Die Logik des Protokolls beruht auf einer Transformation von Geschehen in Schrift und dadurch zu etwas eminent Gültigem. Das lässt sich bereits an der Geschichte des Begriffs ablesen. Protokollon hieß in der Antike ein Papyrusabschnitt mit eingeprägtem kaiserlichem Zeichen, »der einer Rolle vorangestellt, der ihr ›vorgeklebt‹, protokolliert werden musste, um Echtheit zu verbürgen« (Vismann 2000, 85). Gemäß dem Doppelsinn von Akten – als Handlungen und Schriftstücke – und mit Blick auf eine moderne, auf Institutionen verteilte Organisation von Herrschaft, ist das entsprechend zu variieren: Protokolle schreiben nun die Ergebnisse von Verhandlungen in Politik oder Justiz, in Kommissionen, Ausschüssen oder Gremien fest.

Neben den jeweiligen Sachverhalten betrifft das stets auch bestimmte Kriterien ihres Zustandekommens und die Form ihrer schriftlichen Fixierung; Protokolle wollen genehmigt sein. Drei Aspekte sind also einleitend festzuhalten: Erstens werden mit dem Protokoll ein zur Debatte stehender Sachverhalt für wahr und ein institutioneller Vorgang für gültig erklärt. Zweitens dokumentiert dieser Prozess in der Moderne eine auf Institutionen verteilte Struktur von Herrschaft. Drittens wird das auf diesem Weg für wahr und gültig Erklärte prinzipiell offen gehalten – für künftige Akte der Verwaltung wie für eine öffentliche Diskussion. Die für die »institutionelle[] Weiterverarbeitung« notwendige Form des Protokolls ermöglicht seine Überprüfung und Erforschung von Seiten einer »erweiterte[n] Öffentlichkeit« (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005, 8; 13).

Der Versuch, den ich hier unternehme, kümmert sich um zwei darüber hinausgehende, weniger offensichtliche, doch nicht weniger relevante Aspekte: Zunächst geht es um die durchaus emotionale Geste, die je nach Kontext vom vermeintlich so nüchternen Protokoll oder genauer vom Akt des Protokollierens vollführt wird. In Verbindung damit steht zur Debatte, inwiefern die Logik des Protokolls, sein Anspruch auf Wahrheit sowie auf ihre prinzipiell mögliche Weiterverhandlung in einer erweiterten Öffentlichkeit, spannungsvoll mit der Grundstruktur literarischer Ästhetik verbunden sind. Das sind keine marginalen Fragen. Vielmehr betreffen sie ein doppeltes Problem: nämlich einerseits wie das Ziel des Protokolls, Mitteilbarkeit und Weiterverhandlung zu generieren, durch den Duktus formaler Nüchternheit und apolitischer Unmittelbarkeit, durch sein anästhetisches Format, konterkariert wird; und andererseits inwiefern Literatur das Protokoll durch das Ausspielen der ästhetischen Karte für die wesentlich erforderte Weiterverhandlung öffnen und dadurch in eigener Sache einen Gültigkeitsanspruch außerhalb der eigenen literarischen Sphäre behaupten kann.

Wer schreibt das Protokoll? Jeder kennt diese Frage zu Beginn von Gremiensitzungen. Meist sind verkrampftes Blickabwenden und peinliches Stuhlgerutsche die Folge. Nicht etwa, weil Protokollieren eine so unzumutbar aufwändige Prozedur wäre, sondern weil damit eine sozialdistinktive Handlung verbunden ist. Wer Protokoll schreibt, scheint unwichtig genug, um stumm bleiben zu können, erscheint als »weisungsgebundenes Subjekt« (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005, 12), dessen Aufgabe die Sicherung der Ergebnisse ist und nicht so sehr eine aktive Rolle bei ihrem Erwirken. Subalternität gehört auch zum Formklima des Protokolls. Denn wer liest schon Protokolle, wenn man nicht gerade dazu verpflichtet ist im Rahmen bestimmter Institutionen (und selbst dann)? Besonders appealing ist diese schmucklose Textform nun wirklich nicht, und es wäre zu vermuten, dass zumindest die Literatur einen eher weiteren Bogen um sie macht. Das schiere Festhalten des »Wissenswerten«, der nackten Daten, die ein Ergebnisprotokoll aus einem »Wust von Nebensächlichkeiten« herausfiltert, entspricht nicht unseren Vorstellungen von Literarizität: der Sensibilität für die Spurenelemente des Wirklichen, für dessen Abschattungen und Kontingenzen und für die Vielfalt seiner Kontexte. Ebenso wenig geht Literatur in dem auf, was ein Verlaufsprotokoll festhält. Dessen Stunde schlägt zwar dann, wenn »den aufzuzeichnenden sprachlichen Äußerungen oder Ereignissen ein Eigenwert zugesprochen wird, der eine möglichst umfassende Speicherung legitimiert« (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005, 13, Herv. v. mir). Dabei geht es aber weder um Spurenelemente, noch steht Faktizität im Literarischen jemals ganz felsenfest da. Schon Studienanfänger:innen der Literaturwissenschaft bringen wir bei, dass jede Geschichte (histoire) ein zugrundeliegendes Geschehen nicht im 1:1-Format abbildet, sondern immer auf Akten der Selektion und Formung (discours) beruht. Mit genau dieser Attitüde tritt literarisches Erzählen mitunter sogar ausdrücklich gegen das als technokratisch oder bürokratisch empfundene amtliche Protokoll an. So etwa Imre Kertész Erzählung Protokoll (im ungarischen Original gleichbedeutend: jegyzőkönyv) aus dem Jahr 1991, die von einer auf traumatische Weise scheiternden Reise von Ungarn nach Österreich handelt. Dem Erzähler wird der Übertritt ins Nachbarland verweigert, weil er undeklariertes Bargeld bei sich hat. Die literarische Erzählung erklärt sich hier zum eigentlichen Protokoll der Ereignisse, zum Gegen-Protokoll: »Dieses Protokoll geht nicht etwa aus der Absicht hervor, Tatsachen richtigzustellen, sie zu straffen oder zu ergänzen, so als würden wir an so etwas wie die Bedeutung von Tatsachen oder gar die Wahrheit glauben. Wir glauben an gar nichts mehr.« (Kertész 1994, 6). Das Literarische kennt also zunächst einmal eher die Geste des Anti-Protokolls.

Ganz so einfach ist das allerdings nicht mit der Opposition zwischen Protokoll und Literatur. Die Literatur »der Moderne« hegt eigenartigerweise sogar »eine geheime Affinität zum Protokoll«. Als Grund hierfür lässt sich eine von der Literatur selbst als Kehrseite ihrer Autonomie verspürte Kontingenz und Grundlosigkeit benennen, die »Abwesenheit eines institutionellen Rückhaltes, einer definierbaren Funktion«. Dies kann es für Literatur reizvoll erscheinen lassen, »sich ihres Anderen zu bemächtigen, um damit zu experimentieren«, indem sie selbst »protokollarisch« wird (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005, 17). Konkret bedeutet das eine Abkehr vom Subjektivismus. Als Protokoll stellt Literatur programmatisch nicht mehr ästhetische Feinfühligkeit aus, sondern fungiert als vermeintliche »Zeugin und Sachwalterin einer ungeschönten und unverzerrten Wahrheit«. Ein häufig genanntes Beispiel dafür sind die Bottroper Protokolle von Erika Runge aus dem Jahr 1968, »die die Wahrheit exemplarischer ›unterprivilegierter‹ Subjekte öffentlich machen wollten« (ebd., 17) – und zwar im O-Ton. Tatsächlich sind die Bottroper Protokolle trotz der vermeintlich totalen Zurücknahme einer Erzählstimme zugunsten der reinen Aufzeichnungsfunktion überhaupt nicht neutral, weder mit Blick auf die Auswahl der Texte noch auf ihr Arrangement. Unvermeidlich kommen dabei auch kompositorische Erwägungen ins Spiel: Was kommt ins Protokoll? Welches Interview steht an welcher Stelle und in welcher Länge? Was lässt man ganz weg? Welche Rolle spielen Interviewsituation und -umstände? Nicht zuletzt hat Erika Runge, wie man weiß, nicht zu knapp in die Texte selbst eingegriffen. Von einer authentischen Selbstaussage kann also kaum die Rede sein. Dennoch ist es aufschlussreich, über die spezifische Mischung aus Empathie und Übergriffigkeit nachzudenken, wie sie für eine solche Form des Protokolls kennzeichnend ist. »Das Gerede von Autorinnen und Autoren, sie würden mit ihrem Werk denen eine Stimme verleihen, die selber keine haben«, komme ihm, schreibt Clemens Setz in Die Bienen und das Unsichtbare, »in den meisten Fällen so unausstehlich übergriffig und obszön vor« (Setz 2020, 60). Quite true. Dennoch hat die bürgerliche Institution Literatur spätestens mit dem Naturalismus Individuen zum Sprechen gebracht, die im Literarischen bis dahin nicht vorgesehen waren. Für Jacques Rancière bildet ein solches Sich- Gehör-Verschaffen von nicht Zugelassenen oder Ausgeschlossenen sogar den Kern der Ästhetik wie auch der Politik als zwei radikal auf Transformation zielenden Praktiken. Den Reliquienkult der Magd Félicité aus Gustave Flauberts Erzählung Un cœur simple aus den Trois Contes, bei dem einem ausgestopften Papagei »aus Liebe zum Grandiosen« eine vergoldete Nuss in den Schnabel gesteckt wird, liest Rancière trotz der Ironiesignale nicht als Satire über die Naivität der einfachen Leute oder ihre Kitschverehrung, die es zu keinerlei Autonomiestatus bringt, sondern als Ausdruck demokratischer Ästhetik. In Person der Magd werde vorgeführt, dass es in einer pluralen Gesellschaft eine Vielzahl ästhetischer Sensibilitäten gebe: eine »vibration of the great impersonal equality of sensible events« (Rancière 2017, 25). Das »Protokoll gesellschaftlicher oder sozialer Zustände« (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005, 17) wird so als demokratisches Zu-Gehör-Bringen zu einer Sache sozialer Aisthesis. Diese Geste gerät allerdings unter neueren medialen Rahmungen in eine gewisse Krise. Angesichts der »Allgegenwart und Zirkulationsdynamik« insbesondere webbasierter Selbstdokumentation in Online-Formaten und sozialen Medien, eines geradezu »entfesselten« Dokumentarismus in Text, Bild und Ton vor mitunter riesigen Followerschaften, ist es fraglich geworden, wie es um die »jeweilige Glaubwürdigkeit bestellt ist und welche Herausforderungen an die Vorstellung dokumentarischer Autorschaft aus dieser Ubiquität dokumentarischer Praktiken resultieren« (Balke et.al. 2020, 7 f.). Die Videokünstlerin Hito Steyerl hat deshalb sogar vorgeschlagen, »die dokumentarische Form nicht länger primär« als »Vermittlung von Informationen« zu betrachten, sondern als Versuch, »die Teilhabe an starken und vor allem authentischen Gefühlen« zu bewirken (ebd.). Diese Diagnose vom emotionalen Kokon des Dokumentarischen und, so würde ich darüber hinaus behaupten, auch des Protokolls – als emphatischer Geste mit einem gewissen Nötigungscharakter – erledigt es als Textform allerdings nicht, wie man meinen könnte. Vielmehr lässt sich ausgehend davon über die Schnittstelle zwischen Protokoll und Öffentlichkeit, zwischen vermeintlichem Null-Appeal und gesellschaftlicher Prozessierung, zwischen künstlerischem Verfahren bzw. Nicht-Verfahren und öffentlichem Diskurs, und das heißt: zwischen Subjektivität und Allgemeinheit nachdenken – allemal eine Sache der Ästhetik.

Die Geste literarischen Protokollierens ist also trotz vermeintlicher Nüchternheit und künstlerischem Understatement ziemlich komplex. Literatur sucht sich mit dem Protokoll gleichermaßen einen Konkurrenten aus, der zugleich ein Spiegelbild ist. Einerseits steht das Protokoll viel sicherer im Leben als sie selbst. Andererseits hat es aber ebenfalls in Sachen öffentlicher Geltung mit Defiziten zu kämpfen. Die Konfrontation des Protokolls mit dem Literarischen kann dadurch eine doppelte Reflexion leisten: über die Genese und öffentliche Geltung protokollarischer Notationen und über das literarische Verfahren. Denn die »Mimikry an den Protokollstil«, mit der sich Literatur, wie Niehaus und Schmidt-Hanisa schreiben, »ihrer Grundlosigkeit gewissermaßen entgegen« werfe, hebt immer auch die »Vermitteltheit aller über die Welt berichtenden Sachverhalte und Vorgänge« hervor (Niehaus/Schmidt-Hanisa 2005, 18).

Dieser Gedanke lässt sich ein wenig genauer mit Blick auf Robert Musil konturieren. Peter Plener hat in Bezug auf den Mann ohne Eigenschaften gemutmaßt, dass »Musil sehr präzise um die Funktion des amtlichen Protokolls« als »Entscheidungs-Algorithmus« wusste, um seine »Rolle im Sinne eines wesentlichen und begründenden bürokratischen Aktes, einer gefallenen Entscheidung, eines einmaligen Ereignisses, mit dem eine erst damit prozesshaft erscheinende Verkettung ereigneter und erhörter Begebenheiten an ihr Ende gekommen sein wird« (Plener 2021). Dies übrigens, so Plener weiter (Stichwort ästhetische Feinfühligkeit), im Unterschied zu Marcel Proust, der auf das »Protokoll [...] nicht aus der Sicht eines Amtsgeschulten, sondern aus gesellschaftlicher Sicht« rekurriere, allenfalls mit Blick »auf die Frage von Umgang und Reglement« – was eine andere Bedeutung des Begriffs ›Protokoll‹ ins Spiel bringt, nämlich die »Gesamtheit aller Regeln im diplomatischen Verkehr« (B. Roll/G. Kalivoda 2005, 371). Als studierter Maschinenbauer und Experimental-Psychologe kennt Musil natürlich auch das naturwissenschaftliche Protokoll. Im Empirismus, der das wissenschaftliche Verfahren auf Experiment und kontrollierte Beobachtung umstellt, wird das Protokoll als Notationsform etabliert, und im logischen Positivismus kommt es auch philosophisch zu Ehren. Eine Wissenschaft, die ihren Namen verdient, schreibt Musil in seiner Dissertation über Ernst Mach, solle sich nicht an Erklärungen versuchen, sondern auf »funktionale[] Beschreibungen« setzen (Musil 1980 [1908], 16f.). Ernst Mach selbst spöttelt, dass es bei Erklärungen und Narrativen stets um die »Beseitigung einer psychophysiologischen Beunruhigung« gehe (Mach 1987 [1910], 420). Musils Erzählkunst setzt auf die Gegenbewegung: auf die Rückverwandlung der vermeintlich neutralen Schilderung zu etwas Verstörendem – wie in dem kurzen Prosatext Das Fliegenpapier aus dem Nachlass zu Lebzeiten. »Das Fliegenpapier Tangle-foot ist ungefähr sechsunddreißig Zentimeter lang und einundzwanzig Zentimeter breit; es ist mit einem gelben, vergifteten Leim bestrichen und kommt aus Kanada«, setzt der Text ein, der das Sterben einer Fliege auf eben diesem Papier schildert. Nach dem betont nüchternen Beginn, bei dem lediglich die Vokabel »ungefähr« die Präzisionsgeste der Beobachtung und Messung konterkariert, landet schon der dritte Satz, der den Moment des Festklebens einfängt, bei Beunruhigendem:

Eine ganz leise, befremdliche Empfindung, wie wenn wir im Dunkel gingen und mit nackten Sohlen auf etwas träten, das noch nichts ist als ein weicher, warmer, unübersichtlicher Widerstand und schon etwas, in das allmählich das grauenhaft Menschliche hineinflutet, das Erkanntwerden als eine Hand, die da irgendwie liegt und uns mit fünf immer deutlicher werdenden Fingern festhält (Musil 1978a, 476).

Erkennen und Erkannt-Werden als verstörender Vorgang, Begreifen als unheimliche, haptische Erfahrung. In dieser Bildlogik reflektiert auch der poetologische Text Über Robert Musils Bücher über das Erzählen und seine Zukunft:

Irgendwann mag ja vielleicht das Erzählen einfach eines starken begriffsarmen Menschen reaktives Nocheinmalbetasten guter und schrecklicher Geister von Erlebnissen gewesen sein, unter deren Erinnerung sein Gedächtnis sich noch krümmte, Zauber des Aussprechens, Wiederholens, Besprechens und dadurch Entkräftens. Aber seit dem Beginn des Romans halten wir nun schon bei einem Begriff des Erzählens, der daher kommt. Und die Entwicklung will, daß die Schilderung der Realität endlich zum dienenden Mittel des begriffsstarken Menschen werde, mit dessen Hilfe er sich an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heranschleicht, die allgemein und in Begriffen nicht, sondern nur im Flimmern des Einzelfalls – vielleicht: die nicht mit dem vollen rationalen und bürgerlich geschäftsfähigen Menschen, sondern mit weniger konsolidierten, aber darüber hinausragenden Teilen zu erfassen sind (Musil 1978b, 997).

»Das Erzählen vom Kinderfrauenberuf zu emanzipieren!« – lautet die Losung dieses Projekts der Verschleifung naturwissenschaftlicher, amtlicher und erzählerischer Textverfahren, und das heißt: die Reflexion des eigenen über so manches Etablierte »hinausragenden« künstlerischen Tuns und die Transformation dessen, was mit »dem vollen rationalen und bürgerlich geschäftsfähigen Menschen« (997) in Verbindung steht. Mag das Papier, auf dem die Fliege landet, mit ca. 36 × 21 cm auch nicht exakt dem zu Musils Zeiten vorherrschenden Kanzleiformat (33 × 21 cm) entsprechen, die Assoziation ruft es dennoch hervor und generiert damit die mediale wie ästhetische Selbstreflexivität des Textes. Etwa wenn der Schluss des Fliegenpapiers eine anatomische Besonderheit der sterbenden Fliegen hervorhebt:

[I]n der Gegend des Beinansatzes, haben sie irgendein ganz kleines, flimmerndes Organ, das lebt noch lange. Es geht auf und zu, man kann es ohne Vergrößerungsglas nicht bezeichnen, es sieht wie ein winziges Menschenauge aus, das sich unaufhörlich öffnet und schließt (Musil 1978a, 477).

Überall Flimmern in dieser Präzision, flimmernde Einzelfälle, flimmernde Organe. Dies Organ hier, das wie ein Menschenauge aussieht, verweist den Wahrnehmenden auf sich und sein eigenes Betrachten zurück. Eine solche Blickerwiderung des wahrgenommenen Gegenstands ist topisch für die literarische Darstellung der Begegnung mit Kunst und ihrer Folgen. »Denn da ist keine Stelle, / die Dich nicht sieht«, kennen wir das aus Rilkes Gedicht Archaïscher Torso Apollos, »Du musst Dein Leben ändern«. Neben existentieller Angefasstheit vermittelt das flimmernde Organ aber auch noch etwas ganz anderes: die konstitutive Vorbehaltlichkeit des Ästhetischen. Denn Flimmern heißt stets auch flatternde Bewegung, heißt Ungewissheit, heißt Vorbehaltlichkeit und: heißt Zwinkern.

Ein wenig genauer möchte ich über dieses Double aus beunruhigender Präzision und ästhetischer Vorbehaltlichkeit des Protokolls anhand eines ganz gegenwärtigen Textes nahdenken, Ulf Erdmann Zieglers Eine andere Epoche (2021). Im Zentrum dieses Romans stehen die Enttarnung der Terrorgruppe NSU im November 2011 und die im Januar darauf folgende Einsetzung eines Bundestagsuntersuchungsausschusses. Überblendet wird das mit den Umständen, die schließlich zur Demission des Bundespräsidenten Christian Wulff im Februar 2012 führen, und perspektiviert wird das Ganze auf Fragen nach der Verbindung von Politik, Privatleben, ethnischer und sexueller Identität. Der Erzähler namens Wegman Frost arbeitet in der politischen Administration der SPD und ist Sohn eines amerikanischen »Indianer[s]«. Seinen mixed-race-Status teilt er mit zwei anderen Figuren, mit denen er seit Juso-Tagen befreundet ist und hinter denen sich unschwer der FDP-Politiker und damalige bundesdeutsche Vizekanzler (das war er tatsächlich) Philipp Rösler sowie der im Februar 2014 im Zuge einer Kinderpornographie-Affäre von seinem Mandat zurückgetretene SPD-Politiker Sebastian Edathy erkennen lassen. Edathy war zuvor, auch das hat man fast vergessen, Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses, und seine Arbeit wurde vielfach als brillant wahrgenommen. Der Romantitel Eine andere Epoche, der unterstreicht, dass sich mit dem NSU-Terror die ganze Bundesrepublik verändert hat (vgl. Ziegler 2021, 14), dass, schlicht gesagt, »die Deutschen wieder Nazis sind« (ebd., 101), lässt sich auch in dieser Hinsicht verstehen: als Erinnerung an Zusammenhänge, die längst aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden sind. Vor diesem Hintergrund bezeichnet der Klappentext die Aufgabe des Erzählers: »Protokolliert wird das Geschehen« von Wegman Frost, der als Büroleiter des Untersuchungsausschuss-Vorsitzenden »die Verkommenheit der Verhältnisse, das Versagen der Behörden kaum fassen kann«. Protokolliert wird das Geschehen natürlich nicht, jedenfalls nicht im strengen Sinne, sondern es wird erzählt, und zwar gewissermaßen von der Seite, von einem scheinbar eher peripher Beteiligten, der dennoch die Hauptfigur des Romans ist. Eine Erzählperspektive wie geschaffen für eine Reflexion des Protokolls. Wegman Frost ist denn auch verantwortlich für die Endfassung der Ausschussprotokolle – »für kommende Generationen« (ebd., 115). (Protokolle und Dokumente des NSU-Untersuchungsausschusses sind öffentlich im Internet zugänglich, ausgenommen jene Sitzungen bzw. Sitzungsteile, die als ›nicht-öffentlich‹ eingestuft wurden). Es geht also um die Dignität des Protokolls als Textsorte, die einen Prozess auslöst, das Material für eine nachfolgende Überprüfung und Erforschung bereitstellt und die zudem »definiert«, was »als wahr gelten soll« (Niehaus 2011, 142):

Wegman stellte das Telefon um auf [seinen Kollegen, HD] Alexi und schloss beide Türen, die zum Flur und die zu Alexis Zimmer. Er war jetzt allein mit den Stimmen, den halben Sätzen, den Atempausen, dem Raunen. Er würde nicht übertreiben. Nichts verfälschen. Er würde ein Protokoll abliefern, das nichts durchblicken ließ von moralischer Empörung. Sein Auge wäre das eines Wesens, das nie den Blick abwendet und niemals zwinkert. Dies war die Aufgabe seines Lebens (ebd., 115).

Niemals zwinkern? Das ist allerdings, wie bei Musil gesehen, so eine Sache, und Vorbehaltlichkeit bleibt auch für Zieglers engagierten Roman ein zentrales Thema. ›»Und es gibt keine Wahrheit?‹ ›Oh doch, eine Wahrheit gibt es. Aber niemanden, der sie kennt‹« (211). Dieser Ausschnitt aus einem Dialog zwischen Wegman und einer Freundin, einer Bielefelder Soziologie- Professorin und Systemtheoretikerin, ziert die U4 des Romans und könnte ebenso als Motto seines Verfahrens gelten. Das Bedürfnis nach Wahrheit, das eng mit der Geste des Protokolls zusammenhängt, treibt diesen Roman erkennbar an, was mit Blick auf die politischen Zusammenhänge nur zu gut nachvollziehbar ist. Doch was genau heißt hier ›Wahrheit‹ und wie funktioniert sie ästhetisch? Was der Kunsttheoretiker Boris Groys schreibt: »Wenn Kunst kein Medium der Wahrheit sein kann, dann ist sie nur eine Sache des Geschmacks« (Groys 2017, 17), ist jedenfalls zu einfach.

»Fiat veritas, et pereat mundus« (Arendt 2019, 45). Es herrsche Wahrheit, möge auch die Welt darüber zu Grunde gehen – so wandelt Hannah Arendt das lateinische Sprichwort Fiat iustitia, et pereat mundus ab. »Erstaunlicherweise« könne man, so schreibt sie, »der Staatsräson jedes Prinzip und jede Tugend eher opfern [...] als gerade Wahrheit und Wahrhaftigkeit«. Eine Welt ohne Gerechtigkeit oder auch Freiheit ließe sich vorstellen (auch wenn man in ihr nicht leben möchte). Mit der zunächst »so viel unpolitischeren« oder zumindest so scheinenden Idee der Wahrheit ist das merkwürdigerweise nicht möglich. Es geht ja um den Bestand der Welt, und keine von Menschen erstellte Welt, die dazu bestimmt ist, die kurze Lebensspanne der Sterblichen in ihr zu überdauern, wird diese Aufgabe je erfüllen können, wenn Menschen nicht gewillt sind, das zu tun, was Herodot als erster bewusst getan hat – nämlich legein ta eonta, das zu sagen, was ist. Keine Dauer, wie immer man sie sich vorstellen mag, kann auch nur gedacht werden ohne Menschen, die Zeugnis ablegen für das, was ist, und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist (ebd., 46).

Zwar könnte man denken, dass der Politik die Staatsräson wichtiger ist als Tatsachenwahrheit, da es in ihr um »Macht- und Interessenkämpfe« geht, in denen »die Lebensnotwendigkeiten die Menschen zwingen, sich zu organisieren und je nachdem miteinander zu handeln oder einander zu bekämpfen«. Aber in diesem Setting schlummert für Arendt neben der agonalen auch die »verhängnisvolle Reduktion des Politischen auf schiere Verwaltung« (91). Es gibt darüber hinaus, und darauf ist zu bestehen, im Kern des Politischen eine spezifisch erzählerische Formung von Wahrheit. Herodots legein ta eonta steht nämlich nicht für die positivistische »Summe aller uns zugänglichen Fakten und Ereignisse«, sondern für das Erzählen einer »Geschichte«, in der »die Fakten« nicht neutral sind, sondern »eine Bedeutung« erlangen, »die menschlich sinnvoll ist« (ebd., 89). Dieser Prozess verwässert die Wahrheit nicht, sondern macht sie erst, und zwar auf die einzig sinnvolle Weise dieses Begriffs: politisch. Auf diese Weise wird ein Weg aufgezeigt, auf jene »Schwierigkeit« zu reagieren, dass »Tatsachenwahrheit wie alle Wahrheit« zunächst einmal »einen Gültigkeitsanspruch stellt, der jede Debatte ausschließt« (61). Wie das mit Erkenntnisurteilen so ist: sie sind objektiv gültig, weil sie vollständig begrifflich herzuleiten sind. Sie sind richtig oder falsch, und zwar für alle. Man kann ihre Einsicht argumentativ erzwingen, wenn das nötig ist, was man, je nachdem auch (da muss man gar kein Querdenker sein) als »herrschsüchtig« (61) empfinden kann. »Anderer Leute Meinung [...] in Betracht zu ziehen, und in allen Überlegungen das, was andere denken und meinen, mit zu berücksichtigen, ist« hingegen »das Zeichen politischen Denkens« (61), und damit wie das Erzählen in unmittelbarer Nähe des Ästhetischen und seiner ihm genuinen Urteilsform. Diesem Zusammenhang geht Arendt in ihren Vorlesungen über Kants Kritik der Urteilskraft nach – laut Arendt Kants eigentlicher Philosophie des Politischen (vgl. Arendt, 1985). Das ästhetische Urteil hat seine Logik darin, das Subjektivste am Menschen, seine Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit, seine Sensibilität und sein Gefühl, mit dem Begrifflichen eines Urteils zu verklammern. Im Unterschied zum bloß Sinnlich-Angenehmen ist es deshalb möglich, über ästhetische Urteile zu diskutieren, sie anderen anzusinnen oder zuzumuten, wie Kant das nennt. Im § 40 der Kritik der UrteilskraftVom Geschmacke als einer Art von sensus communis – findet sich der locus classicus für diesen Gedanken:

Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde (Kant 2009 [1790] § 40).

Von wegen eine ›bloße Sache des Geschmacks‹. Das Ästhetische, die »Geschmackskritik«, wird hier vielmehr zum Geburtsort einer im Wortsinn »erweiterte[n] Denkungsart«, der Fähigkeit »an der Stelle jedes andern« zu »denken«. Damit tritt die Ästhetik bei Kant an die Seite zweier zentraler »Maximen des gemeinen« (lies: allgemeinen) »Menschenverstandes«: Der Forderung, dass die Vernunft »niemals passiv[]« sein dürfe, sondern »vorurteilsfreie[s] [...] Selbstdenken« zu praktizieren habe; und dass dies Denken »konsequent[]« zu sein habe, »mit sich selbst einstimmig« (§ 40).

Den Aspekt der ›erweiterten Denkungsart‹ greift auch Jürgen Habermas in Faktizität und Geltung, seiner Diskurstheorie des Rechts, auf (freilich ohne die genuin ästhetische Akzentuierung). Die »Produktivkraft der ›erweiterten Denkungsart‹« bedeute nichts anderes als eine »Verschwisterung der kommunikativen Macht mit der Erzeugung legitimen Rechts, das H. Arendt in den verschiedenen historischen Ereignissen aufspürt und für das ihr die verfassungsgebende Kraft der Amerikanischen Revolution als Vorbild gilt« (Habermas 1994, 184 f.). Nur erscheint diese Kraft in der rechtsstaatlichen Prozessordnung merkwürdig reduziert, zumindest was den Aspekt öffentlicher Kommunikation anbelangt. Während »die auf den Tathergang konzentrierte Beweisaufnahme [...] den Parteien« noch »einen begrenzt strategischen Umgang mit dem Recht« einräumt, spielt sich »der juristische Diskurs des Gerichts in einem verfahrensrechtlichen Vakuum ab[], so daß die Herstellung des Urteils dem professionellen Können der Richter allein überlassen bleibt. [...] Der juristische Diskurs soll, indem er aus dem eigentlichen Verfahren herausverlagert wird, externen Einflußnahmen entzogen werden« (290f.).

Nicht direkt von einem Vakuum, aber von einer Reihe vergleichbarer Metaphern ist die Rede im Vorwort der Protokolle des NSU-Prozesses, die SZ-Mitarbeitende von 2013 bis 2017 aufgezeichnet haben. »Eine Welt wie gefriergetrocknet«, heißt es über den Münchner Gerichtssaal. »Wie unter dem grellen Licht über einem Operationstisch« seien dort geradezu »aseptisch [...] eine monströse Reihe von Verbrechen seziert« worden. »Gefühle waren im Gerichtssaal A 101 nicht vorgesehen, sie wurden kurz abgefragt, notiert, dann ins Regal gelegt, zu den anderen Akten« (Ramelsberger et al. 2019, xv f.). Die bundesdeutsche Strafprozessordnung kennt den Unmittelbarkeitsgrundsatz, der die Mündlichkeit der Verhandlung betont. Es gibt folglich kein nennenswertes Protokoll, auch nicht für den internen Gebrauch. Aktenkundig werden lediglich nackte Daten, etwa ob ein Zeuge erscheint und welche Angaben er zur Sache macht und welcher Art diese sind, ebenso Anträge und Entscheidungen. Darüber hinaus existieren nur inoffizielle Mitschriften der beteiligten Anwälte und Richter sowie das, was das Publikum sich möglicherweise während der öffentlichen Verhandlung notiert – beides bloß für den Eigengebrauch.

Gerade um die Transparenz in diesem Mammut-Verfahren zu gewährleisten, sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass der Prozess per Video oder mit Tonband aufgenommen oder zumindest mitstenografiert wird – so wie das auch bei Debatten im Bundestag geschieht, die man dann auf der Homepage des Bundestags nachlesen kann. Oder wie am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, in dem zusätzlich zum Protokollanten sogar acht Kameras das Prozessgeschehen aufnehmen. Doch eine solche Dokumentation über den NSU-Prozess existiert nicht. Es gibt kein öffentliches offizielles Protokoll dieses Prozesses, ein Umstand, der selbst vielen interessierten Beobachtern des Verfahrens nicht bewusst war (Ramelsberger et al. 2019, xxvi f.).

Diese Lücke versuchen die vier SZ-Journalist:innen dadurch zu füllen, dass mindestens eine:r von ihnen an jedem Prozesstag im Gericht zugegen ist, um »per Hand oder mit dem Laptop mitzuschreiben«. So entsteht ein Buch mit mehr als 1000 engbeschriebenen Seiten, ein »Werk«, so die Vier mit hörbarem Stolz. Protokollschreiben dort, wo es eigentlich nicht vorgesehen ist, als Geste der Einlässlichkeit, Beharrlichkeit und Hingabe, die

gewährleisten will, was eigentlich Aufgabe des Rechtsstaats wäre: jeder interessierten Leserin, jedem interessierten Leser die Möglichkeit zu geben, die Geschehnisse dieses fünf Jahre dauernden Verfahrens nachzulesen und sich anhand dessen ein eigenes Urteil zu bilden (Ramelsberger et al. 2019, xxviii f.).

Schön wär›s, aber macht das jemand? Eher scheint es so, als sei ein stattliches, gut im Internet platziertes Beiprogramm nötig: Die Aufführung von Ausschnitten des Verfahrens in Film, Theater und Radio oder pro Jahr eine ganze, nur dem Abdruck von Prozessprotokollen vorbehaltene Ausgabe des SZ-Magazins.

Wie heikel die Frage nach der Öffentlichkeit in einem deutschen Strafprozess freilich sein kann, zeigt sich gleich am zweiten Verhandlungstag des NSU-Prozesses. Mit Blick auf die als zu klein empfundene Größe des Verhandlungssaals, in dem 50 ZuschauerInnen und genauso viele Vertreter der Medien Platz finden, moniert ausgerechnet die Zschäpe-Verteidigerin Anja Sturm (wohl um die Verlesung der Anklage hinauszuzögern): »Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist verletzt.« Bundesanwalt Herbert Diemer entgegnet:

Die Öffentlichkeit ist in ausreichender Weise hergestellt. Es gibt keinen Grund, in einen anderen Sitzungssaal auszuweichen. Es muss nicht jeder Zutritt haben. Die Verlegung in eine Mehrzweckhalle oder in ein Stadion birgt die Gefahr eines Schauprozesses. Man muss auch nicht jede Pore im Gesicht eines Zeugen sehen (Ramelsberger et al. 2019, 4 f.).

Ganz anders beim Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann. Die Verhandlung wurde per Radio und TV übertragen. Das lag im Interesse des Staats Israel, der hier anders als bei den von den Alliierten durchgeführten Nürnberger Prozessen selbst Herr des Verfahrens war und das Ziel hatte, eine Aufarbeitung des im Land vielfach tabuisierten Holocaust-Themas anzustoßen und dadurch die Traumabewältigung zu befördern. In Jerusalem sitzt Hannah Arendt als Prozessbeobachterin für den New Yorker auf der Tribüne des Gerichtssaals. Der Begriff des ›Schauprozesses‹ fällt gleich mehrfach in ihrem schneidenden, vielfach angegriffenen Bericht. Arendt adressiert mit dieser mehr als provokanten Formulierung besonders den Chefankläger und Generalstaatsanwalt Gideon Hausner sowie den israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion, den sie als eigentlichen Strippenzieher sieht. Kernpunkt des Vorwurfs ist die Vorstellung, nur ein jüdischer, nicht ein internationaler Gerichtshof könne »den Juden Gerechtigkeit angedeihen lassen«, weil der internationale Gerichtshof Eichmann nicht wegen Verbrechen ›gegen das jüdische Volk‹, sondern wegen Verbrechen gegen die Menschheit begangen am jüdischen Volk angeklagt hätte. Deshalb die merkwürdige rühmende Feststellung, »daß ein [internationaler] Gerichtshof ›keine völkischen Unterscheidungen‹ macht, die sich allerdings in Israel, wo der Personalstatus jüdischer Bürger durch rabbinisches Gesetz bestimmt wird, kein Jude einen Nichtjuden heiraten darf, völkische Unterschiede also juristisch verankert sind, weniger befremdend anhörte« (Arendt 2021, 74).

In der Tendenz ging Arendt sogar so weit, der jüdischen Identitätspolitik, der unterlassenen Laisierung der israelischen Gesellschaft den Keim eines »aggressiven Imperialismus« mit einer »Tendenz zu faschistischen Zügen« zu unterstellen (Mommsen 1986, 23). Wie nicht anders zu erwarten, fiel die Reaktion heftig aus. Arendt wurde wegen angeblicher Verharmlosung von Eichmann, in dem sie eher einen Technokraten als einen Antisemiten sah, und wegen ihres Hinweises auf die Passivität der jüdischen Opfer sowie die problematische Rolle von Judenräten, die im Rahmen der Deportationen oft kooperiert hatten, als Feindin der Juden und Komplizin der Antisemiten diffamiert.

Es ist nicht die Politisierung des Verfahrens überhaupt, die Arendt dem israelischen Staat vorwirft, es ist die Art, wie dies geschieht. Sie sieht sich zunächst einmal grundsätzlich einig mit dem leitenden Richter Moshe Landau, der zur Zurückhaltung mahnt.

Gerechtigkeit [...] verlangt äußerste Zurückhaltung und den Abbruch aller Beziehungen zur Öffentlichkeit, sie erlaubt gerade noch die Trauer, aber nicht einmal den Zorn, und sie diktiert schließlich strengste Enthaltsamkeit gegenüber allen Verlockungen, sich durch Scheinwerfer, Kameras und Mikrophone ins Rampenlicht zu spielen. (Arendt 2021 [1964], 73).

»Wer nichts will als die Wahrheit sagen, steht außerhalb des politischen Kampfes«, schreibt Arendt in Wahrheit und Politik, »und er verwirkt diese Position und die eigene Glaubwürdigkeit, sobald er versucht, diesen Standpunkt zu benutzen, um in die Politik einzugreifen« (Arendt 2019, 86). »Die Öffentlichkeit – wie Landau einmal schneidend zum Generalstaatsanwalt sagte – ›geht uns schließlich nichts an‹« (Arendt 2021, 74). Dieser existentielle Modus »des Alleinseins« hat Bedeutung für »die Unparteilichkeit des Historikers und des Richters und die Unabhängigkeit dessen, der Fakten aufdeckt, also des Zeugen und des Berichterstatters« (ebd., 86). »Die Frage ist lediglich, ob diesem Standpunkt selbst eine politische Bedeutung zukommt«, also ob und wie der »potenziell apolitische Charakter der Wahrheit« einer Re-Politisierung im Arendt’schen Sinn des Urteilens und des Erzählens zuzuführen ist.

Es ist aufschlussreich, in welchem Zusammenhang gerade an dieser Stelle die Sache, der Begriff und insbesondere die Geste des Protokolls ins Spiel kommen. Zunächst kennzeichnet Arendt ihren Text als »Bericht«, der neben ihrer Augenzeugenschaft auf dem »Prozeßmaterial« beruht, »das in Jerusalem an die Presse aushändigt wurde«, ein Material, das allerdings »bis auf die einleitende Gesamtdarstellung der Anklage und das Plädoyer der Verteidigung nicht veröffentlicht und nur schwer zugänglich ist«. Zudem könne »keines dieser Protokolle außer der von mir nicht benutzten ›offiziellen Niederschrift in hebräischer Sprache‹ [...] als absolut zuverlässig gelten«, nicht zuletzt aufgrund der von Arendt bemängelten Qualität der deutschen Übersetzung. Verwendbar ist ferner das »polizeiliche Protokoll des Verhörs« mit Eichmann, »das auf Band aufgenommen und dann Eichmann zur handschriftlichen Korrektur der Maschinenabschrift vorgelegt worden ist« (ebd., 49f.) – während die TV- und Radioaufzeichnungen in Archiven verschwinden. Mit Blick auf die Öffentlichkeit weist Arendt kühl darauf hin, dass dieser »Prozeß«, als dessen Publikum man sich »die ganze Welt« vorgestellt hatte, recht schnell in einem »halbleeren Saal« stattfindet. Orientalische Juden oder »junge Leute«, die man besonders adressieren wollte, weil sie »zu jung sind«, um »die Dinge zu kennen« oder »kaum etwas davon wussten« – Fehlanzeige. »Das Publikum besteht auch nicht aus Israelis«. Es sitzen dort vielmehr »alte, bestenfalls ältere Menschen, Emigranten aus Europa wie ich selbst, die längst auswendig wußten, was es da zu wissen gab« (ebd., 75f.). Und doch ist es wichtig für eine Gerichtsverhandlung, sogar »für einen Schauprozeß, präzise zu umreißen, was geschehen war und wie es getan wurde« (ebd.), eine Attitüde, die sich mit der ursprünglichen, wahrheitssichernden Geste des Protokolls verbindet. Auffälligerweise bringt Arendts Reaktion auf die Anfeindungen gegen ihren Prozessbericht exakt diese Geste ins Spiel, und zwar in ihrem berühmten TV- Gespräch mit dem Journalisten und späteren Politiker und Diplomaten Günter Gaus im Herbst 1964 in dessen Sendereihe »Zur Person« (ab 1967 hieß diese Sendung übrigens »Zu Protokoll«). Im Zentrum dieser Sendung steht die von Gershom Scholem und anderen geäußerte Mahnung, Arendt möge doch bitte ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk eingedenk sein. Das kontert Arendt, indem sie über die Rolle ihrer Mutter spricht. Die Frage nach dem Jüdischsein, erzählt sie, habe »keine Rolle« für die Mutter gespielt, »sie war selbstverständlich Jüdin. Sie würde mich nie getauft haben! Ich nehme an, sie würde mich rechts und links geohrfeigt haben, wäre sie je dahintergekommen, daß ich etwa verleugnet hätte, Jüdin zu sein. Kam nicht auf die Platte sozusagen. Kam gar nicht in Frage! […] Und wenn ich noch einmal auf das Besondere meines Elternhauses zurückkommen darf«, fährt sie fort:

Sehen Sie, der Antisemitismus ist allen jüdischen Kindern begegnet. Und er hat die Seelen vieler Kinder vergiftet. Der Unterschied bei uns war, daß meine Mutter immer auf dem Standpunkt stand: Man darf sich nicht ducken! Man muß sich wehren! Wenn etwa von meinen Lehrern antisemitische Bemerkungen gemacht wurden – meistens gar nicht mit Bezug auf mich, sondern in bezug auf andere jüdische Schülerinnen, zum Beispiel ostjüdische Schülerinnen –, dann wurde ich angewiesen, sofort aufzustehen, die Klasse zu verlassen, nach Hause zu kommen, alles genau zu Protokoll zu geben. Dann schrieb meine Mutter einen ihrer vielen eingeschriebenen Briefe; und die Sache war für mich natürlich völlig erledigt. Ich hatte einen Tag schulfrei, und das war doch ganz schön. Wenn es aber von Kindern kam, habe ich es zu Hause nicht erzählen dürfen. Das galt nicht. Was von Kindern kommt, dagegen wehrt man sich selber.Footnote 1

Alles genau zu Protokoll geben, wo man sich nicht selbst wehren kann. Mit höflich-zurückhaltendem, aber umso nachdrücklicheren Gestus, mit dem Arendt die Erfahrung des zu-Protokoll-Gebens zu Protokoll gibt – »und wenn ich noch einmal auf das Besondere meines Elternhauses zurückkommen darf...« – erzählt sie auch eine Geschichte, in der die Komplexe Zionismus, Antisemitismus, sich zur Wehr Setzen und Zu-Protokoll-Geben verklammert sind. Es geht dort um die konkrete Ursache, die sie »dann unmittelbar aus Deutschland weggeführt hat […]. Wenn ich das erzählen soll ... ich habe es niemals erzählt, weil es ja auch ganz belanglos ist«. Ist es, o.k. Bescheidenheitsgeste, natürlich nicht, weil es ja ums Erzählen geht, um die angesprochene Vermittlung des für wahr Befundenen ins Zwischenmenschliche und damit Politische. Ausgangspunkt der Geschichte ist Arendts Freundschaft mit dem Präsidenten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland Kurt Blumenfeld. »Ich war keine Zionistin«, betont Arendt. Aber gerade in dieser Rolle sei sie in der Lage gewesen, federführend ein Dokumentationsprojekt durchzuführen:

eine Sammlung an[zu]legen aller antisemitischen Äußerungen auf unterer Ebene. Also sagen wir einmal, Äußerungen in Vereinen, allen Arten von Berufsvereinen, allen möglichen Fachzeitschriften; kurz: dasjenige, was im Ausland nicht bekannt wird. Diese Sammlung zu veranstalten, das fiel damals unter ›Greuelpropaganda‹, wie man es nannte. Das konnte kein Mensch machen, der bei den Zionisten organisiert war. Weil, wenn er hochging, die Organisation hochging.

Auch hier geht es also um Sammeln, Aufzeichnen und Bezeugen, um Wahrnehmbar machen, Zu-Protokoll-Geben – zudem geht es aber immer auch um die Erzählung (»wenn ich das erzählen soll ... ich habe es niemals erzählt«). Die dritte aufschlussreiche Stelle in diesem Zusammenhang beschäftigt sich mit dem Ethos der »Unparteilichkeit« und »Unabhängigkeit«, mit dem Sagen-was-ist, dem legein ta eonta, »präzise zu umreißen, was geschehen war« und folglich auch mit der Frage, wie dies mit dem Politischen, der erweiterten Denkungsart, zu vermitteln ist. Es geht um Homers Schilderung von Hektor. »Ich würde sagen, daß Unparteiischkeit – die ist in die Welt gekommen, als Homer ...«, und Günter Gaus weiß gleich, worum es geht, und ergänzt, »... auch für den Besiegten ...«, und Arendt:

Richtig! ›Wenn des Liedes Stimmen schweigen von dem überwundnen Mann, dann laßt mich für Hektor ...‹, nicht wahr? Das hat Homer getan. Dann kam Herodot und hat gesagt: ›Die großen Taten der Griechen und der Barbaren.‹ Aus diesem Geiste kommt die ganze Wissenschaft, auch noch die moderne, auch die Geschichtswissenschaft. Wenn man zu dieser Unparteiischkeit nicht fähig ist, weil man vorgibt, sein eigenes Volk so zu lieben, daß man dauernd Schmeichelvisiten bei ihm ablegt – ja, dann kann man nichts machen. Ich bin der Meinung, daß das keine Patrioten sind.

Mein Gedankengang könnte hier als überambitioniertes Herumschnuppern mit ästhetischem Suchbefehl um das eigentlich so spröde wirkende Protokoll erscheinen. Und doch handelt es sich dabei im Kern um einen Problemkomplex, der just dort entsteht, wo der »protokollbasierte[] Aktenprozess« in ein mündliches und von den Prinzipien der Unmittelbarkeit geprägtes Verfahren überführt wird (Niehaus 2011, 156). Das Protokoll ist dann nicht mehr ein direktes »Medium des Rechts«. Das heißt, es spricht oder kodifiziert Recht nicht mehr im Stil einer Urkunde, es dokumentiert lediglich den Prozess der Rechtschöpfung und -sprechung – oder auch nicht, wie Hannah Arendt meint und deshalb mit ihrem Bericht nachgerade eine »Revision« (Menke 2013, 586) des Jerusalemer Prozesses vornimmt. Oder das Protokoll muss subsidiär angefertigt werden wie im Fall des NSU-Prozesses von jenen vier SZ-Mitarbeitenden, die viele Jahre, Tag für Tag, im Gerichtsgebäude mitschreiben; eine Geste, die nicht ohne Pathos versucht, sogenanntes Unbeschreibliches in die Öffentlichkeit zu bringen oder für die Nachwelt festzuhalten. Wer sitzt schon Tag für Tag in solch einem Gerichtssaal, wer macht sich im Zeitalter digitaler Aufzeichnungsmedien zum bloßen Schreiber und Kopisten, und wer liest diese 1500 eng beschriebenen Seiten des NSU-Prozesses, die bei der Bundeszentrale für politische Bildung für wenige Euro zu erwerben sind? Hier muss es also zu einer Transformation der vom Protokoll mit guten Gründen angeforderten Nüchternheit, Unparteilichkeit, Einlässlichkeit, jener Notier- und Lesebereitschaft für viele, viele Seiten kommen, und das heißt: es muss erzählt und ästhetisch geurteilt werden, wie sich effektvoll bei Arendt sehen lässt:

Aber ich war wirklich der Meinung, daß der Eichmann ein Hanswurst ist, und ich sage Ihnen: Ich habe sein Polizeiverhör, 3600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen, und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut! Diese Reaktion nehmen mir die Leute übel! Dagegen kann ich nichts machen. Ich weiß aber eines: Ich würde wahrscheinlich noch drei Minuten vor dem sicheren Tode lachen.

»Andi Nair«, so der Name des NSU-Untersuchungsausschussvorsitzenden in Ulf Erdmann Zieglers Eine andere Epoche (der Roman-Edathy), »Andi Nair hatte« während der Vorbereitung des Ausschusses, »in wilder Manier recherchiert, protokolliert, ausgedruckt: Fünf dicke Leitz-Ordner« (Ziegler 2021, 65 f.). Zu seinem Kompagnon Frost sagt er während einer Diskussion über das Material: »Wegman, es soll kein Roman werden« (ebd., 69). Genau das wird es aber, mit allen erzählerischen und ästhetischen Konsequenzen. Die Geste des Protokolls bestimmt das Formklima von Zieglers Versuch, ein Erzählen des »dabei« (ebd. 118) Seins, der Autopsie zu realisieren. Damit verbunden ist ein entschiedenes legein ta eonta in Arendts Sinn: sagen, was ist. Dem »Zaungast« Wegman Frost geht es um Unparteilichkeit, um »ein Protokoll [...], das nichts durchblicken ließ von moralischer Empörung [...], das nie den Blick abwendet und niemals zwinkert«. (ebd., 115, 118). Es gibt, fordert Zieglers Text, etwas zu »lernen von denen, die für die Kommas zuständig sind und für die Fußnoten«, nämlich dass »die Nebendinge nicht vergessen werden« (ebd.,154). Das bewegt sich dann auch auf jenes »Flimmern des Einzelfalls« zu. Etwa, wenn es um den Klang geht, anhand dessen Wegman meint, nur durch Hinhören den »Applaus der Konservativen und Liberalen« von demjenigen »der Opposition unterscheiden« (ebd., 7) zu können. »Aber das ist etwas jenseits der Politik, das behält Wegman Frost für sich«, formuliert der Roman eine asketische Haltung, die er natürlich gleich mit dieser Formulierung unterläuft. Denn die Leser*innen erfahren ja sehr wohl, was Wegmann da vermeintlich für sich behält. Beim Versuch einer romanhaften Übersetzung der nackten Wahrheit ins Politische geht es immer auch um solche ›Nebendinge‹, auch im oben genannten Sinne des Proust’schen Protokolls »aus gesellschaftlicher Sicht« mit Blick »auf die Frage von Umgang und Reglement«. Da ist beispielsweise »dieses völlig durchgedrehte Kleid« der First Lady Bettina Wulff, die damit den vermeintlich »falschen Glanz eines unerbetenen Aufstiegs« (ebd., 83) verbreitet. Die Gerüchte um ihre Person gelten Zieglers Roman als Kampagne der Bild-Zeitung gegen einen Bundespräsidenten, der es gewagt hatte davon zu sprechen, dass der Islam »inzwischen auch zu Deutschland« gehöre – ein halbes Jahr vor der Enttarnung der zuvor so genannten ›Döner-Morde‹ als Taten einer rechtsterroristischen Vereinigung. Und der Roman wagt sich noch weiter vor, wenn er die Ermittlung gegen Sebastian Edathy wegen des Besitzes von Kinderpornographie durch den Celler Generalstaatsanwalt Frank Lüttig (bei Ziegler heißt er Rolf Rettich) als ebenso von Interessen wie von Ressentiment getrieben darstellt, »es steht nämlich schlecht für ihn im Fall des Alt-BP« (ebd., 224). Es war tatsächlich in beiden Fällen – bei Wulff und Edathy – derselbe Generalstaatsanwalt in der Verantwortung, und »seit der Behandlung des Falls Christian Wulff« hatte er schlicht »keinen Ruf mehr zu verlieren«, schrieb Hans Leyendecker seinerzeit ganz unverblümt in der SZ (Leyendecker 2014).

Da kommt ihm der MdB aus Schaum- oder Nienburg gerade recht. Das ist ja nicht irgendwer: ein hochmütiger, scharfzüngiger Abgeordneter, der die Politik, die Polizei, die Geheimdienste öffentlich vorgeführt hat; der Sohn eines Zugezogenen aus dem Fernen Osten, der sich vorgenommen hatte, die Bundesrepublik Deutschland schlechtzumachen. Das weiß der Leitende Staatsanwalt, dass auch Leute wie er gemeint sind. Der Staat sei blind auf dem rechten Auge, das ist es, was der MdB unter großem Beifall der bürgerlichen Presse Woche für Woche in Berlin insinuiert hat. Dass Rettich dort nicht selbst vorgeführt wurde, liegt möglicherweise nur daran, dass die ostdeutschen Terroristen keine türkischen Kleinunternehmer in Hannover oder Wolfsburg erschossen haben. Also Pech für den MdB, der sich mit einer Kreditkarte, die seinen Namen trägt, in Kanada Heftchen mit Bildern Minderjähriger bestellt hat. [...] Dass die Heftchen nicht unter den Paragrafen 184b fallen, ahnt der Staatsanwalt sehr wohl. Wohl keine Pornografie, aber vielleicht ein Grenzfall. So wird er es sagen. Damit ist das Wort in der Welt. [...] Vernichten wird das diesen Andreas Nair allemal (Ziegler 2021, 224 f.).

Flimmernd oder vorbehaltlich funktioniert diese erlebte Rede nun eher nicht; eher wie eine hoch emotionale Parteinahme für vom Lauf der Geschichte ›überwundne Männer‹ wie Wulff oder Edathy. Der über Aktenberge gebeugte Held Andi Nair, der eifrig protokollierende Wegman Frost, das sind Typen, deren Ikonographie nur zu vertraut ist aus Politthrillern und Polizeifilmen. Doch diese Manie hat immer zwei Seiten. »Der verbitterte Ermittler und der eifernde Verschwörungstheoretiker, das sind Zwillinge« (ebd., 211), bemerkt spitz die Bielefelder Systemtheoretikerin mit dem bemerkenswert unprofessoralen Namen »Bibi«. Seine »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen« evoziert das literarische Protokoll, wie es Zieglers Roman verkörpert, durch ein spezifisches Pathos der Nüchternheit, das stets auch der Selbstbefragung offen steht, Vorbehaltlichkeit im Stil der erweiterten Denkungsart praktiziert. »Am Vormittag«, erfahren wir auf der letzten Romanseite, »widmete sich Wegmann der Studie Über die Revolution« (von Hannah Arendt), die Bibi ihm geschenkt hat. »Oh doch, eine Wahrheit gibt es. Aber niemanden, der sie kennt« (ebd., 211, 254).