Aufschreiben!

»Zu meiner Schande sey inskünftige jede Lücke in diesem Buche!« Dies notierte ein als »Selbstbeobachter« titulierter Anonymus in sein Tagebuch, wie es im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde abgedruckt ist, das Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon zwischen 1783 und 1793 herausgaben. Und der Verfasser fährt fort: »O ich merke, daß ich nie ein guter Mensch, nie ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden kann, wo ich nicht bald anfange, ein genaues Register über meine Handlungen zu halten, und daß ich mich nie in rechte Thätigkeit setzen kann, so lange nicht meine Endzwecke gewisser und bestimmter gewählt sind, ich fühle es, daß ich über die Menge von Entwürfen, die ich gerne gänzlich ins Werk richten wollte, keinen einzigen ausführen werde« (Aus dem Tagebuche eines Selbstbeobachters 1986 [1789], 211).

Wer das Tagebuch liest, stellt fest: Der Verfasser hat, wie es scheint, Recht behalten. Noch bemerkenswerter jedoch ist: Das gilt nicht allein für seine »rechte Thätigkeit« (die nirgends spezifiziert wird; wir erfahren nur, dass sie die Grundlage von Glück und Frohsinn darstellt), es gilt auch für das »Register«. Dieses Tagebuch, dieser »unpartheiische[] Zeuge meiner Handlungen« (209), hält immer wieder fest, dass es nicht fleißig genug geschrieben worden ist. Wieder und wieder bleibt die Rechenschaftslegung guter Vorsatz, genauer: Die regelmäßige Wiederholung des »Gelübdes«, »aufmerksam auf mich selbst zu seyn« (210), belegt, dass der Vorsatz mit derselben Regelmäßigkeit vergessen worden ist. So heißt es unter dem 7. April 1779: »Am Sonntage habe ich meine Rechnung nicht abgelegt – ich gelobe mir heute, daß ich dies nie wieder versäumen will, ich mag auch seyn, wo ich wolle« (216). Und drei Jahre später, unter dem 3. Juli 1782: »von nun an, will ich die Vorsätze, die ich auf den folgenden Tag fasse, in mein Tagebuch schreiben, und mir am Abend desselben Rechenschaft ablegen, in wie ferne ich sie ins Werk gerichtet habe« (226). Zwischen den beiden Einträgen liegt keine Besserung, sondern eine Bestätigung ihrer Notwendigkeit. Hier lesen wir nicht die Bilanz eines Erfolgs, sondern eine Wiederholung seines Versprechens. Unterstützt wird dieses »Gelübde«, wie Moritz einleitend anmerkt, durch »viele lange Gebete«: durch Gebete, die wieder und wieder gesprochen werden müssen, weil sie nicht – oder kaum – erhört worden sind (und die Moritz in seiner Edition weggelassen hat, um aus dem Tagebuch »nur das Wesentliche auszuziehen«) (209).

Das Tagebuch des Selbstbeobachters legt Rechenschaft ab über die eigene Rechenschaftslegung. Es gibt Rechenschaft, indem es deren Versäumnis notiert. Die Rechnung ergibt eine negative Bilanz, doch darin liegt ihr positiver Wert. Der einzige Erfolg, kurz gesagt, liegt in der Erkenntnis seines Ausbleibens. Für den Kommentator Moritz, den aufgeklärten Erfahrungsseelenkundler, ist diese Paradoxie Indiz einer »erzwungene[n] Religiösität und erzwungene[n] Moralität«, wie sie aus seiner Sicht vor allem in jenem Pietismus und Puritanismus vorherrschend war, der ihn selbst zeit seines Lebens geprägt hat (209, siehe auch 225). Der »Wunsch des Wahren«, »der Haß vor der Verstellung« (225), der Vorsatz uneingeschränkter Aufrichtigkeit, wie ihn der anonyme »Selbstbeobachter« wiederholt formuliert, ist in seinen Augen – eben weil er überhaupt formuliert wird – ein Beleg für die Abwesenheit von Authentizität. Aus ihm spricht eine »Selbsttäuschung« (223, 225), in der sich eine genuin religiöse Melancholie manifestiert, eine Praxis der Rechenschaftslegung, die – weil sie ihren eigenen Anlass beständig reproduziert – a priori kein Ende zu finden vermag. Der Selbstbeobachter, so Moritz’ abschließender Befund, »will das durch die Buchstaben zwingen, was die Buchstaben selber zwingt« (225). Man könnte auch sagen: Er verwechselt Zeichen und Wirklichkeit. Der Selbstbeobachter – das macht ihn zum Melancholiker – beherrscht nicht die Zeichen, sondern wird von ihnen beherrscht (vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 326–349, insbes. 340).

Der Tagebuchschreiber, wie er uns im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde begegnet, ist bereits von einer aufklärerischen Tugendvorstellung geprägt, die Glück und Freude an gesellschaftlichen Nutzen zurückbindet: an genuin moralisches Handeln. Gleichzeitig folgt er mit seiner Praxis schriftlicher Selbstbeobachtung einem pietistisch und puritanisch grundierten »Aufschreibbefehl« (Steinmayr 2006, 141, 149). Puritaner und Pietisten notierten ihre eigenen Sünden und religiösen Empfindungen, um ihr Herz und Gewissen zu erforschen: das Innere ihrer Seele. In ihrer publizierten Form schufen sie mit diesen Notaten auch eine erbauliche Lektüre für die Gemeindemitglieder, zunächst und vor allem aber sammelten sie Zeichen für den eigenen Heilsstand, für die eigene Auserwähltheit, um so das Heil ihrer Seele zu retten. Sie taten es, um über die Zeichen auf die Wirklichkeit Einfluss zu nehmen: um sich über die Produktion von Gnadenzeichen für die Gnade zu qualifizieren und so den bezeichneten Zustand erst zu erwirken (vgl. Bähr 2021).

Geistliche Tagebücher und Autobiographien arbeiteten damit der schwersten aller möglichen Sünden entgegen: dem Vergessen der Sünde. Dazu bedienten sie sich einer besonderen Form. Wie Steinmayr hervorhebt, sind die »Texte der puritanischen Selbstprüfer Protokolle der Gnadenarbeit, die in ein vorgefertigtes Formular eingetragen werden, um überhaupt lesbar sein zu können« (Steinmayr 2006, 153). In dieser Schreibpraxis stabilisieren die Schreibenden ihr Gedächtnis und führen das Sekretariat ihres Gewissens (vgl. Steinmayr 2006, 153 f.). In ihr erhält ihre conscientia ihre Stimme – und wird so zur Garantin des Heils. Das Buch, das Protokoll der eigenen Sünden, macht die Sünden lesbar und erinnerbar und wird damit zur notwendigen Bedingung ihrer Überwindung.Footnote 1

Mit derartigen »Seelenprotokollen« (Niggl 2012, 95) wurde in spezifisch protestantischer Weise der göttlichen Buchführung zugearbeitet und damit auf die frühneuzeitliche Fundamentalmetapher der Lesbarkeit der Welt rekurriert (vgl. Blumenberg 1983). Doch bei aller protestantischen Betonung des Worts, bei aller Kompensation von verlorenen Erinnerungsstabilisatoren wie Sakramenten, Reliquien oder Heiligentagen: Der pietistisch-puritanische Aufschreibbefehl unterschied sich nicht derart kategorial von der katholischen Gewissenserforschung, wie Steinmayr suggeriert. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass auch die orale Beichte aus dem Protestantismus keineswegs umstandslos verschwand; es wird zudem auf der Ebene der Schriftlichkeit sichtbar. Um dies herauszuarbeiten, werde ich die Vorgaben für ein Sündenprotokoll vorstellen, wie sie in den Geistlichen Übungen Ignatius von Loyolas, des Gründers des Jesuitenordens, zu finden sind (Abschnitt ›Punkte und Linien‹).

Auch dieses Sündenprotokoll weist den Charakter eines Formulars auf. Im Gegensatz zur protestantischen Schreibpraxis jedoch ist dieser Charakter nicht im Sinne eines impliziten Schreibmusters, also nicht metaphorisch, sondern buchstäblich zu verstehen. An der äußeren Gestaltung des Formulars wird seine andersartige Funktion ablesbar: Lag das Ziel des puritanischen Sündenprotokolls in dessen Verstetigung, so das des Ignatianischen in seiner Verzichtbarkeit. Ziel des Ausfüllens der Lücken war am Ende ein leerer Protokollbogen.

Grundlage all dessen ist eine spezifische Räumlichkeit des jesuitischen Sündenprotokolls, die die Struktur, das Verfahren und den epistemischen Wert des Protokollierens regiert. Dies zeigt sich auch dann, wenn die Ignatianischen Exerzitien mit anderen, nicht genuin geistlichen Sündenregistern verglichen werden: mit chronikalischen Berichten von Leid und Gewalt, wie sie insbesondere in den Kriegszusammenhängen des 17. Jahrhunderts entstanden sind (Abschnitt ›Unbeschreibliches Leid‹). Wie die geistlichen Tagebücher der Reformprotestanten fanden auch diese Protokolle kein Ende – aber nicht, weil sie kein Ende finden sollten, sondern weil sie es nicht konnten: weil das Leid, das sie beschrieben, unbeschreiblich zu sein schien.

Im Folgenden, kurz gesagt, frage ich nach den Besonderheiten genuin religiöser oder religiös grundierter Protokolle in der Frühen Neuzeit: nach Verzeichnissen heilsrelevanter Geschehensabläufe; und damit frage ich umgekehrt nach der spezifischen Protokollstruktur religiöser Praktiken der Selbstvergewisserung.Footnote 2 Die dabei untersuchten Texte stellen eine Form des schriftlichen Gedächtnisses dar, das sich durch dreierlei auszeichnet: Es beansprucht Wahrheit und Wahrhaftigkeit, es hält zeitnah Ereignisse fest, um einen späteren Rückgriff auf sie zu ermöglichen, und es besaß auch dort, wo keine Gemeinde-, Ordens- oder Familienmitglieder als Lesepublikum vorgesehen waren, eine eigene Öffentlichkeit: in der Mitleserschaft Gottes.Footnote 3 Jedes der hier untersuchten Protokolle ist damit ein »Gerichts = Buch« (Art. Protocoll 1741, 973) – verfasst für einen Richter, der nicht im Gerichtssaal saß, sondern im Himmel.

Punkte und Linien

Seit der Gründung der Societas Jesu waren die Exercitia spiritualia, die Geistlichen Übungen Ignatius von Loyolas, zentraler Bestandteil der spirituellen Praxis auf dem Weg zum Ordensgelübde. Sie dienten den Exerzitanten dazu, Klarheit über das eigene Verhältnis zu Gott und den weiteren Lebensweg zu gewinnen (vgl. Friedrich 2016, 74–87). Im Mittelpunkt dieser Übungen wiederum stand eine Phase täglicher Selbst- und Gewissenserforschung: die Reflexion auf die eigene Bereitschaft und Fähigkeit, gemäß dem Willen Gottes zu handeln.

Um diesen Prozess zu befördern, stellen die Exerzitien in ihrer gedruckten Fassung ein eigentümliches Hilfsmittel bereit: ein Formular mit vierzehn Linien, die sich zum Ende des Blattes hin immer weiter verkürzen (Abb. 1). Der Begleittext erläutert, dass es sich dabei um sieben Doppellinien handelt, von denen ein jedes Paar einen Tag der Woche repräsentiert (Ignatius von Loyola 1998, 112/113–114/115). (Der Erstdruck von 1548 zeigt dies deutlicher als spätere Fassungen, auch wenn er nur sechs Paare bietet; vermutlich handelt es sich dabei um einen Druckfehler [Abb. 2].) Darüber hinaus erklärt der Text den Sinn und Zweck dieser Vorlage: Die Linien und ihre sukzessive Verkürzung dienen nicht dem Abstieg ins Innere des Herzens, in die Tiefen unhintergehbarer Sündhaftigkeit, sondern der Identifikation und Reduktion konkreter Laster – der Fresssucht beispielsweise oder der Wolllust.

Abb. 1
figure 1

»Das Examen particulare nach der lateinischen Ausgabe von 1582« (Ignatius von Loyola 1582, S. 49 [Bayerische Staatsbibliothek München, Sign.: Asc. 2519, URN nbn:de:bvb:12-bsb00020562-2]). Für dieses Drittmaterial gilt keine Creative-Commons-Lizenz [alle Rechte vorbehalten]

Abb. 2
figure 2

»Das Examen particulare nach dem lateinischen Erstdruck von 1548« (Ignatius von Loyola 1548, Bl. C 3v [British Library. Sign.: General Reference Collection C.39.6.1]). Für dieses Drittmaterial gilt keine Creative-Commons-Lizenz [alle Rechte vorbehalten]

Am Anfang dieser »besonderen und täglichen Erforschung« des Gewissens steht der Vorsatz der Besserung und Selbstberichtigung. Am Morgen, heißt es im Text, muss »der Mensch, sobald er vom Schlaf aufsteht, sich sorgfältige Wachsamkeit über sich vornehmen […] in bezug auf eine einzelne Sünde oder ein Laster, von dem er sich zu bessern wünscht« (Ignatius von Loyola 1998, 113). Nach dem Mittagessen wird dann das erste Mal überprüft, ob dieser Vorsatz befolgt worden ist.

Auch dies ist jedoch keineswegs einfach. Da es zum Wesen der Sünde gehört, dass sie vergessen wird, nachdem sie begangen worden ist, muss zunächst die göttliche Gnade der Erinnerung erbeten werden. Allerdings: Wer diese Gnade erbittet, bekommt sie auch gewährt (denn wer dies tut, beginnt ja bereits, sich zu erinnern), und so kann sich eine methodisch angeleitete Rechenschaftslegung anschließen: »Dann mache man die erste Erforschung, […] indem man die einzelnen vergangenen Teile des Tages durchgeht von der Stunde an, in der man aufgestanden ist, bis zur gegenwärtigen« (Ignatius von Loyola 1998, 113).

Hat man sich in dieser Weise die eigenen Verfehlungen in Erinnerung gerufen, ist es entscheidend, sie nicht erneut zu vergessen. Dazu bietet es sich an, das Erinnerte zu protokollieren. Und dies geschieht auf eine besondere Weise. Da hier stets die gleiche Sünde beobachtet und festgehalten werden soll, also nicht ihre Qualität, sondern ihre Quantität von Interesse ist, erfolgt das Protokollieren nicht verbal, sondern numerisch: »Und man soll genauso viele Punkte auf der obersten Linie der unten aufgeschriebenen Figur eintragen«, »wie oft man jene [Sünde] begangen hat« (Ignatius von Loyola 1998, 113).

Dieser Erinnerungsakt ist die Grundlage für eine Erneuerung des Vorsatzes: »Nachdem man dies getan hat, nehme man sich von neuem vor, für die übrige Zeit des Tages sich sorgfältiger zurückzuhalten« – bis zur zweiten Erforschung (Ignatius von Loyola 1998, 113). Letzteres wiederum besagt: Die Befolgung auch dieses Vorsatzes wird überprüft werden. Nach dem Abendessen wird der Erinnerungsakt wiederholt und das Ergebnis auf der zweiten, der darunterliegenden Linie notiert. Begleitend legt der Sünder – und später, in der Congregatio Jesu, auch die Sünderin – reuevoll die Hand an die Brust, ein Mal für jede einzelne Sünde, in die er oder sie trotz guten Vorsatzes wieder gefallen ist. Dass dies geschehen kann, »auch wenn andere dabei sind und es nicht merken« (Ignatius von Loyola 1998, 113), sichert die Alltagstauglichkeit des Verfahrens; denn es ist zwar eine sichtbare, aber keine im eigentlichen Sinne öffentliche Praxis. Performativ gesehen, stellt diese Handlung eine Form des Selbstgesprächs dar.

Dies ist hier aber nicht entscheidend. Wichtiger ist das buchstäblich punktuelle Verzeichnen der eigenen Verfehlungen. Dies hat ein klares Ziel: Das Sammeln und Zählen der Punkte dient ihrer allmählichen Reduktion. Das Protokoll wird von Tag zu Tag fortgesetzt, so dass im Wochenrückblick, wenn es gut geht, der Fortschritt anschaulich und ablesbar wird. Auf diese Weise können Übersichten erstellt werden, die den Besserungsprozess über längere Zeiträume zu dokumentieren vermögen.

Doch was, wenn die Reihe der Eintragungen nicht kürzer werden will? Wenn Erinnerung, Buße und guter Vorsatz nicht helfen? Für diesen erwartbaren Fall halten die Exerzitien eine graphische Unterstützung bereit. In der ersten Druckausgabe der Übungen werden die Mittags- und Abendlinien nämlich, wie erwähnt, von Tag zu Tag kürzer. Der Raum der möglichen Eintragungen wird auf diese Weise schrittweise begrenzt und beschnitten. Der erwartbare Fortschritt ist damit vorgezeichnet. Er wird nicht nur gefördert, sondern auch gefordert. Dass er allmählich abläuft, wird zugestanden, aber wenn er ausbleiben sollte, wird das von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, in immer schmerzhafterer Weise sichtbar – nicht nur für Geist und Seele, sondern auch für das Auge.

(Nebenbemerkung: Anders als in den unterschiedlichen Druckfassungen werden die Linien im spanischen Autograph von 1544 zum Ende der Seite hin nicht kürzer, sondern rücken enger zusammen [Abb. 3].Footnote 4 Ich lege meinen Überlegungen die Drucke zugrunde, weil sie den enthaltenen Gedanken besser umsetzen als das Prinzip der Verengung – und der Erstdruck zudem von Ignatius autorisiert ist. Unabhängig davon freilich basiert nicht nur die numerische Minimierung, sondern auch die Reduktion der ›Größe‹ der Sünden auf deren Quantifizierung.)

Abb. 3
figure 3

»Die besondere und tägliche Erforschung nach dem spanischen Autograph von 1544« (Ignatius von Loyola 1998, S. 114). Für dieses Drittmaterial gilt keine Creative-Commons-Lizenz

Die graphische Struktur des Protokolls markiert die Möglichkeit der Besserung, aber auch das Wissen, dass es dafür einer Hilfestellung bedarf, und zwar nicht nur einer göttlichen, sondern gewissermaßen auch einer verwaltungstechnischen. Und das heißt: Aus der Graphik spricht auch das Bewusstsein, dass diesen Möglichkeiten Grenzen gesetzt sind. Diese Grenzen – darauf kommt es mir an dieser Stelle an – werden räumlich bestimmt – und damit in quantitativen, nicht in qualitativen, Kategorien.

Im Hintergrund steht das, was eine Forschungsgruppe um Arnold Angenendt »gezählte Frömmigkeit« genannt hat: eine im Mittelalter vorherrschende Mathematisierung und Ökonomisierung des Religiösen, wie sie in Rosenkranzgebet, Tarifbuße und »gezählter Messe« ebenso ihren Niederschlag fand wie in der Praxis des Ablasses und der Almosenvergabe – und die auch für den frühneuzeitlichen Katholizismus noch grundlegend war.Footnote 5

Anders als es die reformatorische Kritik der Werkgerechtigkeit wollte, waren diese Praktiken kein Zeichen religiöser Äußerlichkeit und Uneigentlichkeit. Die Ignatianischen Exerzitien zeigen es deutlich: Mit der »Zahl der Verirrungen« wurde auch das Innere der Gläubigen mathematisch vermessen (Ignatius von Loyola 1998, 115). Eine Dichotomisierung, eine qualitative Unterscheidung, von Innen und Außen führt (nicht nur) an dieser Stelle epistemologisch in die Irre (vgl. Angenendt u. a. 1995, 62). Wer ihre Brille aufsetzt, folgt nicht allein den Invektiven der Reformatoren, sondern vor allem auch denen von Aufklärern wie Moritz, der die Sündenprotokolle der Religiösen als Zeichen pathologischer Unfreiheit las. (Auch die Reformationen haben die Innen- und Außenräume der Person noch nicht in der Weise voneinander getrennt, wie es das Selbstverständnis moderner Protestanten gern unterstellt.)

Ein neurotischer »Zwangscharakter« der »Zählsucht«, wie ihn Roland Barthes diagnostiziert hat (Barthes 2015, 80–83), scheidet damit als Interpretationsansatz ebenfalls aus und ist in erster Linie für die Geschichte psychoanalytischer Geschichtsdeutung interessant. Und auch ein frühkapitalistisches Denken, wie es Paolo Quattrone im Jesuitenorden – und damit auch in den Punkten und Linien der Exerzitien – am Werk sieht, taugt zur alleinigen Erklärung dieser gezählten Frömmigkeit kaum; denn die jesuitische Heilsökonomie hatte zuallererst biblische, nicht wirtschaftsgeschichtliche, Grundlagen.Footnote 6

Ignatius’ punkt- und linienförmige Gewissenserforschung lässt sich als eine Form der Selbstsorge und Selbsttechnologie lesenFootnote 7 – mit Blick auf ihre besondere Form könnte man auch sagen: der Selbst-Verwaltung. Auch diese Rechnungs- und Rechenschaftslegung schloss an die göttliche Buchführung an. Anders als im Protestantismus jedoch unterstellte sie dabei die Berechenbarkeit des eigenen Heilsstands. Noch anschaulicher als bei Ignatius selbst wird dies in der Illustration von Peter Paul Rubens, der die Reduktion der Zahl der Sünden zusätzlich als komplementäre, umgekehrt proportionale Steigerung des Heilspegels und -punktestands darstellt (s. Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

»Das Examen particulare in der Darstellung von Peter Paul Rubens« (Ignatius von Loyola 1689, S. 68 [Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Sign.: Th Pr 1275, URN: nbn:de:bvb:12-bsb11291014-7]). Für dieses Drittmaterial gilt keine Creative-Commons-Lizenz [alle Rechte vorbehalten]

Grundlage ist ein Denken in Kategorien des Ausgleichs und der kosmischen Harmonie, das die Beziehung zwischen Mensch und Gott als ein Verhältnis der Gegenseitigkeit und des Gabentauschs ansah – und das als solches von den Protestanten ebenfalls auf den rechtfertigungstheologischen Index gesetzt wurde. Anders als es die (polemische) protestantische Rede vom do ut des unterstellte, ließ Gott sich auch in katholischen Augen nicht zwingen (oder gar kaufen);Footnote 8 aber er hielt sich an die Gesetze, die er gegeben, und die Verträge, die er geschlossen hatte. Wozu Gott den Menschen verpflichtete, so die Auskunft der Theologen, das hatte auch für ihn selbst Gültigkeit.

Grundlage der Ignatianischen Form der Sorge um sich ist eine Epistemologie der Quantifizierung, die nicht mit moderner Rationalisierung oder einer Weber’schen ›Entzauberung der Welt‹ zu verwechseln ist; denn sie rekurrierte ihrerseits auf Qualitäten: auf ein Denken, das Zeichen- und Wirkungsbeziehungen zwischen Mikro- und Makrokosmos nicht nur in bildlichen, sondern auch in numerischen Analogien und Ähnlichkeiten erkannte. Eines der maßgeblichen Fundamente dieses Denkgebäudes war das Alte Testament: Gott, der Herr, heißt es im Buch der Weisheit (11, 21), hatte »alles geordnet mit Maß, Zahl und Gewicht.« Und der Psalmist klagt (40, 13): »[E]s haben mich umgeben Leiden ohne Zahl. Meine Sünden haben mich ereilt; ich kann sie nicht überblicken. Ihrer sind mehr als Haare auf meinem Haupt, und mein Herz ist verzagt.« Und all das bedeutet: Wer die eigenen Sünden zählte, und wer bemüht war, ihre Zahl zu verkleinern, der konnte auf Gottes Unterstützung rechnen – und auf seine Nachsicht, wenn der Platz auf dem Formular des Protokolls einmal nicht ausreichen sollte.

Die spezifische Räumlichkeit der protokollarischen Gewissensprüfung schlägt auch auf ihre Zeit- und Erzählstruktur durch. Die Ignatianischen Punkte erzählen zwar keine Geschichte, da sie nicht textbasiert sind, aber sie setzen ein Geschehen voraus, das sie erinnern und visuell abbilden. Die Protokollierenden halten ein Sünden-Geschehen fest, mit der erklärten Absicht, zu einem späteren Zeitpunkt auf weniger einschlägiges Geschehen zurückblicken zu können – verbunden also nicht nur mit dem Vorsatz künftig zu erinnern, sondern auch, das zu Erinnernde bis dahin verändert, genauer: minimiert, zu haben.

Einer binären Logik folgend, fixieren die Punkte die Sünden eines Tagesabschnitts als Grundlage für eine quasi statistische Übersicht über den erreichten (oder nicht erreichten) Fortschritt. Damit ist das Protokoll Zeichen des eigenen Heilsstands und zugleich Ansporn zur Produktion neuer einschlägiger Signifikanten. Das Notat ist die visuelle Grundlage für die Erneuerung und Intensivierung des Vorsatzes, von der Sünde Abstand zu nehmen. Die Verkürzung der Linien soll dabei helfen. Sie soll das Protokoll am Ende überflüssig machen, weil es im Idealfall zuletzt nichts mehr gibt, was protokolliert werden könnte.

In diesem Sinne zielt das Sündenprotokoll der Geistlichen Übungen auf seine Verzichtbarkeit. Dies unterscheidet es von den Tagebüchern der Puritaner und Pietisten. Wenn diese einem Aufschreibbefehl folgten, begaben sie sich auf eine Suche nach Zeichen des Heils und der göttlichen Gnade, die an kein Ende zu kommen vermochte. Denn der adamitische Fall hatte nicht nur die Erbsünde gezeitigt, sondern auch die Unfähigkeit, sie zu erkennen: nicht nur die unaufhebbare Entfernung des Menschen von Gott, sondern auch die mangelnde Einsicht in diese Distanz. Der Reformprotestantismus des 17. Jahrhunderts schloss daraus auf die Notwendigkeit, die eigenen religiösen Empfindungen beständig zu protokollieren. Der aus der Erinnerung an die eigenen Sünden abgeleitete Besserungsvorsatz bezog sich daher stets nicht nur auf das Aufgeschriebene, sondern auch auf das Aufschreiben selbst. Im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde notiert das »Tagebuch eines Selbstbeobachters« immer auch, wenn es nicht (kontinuierlich genug) geführt worden ist – als Teil des protokollierten Unheils. So wurde umgekehrt das Führen des Tagebuchs selbst zu einem jener Zeichen, zu deren Auffinden das Tagebuch geschrieben wurde. Es konnte – und durfte – daher a priori kein Ende finden. Im Hintergrund steht eine protestantische Prädestinationslehre, in der die reuevolle Einsicht, der göttlichen Gnade unwürdig zu sein, als Zeichen der Begnadigung vorgestellt wurde: eine Rechtfertigungstheologie, in der nur ein infiniter Bußprozess, das unhintergehbare Bewusstsein der eigenen Verworfenheit, die Gewissheit geben konnte, zum Heil auserwählt zu sein.

Dessen ungeachtet nimmt die Produktion der Zeichen auch hier Einfluss auf das Bezeichnete. Das Bewusstsein der Verworfenheit bildet die Auserwähltheit nicht lediglich ab, sondern führt sie – paradoxerweise – damit allererst herbei. Das reformprotestantische Protokoll stellt zwar keine Grundlage für künftiges innerweltliches Entscheiden und Handeln dar, anders als administrative, juristische oder wissenschaftliche Protokolle es tun;Footnote 9 aber indem es geschrieben wird, entscheidet sich etwas. Das Erinnerungsprotokoll selbst ist bereits die Handlung, die das Heil zu verbürgen vermag: Die Entscheidung zum Protokoll zeitigt – und repräsentiert – eine Entscheidung des Herrschers im Himmel. Dies gilt auch dort, wo es Defizite im Aufschreiben konstatiert; denn auch dort schreibt es auf. Damit wird das Protokoll selbst zu einem jener Zeichen, das es sucht. Es ist die Feststellung eines Defizits und dessen Überwindung und Beseitigung zugleich.

Im Fall der Geistlichen Übungen liegen die Dinge zunächst anders. Hier soll der Blick auf die Punkteverteilung zu der Entscheidung führen, weiter und verstärkt an der Reduktion der eigenen Sünden zu arbeiten. Insofern werden hier Heils-Zeichen eher produziert als gesucht und gefunden. Das Protokoll, die Erinnerung an die eigenen Sünden, legt die Grundlage für zukunftsbezogenes Handeln – insofern dieses Handeln relevant für das eigene Seelenheil ist. Ziel, wie erwähnt, ist das Ende des Prozesses, die Selbstaufhebung des Gewissensprotokolls, visualisiert durch eine graphisch dargestellte Grenzwertfunktion.

Auf der anderen Seite ist klar: Keine der Tages-Linien tendiert gegen Null. Praktisch kommt auch diese Form der Gewissenserforschung nie an ein Ende; Erfolge bleiben stets zwischenzeitlicher Natur. In dieser Hinsicht ist auch das Ignatianische Protokoll nicht allein die Grundlage für künftiges Entscheidungshandeln, sondern selbst schon ein solches. Zwar sprachen die Jesuiten dem Menschen eine deutlich größere Freiheit zu, sich für oder gegen Gott zu entscheiden, als die Reformierten und ›Radikalprotestanten‹ am anderen Ende des konfessionellen Spektrums es taten. Gleichwohl blieb auch für sie die göttliche Gnade die Möglichkeitsbedingung für die Entscheidung des Menschen für Gott.

Das aber heißt: Der Teufel behielt seine Hand stets im Spiel. Und so verwundert es nicht, dass Ignatius dem Formular des Sündenprotokolls allgemeine Hinweise zur Gewissenserforschung folgen lässt: die lebenslange, spezifisch jesuitische Praxis der ›Unterscheidung der Geister‹. Die besondere Erforschung des Gewissens mit Punkten und Linien wird durch die Frage flankiert, ob die eigenen Gedanken aus der »Bewegung« der Seele kommen oder »von außen, nämlich

  • aus der Einflüsterung des guten

  • oder des bösen Geistes« (Ignatius von Loyola 1998, 115).

In den Exerzitien, mit anderen Worten, ist Punktesammeln des Teufels. Dem Teufel galt es zu widerstehen, doch ohne göttliche Hilfe war dies zum Scheitern verurteilt. Das aber bedeutet: An eine menschliche Selbstmacht über die Gedanken war hier noch nicht zu denken. Und so kamen auch die Jesuiten von ihren Sündenprotokollen nicht los. Aus einem Hilfsmittel in einer Phase geistlicher Entscheidungsfindung wurde bald eine alltägliche Praxis der Selbstreflexion (vgl. Friedrich 2016, 81).

Unbeschreibliches Leid

Die spezifische Räumlichkeit des Ignatianischen Sünden-Protokolls gewinnt noch klarere Konturen, wenn es nicht nur mit puritanischen und pietistischen Tagebüchern in Beziehung gesetzt wird, sondern auch mit Chroniken des Leidens und der Gewalt, wie sie in besonders großer Zahl der Dreißigjährige Krieg hervorgebracht hat: unpublizierte Texte, deren Autoren und Autorinnen berichten, was ihnen und den Menschen in ihrem Umfeld zwischen 1618 und 1648 widerfuhr. Diese Texte stellen der Kartierung des Inneren eine Vermessung der Außenwelt an die Seite; denn ›äußeres‹ Geschehen konnte als ebenso heilsrelevant aufgefasst werden wie die Bewegungen des Gemüts und der Seele. Mit Monstren und Prodigien, mit allem Außergewöhnlichen und Wundersamen, das in der Geschichte der Natur und des Menschen geschah, mit allem, was die gegebene Ordnung gewaltsam störte, artikulierte Gott seinen Willen und verkündete den Menschen ihr dies- und jenseitiges Schicksal.Footnote 10

Bei der Lektüre dieser Chroniken springen zwei Dinge ins Auge, die eng miteinander verquickt sind: eine Topologie der Unbeschreiblichkeit und die epistemologische Funktion des protokollarischen Schreibens: die Exegese kriegsverkündender Zeichen. Beides lässt sich anhand der Chronik eines lutherischen Schuhmachers exemplifizieren: des Zeytregisters von Hans Heberle aus Neenstetten bei Ulm.

Diese Chronik verzeichnet auf 350 Manuskriptseiten, was im Ulmer Territorium zwischen 1618 und 1672 (das war fünf Jahre vor Heberles Tod) geschah; und sie legt dabei den Schwerpunkt auf den Dreißigjährigen Krieg, dessen Beginn auch den Anfang von Heberles Schreiben gesetzt hatte. Der Chronist hat den Text für seine Nachkommen verfasst, mit der Ermahnung, ihn aufzubewahren, »so lang das Heberles geschlecht weret, und solt es leben biß an den jüngsten tag« (Heberle 1975, Bl. 2v). Was er in ihm berichtet, das betont er wieder und wieder, war »nit gnugsam zu beschreiben« (Bl. 8r; siehe ferner Bl. 31r, 37r, 62r, 132v). Eigentlich, heißt das, konnte er gar nicht angemessen davon sprechen. Verstummt ist er deswegen aber nicht. Denn diese Rede war eine topische Wendung. Wer Unsagbares sah oder hörte, schwieg nicht still, sondern erzählte so ausführlich wie möglich davon.Footnote 11 Was in den dreißig Kriegsjahren geschah, mochte unbeschreiblich erscheinen; doch es gab etwas, das dies »fleißig außweißet«: Chroniken wie Heberles »büechlin« (Heberle 1975, Bl. 8r/v).

Dieser Text protokolliert nicht nur die Gewalttaten der Kriegsheere, sondern auch deren Folgen. Das war die Kipper- und Wipperzeit, die ihren Höhepunkt zu Beginn der 1620er-Jahre erreichte und Gelegenheit gab, mit Geld Geld zu verdienen, durch Minderung des Materialwerts im Umlauf befindlicher Münzen. Das waren Teuerung und Hungersnot, die nicht allein auf das Konto plündernder Soldaten gingen, sondern auch auf eine klimatische Verschlechterung, die ganze Ernten vernichten konnte und in der Forschung als ›Kleine Eiszeit‹ geführt wird. Und das waren Seuchen und Epidemien, die vor allem in den Städten Tausende dahinrafften, wo die Bedingungen für sie besonders günstig ausfielen. Nichts davon vergisst Heberle zu erwähnen.Footnote 12

Aber auch wenn in diesem Krieg an Hunger und Seuchen mehr Menschen starben als an der Gewalt der Soldaten: Mit dem militärischen Geschehen hatte alles oft erst begonnen. Diese Gewalt traf auch Hans Heberle immer wieder am eigenen Leib. Wiederholt musste er sich und seine Familie vor durchziehenden Soldaten in Sicherheit bringen, und die sicherste Möglichkeit war eine Flucht hinter die gut befestigten Mauern der Stadt Ulm.

Und auch hier: Heberles Fluchten waren in der Summe so viele, dass es ihm »nicht möglich« schien, »alle zu schreiben« (Heberle 1975, Bl. 132v). Doch auch hier ist er deswegen nicht verstummt. Der Autor wählt lediglich aus: Er beschränkt sich – denn unendlich viel Zeit und Raum hat er nicht – auf die kostspieligsten: seine Aufenthalte in Ulm. Sie hat er, das zeigen einschlägige Marginalien in der Chronik, in der Retrospektive gezählt und durchnummeriert. Heberles Zeytregister ist auch ein Register seiner Vertreibung.

Wer etwas über die subjektive Qualität und Intensität von Heberles Leiden zu erfahren hofft, darüber wie sich der Schuhmacher bei all dem ›gefühlt‹ hat, sieht sich bei der Lektüre der Chronik enttäuscht. Es wäre dem Schreiber nicht in den Sinn gekommen, über derartiges Auskunft zu geben. Ein Innerstes, das hätte nach außen gekehrt werden können, war in der Mitte des 17. Jahrhunderts noch kaum einem bekannt. Heberle quantifiziert, was er erlitten hat, so wie es viele andere Autoren und Autorinnen auch taten. Die Rede von der Unbeschreiblichkeit bringt dies besonders deutlich zum Ausdruck. Denn die besagte: Das zur Verfügung stehende Papier bot nicht hinreichend Platz, um sämtliche Leiden zu fassen (Heberle 1975, Bl. 2r, 31r, 62r).

Damit folgte Heberle einer buchhalterischen Heilsökonomie, die nicht nur die eigenen Sünden auszählte: Diese Buchführung protokollierte auch die Sünden der anderen, die Leiden, die daraus resultierten, und die »heyßen trenen«, mit denen sie zu beweinen waren.Footnote 13 Der Topos der Unbeschreiblichkeit und Unaussprechlichkeit, wie er in vielen Chroniken des Dreißigjährigen Krieges zu finden ist, behauptet damit keine qualitativen Grenzen der Repräsentation: nicht das Versagen der Sprache vor subjektiven Erfahrungen der Gewalt und Gefühlen der Angst. Er verweist vielmehr auf begrenzte materielle Möglichkeiten: Die Leiden schienen von so großer Zahl, dass kein Papier und kein Buch sie zu fassen vermochte. Dies bemerkt auch der Zisterziensermönch Sebastian Bürster in der Einleitung zu seiner Beschreibung des schwedischen Krieges:

Dann wer wolte so viler böser buoben alle ihr böse buobenstück und böse bossen haben könden beschreiben, deren nun jezo uber die 20 jahren hero so vil 1000 und abermalen vil 1000 taußend allhie an dem closter hero in allen machen und durchzüg füruberzogen. Ich hette nit zeit und weil, federen und dinten noch papeyr gnuog ufftreiben oder bekomen kenden; so ist auch der hunderste und noch mehr thail mier nit zue wüssen worden; allain schreibe ich diß, damit der leßer […] auch etwaß darzuo oder darvon wüsse zue sagen und nur ain wenig etwaß desselben erkantnuß und Wissenschaft haben möge (Bürster 1875, 1f.).

Mit Feststellungen wie dieser war nicht das Ende des Schreibens erreicht, sondern wurde sein Anfang gemacht. Wer wusste, dass er nie in der Lage sein würde, sämtliche Leiden zu verzeichnen, bemühte sich genau deswegen darum.

War bei Ignatius die Verknappung des Raumes das Ziel, so ist sie in den Chroniken der Gewalt das Problem. Auch hier jedoch verweist sie auf die heilsgeschichtliche Relevanz des Protokolls. Diese Texte notieren Zeichen des göttlichen Willens, in Orientierung an der »Grenzvorstellung eines Gesamtprotokolls der Welt«, wie es Hans Blumenberg bei Leibniz vorfindet (Blumenberg 1983, 129). Die Texte verzeichnen den Krieg als Bestrafung der Sünder und Prüfung der Frommen, als ein Geschehen, das Aufschluss gab über das Verhältnis des Menschen zu Gott. Und sie ermahnen damit stets auch zur Umkehr: zu Buße und Besserung, zur Reinigung des Gewissens.

In Heberles Zeytregister springt nicht allein die Quantifizierung des Leidens ins Auge. Noch bemerkenswerter ist, welche konkrete Summe der Autor dabei am Ende ermittelt. Die letzte Flucht, auf die sich Heberle im November 1648 begab, wird als die neunundzwanzigste gelistet – gerundet, und das ist entscheidend, auf die »ungefehr 30[.]« (Heberle 1975, Bl. 132v). In der abschließenden Gesamtbilanz fällt dann auch noch das Eingeständnis dieser kleinen arithmetischen Großzügigkeit weg, und so bleiben glatte »30 fluchten, die allein nach der stat Ulm geschehen sindt« (Heberle 1975, Bl. 133r). Wer bedenkt, dass der Schuhmacher hier eine bewusste Auswahl getroffen hat, wird dies kaum für einen Zufall halten. Heberles »30-jerige[r] krieg« (den er unter dem Jahr 1667 selbst so bezeichnet: Heberle 1975, Bl. 170v) bestand aus dreißig Fluchten aus Neenstetten nach Ulm. Aufs Ganze gesehen, jedes Jahr eine. Die Zahl seiner Fluchten spiegelte für ihn die Dauer des Krieges. Was Heberle litt, hieß das, entsprach dem, was alle erlitten.Footnote 14

Darüber hinaus blickt Heberle mit dieser Zählung auf den Anfang des Krieges zurück – und damit auch auf den Beginn seiner Berichterstattung. Genauer: Er erinnerte sich an einen Kometen, der zwei Monate lang, von Ende 1618 bis Anfang 1619, über dem Reich zu sehen gewesen war.Footnote 15 Als der Schweifstern am Himmel erschien, hegte kaum jemand einen Zweifel: Dieser Komet war ein Prodigium, er prophezeite Krieg und Gewalt, Umsturz im Weltlichen wie Geistlichen, Hunger, Seuchen und Tod. Dies bewegte auch Heberle derart in seinem »gemüet«, dass er sogleich Feder und Tinte zur Hand nahm und sein Zeytregister zu verfassen begann (Heberle 1975, Bl. 2v).

Denn bei aller intuitiven Befürchtung: Gänzlich unzweifelhaft war diese Unheilsankündigung andererseits nicht; und was konkret ins Haus stand, blieb ohnehin unklar. Zur Plausibilisierung ihrer Kometendeutung meinten die Belesenen zwar auf lange Listen mit historischen Exempeln verweisen zu können.Footnote 16 Diese begründeten aber lediglich einen starken Anfangsverdacht. Eine sichere Erkenntnis der Gefahrenlage war zu dieser Zeit niemandem möglich; denn niemand war in der Lage (und befugt), den göttlichen Plan bis ins Letzte zu ergründen. Exegetische Gewissheit vermochte daher allein die Zukunft zu bringen. Um sie zu erlangen, war das mutmaßliche Zeichen zu notieren, ebenso wie alles, was in seiner Folge geschah: alles, was als künftige Vergangenheit eine rückblickende Entscheidung über die Bedeutung der Erscheinung zu treffen erlaubte.

Die Folge waren schier endlose Protokolle der Gewalt, die möglichst viel des Unbeschreiblichen zu beschreiben versuchten. Diese Erzählungen begriffen das Geschehen am Himmel nicht als Ankündigung, sondern als Warnung: als Aufforderung zu Buße und Umkehr, als Ankündigung dessen, was denen widerfahren würde, die gegenüber dem »Cometen Prediger« Augen und Ohren verschlossen (Dieterich 1619, 7 f.). Indem sie daran erinnerten, und das heißt: in der Exegese des Schweifsterns und im Protokoll der Sünden, auf die er verwies, beherzigten sie bereits die Warnung, die er aussprach – und vermochten so vielleicht einen Beitrag zur Abwendung der drohenden Strafe zu leisten.

Im Nachhinein war dann das Scheitern dieses Versuchs manifest. Jetzt war klar: Die Warnung war in den Wind geschlagen worden und hatte sich damit in eine Ankündigung verwandelt. So erbringt Heberles Chronik in der Rückschau den Beweis, dass der Komet von 1618 jahrzehntelangen Krieg prophezeit hatte. (Andere wussten jetzt sogar, dass er auch seine dreißigjährige Dauer angekündigt hatte; denn jetzt meinten sie sich zu erinnern, ihn genau dreißig Tage am Himmel gesehen zu haben.Footnote 17) In dieser epistemischen Funktion wurden die Protokolle der Gewalt zu einer genuin religiösen Praxis, zu einer heilsrelevanten Handlung. In ihrer Erinnerung des Krieges beherzigten sie die Mahnung des Kriegszeichens – und erhoben damit selbst für die Zukunft mahnend die Stimme.

Bilanz

In frühneuzeitlichen Protokollen des (Un-)Heils wurde die Erinnerung durch Räumlichkeiten regiert, in denen die quantitativen Dimensionen des Religiösen aufscheinen. Umgekehrt heißt das: Frühneuzeitliche Praktiken religiöser Selbstvergewisserung generierten – in je unterschiedlicher Form – eine spezifische Protokollstruktur (selbst)reflexiven Schreibens.

In Ignatius von Loyolas Punkten und Linien erhält dies eine besondere Anschaulichkeit. Hier zeigt sich: Das religiöse oder religiös grundierte Protokoll notiert nicht primär, damit eine künftige Erinnerung ein Entscheidungshandeln ermöglicht, sondern es handelt, indem es notiert. Das Notat ist Grundlage für eine heilsgeschichtliche Entscheidung, die nicht der Mensch traf, sondern sein Schöpfer im Himmel. Der Mensch entschied über die Bedeutung der Zeichen, mit denen Gott seine Entscheidung verkündete. Diese Entscheidung war einerseits stets schon getroffen. Andererseits jedoch, so die Verheißung, wirkte das Protokoll, die Sammlung der Zeichen, auf das, was sie bezeichneten, zurück.