Wenn es um die literarische Auseinandersetzung mit administrativen Belangen geht, gilt Franz Kafkas Schreiben bis heute als maßgeblich. Denn nicht nur, dass seine Texte immer wieder bürokratische Abläufe (im institutionellen wie verfahrenstechnischen Sinne) thematisieren und problematisieren. Spätestens 1908, als er in der versicherungstechnischen und Unfallabteilung der Prager »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen« (AUVA) angestellt wurde, war Kafka zum ausgewiesenen Experten für Verwaltungsfragen im modernen Wohlfahrtsstaat geworden. Hinzu kommt, dass man seinen Erzählduktus immer wieder als eine Art späthabsburgischen Kanzleystil beschrieben und ihm dabei parodistische oder auch bürokratiekritische Motive unterlegt hat. Bereits 1946 stellte Günther Anders fest: Fast durchweg »spricht seine Sprache ins Protokoll«, und in ihrer »Distanz von der Welt als ganzer« mache sie diese zur Sache eines Amtsstils, der Interesselosigkeit mit Präzision und Umständlichkeit mit Anmut zu vereinen weiß (Anders 1993, 95f.). Vielleicht stilistisch, sicher aber werkgenetisch und mit Blick auf den schwierigen take off von Kafkas Schreiben stellen seine Texte ›Mitschriften‹Footnote 1 der Bürokratie dar, die – wie hier zu zeigen ist – von Anbeginn das Verhältnis zwischen Literatur und amtlichen Aufschreibesystemen verhandeln.

Zunächst jedoch bildeten den Schauplatz dieser Verhandlung Kafkas Tagebücher, die er seit dem Herbst 1911 regelmäßig führte und die seine ›Geburt‹ als Autor (seinen literarischen Durchbruch mit dem Urteil im Herbst 1912) vorbereiteten. Zu ihnen gehören Notizen, die er auf Dienstreisen, bei Sanatoriumsbesuchen und auf den Urlaubsfahrten mit Max Brod angelegt hat, nicht zuletzt für den gemeinsam geplanten, bald aber aufgegebenen Roman Richard und Samuel. Im Gegensatz zu den klassisch diaristischen Einträgen, die hauptsächlich der »Innenschau des Schreibenden« (Koch 1994, 249) gedient haben mochten, zeigen die Reisetagebücher mit ihrem Fokus auf die »Szenenbeschreibung« einen »stärker protokollarischen Gestus«, wie festgestellt wurde (Engel und Auerochs 2010, 379). Man könnte auch sagen: Kafkas Schreiben geht hier nicht mehr so sehr von irgendwelchen Selbstbetrachtungen und Introspektionen aus als zusehends von jenen Schreibformen, die er schon von Amts wegen kannte und beherrschte.

Im ›Conceptsdienst‹ der AUVA, wo man von ihm als Anstaltsautor die »genaue Kenntniß der Actenlage«, »volle Vertrautheit« mit den einschlägigen »Vorschriften und Gebräuchen« und nicht zuletzt »stylistische Gewandtheit« erwartete (KKAA, 16), war er hauptsächlich mit dreierlei Schreibarbeiten befasst: erstens mit thematischen Beiträgen für die Öffentlichkeit, etwa im Rahmen von schutztechnischen Ausstellungen und von Flugblättern zur »Beschreibung typischer Unfallsereignisse« (KKAA, 271) oder in Gestalt von Aufsätzen wie dem Artikel »Die Arbeiter-Versicherung und die Unternehmer« für die Tetschen-Bodenbacher Zeitung vom 13. September 1911, in dem er die Defizite der staatlichen Unfallversicherung auf Versäumnisse der Verwaltung, ebenso aber auf das unsolidarische Profitstreben der Unternehmerschaft zurückführte (KKAA, 246); zweitens mit der anstaltsinternen ›Einreihung‹ der zwangsversicherten Unternehmen in ihre jeweilige ›Gefahrenklasse‹, wozu sämtliche versicherungsrelevante Daten gesammelt und tabellarisch disponiert werden mussten; und drittens mit Protokollen, Texten also, die (neben internen Angelegenheiten) vor allem den Parteienverkehr mit der AUVA dokumentieren sollten und die Kafka als ihr gesetzlich bevollmächtigter Vertreter etwa bei der Besichtigung von Betrieben (vgl. KKAA, 618) oder bei den Verhandlungen mit Anspruchsberechtigten, oft verunfallte Arbeiter, verfasste.

Eine kleine Automobilgeschichte

Besonders diese letzte amtliche Textform wurde für Kafka leitend, als er auf seiner zweiten Parisreise 1911 am 11. September, an der Ecke der Place des Deux Écus und der Rue du Louvre, zusammen mit Max Brod einen Autounfall beobachtete und sich beide vornahmen, aus ihren spontanen Notizen eine gemeinsame Geschichte für das Prager Tagblatt oder die Bohemia zu verfassen.Footnote 2 Daraus wurde nichts, weil Kafka schon bald nach beider Rückkehr alle gemeinsamen Projekte aufkündigte, um sich als Autor vollends selbständig zu machen. Seine »kleine Automobilgeschichte« (KKAT, 226), wie er sie wenig begeistert nannte, blieb unveröffentlicht, aber mit folgendem Wortlaut in seinem Tagebuch erhalten:

Montag 11. Sept. <1911> Auf dem Asphaltpflaster sind die Automobile leichter zu dirigieren aber auch schwerer einzuhalten. Besonders wenn ein einzelner Privatmann am Steuer sitzt, der die Größe der Straßen, den schönen Tag, sein leichtes Automobil, seine Chauffeurkenntnisse für eine kleine Geschäftsfahrt ausnützt und dabei an Kreuzungsstellen sich mit dem Wagen so winden soll, wie die Fußgänger auf dem Trottoir. Darum fährt ein solches Automobil knapp vor der Einfahrt in eine kleine Gasse noch auf dem großen Platz in ein Tricykle hinein, hält aber elegant, tut ihm nicht viel, tritt ihm förmlich nur auf den Fuß, aber während ein Fußgänger mit einem solchen Fußtritt desto rascher weiter eilt, bleibt das Tricykle stehn und hat das Vorderrad verkrümmt. Der Bäckergehilfe, der auf diesem der Firma — gehörigen Wagen bisher vollständig sorglos mit jenem den Dreirädern eigentümlichen schwerfälligen Schwanken dahingefahren ist, steigt ab, trifft den Automobilisten, der ebenfalls absteigt und macht ihm Vorwürfe, die durch den Respekt vor einem Automobilbesitzer gedämpft und durch die Furcht vor seinem Chef angefeuert werden. Es handelt sich nun zuerst darum zu erklären, wie es zu dem Unfall gekommen. Der Automobilbesitzer stellt mit seinen erhobenen Handflächen das heranfahrende Automobil dar, da sieht er das Trycykle das ihm in die Quere kommt, die rechte Hand löst sich ab und warnt durch Hin- und Herfuchteln das Tricykle, das Gesicht ist besorgt, denn welches Automobil kann auf diese Entfernung bremsen. Wird es das Tricykle einsehen und dem Automobil den Vortritt lassen? Nein, es ist zu spät, die Linke läßt vom Warnen ab, beide Hände vereinigen sich zum Unglücksstoß, die Knie knicken ein, um den letzten Augenblick zu beobachten. Es ist geschehn und das still dastehende verkrümmte Tricykle kann schon bei der weitern Beschreibung mithelfen. Dagegen kann der Bäckergehilfe nicht gut aufkommen. Erstens ist der Automobilist ein gebildeter lebhafter Mann, zweitens ist er bis jetzt im Automobil gesessen, hat sich ausgeruht, kann sich bald wieder hineinsetzen und weiter ausruhn und drittens hat er von der Höhe des Automobils den Vorgang wirklich besser gesehn. Einige Leute haben sich inzwischen angesammelt und stehen wie es die Darstellung des Automobilisten verdient nicht eigentlich im Kreise um ihn, sondern mehr vor ihm. Der Verkehr muß sich inzwischen ohne den Platz behelfen, den diese Gesellschaft einnimmt, die überdies nach den Einfällen des Automobilisten hin und her rückt. So ziehn z. B. einmal alle zum Tricykle um den Schaden von dem so viel gesprochen worden ist, einmal genauer anzusehn. Der Autom. hält ihn nicht für arg, (einige halten in mäßig lauten Unterredungen zu ihm) trotzdem er sich nicht mit dem bloßen Hinschauen begnügt sondern rund herumgeht, oben hinein und unten durch schaut. Einer, der schreien will, setzt sich, da der Aut. Schreien nicht braucht, für das Tricykle ein; er bekommt aber sehr gute und sehr laute Antworten von einem neu auftretenden fremden Mann, der wenn man sich nicht beirren läßt, der Begleiter des Aut. gewesen ist. Einigemale müssen einige Zuhörer zusammen lachen, beruhigen sich aber immer mit neuen sachl. Einfällen. Nun besteht eigentlich keine große Meinungsversch. zwischen Aut. u. Bäck., der Aut. sieht sich von einer kleinen freundlichen Menschenmenge umgeben, die er überzeugt hat, der Bäckerjunge läßt von seinem einförmigen Armeausstrecken und Vorwürfemachen langsam ab, der Aut. leugnet ja nicht daß er einen kleinen Schaden angerichtet hat, gibt auch durchaus dem Bäck. nicht alle Schuld, beide haben Schuld, also keiner, solche Dinge kommen eben vor u. s. w. Kurz die Angelegenheit würde schließlich in Verlegenheit ablaufen, die Stimmen der Zuschauer, die schon über den Preis der Reparatur beraten, müßten abverlangt werden, wenn man sich nicht daran erinnern würde, daß man einen Polizeimann holen könnte. Der Bäckerjunge der in eine immer untergeordnetere Stellung zum Au. geraten ist, wird von ihm einfach um einen Pol. geschickt, und vertraut sein Tricykle dem Schutz des Aut. Nicht mit böser Absicht, denn er hat es nicht nötig, eine Partei für sich zu bilden, hört er auch in Abwesenheit des Gegners mit seinen Beschreibungen nicht auf. Weil man rauchend besser erzählt, dreht er sich eine Cigarette. In seiner Tasche hat er ein Tabaklager. Neu ankommende Uninformierte und wenn es auch nur Geschäftsdiener sind werden systematisch zuerst zum Automobil, dann zum Tricykle geführt und dann erst über die Details unterrichtet. Hört er aus der Menge von einem weiter hinten Stehenden einen Einwand, beantwortet er ihn auf den Fußspitzen, um dem ins Gesicht sehn zu können. Es zeigt sich, daß es zu umständlich ist, die Leute zwischen Aut. u. T. hin und herzuführen, deshalb wird das Automobil mehr zum Trottoir in die Gasse hineingefahren. Ein ganzes Tricykle hält und der Fahrer sieht sich die Sache an. Wie zur Belehrung über die Schwierigkeiten des Automobilfahrens ist ein großer Motoromnibus mitten auf dem Platz stehn geblieben. Man arbeitet vorn am Motor. Die ersten die sich um den Wagen niederbeugen sind seine ausgestiegenen Passagiere im richtigen Gefühl ihrer nähern Beziehung. Inzwischen hat der Aut. ein wenig Ordnung gemacht und auch das Tr. mehr zum Trottoir geschoben. Die Sache verliert ihr öffentl. Interesse. Neu Ankommende müssen schon erraten, was eigentlich geschehen ist. Der Aut. hat sich mit einigen alten Zusch. die als Zeugen Wert haben, förmlich zurückgezogen und spricht mit ihnen leise. Wo wandert aber inzwischen der arme Junge herum? Endlich sieht man ihn in der Ferne, wie er mit dem Pol. den Platz zu durchqueren anfängt. Man war nicht ungeduldig aber das Interesse zeigt sich sogleich aufgefrischt. Viele neue Zuschauer treten auf, die auf billige Weise den äußersten Genuß der Protokollaufnahme haben werden. Der Aut. löst sich von seiner Gruppe und geht dem Pol. entgegen, der die Angeleg. sofort mit der gleichen Ruhe aufnimmt, welche die Beteiligten erst durch halbstündiges Warten sich verschafft haben. Die Prot.aufnahme beginnt ohne lange Untersuch. Der P. zieht aus seinem Notizbuch mit der Schwerfälligkeit eines Bauarbeiters einen alten schmutzigen aber leeren Bogen Papier, notiert die Namen der Beteiligten, schreibt die Bäckerfirma auf und geht um dies genau zu machen schreibend um das Tricykle herum. Die unbewußte unverständige Hoffnung aller Anwesenden auf eine sofortige sachliche Beendigung der ganzen Angel. durch den Pol. geht in eine Freude an den Einzelheiten der Prot. auf. über. Diese Pr. stockt bisweilen. Der Pol. hat sein Prot. etwas in Unord. gebracht und in der Anstrengung es wieder herzustellen, hört und sieht er weilchenweise nichts anderes. Er hat nämlich den Bogen an einer Stelle zu beschreiben angefangen, wo er aus irgend einem Grunde nicht hätte anfangen dürfen. Nun ist es aber doch geschehn und sein Staunen darüber erneuert sich öfters. Er muß den Bogen immerfort wieder umdrehn, um den schlechten Prot.anfang zu glauben. Da er aber von diesem schlechten Anfang bald abgelassen und auch anderswo zu schreiben angefangen hat, kann er, wenn eine Spalte zu Ende ist, ohne großes Auseinanderfalten und Untersuchen unmöglich wissen, wo er richtigerweise fortzusetzen hat. Die Ruhe die dadurch die Angeleg. gewinnt, läßt sich mit jener frühern durch die Bet. allein erreichten gar nicht vergleichen (KKAT, 1012–1017).

Unfallstatistik

Kafkas Text dreht sich um eine doppelte Kollision: zum einen die zwischen zwei Konkurrenten aus der Frühzeit des Automobils, nämlich zwischen Carl Benz’ dreirädrigem Motorwagen und Gottlieb Daimlers Gefährt auf vier Rädern (vgl. Lieb 2009, 198); zum anderen die zwischen einem geschäftlichen und einem privaten ›Automobilbetrieb‹, deren gemeinsame Aufnahme in die Versicherungspflicht im Österreich des Jahres 1908 gesetzlich beschlossen worden war. Kafka stand, während er den Pariser Unfall beobachtete, wohl auch diese abstrakte Konfrontation vor Augen, zumal er selbst im Jahresbericht der AUVA für das Jahr 1908 auf die Unklarheiten des Gesetzes und den Widerstand der ›Automobilisten‹ hingewiesen hatte, ebenso wie auf »den Mangel jeglichen statistischen Materials« und auf die Notwendigkeit einer »Individualisierung« der neuen Versicherten (KKAA, 179f.). Das in Paris Vorgefallene wird er unweigerlich als Unfall im modernen Sinne aufgefasst haben: als ein Geschehen, das weder als schicksalshaftes Unglück noch als individuelle Fehlleistung oder bloßes Missgeschick zu verstehen ist, sondern vielmehr als ereignishafte Überlagerung und Verwirrung von menschlichen Handlungs- und technischen Wirkungsketten. Diese Überlagerung und Verwirrung – und nicht nur das vermeintlich objektiv Protokollierbare des bloßen Augenscheins – steht am Anfang seiner Mitschrift.

Regelrecht schuldhaftes Handeln muss bei einem Unfall allererst nachgewiesen werden, seitdem man Mitte des 19. Jahrhunderts (in Frankreich wie in Habsburg) festgestellt hat, dass nur in den seltensten Fällen einfache Verursachungen, sondern zumeist komplexe Kausalitäten vorliegen, die bestenfalls statistisch zu erfassen sind. Probabilistisch, also rechnerisch oder allgemein administrativ ermittelte Risiken machen berechenbar, welche Gefährlichkeit mit dem Einsatz eines Fahrzeugs (oder technischen Geräts allgemein) verbunden ist und welche Versicherungsprämien entsprechend zu entrichten sind, um im Schadensfall kompensiert zu werden. Im modernen »État-providence« (François Ewald) treffen mithin statistische Gesetze auf Strafgesetze und herrschen technische neben Rechtsexperten (vgl. Ewald 1991, 205) – eine Konstellation, die der Verwaltung neue Aufgaben und erweiterte Entscheidungsbefugnisse zukommen lässt. Gleichzeitig aufgerüstet und abgesichert, mögen sich die Einzelnen in »der Illusion ihres Bewußtseins und ihrer Freiheit« wiegen, doch sind sie letztlich nur menschliche »Teile« eines technisierten »Ganzen«, die »dessen Gesetzen gehorchen und zu dessen Ordnung beitragen« (Ewald 1993, 450). Oder anders gesagt: Die angebliche Substanz (der Mensch und seine Handlungsfreiheit) erweist sich als »relativ und zufällig«, das vermeintliche Akzidenz (die Technik und ihr Unfall) hingegen als »absolut und notwendig« (Virilio 1979, 77).

Unter diesen Vorzeichen präsentiert Kafkas Text den Unfall als statistischen Fall: Der erste Satz formuliert allgemeine Risikobedingungen (Automobile »auf dem Asphaltpflaster«) im generellen Präsens, der zweite Satz benennt Typen und konkrete circumstantiae (eine private Fahrt auf großen Straßen an einem schönen Tag). Der dritte deduziert dann (insofern mit dem ›Darum‹ eine echte Ableitungsoperation verknüpft ist, nicht nur deren Karikatur) einen statistisch normalen Unfall als Teil einer Serie erwartbarer Ereignisse (vgl. Mülder-Bach 2002, 203). Das Unfallgeschehen vollzieht sich offenbar mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, scheint doch beim Geschilderten ein unabänderliches Ablaufschema am Werk. Und zugleich ist der Unfall, insofern er in der statistischen Perspektive bereits als Möglichkeit vorweggenommen ist, gewissermaßen immer schon geschehen oder zumindest potentiell von jeher passiert (vgl. Schäffner 2000, 110f.). Was sich wie eine Folge von ›Protokollsätzen‹ präsentiert, ist gegenüber dem – stricto sensu unbeobachtbaren – Ereignis des Unfalls unweigerlich eine nachträgliche Mitschrift, deren Status weder auf das Dokumentarische noch das Literarische festzulegen ist. (Der Text wurde übrigens erst am 20. September verfasst und dabei auf den 11. rückdatiert.) Kafkas charakteristisches Erzählen, das Ereignisse und Geschehensabläufe zumeist als längst passiert oder aber unabänderlich präsentiert, das subjektive Beweggründe und persönliche Motivationen zugunsten sachlicher Perspektiven zurückzustellen und dennoch subjektiv beschränkt oder personal perspektiviert scheint, konturiert sich erstmals in diesem kurzen Unfall-Text; und womöglich ist es sogar in dessen statistischer und protokollarischer Anlage fundiert.

Straßentheater

Nach dieser einleitenden Passage, die im Stile eines Vorsatzblatts (oder protókollon) über den Status und die Geltung des Texts insgesamt bestimmt, handelt dieser von einem allerersten (der eigentlichen Mitschrift vorausgehenden) Anlauf zur Geschehensrekonstruktion: von der gestischen Wiederaufführung des Unfalls durch den Automobilisten. Nur dem ersten Anschein nach geht es hier um eine harmlose Pantomime. Die Klassendifferenz zwischen dem Privatmann und dem Bäckerjungen, das zwischen dem großen Herrn und subalternen Hilfsarbeiter herrschende diskursive, habituelle und auch technische Gefälle (deutlich bereits in ihrer unterschiedlichen Sitzhöhe) tritt vor aller Augen, sobald der Ort der Kollision zum Schauplatz von Repräsentation geworden ist. An die Stelle des Straßenverkehrs rückt das Straßentheater, und in Szene gesetzt werden hier, in vermeintlich objektiver und sachlicher Perspektive, allein das Automobil und das Tricycle, die ja bereits der Textbeginn als eigentliche Akteure dargestellt hat. Doch nicht nur, dass des Automobilisten Gebärdentheater die Technik anthropomorphisiert, ihr Intentionen und Kommunikationen zuschreibt, denen die Fahrer mit ihren Absichten und Handlungen allenfalls angegliedert sind. Im Wortsinn manipuliert das Spiel der Hände nebenbei auch das erste, noch behelfsmäßige Protokoll. Denn durch eine minimale Geste wird hier unausgesprochen behauptet, das Auto hätte das Tricycle noch vergeblich zu warnen versucht. Nun freilich gilt: »Es ist geschehn«, womit die Rekonstruktion zu Ende ist und fortan »das still dastehende verkrümmte Tricykle« zur »weitern Beschreibung« helfen soll.

Der Augenschein dient jedoch weniger dem kritischen Abgleich mit der Pantomime, als dass er dem Automobilisten eine weitere Bühne als Regisseur, als Sachverständiger und zuletzt als Schlichter überlässt. Zum einen bahnt die Begutachtung die etappenweise ›Genehmigung‹ des gestischen Protokolls durch die Zeugen an, nämlich durch das Straßen- oder vielmehr Theaterpublikum; zum anderen aber die rhetorische und theatrale, die diskursive und habituelle Überwältigung des Bäckergehilfen. Und tatsächlich lässt dieser »von seinem einförmigen Armeausstrecken und Vorwürfemachen langsam ab, der Aut. leugnet ja nicht daß er einen kleinen Schaden angerichtet hat, gibt auch durchaus dem Bäck. nicht alle Schuld, beide haben Schuld, also keiner, solche Dinge kommen eben vor u. s. w.« Machen sich, nach Adornos Beobachtung, die Figuren in Kafkas Erzähltexten gerade durch den Versuch schuldig, »das Recht auf ihre Seite zu bringen« (Adorno 1977, 286), bemüht sich hier ein Automobilist darum, die Versicherung und ihr Solidaritätsprinzip für sich in Anspruch zu nehmen, um damit die Frage der Schuld aus der Welt zu schaffen. Der raison d’être des Vorsorgestaats schließt sich der Mächtige also bevorzugt an, sobald ihm selbst Schuld und Schaden droht. Den Schaden aus dieser vermeintlich gütigen Einigung dürfte aber zuletzt der Bäckergehilfe haben. Denn während sich die zwangsversicherten Unfallgegner, der geschäftliche und private Automobilbetrieb, leicht auf das Risiko einigen können als das, »was uns aneinander bindet« (Ewald 1993, 483), läuft der Hilfsarbeiter Gefahr, mit dem Tricycle auch seine unsichere Stellung zu verlieren. Wohl deshalb haben die Beteiligten das Gefühl einer leichten »Verlegenheit«, ehe sie sich »daran erinnern […], daß man einen Polizeimann holen könnte.« Den Polizisten vom Bäckerjungen verständigen zu lassen, als wäre er sein persönlicher Gehilfe – dies ist die letzte Machtgeste des Automobilisten, ehe nunmehr die Behörde übernimmt.

Amtsbegehren

Angekündigt hat sich die Behörde allerdings bereits, als das Tricycle in Augenschein genommen wurde. Der dabei erstmals zur Sprache gekommene »Schaden« führte nämlich zu einer merklichen Veränderung: auf der Szene der Akteure zum aufgeregten Schreien und Lachen der Parteiungen, auf dem Schauplatz der Schrift hingegen zur Versachlichung und Verknappung (vgl. Erdle 2015, 209). Die theatrale Arena der Wahrheitsfindung wird von einer nunmehr auftauchenden Ordnung der Schrift erstmals spürbar durchkreuzt und konterkariert, als sich die Bezeichnungen sukzessive verkürzen: Aus »Protokollaufnahme« wird »Prot.aufnahme« und zuletzt »Prot. auf.« – als ob das Protokoll mit der Unterbrechung nicht nur des Straßenverkehrs, sondern auch des dramatischen Geschehens und der erzählerischen Rede allererst Fahrt aufnehmen würde, und als ob sich in Kafkas Text nunmehr die Bürokratie Bahn bräche, zunächst weniger in Gestalt von Beamten und Behörden als in der von Schreib- und Notationsweisen. Im Fall gedruckter literarischer Texte mögen derartige – bei Kafka ja auch später wiederholt auftauchende – Abbreviaturen eine »Problemzone« darstellen, insofern hier ein »Residuum der Handschrift« Lücken in den geschlossenen Werkcharakter reißt (Honold 2009, 94). Im Falle eines amtlichen Schriftstücks zeugen sie hingegen gerade für einen unproblematischen, weil protokollarisch effizienten und vollendeten Stil. Kurzschriften verleihen schließlich der Mitschrift – wie man damals nicht zuletzt in Frankreich behauptete (vgl. Gardey 2019, 55) – das Siegel der Wahrheit, indem sie »die Ausschaltung« jedweder »interpretativen und übersetzenden Zwischeninstanz« (Becker 2005, 56) versprechen.

Jedenfalls signalisiert der neue Duktus in Kafkas Text, dass der Unfall vom Streitfall auf der Straße zu einem Versicherungsfall auf dem Papier und von einer informellen zu einer amtlichen Angelegenheit geworden ist. Den Behörden und ihrer Ordnungsmacht begegnet man dabei nicht absichtslos und unfreiwillig, sondern zitiert diese selbst herbei. Kafka geht hier mithin weniger vom notorischen (im Process unvordenklichen) Moment der Interpellation durch die Behörde aus denn von einem (im Schloss allgegenwärtigen) Verlangen nach den Behörden, von einem regelrechten ›Amtsbegehren‹ (vgl. Wolf 2016, 213–215), so dass man, statt von den Institutionen einfach ›angerufen‹ zu werden, ihre Intervention selbst begehrt und sie damit allererst auf den Plan ruft. Dem Amtlichen und Behördlichen wird also keineswegs mit Abscheu begegnet; wie die Herrschaft und ihre Institutionen generell erscheint es bei Kafka, um überhaupt wirksam sein zu können, von Verlangen durchdrungen (vgl. Deleuze und Guattari 1976, 82f.). Der Polizist etwa wird erwartet als eine verheißungsvolle Figur des Dritten, die nicht nur Macht darstellt, sondern über Darstellungsmacht verfügt. Und anders als dem Behördlichen und Bürokratischen gerne nachgesagt wird, droht es hier nicht mit der quälenden Langeweile des Prosaischen, sondern frischt es das erlahmende »Interesse« auf, ja verspricht es mit seinem Auftritt sogar »Genuß«, »Freude« und, nach dem lärmenden Zweikampf der Unfallparteien, eine gewisse »Ruhe«.

Die protokollarische Schreibszene

Solche Ruhe hat Kafka später als das Ziel seines eigenen »Schreibens« bezeichnet: ein »erlösender Trost«, der, wie er im Januar 1922 notierte, durch »eine höhere Art der Beobachtung« zu erwarten stehe, durch »das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, Tat – Beobachtung« (KKAT, 892). In der Automobilgeschichte bildet die Geschehensabfolge vom Unfall zur ersten Reaktion der Beteiligten und dann von der Pantomime zur Publikumsreaktion eine derartige »Totschlägerreihe«. Ruhe verspricht man sich hier offensichtlich weniger von unmittelbarer Schlichtung oder abschließender Erledigung als vielmehr von der amtlichen Mitschrift als einer »höheren Art von Beobachtung«. Die unmittelbare »Freude an den Einzelheiten der Prot. auf.« soll, wenn sich nicht gleich verstetigen, zumindest möglichst lange währen, und deshalb betrifft der Genuss an der behördlichen Intervention nicht nur die Fallwerdung des zuvor ungreifbar flüchtigen Verkehrs, sondern auch und gerade den Aufschub des Protokollierens. Man könnte hier von einer ›Schadenfreude‹ im doppelten Sinne sprechen: nicht so sehr angesichts des tatsächlich entstandenen Schadens als darüber, dass der nun einmal entstandene Schaden als solcher endlich in die Akten und dadurch die Szene zur Ruhe kommt; und zudem darüber, dass das Walten des Amtsträgers im Sinne eines einmaligen, schlagenden Auftritts misslingt und stattdessen zur umständlichen Amtshandlung, zum prosaischen Drama des Verwaltens wird.

Wurde den Bürokraten von jeher (d.h. seit Aufkommen des französischen Begriffs bureaucratie Mitte des 18. Jahrhunderts) vorgeworfen, »anstatt persönlicher Einsichtnahme« bloße »Papiercontrolen« zu bevorzugen und »unnütze Schreiberei« als Hauptgeschäft zu betreiben (Mohl 1966, 293f.), betritt hier mit dem Polizisten ein street-level bureaucrat die Szene: ein Konnektor zwischen Persönlichem und Behördlichem, Mündlichem und Schriftlichem, zwischen Öffentlichkeit und Amt (vgl. Lipsky 2010, 9, 16), die zusammenzuführen nichts anderes heißt als: Protokollieren. Vor diesem Hintergrund schließt das amtliche Schreiben, als wäre es das dritte Standbein des Tricycle-Texts, an die anfängliche Erzählpassage und an das Gebärdentheater an, um den Unfall abermals darzustellen. Und dabei wird das acta facere selbst zum Ereignis, ja zum Schauspiel: es vollzieht sich als Schreibakt und Schreibszene. Mitsamt seinen gestischen, sprachlichen und instrumentellen Komponenten ist es dasjenige Geschehen, das Kafkas Text zuletzt umkreist. Was sich idealiter als stille Mitschrift unterhalb der Wahrnehmungsschwelle vollziehen und als objektive Sachverhaltsdarstellung in reiner Medialität aufgehen soll, rückt hier dadurch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, dass es »stockt«. Die Störung der Protokollaufnahme belegt freilich nicht deren Dysfunktionalität und somit eine ausnahmsweise unterbrochene »Souveränität des Schreibens« (Erdle 2015, 204), sondern vielmehr »ihre nichttriviale Funktionalität« (Stüssel 2004, 14). Das Protokoll legitimiert sich schließlich durch sein Verfahren, selbst wenn dieses seinerseits verfahren sein sollte.

Der Schematismus des Protokolls

Trotz aller Bemühungen des Polizisten, die Schreibordnung einzuhalten, verwirrt er das Protokoll. Es ist also »doch geschehn«, heißt es im Text, der damit das allem voranstehende Ereignis des Unfalls abermals aufruft. Im Stile von Kafkas späterem Erzählen, das irgendwelche Nebensächlichkeiten oder kleinste Verfehlungen als fatale, nicht mehr gut zu machende hamartia überdimensioniert, entzieht sich hier das unvordenkliche Ereignis seiner Rekonstruktion offenbar im selben Zuge, wie es auf anderer Ebene, nämlich der der Schrift, »zu proliferieren beginnt« (Mülder-Bach 2002, 205). Und das unerschöpfliche »Staunen« des Polizisten darüber, mit seinem Protokoll an einer Stelle des Bogens angefangen zu haben, »wo er aus irgend einem Grunde nicht hätte anfangen dürfen«, könnte, neben der Verblüffung über die eigene, von zeitgenössischen Protollanleitungen beklagte »Schleuderhaftigkeit der Protokollführung«, auch Bestürzung über die nun verwirklichte »Gefahr der Formulariensammlungen« sein, mit ihren schematischen Vorschriften die sachgemäße Mitschrift zu verderben (Seefeld 1925, V, VII). Fast hat es hier den Anschein, als werde ein Bürokrat mit seinem behäbigen ›Amtsschimmel‹ dem dynamischen Automobilverkehr einfach nicht mehr Herr. Kafka dürfte deshalb umso mehr an jene modernisierten Formulare gedacht haben, die die AUVA zur Protokollierung der Schadensereignisse im Straßenverkehr bereitgestellt hatte (vgl. Wolf 2006, 116) – Vordrucke, die zur höheren, weil statistischen Beobachtung des reichsweiten Unfallgeschehens allerdings einen geordneten und fehlerlosen Schriftverkehr auf der Papieroberfläche voraussetzten.

Mit Blick auf den »Schaden« stellten diese »Unfallszählkarten« auf ihrer Vorder- und Rückseite (s. Abb. 1 und 2) mehrere Felder bereit, um den »Hergang des Unfalls«, die »Veranlassung der Verletzung« und die »Personalien« aufzunehmen, die bloße Beobachtung mithin gut protokollarisch in institutionelle Tatsachen umzuwandeln (vgl. Wagner 2009, 434 f.). Da die Formulare eigene Felder für den »körperliche[n] Zustand des Verletzten bei Abschluß des Heilverfahrens und weitere Änderungen desselben«, zudem für Beerdigungskosten oder die Unterstützung der Hinterbliebenen enthielten, waren sie Protokolle im doppelten Sinn: Vorschriften für den weiteren, womöglich unabsehbar langen Verlauf der Abwicklung und Nachsorge; und ebenso für die Art und Weise, diese zu den (bestehenden) Akten zu nehmen. Abstrahiert und quantifiziert wurden die erhobenen Daten dann beim Übertrag von den »Unfallszählkarten« in »Unfalltabellen«, auf deren Basis man die konkreten Betriebe oder Automobile zuletzt in ein »Gefahrenklassen-Schema« einreihen konnte. Insofern sich das Anfangsgeschehen aus Kafkas kleiner Automobilgeschichte aus eben solchen Zahlenwerken herleitet, liegt ihr, die ja zuletzt eine ›höhere‹ Ordnung des Protokollierens in Aussicht stellt, eben diese Ordnung bereits zugrunde. Der protoliterarische Text folgt von Anbeginn dem Protokoll amtlicher, im Fall des Unfalls: statistischer Kontingenzbeobachtung (s. Abb. 1 und 2).

Abb. 1
figure 1

»Unfallszählkarte«, Vorderseite (Amtliche Nachrichten des k.k. Ministerium des Innern, betreffend die Unfallversicherung und die Krankenversicherung der Arbeiter, 18/8 [1906], S. 171 f.; gemeinfrei)

Abb. 2
figure 2

»Unfallszählkarte«, Rückseite (Amtliche Nachrichten des k.k. Ministerium des Innern, betreffend die Unfallversicherung und die Krankenversicherung der Arbeiter, 18/8 [1906], S. 171f.; gemeinfrei)

Die Falte des Protokolls

Mit Blick auf die mehrstufige Datenverarbeitung der AUVA könnte man von einem bürokratischen ›Meta-Protokoll‹ sprechen. Doch auch die Automobilgeschichte lässt sich als Meta-Protokoll bezeichnen, das amtliche Protokollierungspraktiken mitsamt ihrer besonderen Umstände und beteiligten Akteure protokolliert; und zugleich als ein ›metapoetisches‹ Protokoll von Kafkas eigenen Schreibbemühungen. Denn wie der Polizist bei seiner missglückten Protokollierung hat auch er, wie er selbstkritisch befand, mit seinem Text einen »schlechten Anfang« gesetzt. Damit gemeint waren wohl weniger die protokollarischen Schreibspuren auf seinen Notizblockblättern vom 11. September 1911 als der Versuch vom 20. September, aus diesen Mitschriften einen literarischen Text entstehen zu lassen. Präzise Beobachtungen auf Grundlage einer statistisch korrekten Einordnung bestimmter Tatbestände waren vielleicht das Ideal amtlicher Schriftsätze im Sinne der AUVA, gewiss jedoch nicht jenes Ideal literarischen Schreibens, das Kafka damals vorschwebte. Dass seine Automobilgeschichte statistische Gesetzmäßigkeiten mit fallgeschichtlichen Details oder eine Vogelperspektive auf die Straßenszene mit plötzlichen Nahbeobachtungen zur Protokollführung verquickte, störte die »Ruhe« seines literarischen Schreibens ebenso wie des Polizisten Verwirrung die amtliche Ordnung. Selbst wenn man absehen will von seiner Selbsteinschätzung als Anstaltsautor, dem der Sprung zum literarischen Autor nicht gelingen will: Es wäre vereinfacht, die Automobilgeschichte als Schwellentext zwischen bürokratischem und literarischem Schreiben zu sehen, sind in ihr doch beide Schreibformen derart ineinander gefaltet, dass Kafka ganz wie der Polizist »ohne großes Auseinanderfalten und Untersuchen unmöglich wissen [konnte], wo er richtigerweise fortzusetzen hat.«

Gerade diese Einfaltung macht Kafkas Text zu einem eigentümlichen Meta-Protokoll, das die Funktions- und Wirkungsweise der Textform Mitschrift ihrerseits ins Zentrum rückt: Dass etwa die Anfangspassage das Geschehen im Sinne eines Verlaufsprotokolls zu erfassen scheint, verdankt sich weniger der Simultaneität von Ereignis und Aufzeichnung als der Tilgung des Temporalen in einem generellen, statistisch abgeleiteten Präsens. Insofern Kafkas Text im Mittelteil – nach Art der Gebärdenprotokolle des 18. Jahrhunderts (vgl. Becker 2005, 55–62) – unwillkürliche Schuldzeichen der Beteiligten, ihre Aussageweisen und den Ausdruck ihres Auftretens festhält, nimmt er offensichtlich gerade das zu den Akten, was nie zu Protokoll gegeben wurde. Und wenn er im Schlussteil den zeremoniösen Aspekt der Amtshandlung sichtbar macht, operiert er auf der Ebene eines »Auftrittsprotokolls« (Vogel 2018), das zu guter Letzt den Auftritt des Protokolls und damit seiner selbst reguliert. Doch obwohl er mit ihm nicht nur eine protoliterarische Mitschrift, sondern ein komplexes Proto-Protokoll verfasst hatte, zeigte sich Kafka mit dem Text unzufrieden, schließlich hätten die »ungeordneten Sätze dieser Geschichte Lücken daß man beide Hände dazwischen stecken könnte«, und kämen in den Schreibversuchen seiner Reisetagebücher »immer nur abreißende Anfänge zu Tage, abreißende Anfänge z. B. die ganze Automobilgeschichte durch. Würde ich [nur] einmal ein größeres Ganzes schreiben können wohlgebildet vom Anfang bis zum Ende […]« (KKAT, 226 f.).

Das fortgesetzte Protokoll

Ein solch ›größeres Ganzes‹ entstand dann ein Jahr später: in Form des Urteils. Aus dem Geiste klassischer Wohlgebildet- und Geschlossenheit sei allererst die »Geburt« (KKAT, 491) des Autors Kafka erfolgt, legte sein Eintrag im Tagebuch nahe. Doch handelt es sich dabei um eine wenig verlässliche Werkmythologie, die Kafka mit Blick auf seine protokollarischen Anfänge und deren lückenhafte Prosa (vgl. Lüdemann 2019, 311) formuliert haben mag, die aber in Kafkas späteren Texten zusehends dementiert und demontiert werden sollte, insbesondere in den Romanen mit ihren missglückten oder unvermittelten Anfängen, mit ihren immer wieder unterbrochenen und dann unvermutet fortgesetzten Handlungsreihen, mit ihren stets offenen Enden oder unmöglichen Abschlüssen. Wie Benno Wagner könnte man vielleicht sogar sämtliche Texte Kafkas als ›Protokolle‹ begreifen (vgl. Wagner 1998), gehen sie doch allesamt vom Ereignis einer Störung oder Verfehlung, wenn nicht eines regelrechten Unfalls aus, dessen weitreichende Folgen die Betroffenen niemals gänzlich aufzuheben, allenfalls hinter einer Scheinnormalität zu verbergen vermögen, während der Bericht oder die Tatbestandsaufnahme des Erzählens allenfalls in den kürzeren Erzählungen, niemals aber in den Romanen zur ersehnten ›Ruhe‹ kommt. So gesehen wurzeln nicht nur die frühen Texte vor dem Urteil im Bürokratischen, sondern auch die späteren, ›vor dem Gesetz‹ angesiedelten. Als ›Prot. auf.‹ kann man deshalb die Automobilgeschichte in doppelter Hinsicht verstehen: als Zu-den-Akten-Nehmen; und als Beginn jenes Protokollierens, dem Kafka fortan verpflichtet bleiben sollte – mehr noch als literarischer denn als Anstaltsautor, und dies mit einem Schreiben, das seinen Protokollcharakter zusehends unmerklich werden lässt.

Kafkas Automobilgeschichte endet mit unvergleichlicher Ruhe, zugleich aber mit einer gewissen Ratlosigkeit darüber, wie sie fortzusetzen sei. Und das mit gutem Grund, schließlich sind in ihr unterschiedliche Fortsetzungsvarianten protokollarischen Erzählens angelegt, Varianten, die auch andere prominente Autoren weiterverfolgen sollten.Footnote 3 Von Kafkas Proto-Protokoll lässt sich ein Bogen schlagen bis hin zu seinen längeren Erzähltexten, was die beruhigende (oder auch beunruhigende) Wirkung der Institution, ebenso aber, was die formierende Kraft des Protokolls angeht. Mit Blick auf Kafkas Romanfragmente hat Rüdiger Campe von ›Institutionenromanen‹ gesprochen: von Texten, die (im Gegensatz zum klassischen Bildungsroman mit seinem Programm und Telos einer autonomen Entwicklung des Individuums) das Leben und den Status, die Biographie und den Werdegang ihrer Protagonisten als »institutionelles Faktum« (Campe 2004, 198) präsentieren. Im Schloss wird diese Konstellation am deutlichsten, hängt hier doch die soziale Existenz, ja die Subjektivität K.s gänzlich an seiner Anstellung durch die Schlossbehörden (vgl. Campe 2004, 199, 203). In der kurzen Automobilgeschichte geht der prekäre Status des Bäckergehilfen nicht nur auf seine unsichere, durch den Unfall nur umso gefährdetere Anstellung zurück, sondern auf seine Klassenzugehörigkeit generell; nichts anderes führt hier das Straßentheater vor Augen. Kafkas letzter langer Erzähltext abstrahiert von einem derartigen sozialen Hintergrund; denn was hier allererst ›die Gesellschaft‹ als Kraftfeld erscheinen lässt, ist das Institutionelle. Entsprechend geht K.s Prekarität ganz auf seine ungewisse Stellung in jenem institutionellen Raum zurück, den in seinen Grenzen und Strukturen zu bestimmen ja die Aufgabe des Landvermessers (gewesen) wäre. Letztlich übernimmt der Schloss-Roman selbst diese Arbeit, die allerdings als solche niemals abgeschlossen, ja nicht einmal regelrecht aufgenommen wird – und die überdies ein paradoxes Unternehmen scheint, weil hier, stärker noch als im Process, die Konturen der Institutionen ins Unkenntliche verfließen.

Das Protokoll jenseits der Institution

Weil das Schloss insgesamt wie auch seine einzelnen Behörden und Beamte weder fest zu verorten noch klar zu adressieren sind, wirkt die Institution hier »nicht mehr von aussen auf die Subjekte«, sondern zwischen ihnen, und zwar, wie Campe sagt, in der Weise »einer flüssigen bzw. selbstregulierenden Form« (Campe 2020, 27). Fraglich ist es deshalb, ob diese Aggregatsform administrativer Machtausübung mit dem Begriff des Institutionellen noch treffend zu erfassen ist und ob man nicht besser von einer Protokollarmacht und von Kafkas ›protokollarischem Erzählen‹ reden sollte. Zwar treten die Behörden selbst gelegentlich noch in Erscheinung, zumeist aus Anlass irgendwelcher Vor- oder Unfälle; und sicher sind es ihre verfahrenen Verfahren, die etliche, für Kafkas Protagonisten lebensgeschichtlich fatale Störungen zu verantworten haben. Doch setzen eben diese administrativen ›Unfälle‹, sobald einmal geschehen, unüberschaubare bürokratische Dynamiken (wie im Process) oder endlose Schreibarbeiten (wie im Schloss) in Gang, in deren Zuge erkenn- und benennbare Institutionen wie die Polizei oder das Gericht zugunsten einer rein protokollarischen Kontrolle, zugunsten einer allgegenwärtigen Aufsichts- und Metabehörde ohne spezifischen Zuständigkeitsbereich abzudanken haben. »Es gibt nur Kontrollbehörden« (KKAS, 104), heißt es daher zuletzt, und diese haben sich bloß scheinbar auf den (seinerseits ungreif- und unbestimmbaren) Amtsbezirk des Schlosses zurückgezogen, sind in Wirklichkeit jedoch im gesamten Lebensraum des Dorfs und in den Kommunikationsakten seiner Bewohner wirksam.

Administrative Protokolle sollen die Begegnung von Verwaltung und Gesellschaft regulieren, registrieren und, im Idealfall, auch deren gemeinsame Grenze reflektieren. In Kafkas Roman, wo das Dorf immer schon zum Schloss gehört, ins Schloss selbst aber niemals zu gelangen ist, weil es selbst nur aus einem Schwellenraum von endlosen Barrieren, Verweisen und Beziehungen besteht, haben sich indes »Amt und Leben so verflochten« (KKAS, 94), dass es dieses Grenzregimes nicht mehr bedarf. Allerorten nimmt man so spontan wie freiwillig Protokolle auf, weil in dieser Protokollaufnahme nicht nur der pflichtgemäße Rapport fürs Schloss, sondern das Soziale mit seinen Verkehrsroutinen selbst besteht. Allein K., der als eine Art teilnehmender Beobachter nur zur Hälfte Teil der Dorfgemeinschaft ist und allenfalls mit einem Bein in dessen Beziehungsfeld steht, allein K. sieht es als misslich oder widersprüchlich an, dass man ihn immerzu »in die Schlingen des Protokolls zu bringen« sucht, dieses aber niemals eine Verbindung zu den höheren Beamten stiften wird (Kafka 2018, H.2 120). Aufgabe des Protokolls scheint – auf der Handlungsebene – die Sammlung, Mitschrift und Fortsetzung kursierender Dorfgeschichten bzw. im Dorf zirkulierender Schlossgeschichten zu sein. Eben damit schafft das Protokoll – auf struktureller Ebene – die Voraussetzungen von Kommunikation und die Gelegenheit dazu, diese Kommunikation zu supervidieren und (bis zum fälligen Wiedergebrauch) zu archivieren. Protokolle sind derart alles andere als eine Domäne des Verwaltungshandelns. Vielmehr sind sie vom Amtsbezirk in die Lebenssphäre diffundiert, um dort den Aufbau, die Form und den Bestand sozialer Netzwerke sowie deren Überwachung und Regierung zu garantieren. Was das selbstbezogene Leben im Dorf und das unablässige Kommunizieren seiner Bewohner angeht, sind sie also Möglichkeitsbedingung und Kontrollinstrument in einem: Protokolle zur Ablaufregulierung und zugleich zur Mitschrift.

Protocol und kleine Literatur

In Kafkas letztem Roman ist an die Stelle einer hierarchischen Disziplinarmacht eine horizontal wirksame, ja omnipräsente Schreibmacht getreten. Das hohe Auge der Obrigkeit ist nur mehr der Fluchtpunkt einer Projektion, die dem sozialen System zur Orientierung dient (während umgekehrt die Umwelt des Schlosses überhaupt erst durch ihre protokollarische Introjektion den Status eines Dorfs gewinnt).Footnote 4 Zwar vermutet K. in den alles überragenden Gebäuden des Schlossbezirks den Sitz einer höheren Instanz und stellt er sich den hohen Beamten Klamm als »Adler« vor, mit einem »herabdringenden Blick, der sich niemals nachweisen, niemals widerlegen liess«. Doch hat mit alledem, wie K. selbst erkennt, das alles entscheidende »Protokoll nichts zu tun« (Kafka 2018, H.2 163). Denn hinter der vermeintlich alles überschauenden Macht herrscht nun die Mitschrift. An die Stelle des Panoptismus ist der »Panprotokollarismus« getreten.Footnote 5 Die jederzeit und allerorts entstehenden Mitschriften sind an niemand Bestimmtes gerichtet, an keinen höchsten Machthaber und an keinen zuständigen Beamten. Von den Behörden werden sie prinzipiell nicht gelesen, wohl aber in der Dorfregistratur aufbewahrt, um sie jederzeit hervorholen und auswerten zu können. Wohlgemerkt beherrschen die Protokolle im Schloss-Roman nicht nur die Schreib- und Urteilsformen, sondern auch die Verhaltens- und die Daseinsformen. Und dies hat seine guten verwaltungsgeschichtlichen Gründe. Denn hatte der Anstaltsautor und angehende Bürokratie-Reformer Kafka bereits 1910 eine auf ihre Umwelt hin geöffnete, eine »lebendige Institution« gefordert (vgl. Vogl 2008, 31), scheint dieses Programm im Schloss zuletzt mehr als erfüllt: Das Institutionelle hat sich hier in seine Umwelt geradezu verflüchtigt, seitdem das Protokoll als Konnektor diverser Lebensformen dient.

K. geht diese neue Ordnung des Sozialen auf, als er »das Sich-fügen« mittels »Protokoll« als Eintrittsbedingung in die Welt des Dorfs begreift (Kafka 2018, H.2 169). Affekte wie Verlegenheit, Staunen und Schadenfreude sind unter diesen Vorzeichen konsequenter Weise nicht mehr auf das Behördliche fixiert. An die Stelle des Amtsbegehrens scheint nun ein protokollarisches getreten, das dem Protokoll ebenso gilt, wie es sich durch dieses artikuliert. Macht und Verlangen verbinden sich zuletzt im Protokoll. Was aber solch einen zugleich über- und entbürokratisierten, ja letztlich ›postbürokratischen‹ Zustand einer Liberalität oder Gouvernementalität ohne dominante oder auch nur sichtbare Institutionen herstellt und diesen, statt durch Gebote und Verbote, mittels Verlangen aufrecht erhält, ist letztlich nicht mehr im Sinne des amtlichen Protokolls alteuropäischer Provenienz zu verstehen, sondern vielmehr als ein soziotechnisches protocol im Sinne Alexander Galloways.Footnote 6 Man könnte, Friedrich Kittler folgend, Das Schloss auch als literarische Analyse eines neuen »Aufschreibesystems« verstehen, als fiktionalen »Entwurf eines Organisationsplans für den Nachrichtenfluß«, der die »Lenkung und Programmierung von Leuten« einer Administration zuschreibt, die bereits zu Kafkas Zeit »ganz andere Datenverarbeitungstechniken als Bücher« oder Akten kannte (Kittler 2012, 117, 126). Doch nicht nur das Auftauchen neuer Verwaltungsmedien wie des Telefons, vielmehr die hier alles durchdringende, alle Kommunikation konstituierende und zugleich kontrollierende Wirksamkeit des Protokolls qualifiziert Kafkas letzten Roman als geradezu prophetisch – als, wie er selbst zu Protokoll gab, »eine Uhr, die vorgeht« (Deleuze und Guattari 1976, 82, nach der Überlieferung Gustav Janouchs).

Den endlosen Schreibstrom von Kafkas Spätwerk mag man derart als Antizipation begreifen: als konsequente Annäherung an jene postbürokratische Kontrollgesellschaft, die die unsere geworden ist. Kafkas frühe Texte wiederum wären nicht nur als Bestandsaufnahme zu seinen eigenen, zunächst stockenden Schreibversuchen zu lesen, und nicht nur als »Mitschriften« einer klassischen, obschon wieder und wieder reformierten Bürokratie. Gerade seine ›kleine Automobilgeschichte‹ birgt eine doppelt antizipatorische Perspektive. Zum einen nämlich zeigt sie, wie sich Protokolle unter den Bedingungen einer noch klassischen Verwaltung ins Leben einzunisten und dieses von innen her zu formieren vermögen; in Kafkas frühem ›Proto-Protokoll‹ einer Protokollaufnahme zeichnen sich bereits erste Konturen der ›panprotokollarischen Macht‹ des Schlosses ab. Zum anderen umriss er mit diesem Text ein Schreibkonzept, das dem »Urteil« und dessen Ideal eines ›größeren Ganzen‹ direkt zuwiderlief und das er dann, gut zwei Monate nach Entstehen der ›kleinen Automobilgeschichte‹, als Programm einer »kleinen Literatur« ausformulieren sollte. Kafka forderte hier »die detaillierte Vergeistichung des großflächigen öffentlichen Lebens« (KAAT, 313), also auch von vermeintlich bloß kontingenten Alltagsphänomenen wie einem Verkehrsunfall. Eine nicht am Ideal eines größeren Ganzen ausgerichtete, eine, wie er schrieb, »von keiner Begabung durchbrochene Litteratur« zeige »auch keine Lücken« (KAAT, 314), insofern sie, wie man ergänzen kann, nur in der Protokollierung eines immer schon lückenhaften sozialen Seins besteht. Solche »Litteratur ist weniger eine Angelegenheit der Litteraturgeschichte als Angelegenheit des Volkes« (KAAT, 315), wenn sie nicht an klassischen Werkbegriffen, sondern an jenen Mitschriften gemessen wird, aus denen sich allererst der Zusammenhalt eines ›Volks‹ ergibt. Nicht nur dadurch, dass es das Schicksal von subalternen Verkehrsteilnehmern wie dem Bäckergehilfen thematisiert, sondern dadurch erfasst Kafkas minoritäres Schreiben »die kleine Arbeit der kleinen Leute«, dass es, wie es im Schloss zuletzt heißen wird, »sich dem Protokoll unterzieht« (Kafka 2018, H.2 169).