Jonathan Sterne verdanken wir eine ausgesprochen klare Diagnose, die das Entstehen einer protokollarischen Ordnung von Medien grundlegend an Formate bindet: »The format is what specifies the protocols by which a medium will operate« (Sterne 2012, 8; vgl. Jancovic et al. 2020). Man könnte auch sagen, dass Formatpraktiken zur Frage nach dem Vorschriftscharakter von Protokollen führen. Zugleich bedarf jede protokollarische Nachschrift ebenfalls ihrer Formatierung. So lässt sich der rasante Aufstieg amerikanischer Kreditkartenformate nach dem Zweiten Weltkrieg kaum ohne Rückgriff in das 19. Jahrhundert erklären, in dem der persönliche Kredit, das wechselseitige protokollarische Anschreiben, Scheck- und Bargeldzahlung in ein Spannungsverhältnis gerieten. Von dieser Geschichte des Protokollierens und Formatierens handelt der vorliegende Text. Er folgt dabei den weiteren Geschicken der credit reports und credit cards, die ab den 1920er Jahren Teil einer zuerst nationalen, dann ab etwa 1965 globalisierten, konsumistisch geprägten Finanz- und Schuldenkultur werden.

Anschreiben und Aufschieben

Durch welche Praktiken und unter welchen institutionellen Bedingungen hat sich das US-amerikanische Verhältnis zum Kredit im 19. Jahrhundert entwickelt? Fernand Braudel hat notiert, wie rar physisch zirkulierendes Geld in den englischen Kolonien vor und nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 war (Braudel 1990b, 487). Im Alltag hieß dies, Lösungen zum Waren- und Wertetausch zu finden, wie sie etwa die auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Amerika zielenden Franzosen Brissot und Clavière (1787, 24) beschrieben:

Statt mit Geld zu wirtschaften, das ständig von denselben Händen ausgegeben und eingenommen wird, deckt man dort auf dem Lande gegenseitig seine Bedürfnisse durch direkten Tausch. Der Schneider oder Schuster übt sein Handwerk bei dem Bauern aus, der gerade Bedarf hat und meist das Material stellt und die Arbeit in Naturalien bezahlt. Diese Art Tausch erstreckt sich auf viele Gegenstände. Jeder schreibt auf, was er gibt und nimmt, und am Jahresende wird dann mit sehr wenig Bargeld der Saldo zahlreicher Tauschgeschäfte ausgeglichen, die in Europa nur mit viel Geld zu bewältigen wären (zit. nach Braudel 1990b, 487).

Resultat war ein »bedeutender Warenumlauf ohne Bargeld« (Brissot und Clavière 1787, Fußnote 1, zit. nach: Braudel 1990b, 487), darin durchaus den professionellen Praktiken auf den frühneuzeitlichen Messen Europas und im Clearing House der Londoner Banken vergleichbar (vgl. Babbage 1989, Kap. 14; dt. Babbage 1999; vgl. auch Braudel 1990c, 90 f., 430; Braudel 1990a, 679). Das Protokollieren der gegenseitigen Verbindlichkeiten fand auf der untersten Ebene der Subsistenz und des Tausches statt. Es war eine lediglich temporäre Schreibpraxis, die nicht auf die Generierung von dauerhaften Akten und permanente Buchführung hin angelegt war. Damit entzieht sich alltägliches ›Anschreiben‹ bzw. ›keeping a tab‹ tendenziell seiner historischen Dokumentierbarkeit.

Bargeldmangel

Sehr gut belegt ist hingegen die dezentrale Unübersichtlichkeit des Bezahlens und der von Braudel in Rechnung gestellte Bargeldmangel in der »Early Republic«. Vor dem amerikanischen Bürgerkrieg gab es keinen durchgehenden einheitlichen Wertmaßstab. Der US-Dollar, wie wir ihn heute für selbstverständlich halten, wurde erst 1863 eingeführt. Vorher war ein Nationalbanksystem innerhalb zweier Zeiträume gescheitert; 1791 bis 1811 existierte die First Bank of the United States, 1816 bis 1836 die Second Bank of the United States. Die große Nachfrage nach Bargeld konnten beide nicht befriedigen, so dass zum einen eine Vielzahl lokaler Dollar-Währungen existierte (Greenberg 2020, 6)Footnote 1 und zum anderen Verbuchungs- und Vertragspraktiken notgedrungen in einer credit economy boomen mussten. In einer Krise wie derjenigen von 1836 führte dies zur Prägung eigener kupferner »hard-time tokens«, die mit Slogans wie »Perish Credit, Perish Commerce« versehen wurden (Sandage 2005, 40). Diese Privatwährungen richteten sich auch gegen den ehemaligen Präsidenten Andrew Jackson, der Banken stark regulierte, um die grassierende Spekulation einzuschränken. Man könnte auch sagen: Die Massenmedialität des gedruckten Bargeldes und sein Urkundenstatus (Schröter 2015, 13 f.) waren hier noch nicht institutionell stabilisiert, so dass sich der frühe US-amerikanische Kapitalismus im besonderen Maße durch ›Vielheiten‹ des Geldes auszeichnete.Footnote 2

Davon untrennbar war die geografische Ausweitung des von den weißen Siedler:innen dominierten und den indigenen Kulturen genommenen Herrschaftsgebiets gen Westen (vgl. van Laak 2018, 39 f.). Auch an der frontier waren zuverlässig als Wertmaßstab fungierende Gelder knapp, ob nun münz- oder scheinbasiert. Die Deckung von lokalen Dollars durch die ausgebende Bank war notorisch unsicher. So waren etwa in der Grenzstadt Monroe, Michigan, gleich drei Banken tätig, deren gedruckte Geldscheine in den 1830er Jahren als minderwertig galten (vgl. Greenberg 2020, 9 f.). Das Gelten bestehender Verträge zwischen Schuldnern und Geldgebern blieb ob mangelnder Infrastrukturen des Rechts prekär: »Debt laws had not kept pace with expanding credit and interstate commerce« (Sandage 2005, 30). Beide soziale Rollen, Schuldner und Geldgeber, wurden von den Zeitgenoss:innen als primär männliche Sozialrollen – business men – verstanden, während Frauen die häusliche Sphäre zugeschrieben wurde.

Das amerikanische 19. Jahrhundert, so erfolgreich es im Nachhinein erscheinen mag, blieb durch wirtschaftliche Krisenerfahrungen geprägt. Waren vorherige Wirtschaftskrisen auch auf Naturereignisse zurückführbar, sorgten die Paniken von 1819, 1837, 1857, 1873, 1893 und der Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten dafür, dass sich eine kollektive Wahrnehmung der Eigengesetzlichkeit ökonomischen Handelns etablierte. Durch kausale Begründungen allein erschien das Marktverhalten kaum mehr erklärbar zu sein. »Boom and bust« lagen in der ökonomischen Wirklichkeit nahe beieinander. Ein eben noch gefeierter, stets ambitionierter business man wie der New Yorker Händler Chauncey Moore konnte in einer Krise wie dem Amerikanischen Bürgerkrieg seine ganze Existenz verlieren. Im Falle von Moore hörten seine Handelspartner in den Südstaaten 1861 auf, ihre Rechnungen zu bezahlen, so dass er binnen weniger Monate eine Million Dollar an Schulden aufhäufte (vgl. Sandage 2005, 16).

Der Kulturhistoriker Scott Sandage hat in seiner ebenso präzisen wie brillanten Mikrogeschichte des Scheiterns in Amerika darauf hingewiesen, dass sich der business man in den 1830er Jahren als neue Sozialfigur etablieren konnte und das zukunftsorientierte, individualistische »go ahead« zum geschäftlichen Ideal wurde (vgl. Sandage 2005, 72, Kap. 1). Zum Schatten des business man wurde dabei der gebrochene und gescheiterte Geschäftsmann (vgl. Sandage 2005, 54). Hierzu gehörte eine finanzmediale Subjektivität, in der man sich Rechenschaft über die eigenen Finanzen schuldig wurde. Zur Praxis des wechselseitigen Anschreibens gehörte deshalb das persönliche Bilanzieren, gerade am Ende eines Jahres, dazu:

Writing down and calculating the moral and financial value of life stories was central to nineteenth-century culture. [...] By midcentury, success or failure often depended on the story a man could tell about his own life or that others could tell about him. Bureaucratic institutions such as credit-rating agencies, bankruptcy courts, and charity bureaus added their own form of discipline to that of the marketplace (Sandage 2005, 9).

So bilanzierte der in Maine wohnende Albion W. Clark in seinem Tagebuch für das Jahr 1858, dass er 406,59 US$ verdient habe und demgegenüber nur Verbindlichkeiten von 32,58 US$ standen – also ein Jahr voller Farmarbeit, Fischen, Lehren, Schreinern, Hutmacherei, Hausieren und Lagerverwalten mit einem doch akzeptablen Gewinn von 374,01 US$ zu beziffern war (vgl. Sandage 2005, 96).

Bemerkenswert war die moralische Härte, mit der der eigene Misserfolg oder mangelnde ökonomische Aktivität beurteilt wurden: Noch nichts erreicht zu haben, kreideten sich business men primär selbst an, noch bevor ihr Misserfolg in Kreditauskünften aktenkundig wurde. Was nach innen hin als moralische Ökonomie von Soll und Haben fungierte, machte nach außen hin den Glanz spekulativer Geschäfte aus, die liberale Werte und individuellen Geschäftssinn miteinander verbanden. Moralische Selbstverpflichtung und rechtliche Absicherung von Kreditgeschäften allein konnten jedoch mit der enormen infrastrukturellen Dynamik, mit der sich die USA – und auch KanadaFootnote 3 – modernisierten und mobilisierten, kaum Schritt halten.

Wasserwege wie der 1825 fertig gestellte Eriekanal, Eisenbahnen, Dampfschiffe, Postsystem und Telegrafie hatten nicht nur den Transport von Personen, Zeichen und Waren beschleunigt (vgl. Henkin 2006; John 2010). Sie eröffneten auch Räume für neue wirtschaftliche Handlungsverkettungen, vom Handel im großen Stil bis zum Betrug auf Distanz. Wertetausch mit Fremden wurde mehr und mehr zum Normalfall, was hohe Anforderungen in Sachen belastbarer Vertrauensbeziehungen stellte. In kreditbasierten Märkten war ohnehin jeder Käufer ein potenzieller säumiger Schuldner, und jeder Schuldner ein möglicher Schwindler. Wie ließ sich die Reziprozität einer Schuldnerbeziehung (vgl. Hénaff 2014, 37 f.) auf Distanz so herstellen, dass Zahlungsverpflichtungen auch nachgekommen wurde? Auf welcher informationellen Basis konnten riskante Geschäfte in unübersichtlichen Territorien – inklusive schnell größer werdender Städte – betrieben werden? Die von Braudel kaum mehr analysierten infrastrukturellen Beschleunigungen des 19. Jahrhunderts kreierten eine neue Rückseite der Verkehrsgeschichte: Wenn Personen, Zeichen und Waren in staatlichen Räumen mobiler werden und Betrug leichter möglich wird, ist deren bürokratische Registrierung, Identifizierung und Klassifizierung selten weit entfernt. Die aus diesen Gründen entstehenden Mercantile Agencies waren aber nicht die einzigen Medienagenturen, die hierfür neue vorhersagende Anzeichen – Indizes – produzierten.

Schulden machen, Schulden überwachen

Wer 1841 durch das südliche Manhattan spazierte, konnte auf wenigen Fuß einem neuen Medienverbund begegnen. Deutlich sichtbar waren dabei die Angebote, Daguerrotypien seiner Person anfertigen zu lassen, etwa an der Ecke von Nassau und Beekman Street.Footnote 4 Auch konnte, wer wollte, bei den Wissenschaftsverlegern Fowler und Wells phrenologische Expertise einholen, mit der sich Charaktereigenschaften anhand von Schädelvermessungen erschlossen. Wer hingegen die frisch gegründete Agentur von Lewis Tappan am Hannover Square betrat, suchte ebenfalls Auskunft über eine Person, genauer: über deren aktuelle und zukünftige Kredit- und Vertrauenswürdigkeit bei Geschäften (vgl. Sandage 2005, 112 f.). Daguerrotypien – die Unikate waren –, Schädelvermessungen und das Verzeichnen und Weitergeben von credit reports erlaubten eine neue Praxis des Identifizierens. Individualität und Identität waren durch einen Verbund symbolisch codierender, aber primär indexikalisch genutzter Medien zu einem lukrativen Geschäftsfeld geworden: Visuelle Repräsentation des Körpers, Vermessung des Schädels und mündlich eingeholte, schriftlich notierte Berichte adressierten allesamt das Individuum als solches.

Im Jahr 1820 hatte der New-York Commercial Adviser in einem satirischen Gedicht noch notiert: »To dress, to visit, and to play / To get in debt, and run away, / Are common vices of the day.«Footnote 5 Gegen solche notorischen Vertrauensbrüche richteten sich Kreditauskünfte, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts übliche bürokratische Dokumente wurden. Sie folgten auf die bereits etablierten Insolventenlisten (blacklists), mit denen Händler säumige Schuldner vom Geschäft auszuschließen versuchten (vgl. Lauer 2017, 57 f.). Von den neu entstehenden Auskunfteien ist ob ihrer Pionierrolle besonders Lewis Tappan’s Mercantile Agency erforscht worden. Wenn sie im Folgenden im Vordergrund steht, so soll dies die Arbeit der anderen zeitgenössischen Agenturen keineswegs nivellieren, ob sie nun Woodward & Dusenberry’s Commercial Agency, W.A. Cleveland’s Mercantile Agency, J.M Bradstreet & Son’s Improved Commercial Agency oder Potter & Gray’s City Trade Agency hießen (vgl. Sandage 2005, 121).

Beide Tappan-Brüder, Arthur und Lewis, hatten unter der Krise von 1837 massiv gelitten und waren aufgrund wortbrüchiger Kreditschuldner bankrott gegangen. Die spektakuläre Pleite von Arthur Tappan & Co. verschärfte die grassierende Wirtschaftskrise zusätzlich. Lewis Tappan, Geschäftsmann, evangelikaler Christ und Sklavereigegner,Footnote 6 verband mit der Agenturgründung geschäftliche Interessen und einen moralischen Imperativ, der Geschäftspartner auf Ehrlichkeit im ökonomischen Handeln verpflichten sollte.

Bei den aus dieser Motivation heraus beauftragten credit reports handelte es sich nicht um numerische Quantifizierungen, obwohl sie von Zahlungsfähigkeit und -moral handelten. Vielmehr wurden die Kreditberichte über einzelne Geschäftsmänner hier durch entsprechend ausgesandte Agenten eingeholt und in zentralisierten Geschäftsbüchern im Folioformat festgehalten.Footnote 7 Die handgeschriebenen, in rotes Leder eingebundenen Bücher waren Unikate, von denen es bis auf gelegentliche Teilabschriften keine Kopie gab. Wer eine Auskunft bei Lewis Tappan einholen wollte, musste sich vor Ort in der Agentur für eine vertrauliche, mündliche Auskunft einfinden. Ein jährliches Zugangsabonnement war ab Preisen von 50 US$ aufwärts möglich, was dem Gegenwert eines guten Pferdes entsprach. Als ziviles Überwachungs- und Reputationssystem stellte die Mercantile Agency einen frühen Identitätsprovider und -manager dar. Sie antwortete auf die erhöhte Mobilität von Personen und Nachrichten, die die Eroberung des amerikanischen Westens und die Industrialisierung des Ostens kennzeichnete. Tappan engagierte innerhalb von fünf Jahren 679 lokale Informanten. Nach zehn Jahren umfasste sein Netzwerk zweitausend Agenten. Für das gutgehende Geschäft gründete Tappan Dependancen in Boston (1843), Philadelphia (1845) und Baltimore (1846). 1870 verfügte das nun als R.G Dun and Company firmierende Unternehmen über knapp 30 Zweigstellen, darunter je eine in Kanada und London (vgl. Lauer 2017, 37).

Die großen Bücher der Agentur wurden durch Schreibkräfte von Hand gefüllt. 1851 waren allein dreißig Schreiber damit beschäftigt. Mit dem Gesamtregister verbanden sich vor allem kurze Geschichten, Statistiken waren zunächst selten. Allein 1871 wurden 70.000 neue Namen hinzugefügt, während 40.000 Dateien wegen Konkurs, Tod oder Ruhestand geschlossen wurden. An normalen Geschäftstagen empfing die Agentur sechshundert credit reports aus dem Feld und beantwortete vierhundert Anfragen. Zur Schreibarbeit kam dabei die fortwährende Indizierung und Verknüpfung der registrierten Daten hinzu, die in Foliobänden festgehalten wurden. Die Kurzsprache der Berichte korrespondierte mit telegrafischen Schreibstilen, auch wenn aufgrund der hohen Kosten nur in speziellen Fällen um Auskunft per Telegraf ersucht wurde. Tappans Konkurrenten wie die Bradstreet Co. druckten seit Ende der 1850er Jahre Referenzbücher und mobilisierten so die entsprechenden Informationen der credit reports. R. G. Dun zog 1859 nach, achtete beim eigenen Referenzbuch aber zugleich auf Vertraulichkeit, indem die Bände mit großen Schlössern geschützt wurden (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Erstes veröffentlichtes Referenzbuch der Mercantile Agency mit numerischen Ratings, 1859 (Lauer 2017, 44)

Abb. 2a
figure 2

Abraham Lincolns gelöschter credit report aus den 1850er Jahren (Sandage 2005, 157).

Abb. 2b
figure 3

(Detail)

Handschriftliche Einträge blieben aber trotzdem das Maß aller Dinge. Mit der raschen Integration von Schreibmaschinen in den Arbeitsalltag der Agenturen ab 1879 änderte sich dies (vgl. Sandage 2005, 128). Handschrift wurde nun vorwiegend für Annotationen verwendet. Was wurde über eine Person verzeichnet? Scott Sandage schreibt in Born Losers: »More than a bank balance or a character reference, a credit report folded morals, talents, finances, past performance, and future potential into one summary judgment« (Sandage 2005, 102).Footnote 8 Er führt dazu einige Fälle an, so z. B. den Schuhhändler John Cummins, der 31 Jahre lang von der Mercantile Agency beobachtet wurde. 1850 war er noch Schuhhändler in Charleston. 1859 notierte das Register: »Has been closed up by the Sheriff. Left for parts unknown.« 1866, nach dem Bürgerkrieg, findet sich ein Eintrag »Always hard up & slow pay« (knapp bei Kasse und langsam beim Bezahlen). 1880 stagniert sein Geschäft offensichtlich: »In bus[iness] many years but has never been successful, owing want of capacity; though is an honest man.« Der Eintrag vom Juni 1881 beschließt die Datei: »Old man in bus[iness] here many y[ea]rs but never made anything« (Sandage 2005, 102 f.).

Aus diesen Überwachungsgeschichten, die das Ringen um alltägliche ökonomische Subsistenz dokumentieren, ragte ein Korrespondent der Mercantile Agency heraus, der von ihr selber überwacht wurde. Es handelte sich um Abraham Lincoln, der als Rechtsanwalt in Illinois während der 1840er und 1850er Jahre Kreditauskünfte nach New York übermittelte. Lincoln lieferte aber nicht nur Berichte, sondern wurde selber von der Agency überwacht, was offenbar ein standardmäßiges Vorgehen war, mittels dem Agenten über Agenten wachten (vgl. Sandage 2005, 157 f.). Lincolns credit report ist denn auch das spektakulärste Protokoll der Überwachung von Zahlungsfähigkeit, da es in Teilen physisch gelöscht wurde. Zwar berichtete ein Nachbar Lincolns in Springfield zu dessen Verhalten, dass Rechtsanwälte unverschämt seien, aber selten nach Kredit fragten. Hinzugefügt wurde diesem Report eine Notiz über Lincolns Besitz, der unter anderem in Form von Immobilien 12.000 US$ umfasste. Ab 1858 und Lincolns mit dem Demokraten Stephen Douglas ausgetragenen Wahldebatten um die Sklaverei ist sein Eintrag physisch abgeschabt worden – warum, bleibt nach wie vor offen (Abb. 2a,b). Selbst Rekonstruktionsversuche mit Ultraviolett- und Infrarotscans im Jahr 2000 haben nicht ermitteln können, wie ›Honest Abes‹ Krediteintrag am Anfang seiner politischen Karriere aussah.

Die moralische Ökonomie der Schuldenliteratur hatte eine offensichtliche Kehrseite, die der amerikanische Bürgerkrieg mit seinen zahlreichen Geschäftspleiten besonders deutlich zu Tage treten ließ. Immer öfter wurden die kontraktuellen Verbindlichkeiten einer (weißen) Schuldnerbeziehung mit den konkreten Fesseln der (schwarzen) Sklaverei verglichen. Eine Rhetorik der »versklavenden Schulden« wurde selbst von denjenigen Männern kultiviert, die sich klar zur Abschaffung der Sklaverei bekannten. Die Argumentation hierfür war perfide, erschien den Zeitgenossen aber schlüssig. Gerade weil freie, vertragsfähige und geschäftsfähige Männer unter den Fesseln der eigenen, durch die Kriegsumstände entstandenen Schulden litten, seien sie davon genauso zu befreien wie die schwarzen Sklaven, die ihr eigenes Schicksal nicht verantwortet hätten (vgl. Sandage 2005, 190 f.).

Die Praktiken der Mercantile Agency waren, trotz oder gerade wegen ihres Spionage- und Überwachungscharakters, öffentlich bekannt und in der publizistischen Arena zwischen Befürwortern und Skeptikern umstritten. Ein von der Agency nachteilig bewerteter Geschäftsmann wie John Beardsley wehrte sich per langjährigem, spektakulärem Gerichtsprozess von 1848 bis 1871, den er schlussendlich verlor – was ihn aufgrund der zu zahlenden Anwaltskosten von 20.000 US$ in den Ruin trieb. Tappan v. Beardsley legte die Grundlagen für die Legalisierung des umstrittenen Auskunftei-Geschäfts und führte schlussendlich 1896 zur urheberrechtlichen Absicherung von credit reports (vgl. Sandage 2005, 184, Kap. 6).Footnote 9

Lewis Tappan’s Mercantile Agency wurde 1859 von Robert Graham Dun übernommen und firmierte von diesem Zeitpunkt an als R. G. Dun & Company. Unter den von ihr überwachten Geschäftsleuten befanden sich auch die Lehman Brothers Emanuel und Mayer, denen 1868 und 1869 eine weiterhin gute Kreditwürdigkeit attestiert wurde: »Were wealthy before the war, and are believed to be well off still« (Lehman Brothers 1868–1869). Auch die mit R. G. Dun & Co. konkurrierende Bradstreet Company, die als erste gedruckte Referenzverzeichnisse von Schuldnern auf den Markt brachte, war von vornherein auf hohe territoriale Reichweite (scale) und wachsenden Geltungsbereich (scope) hin angelegt. Beide fusionierten schließlich 1933 als Dun & Bradstreet.Footnote 10 Bemerkenswert bleibt an den privatwirtschaftlichen Kreditwürdigkeits-Agenturen, wie schnell und konsequent sie ein von ihnen überwachtes Territorium mit einer Vielzahl von Informanten regelrecht durchdringen konnten. Koordination, Klassifikation und Markteroberung erfolgte hier zum Zwecke des Identifizierens der sogenannten »drei Cs« eines ökonomischen Individuums: character, capacity, and capital (vgl. Lauer 2017, 35).

Kreditwürdigkeit und Bargeldkultur

Die verbreitete Skepsis gegenüber der Kreditwürdigkeit und Zahlungsmoral einzelner Personen lässt sich auch an einem weiteren, in diversen Variationen öffentlich zirkulierenden Beispiel aus dem Jahr 1870 zeigen.

Nathaniel Curriers und James Merritt Ives’ Lithografie I Gave Credit, I Sell for Cash (Abb. 3) dokumentierte die sich verändernden Geschäftspraktiken und Ansprüche an die Zahlungsmoral. Sie war Teil einer visuellen Kultur, in der männliche Schuldner als dünne, leidende Figuren gezeichnet wurden, die auf wohlgenährte, feiste Kreditgeber trafen. Anstelle des alten Geschäftswegs, »the old way«, mit Schuldscheinen und aufgeschobenen Bezahlungen tritt der neue Weg, »the new way«, der das eingenommene Bargeld im Panzerschrank deponiert und zudem in Government Securities bzw. US Bonds investiert. Die Bevorzugung des Bargelds und später des Schecks führte zu einer Abneigung gegenüber den älteren Praktiken des ›Anschreibens‹ bzw. des ›keeping a tab‹. Für Kaufleute war die Entscheidung zwischen temporärer Kreditvergabe und dem durchaus verbreiteten »cash only« essenziell. Im Wettbewerb hatten die Anbieter von Kredit immer einen gewissen Vorteil: »Credit was not just a courtesy; it was a competitive advantage among local retailers« (Lauer 2017, 76). Jedoch waren in der rapiden Expansion gen Westen, der immer stärkeren Immigration und Binnenzirkulation in den USA, bisherige Vertrauensverhältnisse nicht ohne Weiteres aufrechtzuerhalten. Und wenn doch, dann erforderten sie neue Intermediäre wie die Mercantile Agencies, die das Zahlungsverhalten der geschäftstreibenden Bevölkerung selektiv überwachten – gerade angesichts der weitgehenden Abwesenheit einer dauerhaft funktionierenden und national anerkannten Zentralbank im 19. Jahrhundert. Mit den National Banking Acts von 1863 und 1864 wurde, immerhin, der staatlich ausgegebene Dollar als föderaler Standard geschaffen.Footnote 11

Abb. 3
figure 4

Lithografie von Nathaniel Currier und James Merritt Ives (1870): »I Gave Credit, I Sell for Cash« (Manning 2000, o.S.)

Waren die Mercantile Agencies zunächst klar auf die Überwachung von Geschäftsmännern spezialisiert, etablierten sich ab den 1870er Jahren ebenso Agenturen, die Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit privater Kund:innen registrierten und identifizierten. Die vor allem in den größeren Städten der USA entstehenden Auskunfteien machten dabei nicht beim literarischen Genre des credit report halt und bewerteten Kund:innen mit Kurzklassifikationen. So notierte die in Brooklyn ansässige Retail Mercantile Agency 1874 »A« für schnelle Bezahlung, »B« für Bargeldnutzung, »C« für späte Rückzahlungen, »K« für Nicht-Zahlungsfähigkeit und »&« für Nicht-Bewertbare, über die Details nur im Büro erfragt werden konnten (vgl. Lauer 2017, 68). Im Gegensatz zum Agentensystem von Lewis Tappan basierten die Daten der Retail Mercantile Agencies auf den Buchführungspraktiken der jeweiligen Geschäfte, beispielsweise im Lebensmittelhandel. Anstelle der zusammengetragenen credit reports trat so das Argument der »direct ledger experience«, durch deren Ansicht das Kaufverhalten der Kund:innen noch genauer abgebildet sein sollte (vgl. Lauer 2017, 69).

Für Privatkund:innen etablierte sich in den großen Städten ab den 1880er Jahren die Vergabe von temporärem Kredit durch US-amerikanische Kaufhäuser, die substanziell in die Identifizierung der Stammkunden und die entsprechende Buchführungsarbeit investierten. Am Ende des 19. Jahrhunderts genossen schließlich nicht nur die credit reports urheberrechtlichen Schutz. Die Kreditbranche hatte einen eigenen Berufsstand, die credit men hervorgebracht, in dem sich auch die zahlreichen Frauen zunehmend organisierten (vgl. Lauer 2017, Kap. 2 und 3). Zur Professionalisierung gehörte auch die weitere medientechnische Dynamisierung der Datenverarbeitung, die seit den 1870er Jahren auch durch bibliothekarische Karteisysteme und ab den 1890er Jahren durch vertikale Ablage und Ordnung von Karteikarten realisiert wurde (vgl. Yates 1989, 56 f.; Krajewski 2002, 99 f.; Robertson 2021). Die nach dem Bürgerkrieg populär gewordene Praxis des installment credit (vgl. Calder 2001, Kap. 4), die dazu gehörende Buchführung und Klassifikation waren binnen eines halben Jahrhunderts selbstverständliche Infrastrukturen des amerikanischen Kapitalismus und seiner vernetzten Buchhaltung geworden.Footnote 12

Charge cards und charge coins

Eine grundlegende Erweiterung der Kreditfähigkeit von Einzelpersonen durch neue »transactional objects« (Maurer und Swartz 2017, XV f.) setzte in den USA nach dem Ersten Weltkrieg ein. Die Ursprünge der gegenwärtigen amerikanischen Schuldenkultur lassen sich in den 1920er Jahren verorten, wie Louis Hyman (2011, Kap. 1) eindrucksvoll gezeigt hat. Zu diesem Zeitpunkt wurde es erstmals möglich, gesammelte Schulden wiederum zu verkaufen, worauf vor allem Kaufhausketten wie Sears, Roebuck & Company zurückgriffen. In den Kaufhäusern hatten sich credit departments etabliert, die die Kreditwürdigkeit von Kund:innen anhand von karteikarten-basierten Registraturen und persönlichen Interviews systematisch prüften (vgl. Lauer 2017, Kap. 3). Die ohnehin hohe Nachfrage nach installment credit – für größere Anschaffungen, darunter Automobile und Schallplattenspieler – und rechtlich abgesicherten persönlichen Krediten (small loan lending) traf auf das neue Kaufen und Verkaufen von angesammelten Schulden im Finanzsystem. Auf der Ebene alltäglicher ökonomischer Praktiken verbreiteten sich Kundenkarten, die eine Registrierung und Identifizierung der Konsument:innen erleichterten. Neben der entsprechenden Buch- und Karteiführung beinhaltete dies ein spezielles Format, die sogenannten charge-a-plates oder charge plates (vgl. Stearns 2011, 6 f.; Lauer 2017, 175).

Es handelte sich dabei um einfache, mit einigen wenigen drucktechnischen Elementen versehene Objekte, die zunächst basale Zahlungspraktiken in Kaufhäusern, an Tankstellen und in Hotels erleichtern sollten, wie etwa die um bis zu 30 Tage verspätete Zahlung bei bewährten, guten Kundenbeziehungen. Die Zahlung mit den ab 1928 genutzten charge plates oder mit den verwandten, älteren charge coins war einerseits eine Angelegenheit des sozioökonomischen Prestiges. Andererseits korrespondierte jede Karte mit einem lokalen Kundenkonto, weswegen Name und Unterschrift konstitutiv zur Personalisierung der charge cards beitrugen.

Die Buchführungspraktiken, mit denen Geschäfte zeitlich begrenzten revolving credit einräumten,Footnote 13 schufen eine neue Verbindung von Konto, Körper und Person – ein folgenreicher bürokratischer Einschnitt in der Geschichte sozialer Medien, der einer Vervielfältigung von Konten, Identitäten und Transaktionen in digitalen Medien weit vorherging. Körper und »Schein der Person« (Groebner 2004) sind dabei nicht identisch. Die Differenz zwischen beiden wird in jeder Bezahlinteraktion erzeugt, die zwischen Körpern und der Zuschreibung personaler Identität vermittelt. Konto, Körper und Karte erlaubten als Medienverbund eine Adressierung des zahlenden und kreditfähigen Subjekts ebenso, wie sie Personen eine Erweiterung ihrer Zahlungsmöglichkeiten boten.Footnote 14 Dabei blieben bestehende Interaktionsordnungen des Bezahlens, des Gebens und Überreichens weitestgehend erhalten bzw. wurden um die Registrierung und Identifizierung per plate oder coin ergänzt. Die individualisierten Karten und Münzen dienten als Mediator personaler Identität und wurden hierfür mit dem Körper der Kund:innen verbunden und vice versa. Bezahltechniken und Infrastrukturen blieben weiterhin körpernah und interaktionistisch und benötigten von allen Beteiligten einen hohen Vorschuss an wechselseitigem Vertrauen, das nur teilweise an die bürokratischen Registrierungs- und Identifizierungstechniken delegiert werden konnte. Trotzdem führte die Professionalisierung der credit men (and women) ein enormes infrastrukturelles Wachstum der entsprechenden Registraturen mit sich. Ab den 1910er Jahren waren Karteikartensysteme sowohl in den Kreditabteilungen der Kaufhäuser als auch in den Auskunfteien Standard: »Within such systems, individual consumers were represented by a single master card on which their full personal and financial information was transcribed« (Lauer 2017, 113). Man geht nicht zu weit, wenn man die späteren Kreditkarten ausgehend von der personenbezogenen »master card«, die als perfekter Index innerhalb von Karteisystemen fungieren sollte, erklärt: Die persönliche Kreditkarte ist der jüngere konsumistische Bruder der älteren master card der Kartei-Registraturen.

Zugleich wiesen die charge plates und coins deutliche Merkmale nicht-modernen Geldes auf. Sie erinnern an Marcel Mauss’ 1914 getroffene Bestimmung der Ursprünge des Geldbegriffs, die den a-modernen, religiösen und magischen Charakter von Objekten betont, die als Geld verwendet und anerkannt werden. Mauss stellte dabei den Begriff des Talismans in den Vordergrund, dessen Praktiken er sowohl im amerikanischen Nordwesten bei den Kwakiutl (als logwa) wie in Australien wiederfindet. Er setzt diese in Relation zum Begriff des mana in den malaiisch-melanesischen-polynesischen Sprachen, der sowohl die Macht von Substanzen und magischen Handlungen als auch die der Männer und des Geldes benennt (vgl. Mauss 2015; Dodd 2014, 30 f.). Zahlungs- und Kaufkraft beruhen dabei auf dem »Prestige, das der Talisman demjenigen verleiht, der ihn besitzt und sich seiner bedient, um über andere zu herrschen« (Mauss 2015, 32). Während der Herrschaftsaspekt für die konsumistische Nutzung von Karten und Münzen vernachlässigbar ist, stellen die neuen Formate von Kundenkarten ein distribuiertes und zugleich individualisiertes Prestige dar, das Zahlungs- und Kaufkraft durch fortgeführte Praktiken des Bezahlens beglaubigt. Zugleich wurden Bezahlpraktiken in Aktenform überführt und so wiederum Teil finanzmedialer Klassifikation der jeweiligen Person.Footnote 15

Mit der Kombination von a-modernem Charakter und vernetzter Buchführung ging aber zugleich ein registrierendes und identifizierendes Verfahren einher, das jeder verzögerten Zahlung die entsprechende Person zuordnete. Die für Drucktechniken konstitutive Zweizustandsdifferenz (vgl. Giesecke 1994, 73 f., 107 f.), bei der hochstehende Lettern mit Tinte eingefärbt bzw. durch Kohlepapierdurchschlag Abdrücke erzeugt werden, wurde hier zur Grundlage eines veritablen Aktenerzeugungsprogramms. Karten und Münzen protokollierten und formatierten darin die formularförmige Interaktion. Der schnelle händische Abdruck von auf den Karten gespeicherten Zeichen in Abrechnungsformulare bekam so einen spezifischen, mittlerweile wenig vertrauten protokollarischen Sound: Ritsch-Ratsch. Über ihre a-moderne Qualität als Talisman hinaus wurden die charge cards und ihre Konsumpraktiken so Teil des Umgangs mit wechselseitigen Zahlungserwartungen und -verpflichtungen.Footnote 16

Eine solche Funktion erforderte jedoch ein hohes Maß an Formstabilität. Buchführung bzw. accounting zeichnet sich durch die Beharrlichkeit von Notationspraktiken aus (vgl. Yates 1989; Chiapello 2007; Gardey 2018; Gleeson-White 2015), während der neue Medienverbund der durch charge cards integrierten Konten, Körper und Personen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durch ein hohes Maß an sozialer und kultureller Heterogenität gekennzeichnet blieb. In der irreduziblen Vielfalt der Medienpraktiken des Bezahlens konkretisierten zwischengeschaltete Objekte die bürokratischen Datenverarbeitungen. Bereits die charge cards und charge coins sind dabei Vertreter dessen, was Bruno Latour ein immutable mobile – ein unveränderlich mobiles Element bzw. eine bewegliche Fixierung – genannt hat (vgl. Latour 1990).

Die vergleichsweise stabile Form der von ihr transportierten Information verweist auf die notorische, alltägliche Instabilität des Umgangs mit Zahlungserwartungen. Ein Registrieren und Identifizieren des (aufgeschobenen) Bezahlens mag einhegend, moralisch-normalisierend oder kontrollierend wirken. Vor allem aber infrastrukturiertFootnote 17 es eine Praxis, in der jeder Transaktion notwendigerweise Interaktionen mit offenem Ausgang vorhergehen. Ein Kreditgespräch kann negativ enden, die Kontrollmechanismen zur Autorisierung können scheitern – so dass Betrug möglich bleibt –, Ordnung und Recherche in den Karteischränken sind alles andere als perfekt.

Papier, Konto, Plastik

In den 1920er Jahren war in den USA ein neues Verhältnis zwischen privatem Konsum, temporär aufgeschobenen Bezahlungen und Schulden entstanden, in dem sich das ambivalente Verhältnis zum persönlichen Kredit geändert hatte (vgl. Hyman 2011, 10 ff.; Logemann 2012). Nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete sich diese Praxis weiter.Footnote 18 Insbesondere die weiße amerikanische Mittelschicht fragte, nachdem die Kriegsersparnisse aufgebraucht waren, intensiv neue Kredite nach. Die Vielzahl an Kreditkartenangeboten, die in den 1950er Jahren entstand (vgl. Zumello 2011, 552 f.), stellte eine Variante dieses neuen Konsumerismus dar, dessen Stil die Historikerin Lizabeth Cohen (2003, 112 f.) treffend als Leben in einer »consumer’s republic« beschrieben hat. Die amerikanische Gesellschaft, und hier vor allem die Mittel- und Oberschicht, profitierte nach dem Zweiten Weltkrieg von den Kriegsersparnissen und investierte sie – abgesichert durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen wie Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit – in den privaten Konsum (vgl. Mandell 1990, 22).

Sobald die privaten Kriegsersparnisse aufgebraucht waren, stieg die Nachfrage der Mittelklasse nach Finanzierungsmöglichkeiten neuer Lebensstile, darunter auch die technische Aufrüstung durch Automobile, Haushaltsgeräte, Medienmöbel usw. Die Finanz- und Immobilienindustrie (kurz: FIRE) antwortete in den 1950er Jahren mit neuen Angeboten, die die bereits akzeptierte Finanzierung von Käufen auf Kredit, die wiederum auf den älteren Techniken des Anschreibens beruhte, noch mehr zum Normalfall machten. Die »consumer’s republic« war und ist durch die Kombination von neuen Kredit-, Einkaufs- und Mobilitätspraktiken gekennzeichnet und unterscheidet sich erheblich vom widersprüchlichen Verhältnis des amerikanischen 19. Jahrhunderts gegenüber Verschuldung. Das Ideal des amerikanischen Einkaufens in den 1950er Jahren sah eine glückliche weiße Familie vor, die in den neuen Supermarkt- und Shoppingmall-Architekturen am Rande der Vorstädte zusammen ihren wöchentlichen Großeinkauf erledigte (vgl. Cohen 2003, 149 f.). Diese räumliche Verschiebung aus den Innenstädten hinaus erwies sich in den Jahren darauf als eines der entscheidenden sozialen Elemente für die Mobilisierung des Bezahlens auf Kredit.

Als ›erste‹ Kreditkartenfirma dieser neuen Konsumwelten gilt nach wie vor Diners’ Club.Footnote 19 Zu ihrer Gründung 1949/1950 offerierte sie bequemes monatliches Bezahlen der bei Geschäftsessen in New York entstandenen Rechnungen. Hierfür nutzte Diners Club zunächst keine charge card aus Metall oder Plastik, sondern kombinierte eine Pappkarte mit einem Heft aller teilnehmenden New Yorker Restaurants. Es handelte sich eher um eine debit card als eine credit card (vgl. Swartz 2014, 137 f., 2020, 57 f.), die wiederum mehr mit einem Rabattmarkenheft als mit einer charge plate gemeinsam hatte.

Die Gründung des Diners Club umgibt eine sich hartnäckig haltende Legende, die mittlerweile aber als geschickte Public-Relations-Aktion rekonstruiert worden ist. Wir wissen, dass Firmengründer Frank MacNamara nicht die Idee zu einer Kreditkarte hatte, als er bei einem Geschäftsessen im Manhattaner Major’s Cabin Grill 1949 kein Bargeld bei sich trug. Er hat auch nicht seine Frau angerufen, um seine Brieftasche apportieren zu lassen. Das Konzept eines Diners Club entstand vielmehr als Geschäftsidee, die MacNamara mit seinem Geschäftspartner Ralph Schneider testen wollte. Die weiterhin tradierte Geschichte des fehlenden Geldes und der hilfreichen Hausfrau wurde hingegen von Matty Simons, dem ersten Presseagenten der Firma, erfolgreich popularisiert (vgl. Stearns 2011, 13).Footnote 20 Dabei war die Idee einer privaten Club-Ökonomie nicht grundsätzlich neu gewesen. Diners Club gelang allerdings die erfolgreiche Kombination von Elementen, die zuvor lediglich nebeneinander existierten (vgl. Evans und Schmalensee 2005, 149), weitestgehend mit Papiertechniken, Marketing und organisatorischer Finesse.

Metallene charge cards, Karten auf Celluloid-Basis und gedruckte Diners-Club-Ausweise waren typisch für die materielle Vielfalt der neu entstehenden Kreditkarten. Ölfirmen begannen Mitte der 1950er Jahre, ihrerseits charge cards auf Plastikbasis anzubieten, inklusive scheiternder Systeme wie Simplan (vgl. Deville 2013, 91). Ab 1958 gab BankAmericard Plastikkarten aus; 1959 folgte American Express. Im Falle der BankAmericard, die ab Mitte September 1958 unaufgefordert an die Kund:innen der Bank of America in Fresno versendet wurde (Stearns 2011, 1 f.; Nocera 2013, 15 f.), wurden die Daten mittels einer Prägemaschine aufgebracht. Hierbei handelte es sich um The Databosser von Dashew Business Machines, der auf Basis von IBM-Lochkarten mit Kundendaten die serielle Prägung übernahm (vgl. Deville 2013, 92). Inmitten eines regelrechten Wildwuchses an Designs und Formaten waren aber stets der Name des Kontoinhabers, die Kontonummer, seine Adresse und ein Unterschriftsfeld enthalten. Da sowohl lokale Händler, national agierende Ketten (Hotels, Tankstellen, LuftlinienFootnote 21), spezialisierte Unternehmen wie American Express und Banken eigene Karten auf den Markt warfen,Footnote 22 stellten sich technische Standardisierungsfragen, die schnell mit juristisch-regulatorischen Einsätzen korrespondierten. Diese Etablierungsphase der amerikanischen Kreditkarte brachte teils irrwitzige neue Finanzpraktiken hervor, darunter Massenmailings ohne vorherige Überprüfung der Zahlungsfähigkeit (vgl. Mandell 1990, 34 f.), das Austesten von überhöhten Zinssätzen, Women’s-Lib-Aktivismus für die Zugänglichkeit und das Unterschriftsrecht für das eigene Konto (vgl. Swartz 2014, 147), Visionen einer scheck- und bargeldlosen Gesellschaft gerade im Angesicht einer ungeahnten Papierflut (vgl. Bátiz-Laszlo et al. 2014), teils langjährige Verluste für die beteiligten Unternehmen und im Zuge der Digitalisierung der Zahlungsinfrastrukturen neue Betrugspraktiken wie z. B. das Kopieren des Magnetstreifens (vgl. Stearns 2011, 143 f.).

Die top-down von der American Bankers Association angestoßene Standardisierung des Kartenformats und der in ihm eingelassenen soziotechnischen Skripte (vgl. Akrich 2006) wollte diesen Auswüchsen einen protokollarischen Standard mit universeller Gültigkeit entgegensetzen. Damit verlagerte sich die Heterogenität der Nutzungspraktiken in eine Frage der Balance zwischen Kontrolle und Marktgenerierung, in der die möglichen Praktiken der zum Massenprodukt gewordenen Kreditkarte eingehegt werden sollten. Diese Standardisierung wurde erstmalig von 1968 bis 1971 ausgehandelt – in der Gremienarbeit des beauftragten Subcommittee X4-A11 des Standards Committee on Office Machines and Supplies X4 des American National Standards Institute, unter der Leitung seines Vorsitzenden C. Thomas Deere (ANSI 1971, 3). Das Subcommittee setzte seine Arbeit mit den Aktualisierungen des Standards 1973, 1976, 1977 und 1983 fort.

Bei jedem funktionalen Element der Kreditkarten steckte von nun an der Teufel im protokollarischen Detail, etwa in der Frage des richtigen Datumsformats, der Länge der account number, der Positionierung der Unterschrift, einer verlässlichen Produktion der Magnetstreifen, der auf ihnen gespeicherten Daten und der Positionierung der Logos von Banken und Kreditkartenfirmen. Denn nicht nur Formate, Daten und Informationsstandards wurden durchweg kontrovers diskutiert, sondern alle Kodierungen, die von beteiligten Firmen an den Karten vornehmbar waren (vgl. Stearns 2011, 138 f.). Formatstabilität und protokollarische Standardisierung waren das Resultat sukzessiver, kaum je zu einem Ende kommender Kleinarbeit. Wie aber lässt sich dieser fortwährende Aufwand, Praktiken des Kapitalismus infrastrukturell und digital zu formatieren, geld- und medientheoretisch begründen?

Making mobiles immutable

Bruno Latour hat die Charakteristika der immutable mobiles, der unveränderlichen mobilen Elemente oder auch beweglichen Fixierungen in seinem Essay Drawing Things Together über ihre Eigenschaften der immutability, presentability, readability und combinability bestimmt. Dies gilt auch für das Geld, denn:

As soon as money starts to circulate through different cultures, it develops a few clearcut characteristics: it is mobile (once in small pieces), it is immutable (once in metal), it is countable (once it is coined), combinable, and can circulate from the things valued to the center that evaluates and back (Latour 1990, 58).

Latour überführt diese Annahme in eine heterodoxe Geldtheorie, die Geldmedien in Kaskaden anderer immutable mobiles einordnet und vor allem über ihre Buchführungspraktiken bestimmt: » [W]hat should really be stressed is the cascade of mobile inscriptions that end up in an account, which is, literally, the only thing that counts« (Latour 1990, 58, Hervorhebung i.O.).Footnote 23 Latours Konzept der centers of calculation hat hier seinen Fokus – allein stellt das Geld nicht viel dar, es wird erst dann wirksam, wenn es mit anderen Inskriptionen kombiniert wird und so organisatorische Macht gewinnt. Gerade weil in centers of calculation Inskriptionen übereinandergelegt, neu gemischt, rekombiniert und zusammengefasst werden, erzielen diese ihre Reichweiten und sichern ihre koordinativen Geltungsbereiche (vgl. Latour 1990, 59, 1999, Kap. 6). Banken sind die prototypischen Institutionen solcher Rechenzentren des Geldes. Kapitalismus wird so zu einem weiteren Prozess der Mobilisierung, in dem Innovationen, die den Geldumlauf beschleunigen und mobilisieren, beibehalten und ausgebaut werden: Schecks, Policen, Papiergeld, elektronisches Geld etc. Hinzu kommt, wie Fernard Braudel gezeigt hat, die Logistik längerer Handelsverkettungen (vgl. Braudel 1977, 53).

Die amerikanische Kreditkarte und alle mit ihr verwandten Plastikkarten fügen sich fast schon zu nahtlos in eine solche infrastrukturelle Sichtweise auf Geld als ein schwaches oder doch zumindest fragiles Medium ein. Tatsächlich handelt es sich bei den Plastikkarten um ein letztes, wenn nicht sogar das letzte immutable mobile, das die Form(at)konstanz von Informationen materialisiert und stabilisiert. Gerade mit dem Aufkommen digitaler Medien wird Unveränderlichkeit und Nichtkopierbarkeit jedoch zu einer speziellen Herausforderung.Footnote 24 Im Falle der amerikanischen Kreditkarte besteht das Paradox sogar darin, dass ihre Formatstabilität kooperativ über ein halbes Jahrhundert verfertigt wurde. Ihre späte Standardisierung im Jahr 1971 stellte eine für die US-amerikanischen Akteure verbindliche Formatierung eines Protokolls dar, die bereits vor dem Horizont der Computerisierung von Zahlungsverpflichtungen entwickelt wurde. Latours Pointe, dass gerade vergleichsweise bescheidene Inskriptionstechniken umso stärkere Beglaubigungs- und Vertrauensinstanzen benötigen, um als immutable gelten zu können, gilt hier in besonderem Umfang.

Der Medienstatus der Kreditkarte lässt sich zum einen als Variante a-modernen Geldes, als Mauss’scher Talisman bestimmen. Zum anderen stellt sie in den Praktiken einer vernetzten Buchhaltung ein letztes immutable mobile dar, mit dem Konto, Person und Kreditwürdigkeit mit hoher Formatstabilität verschaltet werden sollen. Die protokollarische Anordnung soziotechnischer Skripte in einem coded object (Kitchin und Dodge 2011, 54 f.), das lediglich kontrolliert basale Funktionen für Zahlungsinteraktionen zur Verfügung stellt, erinnert zudem an die Begrenzung und Einhegung aktueller Software, die in Gestalt von Apps das Computing der Gegenwart bestimmen. Die Kreditkarte ist als letztes immutable mobile zugleich die erste App gewesen, auch hinsichtlich ihrer Funktion, ein Mehr an transaktionalen Daten digital zu erzeugen. Der konsumistische Charakter neuerer Software für das mobile Computing mitsamt seiner zentralisierten App Stores lässt sich als Teil dieser Genealogie verstehen.

Geld und zumal temporär geliehenes Geld bleibt, vermittelt über Karten- und Appinteraktion, Kontenzugriff und Zahlungsinfrastruktur, ein über die Multiplizierung von Vermittlungsschritten beglaubigtes Zahlungsmittel. Je mehr Vermittlungen, je mehr Buchführung, je mehr Transaktionen erfolgen, umso realer wird Geld in seinen verschiedenen Formen. Und je länger die Zahlungsverkettungen werden, umso intensiver müssen die entsprechenden Abläufe gesichert und geprüft werden. Im Falle der amerikanischen Kreditkarte führte dies, nachdem die Sicherheitsvorkehrungen anfangs minimal waren, zu einer Kaskade von über die Unterschrift hinausreichenden Sicherheits- und Authentifizierungsmaßnahmen.

Ein Schlüssel zum Verständnis der hier skizzierten Finanzmedien liegt in den teils minutiösen Unterschieden, die sie in etablierte Interaktionsordnungen des Bezahlens, Formen des sozialen Prestiges und den infrastrukturellen Zusammenhang von Konto, Person und Kreditwürdigkeit einführen. Im Falle der amerikanischen Kreditkarte kann man sagen: Gerade weil die standardisierten Plastikkarten kleine, interaktionistische Medien geblieben sind, haben sie sich als Akten- und Datenerzeugungsprogramm erweisen können, das Teil einer longue durée von Praktiken des Koordinierens, Delegierens, Registrierens und Identifizierens ist (vgl. Gießmann 2018). Die mittelfristige Verkehrsgeschichte der amerikanischen Kreditkarten ist also, kaum merklich, zugleich Teil einer kulturtechnischen Genealogie der Zahlungsmedien, die bis zu den mesopotamischen Zähl- und Buchführungspraktiken zurückreicht. Es kommt darauf an, die jüngeren Geschicke des Plastikgeldes als Teil dieser langen Dauer des finanzmedialen Protokollierens und Formatierens zu verstehen. Wenn Formate die Protokolle spezifizieren, nach denen ein Medium operiert (vgl. Sterne 2012, 8), dann bedarf es zuvor protokollarischer Praktiken, die die Notwendigkeit des Formatierens in actu generieren. Es sind insbesondere Finanzmedien, die derart aus ebenso verteilten wie populären, nicht-standardisierten Medien- und Datenpraktiken heraus entstehen. Während dies für die nordamerikanische Medien- und Wirtschaftsgeschichte der credit reports mustergültig aufgearbeitet worden ist, harrt die Geschichte der Kreditauskunft in Deutschland ihrer Rekonstruktion.