eines Krieges zwischen den USA und der UdSSR zum Ziel hat. Ein Offizier im Pentagon verliest schließlich die erlösende Nachricht aus Moskau:

Sir, the Soviet reply reads:

Ryan:

On my order, being sent out as you read this, Soviet strategic forces are standing down. […] (Clancy 1992, 877).

Dank der Einschleusung eines Dritten (vgl. Serres 1987) in die ursprünglich bipolar konzipierte Hotline deeskaliert die Lage schließlich. In Zeiten des beginnenden War on Terror, in dem Terroristen sich nicht für staatliche Strukturen interessieren, sondern diese in erster Linie bekämpfen, müssen auch die biopolaren Krisenkommunikationsmedien Störer als Sender akzeptieren (vgl. Shannon 1949) und potenziell netzwerkförmig werden.

Aus diesem dem Thriller The Sum of all Fears entnommenen Fallbeispiel lassen sich wie von den Ausführungen zu den tatsächlichen Ereignissen des Sechstagekriegs Hinweise zum Protokoll ableiten. Regulation, Adressierung, Störung und Akteursvielfalt geben Aufschluss über seine Funktionen, die nunmehr nicht mehr allein analog, sondern zunehmend digital geschaltet werden.

Erstens fällt die Fähigkeit zur Selbstanpassung auf, die zum einen durch die Digitalität, zum anderen durch den Offizier des Pentagon möglich wird. Denn die Verlagerung der Hotline vom analogen Fernschreibersystem zum digitalen Chatroom ermöglicht mehrere Eingabestationen, die den dritten Akteur Ryan an der Kommunikation teilnehmen lassen. Die Krisen, die im War on Terror anfallen, folgen keiner binären Logik mehr, sondern benötigen zur Lösung ein Netzwerk. Das Protokoll öffnet sich und integriert Dritte, die nun in einer erweiterten Choreographie im digitalen Raum an den Verhandlungen partizipieren.

Zweitens wird auch hier deutlich, dass das Protokoll zur Lösung seiner Aufgabe die korrekte Adressierung der teilnehmenden Akteure einfordert. Gerade dort, wo kein visueller Kontakt möglich ist – und auch hier wäre ja Täuschung möglich –, wird ein Verfahren benötigt, dass die Teilnehmer:innen korrekt identifiziert und adressiert. Im Roman geschieht dies noch durch eine Bezugnahme auf gemeinsame Erinnerungen und damit auf etwas, das außerhalb des Protokolls steht, der analogen Welt entnommen ist und die digitalen Zugangsverfahren umgeht.

Schließlich zählen solche Störungen des Zugangs und der Adressierung zu den Ereignissen, die das Protokoll zu Veränderungen antreiben. Die verfehlte Adressierung Fowlers sorgt kurzzeitig für Irritation, während Ryan als neuer Akteur und Störer das Protokoll der Hotline verändert und durch dieses neue, erweiterte Beziehungsgeflecht die Lage deeskalieren kann.

Auf den ersten Blick scheint in Clancys Fiktion das digitale Computerprotokoll, das Alexander Galloway analysiert hat, das alte diplomatische Protokoll abzulösen. Im Computerprotokoll, so Galloway, werden nicht wie in seinem Vorläufer zur Regulation der Außenpolitik die sozialen oder politischen Praktiken der Diplomat:innen vereinbart, sondern die Implementationen der Techniken ausgehandelt, die den Nutzer:innen weltweit den Zugang zum Internet ermöglichen. Galloway (2004, 7) beobachtet hier eine Verschiebung von »consideration and sense« der diplomatischen Protokolle hin zu »logic and physics« der computerisierten Prozesse. Diese Verschiebung ist spannend und für die Analyse von Computerprotokollen aufschlussreich, für das diplomatische Protokoll im digitalen Zeitalter allerdings nicht in dieser Zuspitzung sinnvoll. Denn Ryan kann sich nur identifizieren und Vertrauen aufbauen, indem er Erinnerungen mit Narmonov teilt, also im digitalen Raum auf menschliche Erfahrungen verweist. Umgekehrt wurden in der Diplomatie seit jeher neben Gesandt:innen auch Techniken eingesetzt, wie das Bespiel zum Sechstagekrieg und die tragende Rolle der Fernschreiber zeigen mag. Es geht hier wohl insgesamt eher um die Beobachtung einer Vielfalt von Akteuren in der Diplomatie, die darauf verweist, dass das diplomatische Protokoll seit jeher eine bürokratische Kulturtechnik ist, die menschliche wie nicht-menschliche Akteure in Verbindung setzt.

Politisch-Werden des Protokolls

Hannah Arendt hat im Kalten Krieg der polarisierend und unversöhnlich wirkenden Freund/Feind-Unterscheidung Carl Schmitts eine eigene Konzeption des Politischen gegenübergestellt (vgl. Herberg-Rothe 2004). Für Schmitt (1963, 38) bezeichnet das Politische den »Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen« und die Unterscheidung von Freund und Feind dient dabei als zentraler Indikator, der diesen Intensitätsgrad bemisst (vgl. Schmitt 1963, 27). Vor dem Hintergrund einer »krisenhaft welthistorischen Situation« (Herberg-Rothe 2004, 36) könnte ein totaler Staat zwischen Freund und Feind unterscheiden. Schmitt entwickelt mit seiner Unterscheidung einen polaren Raum, der Politik zwingend an die Außenpolitik knüpft und in der der Krieg eine logische »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« (Clausewitz 1998, 44) ist. Während der Staatsrechtler hier noch in den Stahlgewittern des Ersten Weltkrieges gefangen erscheint, sieht Arendt den Sinn des Politischen eher im Versuch des Ausgleiches, auch wenn die bipolare Ordnung des Kalten Krieges auf den ersten Blick ein Kontrastdenken eher befördert haben mag. Sie setzt auf Partizipation und nicht auf Dezision. Aufgabe des Politischen ist nach Arendt die »Herstellung eines öffentlichen Raums, innerhalb dessen die Beteiligten sich als Freie und Gleiche gegenüberstehen und zusammen handeln können« (Walter 2016, 518). Da die Philosophin hier insbesondere auf das antike Athen und die Diskussion der Bürger im öffentlichen Raum blickt, interessiert sie sich weniger für die Außenpolitik, die sie mit den expansiven Römern der Antike in Verbindung bringt, sondern verknüpft ihr Politikverständnis mit Innenpolitik, indem sie sich insbesondere für den Gründungsakt menschlicher Gruppierungen interessiert. Politik zeichnet sich durch öffentliche Debatten freier, relativ ebenbürtiger Bürger aus. Ein Grund für die Bevorzugung der Innenpolitik gegenüber der Außenpolitik liegt auch darin, dass jenes Feld weitgehend selbstbestimmt ist, während äußere Angelegenheiten insofern fremdbestimmt sind, da das Verhalten und Handeln anderer nicht in den eigenen Händen liegt (vgl. Walter 2016, 525).

Dennoch erscheint Arendts Ansatz für Überlegungen zum diplomatischen Protokoll produktiv, weil sie das Dazwischen in den Vordergrund stellt und als den Gegenstand der Politik das »Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen« (Arendt 2003, 9) identifiziert. Dabei begreift sie mit Bezug auf Thomas Hobbes den einzelnen Menschen als a-politisch, da das Politische nicht zur Essenz des Menschen gehöre. Vielmehr entsteht Politik nach Arendt »in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen«. Sie erscheint »im Zwischen und etabliert sich als der Bezug« (Arendt 2003, 11).

Es lassen sich sogar – befremdlich genug: hier die zur Flucht gezwungene jüdische Philosophin, dort der »Kronjurist des Dritten Reiches« – die Konzeptionen des Politischen von Arendt und Schmitt in einem Zusammenhang stellen (vgl. Herberg-Rothe 2004, 52 ff.; Walter 2016, 525, kritisiert dies). Beide arbeiteten an einer »Genealogie des Raumes der Politik« (Dubiel, 1994, 41; vgl. Herberg-Rothe 2004, 43). Denn zum einen vermisst Schmitt die Abstände, die Abstände zwischen Freund und Feind, und analysiert die spezifischen Besonderheiten der Land- und Seemächte. Und zum anderen interessiert sich Arendt für den »Zwischen-Raum« (Arendt 2003, 25), der Platz für die Vermittlung gegensätzlicher politischer Standpunkte birgt. Ihr vermittelndes »Dazwischen« lässt sich vom polaren Raum der Freund-Feind-Unterscheidung überblenden.

Denn wenn es Arendt in erster Linie darum geht, dass eine plural zusammengesetzte Gruppe von Personen mit gleichen oder zumindest ähnlichen Rechten miteinander verhandelt, dann könnte der praktische Wert von Politik darin liegen, dass sie die mitunter weit auseinanderliegenden Positionen von Freund und Feind in Verhandlungen vermittelt. Im besten Fall können solche Vermittlungen den Intensitätsgrad der Feindschaft reduzieren, im schlimmsten Fall zum Krieg eskalieren. Der Zwischenraum, den Arendt für die Einigungsprozesse der Bürger eher innenpolitisch einfordert, kann für außenpolitische Problemlagen ebenfalls als Ort der Verhandlungen dienen.

Dieser Zwischenraum wird vom diplomatischen Protokoll strukturiert. Wenn es die Regeln festlegt, nach denen sich Diplomat:innen im Raum bewegen und verhalten, wenn es die beteiligten Personen adressiert und positioniert, dann stellt es Bezüge zwischen den Menschen her, die, sobald sie sich dem Protokoll unterwerfen, nunmehr politisch sind. Die Konventionen des Protokolls definieren das Zwischen-den-Menschen, sie füllen die Lücken mit Verhaltensanweisungen, die ein reibungsloses Zusammentreffen von Diplomat:innen garantieren sollen. Und treten dennoch Störungen auf, werden etwa die Regeln bewusst oder zufällig nicht beachtet, kann es hinfällig werden und der Naturgewalt, also der Gewalt aller gegen alle weichen. Es kann aber auch dazulernen und neu justiert werden, um eine neue politische Situation darzustellen. Dieser Prozess der Definition von Beziehungen, Positionen und Adressierungen mitsamt den Schwankungen, den er stetig durchläuft, markiert einen Prozess des Politisch-WerdensFootnote 8 des Mediums Protokoll. Sein Lernen aus den Geschichten, die es selbst festgehalten hat, macht es zu einer politischen Kraft zur Regulierung des zwischenstaatlichen Austausches. Wird es überreguliert und läuft es leer, verliert es seine Bedeutung in der Ausgestaltung des Dazwischen und droht von und mit der diplomatischen Bühne zu verschwinden.