Diplomatie und Protokoll

1661 ist in Frankreich eine Gedenkmünze zu Ehren des noch jungen Königs Louis XIV. geprägt worden, der in diesem Jahr begonnen hatte, seine Regierungsgeschäfte allein zu versehen. Unter dem Motto »leichter Zugang zum König« ist der Monarch zu sehen, der sich von seinem Thron erhoben hat, um einer von zwei Kindern begleiteten, vor ihm knienden Frau höflich zu begegnen, die ihrerseits soeben versucht, seinen Umhang zu küssen. Im rechten Bildteil ist ein älterer Mann zu sehen, der dem König eine lange Bittschrift überreichen darf. Ein Kind nähert sich, von seiner Mutter ermuntert, vertrauensvoll den Knien des Monarchen, ein Mädchen kniet. Mit offenen Händen wendet sich Ludwig seinen Gästen zu. Obschon er gekleidet und frisiert ist wie ein römischer Imperator, ist der dieser Münze eingeprägte König erreichbar: mündlich und persönlich, aber auch schriftlich und mithin in Vertretung der Anliegen anderer, die nicht präsent sind. In allen Fällen gelte: Facilis ad principem aditus, wie die scriptura lautet, die die pictura ergänzt und erläutert. Es wird der Eindruck vermittelt, als sei es jedem ein Leichtes, beim Souverän persönlich vorstellig zu werden. Wie die Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch in ihrer Studie über die Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. herausstellt, gehörte es zur öffentlichen Inszenierung der französischen Monarchie, den freien und einfachen Zugang aller Untertanen zum König zu betonen. So werde ein Gegensatz zum Tyrannen herausgestellt, der sich vor dem Volk schützen und sich daher mit Mauern und Wächtern abschotten müsse (Kolesch 2006, 70, 274), wie bereits Machiavelli in Il principe (1513) erläutert hat. Tyrannen, so ließe sich folgern, werden sich eher auf ein schriftliches Eingabewesen verlassen, um nicht Leute leibhaftig in die Nähe zu lassen, die in ihren Gewändern (und nicht nur an den Iden des März) alles Mögliche verbergen könnten (Abb. 1).

Abb. 1
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(Quelle: www.saivenumismatique.fr. [Screenshot], Abbildungen können laut Webseite kostenlos in Publikationen verwendet werden)

Gedenkmünze für seine allerchristlichste Majestät, Ludwig XIV., MDCLXI (1661) mit dem Lob des »leichten Zugangs zum König«.

Die Selbstdarstellung Ludwigs, die nicht nur Münzen eingeprägt wurde, steht einer berühmten These Carl Schmitts aus dem Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber diametral entgegen, die ihre Pointe in der Knappheit des Zugangs zum Machthaber findet: Niemand habe leichten und freien Zugang, vielmehr sei dieser Zugang zum Souverän im inneren Kreis der Macht intensiv umkämpft. Denn wer immer auch Zugang zum Machthaber habe, so Schmitt, der vermittele ihm unvermeidlich »Eindrücke und Motive«, die unvorhersehbaren Einfluss auf die »Entscheidungen« haben könnten, die der Souverän treffe (Schmitt 1994, 18). Um derartige Folgen zu zeitigen, müsse diejenige oder derjenige, der Zugang zum König finde, kein Minister sein. Schmitts Liste von möglichen Einflussnehmern ist lang (Schmitt 1994, 18 f.). Auch die Bemerkung eines Kammerdieners, einer Zofe, einer Mätresse, eines Beichtvaters, einer Sekretärin oder eines Pagen könne den Machthaber beeinflussen, denn wo Informationen mitgeteilt werden, so könnte man Schmitts These kommunikationstheoretisch unterstützen, da sind Zustandsänderungen des die Informationen verarbeitenden Systems wahrscheinlich.

Eine Information ist, nach einer prägnanten und vielzitierten Definition, »a difference that makes a difference« (Bateson 1983, 582). Es könnte die Ansicht eines Kutschers oder eines Kammerdieners sein, die den Unterschied macht, der einen Unterschied macht. Auch aus diesem Grund, dass jeder, der zum Souverän spricht und möglicherweise »einen Unterschied« macht, wird niemand ›einfach‹ (facilis) so zum König vorgelassen, sondern ganz im Gegenteil gerade der Zugang zum vorgeblich absoluten Herrscher streng durch ein Protokoll geregelt und limitiert. »Das diplomatische Protokoll«, stellt Tobias Nanz in seinem Beitrag zu diesem Band fest, »ist eine zentrale bürokratische Kulturtechnik«, die nicht nur in detaillierten Formeln den Umgang der Herrschenden miteinander nach Maßgabe ihrer Rangfolge regelt, sondern auch den Zugang zum Machthaber reguliert – und so zugleich irreguläre Umwege aufscheinen lässt, die im 17. Jahrhundert über Kammerdiener oder Mätressen und im 21. Jahrhundert über Telefone oder Direct Messages (an Schmitts »Vorhof« der Macht und den Hütern der Vorzimmer vorbei) laufen. Protokollfragen regeln Zugangsfragen, und Protokollfragen sind daher immer politische Fragen. Dabei bleibt es bis ins 19. Jahrhundert hinein: Protokolle halten Rangfolgen und Etikette fest (vgl. Krischer 2021) und organisieren zugleich die Vergabe von Interaktions- und Kommunikationschancen, also die Wahrscheinlichkeit dafür, dass etwa ein Machthaber eine Information aus erster, zweiter oder dritter Hand empfängt.

Ein »Protocoll«, erläutert Gottfried Stieve 1715 in seinem Europäisches Hoff-Ceremoniel, hält nicht nur fest, sondern schreibt auch vor, wie beispielsweise kurfürstliche Spitzen-Diplomaten (»plenipotentiarii«) zu behandeln seien: »daß man sie als Ministros repraesentantes tractiren, den Titul Excellentz, und ihnen, wenn sie einen Kayserl., oder Französischen Minister besuchten, den Pas geben sollte« usw., usw. (Stieve 1715, 588). Das Protokoll erinnert daran, wie ein diplomatischer Empfang abgelaufen ist, und legt damit zugleich Ansprüche und Erwartungen für kommende Zusammenkünfte fest. Um noch einmal Tobias Nanz zu zitieren: »Aus einem Speichermedium – das schriftlich fixierte Veranstaltungsprotokoll – entwickelt sich eine Handlungsanweisung, die erworbene Hierarchien für die Zukunft festlegt.« (Nanz 2015, 80) Das Protokoll kombiniert die Schriftlichkeit einer Speichertechnik mit der Autorität einer Vorschrift. Nanz, der über den »medialen Charakter der kulturtechnischen Operationen« (Nanz 2015, 80) der frühneuzeitlichen Diplomatie forscht und dabei besonders die »einzelnen bürokratischen Schritte« in den Blick nimmt, hält mit Blick auf einen Gesandten am spanischen Hof des 17. Jahrhunderts fest:

So wird die Audienz eines Königs vom Gesandten in ein Protokoll überführt, das in ein Archiv eingeht, das selbst Ausgangspunkt für den Bericht an den heimischen Hof ist (Nanz 2015, 79).

So verständlich der Wunsch auch sein mag, dem König ein Anliegen persönlich vorzutragen, so einleuchtend wird es sein, dass dieser »Zugang« nicht jederzeit jedem ermöglicht werden kann. Das Protokoll regelt diese Zugangsmöglichkeiten und steht damit zugleich dem Zugang im Wege. Auf diese Problematik möchte ich mich in meinem Beitrag konzentrieren.

Es gilt seit jeher als Herausforderung, den adäquaten ›Weg zum Ohr des Herrschers‹ zu finden; und umgekehrt galt – zumindest im europäischen Mittelalter – der Herrscher als besonders vorbildlich, der sich den gerechtfertigten Bitten seiner Großen nicht verschloss; der ihnen Möglichkeiten und Kommunikationsforen bot, ihre Anliegen in angemessener Art und Weise vorzutragen (Garnier 2018, 301).

Die »Frage des Zugangs zur Spitze« sei daher stets umstritten, so Schmitt, und es herrsche ein ständiger »Kampf« darum, wer den »Vorraum« des Machthabers und den »Korridor« dorthin kontrolliert (Schmitt 1994, 19). Jedes Protokoll ist eine immer nur vorläufige Manifestation dieses Kampfes.

Es ist nun nicht schwer sich vorzustellen, dass der Weg durch die zahllosen Vorzimmer und Korridore zum Sonnenkönig alles andere als so »frei und leicht« war, wie die Gedenkmünze es behauptet. 1663, nur zwei Jahre nach der Prägung der Münze, ist es einer mit allen nur denkbaren Akkreditierungen und Sendschreiben ausgestatteten Schweizer Gesandtschaft während langer Monate in Paris nicht gelungen, Ludwig XIV. auch nur ein einziges Mal zu Gesicht zu bekommen (vgl. Anonymus 1794, 886). Der Grund dafür ist das Protokoll bzw. seine Auslegung oder der »Kampf« um jenes Protokoll, das den Zugang zum Machthaber ordnet und verhindert. Der Fall zeigt, dass es umstritten ist, welches Protokoll in diesem konkreten Fall dem Empfang die Regel gibt. Wer hat es aufgesetzt? Wie ist es gemeint? Wer setzt durch, dass es beachtet wird?

Aber zunächst zum Fall:

Diese Eydgenössische[n] Gesandte[n], ihrer drey an der Zahl, hatten in ihrem Creditiv die erste Qualität; sie wurden Ambassadoren genennt; und diese Eigenschaft wird ihnen auch in den schriftlichen Aufsätzen beyglegt, welche die Minister mit ihnen wechselten. Weil sie aber keinen öffentlichen Einzug hielten, weil kein Marschall von Frankreich, sondern bloß die Introducteuers, nebst ein Paar Hofleuten ohne sonderbaren Charackter, sie zur Audienz abholten, weil sie bloß von einem Chevalier de l’Ordre empfangen worden […], so ist gewiß, daß sie nicht der ersten Qualität gemäß behandelt worden (Anonymus 1794, 884f.).

Es galt viel Geld, Schulden der Krone, einzutreiben. Was diesen Zweck angeht, ist die Delegation durchaus erfolgreich, doch agieren sie bei Hofe und besonders mit der Königin unglücklich, ja unhöflich und »vergaben auf diese Weise […] immer mehr von den Vorrechten, die ihnen gebührten« (Anonymus 1794, 888). Ihre formale Akkreditierung »der ersten Qualität« genügt nicht, um entsprechend behandelt zu werden, denn der »Rang« muss auch »durch Ritual und Zeremoniell« angemessen dargestellt werden (Krischer 2021, 17), sonst verliert er an politischer Macht und diplomatischem Wert.

Die Usancen dieser Gesandtschaft wurden wiederum protokolliert (und damit memoriert) und finden Einzug ins neue höfische Protokoll (als Regel für den Umgang). Und als im Jahr 1681 eine neue Delegation anreist, »um Ludwig XIV. zu complimentiren, kam niemanden mehr zu Sinn, daß dieselbe, wiewohl mit der ersten Qualität bekleidet war«, so zu empfangen war, wie es die höchsten diplomatischen Vertreter souveräner Staaten erwarten konnten (Anonymus 1794, 888). Auch eine weitere Delegation aus dem Jahr 1687 erhält nicht das »Tracktament« (Anonymus 1794, 889), auf das die Schweizer Botschafter Anspruch erheben zu können glaubten. Vergeblich suchen sich die Eidgenossen aus Bern und Zürich dagegen zu verwehren, anders und schlechter behandelt zu werden als andere Gesandte, die dem hohen Adel entstammten und entsprechende Titel führten und verwandtschaftliche Verbindungen zum Hof besaßen. Da sie nicht in den Genuss der erwarteten Behandlung (etwa die Anrede als »Exzellenz«) kamen und ihnen auch die »Audienz bey dem König abgeschlagen wurde, auf die Weise, wie sie dieselbe[] verlangten«, versuchten sie ihre Ziele auf dem Weg von »Unterhandlungen mit dem Minister« zu erreichen, erhielten aber nichts als »leere Worte« und Ausflüchte (Anonymus 1794, 889). Das französische Protokoll hält sie vom König fern. Die Schweizer, bedeutende Gläubiger der Krone und wichtige Truppensteller, entscheiden sich zur Abreise.

Der Pariser Hof versucht sie davon abzuhalten, indem man ihnen »zwei goldene Ketten, an denen das Bildniß des Königs hieng, […] als ein Geschenk« überreichen ließ, um sie zum Bleiben zu bewegen. Die Delegation weist das Geschenk mit dem Hinweis ab, das Abbild des Königs (auf einer Münze?) sei »schön und kostbar: Wir wollten aber nicht das, sondern das Urstück sehen; das war die Absicht um deswillen wir hieher gekommen sind« (Anonymus 1794, 889). Die Erwartungen der Gesandten, die so offensichtlich frustriert wurden, beriefen sich – vergeblich – auf ein tradiertes wie auch schriftliches Protokoll, das den Zugang zum König und ihre Behandlung durch den Hofstaat und den Monarchen regelt: Die »Historischen Nachrichten« verweisen auf Heinrich IV. (König bis 1610), der stets »vertraulich« mit den Schweizern umgegangen sei (Anonymus 1794, 882). Die damals praktizierten »Ceremonien« seien 1582 fixiert worden; und »dieselben Ceremonien« seien im Umgang mit Gesandtschaften aus der Eidgenossenschaft »unter seinem Nachfolder im besagten J. 1602 wiederholt« worden (Anonymus 1794, 882). Dieses Protokoll sah vor: Minister, Statthalter, darunter Herzöge, ziehen den Schweizern entgegen, die als Exzellenzen angeredet und von »stattlichem Begleit« vor den Toren abgeholt und in ein würdiges Hotel am Hof eskortiert werden, wo sie von einem »Prinzen von Geblüt« empfangen werden (Anonymus 1794, 883). Die Gesandten aus der Schweiz werden dann, »mitten durch die Garden und Garden du Corps«, »vor den König geführt« (Anonymus 1794, 883). All dies ist in einem »Ceremonial-Register« festgehalten (Anonymus 1794, 883), das nichts anderes ist als die Summe der Protokolle, die die vorherigen Visiten und Audienzen der schweizerischen Gesandtschaften festgehalten haben.

Unter der »Regierung Ludwig XIII.« (König von 1610–1643) ist allerdings »keine Botschaft an den Französischen Hof« gekommen, und gerade unter dessen Regentschaft sei »das ganze Fach des Ceremoniels, von dem Höchsten bis zu dem Kleinsten, in eine feste Regel gebracht« worden (Anonymus 1794, 884). Die kompromissbereite Diplomatie der Schweizerischen Delegationen, die sich um des Erfolges willen – sie hatten »die Zahlung ausstehender ungeheurer Summen zu betreiben« (Anonymus 1794, 885) – den »repräsentierenden Charackter streitig« machen ließen, zeitigte protokollarische Folgen: 1663 wurden die Schweizer ganz anders empfangen als 1602. Und die Delegation des Jahres 1687 bekommt den König überhaupt nicht mehr zu Gesicht. Die Gesandten, die sich mit einem Porträt des Königs nicht abspeisen lassen, reisen ab, und dies war »die letzte Eydgenössiche Gesandtschaft an dem Französischen Hofe« (Anonymus 1794, 889).

Die Kluft zwischen dem französischen »Ceremoniel«, das den Zugang zum König regelte, und der »Würde« der Schweizer Gesandten ließ sich auch in langen »Unterhandlungen« mit den französischen »Ministern« nicht überbrücken (Anonymus 1794, 888 f.). Difficilis ad principem aditus. Das unter Ludwig XIII. erarbeitete Protokoll, dem die durchaus verbindlichen französischen Minister Folge leisten, erweist sich für die Schweizer Delegation als unüberwindliches Hindernis, und ihr Anliegen, ein Problem der Flüchtlingsströme reformierter Christen aus Frankreich in die Eidgenossenschaft nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes, werden die Schweizer Diplomaten dem König niemals unterbreiten. Sie werden zum »Vortrag« beim Souverän einfach nicht »vorgelassen«.

Das Protokoll, das die Zugangsfrage regelt, hat somit Auswirkungen auf die Agenda einer Großmacht. Für Carl Schmitt ist »die Sache« damit »klar«: Im »Vorraum«, wo der Zugang zum Machthaber reguliert wird, wird Macht ausgeübt (Schmitt 1994, 19). Es sind die »Minister«, die bestimmen, wie weit die Schweizer Delegierten den »Korridor« der Macht hinauf schreiten können, und sie befinden damit zugleich darüber, über welche Frage der Souverän überhaupt informiert wird (Schmitt 1994, 18). Ein weiteres Beispiel Schmitts: Als Bismarck in der Protokollfrage, wer wann beim Kaiser vorsprechen darf, nicht mehr das entscheidende Wort sprechen darf, tritt er zurück (Schmitt 1994, 21 f.). Nicht nur die Schweizer Gesandtschaft, sondern auch Ludwig XIV. ist in die »unentrinnbare Dialektik von Macht und Ohnmacht« geraten, wie Schmitt formuliert, denn sogar »der absoluteste Fürst ist auf Berichte und Informationen angewiesen«, die er von seinen Beratern erhält und deren Menge so umfangreich ist, dass er sie nicht überprüfen oder auch nur alle zur Kenntnis nehmen kann (Schmitt 1994, 17).

Übertragungen: Die Medialität des Protokolls

Dem Protokoll, wie es bei Schmitt problematisiert wird, kommt damit neben der wichtigen diplomatischen Dimension der Etikette, in der die Schweizer in Paris steckenbleiben, noch eine weitere, nämlich informationstheoretische Dimension zu. Das Protokoll funktioniert in Schmitts Gespräch wie ein Filter, der das, was und wie zum »Ohr des Machthabers« gelangt, von all den Informationen unterscheidet, die nicht mitgeteilt werden, niemals einen Unterschied machen und niemals verstanden werden können. Wiederum geht es um eine Differenz, die einen Unterschied macht, aber diesmal tritt die medientechnische und medienhistorische Komponente des Protokolls deutlicher hervor, denn immerhin lassen sich Machthaber nicht mehr so einfach durch die Etikette isolieren und durch Protokolle von den Nachrichten, diesem »unendlichen Meer von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeiten und Möglichkeiten«, fernhalten (Schmitt 1994, 17). Der »Kalif Harun Raschid« mag verkleidet »in die Kneipen von Bagdad« geschlichen sein in der Hoffnung, dort »endlich die reine Wahrheit zu erfahren« (Schmitt 1994, 18); heute genügen TV und Fernbedienung oder Smartphone und App, um aus einer derartig »fragwürdigen Quelle« zu trinken (Schmitt 1994, 18). Die Frage, was beim Machthaber einen Unterschied machen könne, muss medien- und situationsspezifisch beantwortet werden.

Die Kette der Verbindungen, die im 17. Jahrhundert durch die Vorzimmer und Korridore in Versailles oder im Escorial gelegt werden müssen, damit eine Delegation oder eine Information den König erreicht, ist eine andere als die Kette, die im 20. Jahrhundert zum Telefon einer Sekretärin im Vorzimmer eines Machthabers führt, ins Hinterzimmer eines Berliner Restaurants (vgl. Kittler 1993, 215) oder zum Flatscreen und Smartphone eines twitternden Regierungschefs. Friedrich Kittler hat Schmitts Gespräch über die Macht mit großer Zustimmung zitiert, um darauf hinzuweisen, dass man mit »solchen Instanzen«, also Sekretärinnen und Ministern, in der Tat noch habe sprechen können, während mit den Instanzen jener Protokolle, die heute »Privilegebenen« aufbauen und so Machtasymmetrien erzeugen, nicht mehr zu sprechen sei, weil sie »ins Silizium« versenkt seien (Kittler 1993, 214–216). Die Protokolle, die den Zugang zur Information und damit auch die Handlungsmacht von Akteuren regeln, sind nicht nur für Schweizer Delegationen unverständlich wie unerreichbar, sondern in den computerisierten Medienverbünden für alle sogenannten »Menschen«, die an den »protected mode« der entscheidenden Befehle und Routinen erst gar nicht »herangelassen« würden. Dies mache uns alle, so Kittlers berühmtes Diktum, zu Subjekten (von lat. sub-iectum) als Untertanen oder besser: Unterworfenen (Kittler 1993, 208).

Protocol. Posthierachische Netze

Auf den ersten Blick scheint dies Alexander R. Galloway, der mit Protocol. How Control Exist after Decentralization ein Standardwerk zu unserem Thema vorgelegt hat, völlig anders zu sehen als Friedrich A. Kittler, denn er hebt am Protokoll hervor, es erleichtere »peer-to-peer releationships between autonomous entities« und befördere »anti-hierachy and anti-authority« (Galloway 2004, 82). Während Kittler in den 1990er Jahren in den Chips der Computer die ins Silizium gebrannten Hierarchien der Bürokratien und Hierarchien wiedererkennt, die den Zugang zum Machthaber im Besonderen und die Informationspolitik des Politischen im Allgemeinen regelt, findet ausgerechnet ein Schüler von Frederic Jameson und Michael Hardt im Protocol des Aufschreibesystems 2000 die Kommunikationstechnik dezentraler, distribuierter Netzwerke bzw. Rhizome (Galloway 2004, 11, 32 ff.). Allerdings steht, anders als bei Kittler, im Zentrum seiner Studie das gängige Internetprotokoll (TCP IP) und nicht etwa die Chiparchitekturen der Rechner; IP als ein von Akteuren ausgehandelter de facto-Standard und nicht eine aller Handlungsmacht vorgängige, hierarchische und hierarchisierende Macht im »protected mode«.

In Übereinstimmung mit Friedrich Kittler geht Galloway davon aus, dass man Computersprachen verstehen müsse, »to understand contemporary culture« (Galloway 2004, xxiv). Die derart informierten Kulturwissenschaften könnten so endlich ein Feld berücksichtigen, das sie bislang sträflich ignoriert hätten, denn was ›hinter‹ den Bildschirmen und Interfaces in der ›Tiefe‹ der Rechner stattfinde, sei auch als Sprache zu fassen und wäre mithin als Kommunikation zu beobachten, wenn man sich nur über die kulturwissenschaftliche »inability to place computer languages on par with natural languages« hinwegsetze (Galloway 2004, xxiv). Die Sprache, die das Internet spricht, ist genauso ein arbiträres und performatives System differentieller Zeichen, wie Saussure es konzipiert hat (longue/parole). Und ihre Grammatik wird in Protokollen festgehalten. Hunderte von Protokollen regeln den Datenaustausch im Internet auf der Basis des sehr basalen internet protocol, das aus den Gründungstagen des ARPANET stammt und von der RAND-Corporation entwickelt worden ist. Alle Protokollstandards seien, so Galloway, öffentlich zugänglich, man könne sie nachlesen. Der allergrößte Teil der Protokolle seien nicht als rechtlich bindende Vorschriften zu verstehen, sondern als erbetene Vorschläge (Request for Comments, RFC), »to deliver a package of bits« (RFC 791) möglichst unkompliziert, schnell und zuverlässig über ein unüberschaubares, dezentrales, wachsendes und sich permanent veränderndes Netzwerk. Die Protokolle, die den Datenverkehr im Internet ermöglichen, seien weder patentierbar noch vermarktbar, ihre Geltung verdanken sie keiner nationalen oder internationalen politischen Entscheidung, sondern ihrer Performanz (Galloway 2004, 122).

Dass so viele Applikationen über IP laufen (TCP, E-Mail, VOIP…) und so viele andere Protokolle auf IP zurückgreifen (HTTP, FTP…), macht den Erfolg dieses Protokolls aus. Wenn ein solcher Erfolg ausbleibe, werde es umgeschrieben oder ersetzt. Jeder könne einen eigenen Vorschlag machen. Man ist versucht, in dieser Mischung aus Konkurrenz, Informationsfreiheit und Basisdemokratie jene Kalifornische Ideologie wiederzufinden, die Barbrook und Cameron vor der Popularisierung des Internets in den 1990ern beschrieben haben (Barbrook und Cameron 1996). Galloway selbst kommt nach seinen Beobachtungen der Funktion und Genese von Internet-Protokollen zu dem Schluss: »protocol is a type of controlling logic that operates outside institutional, governmental, and corporate power« (Galloway 2004, 122). Protokolle wären also, ganz anders als die Protokolle des Pariser Hofes, keine staatlich oder behördlich, bürokratisch oder institutionell fixierten Regelsets, sondern immer wieder neu von Peers ausgehandelte und daher flexible wie robuste Umgangsformen: »the outcome […] of distributed behavoir« (Galloway 2004, 82).

Dass im Falle der Internetprotokolle eine »small entrenched group of techno-elite peers« (Galloway 2004, 123) die Standards setzt und man entsprechend über Modi der Inklusion und Exklusion, über Entscheidungsfindung und also letztlich über Macht sprechen müsste, übersieht Galloway zwar nicht, doch hindert ihn dies nicht, Protocol grundsätzlich als »anti-hierarchisch und anti-autoritär«, »dezentral« und »lateral« zu definieren (Galloway 2004, 82). Dies ist für seinen Ansatz deshalb kein Widerspruch, weil ihn weniger die soziale Organisation des Protokoll-Diskurses (den Vorhof sozusagen, der emergiert, wenn es um Zugangsfragen geht, etwa mit Blick auf Organisationen wie ICANN) interessiert, sondern vor allem die operative Ebene der Protokolle selbst. Es geht ihm um Strukturen, die unmittelbar eingebaut seien »into the technical specifications of network protocols« (Galloway 2004, 11).

Diese Spezifikationen hätten nun aber IP zu einem »verbindungslosen Protokoll« gemacht: Man benötige keine direkte Verbindung zu genau dem Rechner, zu dem man die Daten senden möchte, sondern schicke seine Pakete einfach ab. Zwischen Sender und Empfänger gibt es also keine stabile Verbindung, keine Kabel, keine Leitung, es ist nicht einmal sicher, ob das Ziel überhaupt erreichbar ist, wenn das Paket in den Versand kommt. Das Datenpaket wird an den nächsten Rechner des Netzwerks weitergereicht, und das Protokoll in diesem Rechner sorgt dafür, dass das Paket weitergesendet wird (Routing). Das Verfahren erinnert an eine Nachricht, die ein Unbekannter einem Dorfbewohner für einen anderen Bewohner übergibt, den dieser aber nicht persönlich kennt. Die Nachricht läuft nun von Bewohner zu Bewohner und wird schließlich auf dem einen oder anderen Weg die Zielperson erreichen. Wenn auch manche Dorfbewohner nicht genau wissen, wo der Adressat wohnt, aber jemanden kennen, der dies vermutlich weiß, geben sie die Nachricht in diese Richtung weiter. Und weil die Dorfbewohner ein Gedächtnis haben, geben sie die Nachricht nicht mehrmals derselben Person. Wenn der Fremde das nächste Mal eine Nachricht mit derselben Adresse abgibt, wissen die meisten Dorfbewohner schon, wie sie die Botschaft »routen«, denn sie haben sich die Richtung gemerkt, aus der sie nicht zurückkommt, weil sie offenbar ihr Ziel erreicht hat. Wenn inzwischen ein Dorfbewohner umgezogen oder verstorben ist, nimmt sie einen anderen Weg als zuvor. Ein solches Verfahren funktioniert nur in einem »distributed network«, das jeden Dorfbewohner als »equal peer« behandelt (Galloway 2004, 8). Denn in einem Netz mit Sternstruktur, einer Ringstruktur oder einer Busstruktur könnte beim Ausfall nur eines Rechners oder eines Übertragungswegs die gesamte Kommunikation unterbrochen werden. Wenn etwa in unserem Dorf das Protokoll verlangen würde, die Nachricht zuerst einem Dorfvorsteher zuzuleiten, der allein über alle Namen und Adressen der Bewohner verfügt, würde die Nachricht nicht ankommen, wenn er einmal erkrankt ist. Oder wenn das Protokoll vorsähe, dass die Nachricht wie bei der stillen Post in einer Stafette von Person zu Person läuft, dann würde die Abwesenheit einer einzigen Person die Auslieferung unterbrechen. IP funktioniert ersichtlich anders, und man kann wie Galloway davon ausgehen, dass ein Netz, das mit diesem Protokoll arbeitet, auf dieser basalen Ebene azentrisch, unhierarchisch und rhizomatisch ist. »Protocol’s native landscape is the distributed network« (Galloway 2004, 11).

Auf dieser flachen »Landschaft« lassen sich allerdings auch Türme bauen. Für die gesamte WWW-Welt beispielsweise ist das DNS-Protokoll zentral (RFC 1034), das Namen (wie beispielsweise https://www.springer.com/series/16702) IP-Adressen zuweist. Bis 1984 gab es nur einen einzigen sogenannten »root server« (Galloway 2004, 5), der die Adressen des gesamten Internets verwaltet hat, heute sind es Dutzende (Galloway 2004, 9). DNS »focuses control onto rigidly defined hierarchies« (Galloway 2004, 8). Die Verwaltung von Top-Level-Domains (.de oder .com), Domains (springer) und Subdomains (/series) ist baumförmig und zentralisiert. Für jeden Domain-Namensraum gibt es einen autoritativen Primary Nameserver. Wer die Root-Server kontrolliert, verfügt dank der verwendeten Protokolle über »ultimate control« (Galloway 2004, 10). »Such a reality«, schreibt Galloway den Interneteuphorikern ins Stammbuch, »should shatter our image of the Internet as a vast, uncontrollable meshwork« (Galloway 2004, 10). Ganze Areale des Netzes lassen sich – auch gegen den Willen seiner »Bewohner« – abschalten, der Beweis dafür ist längst erbracht. An dieser Stelle wird der Eindruck erweckt, das Internet sei genauso wenig machtfrei und unhierarchisch wie die Silizium-Chips der Computer, aber dabei bleibt es nicht.

Wenn Galloway versucht, die gegenwärtige Gesellschaft zu beschreiben, deren medientechnische Basis »protological« sei (Galloway 2004, 26), kommt er zu anderen Schlüssen: Nachdem er wohlbekannte Schriften Brechts und Enzensbergers, Baudrillards und Lévys, Haraways und Flussers angeführt hat, ist das von den DNS-Servern kontrollierte Netz wieder das, was das Internet für alle Enthusiasten ohnehin immer schon sein musste, eine Technik, die eine »andere« Gesellschaft ermöglicht, die demokratischer, offener, freier sein wird. Dass die Zugangsfragen, die auch für die Informationsübermittlung im Internet entscheidend sind, alles andere als egalitär geregelt sind, wird ausgeblendet.

Galloway greift Enzensbergers Unterscheidung vom repressiven und emanzipatorischen Mediengebrauch (Enzensberger 1997, 116) auf (Galloway 2004, 57), unterschlägt die ausschlussreiche Dimension des Gebrauchs, um dann zu behaupten, moderne Medien wie Radio, TV und Film seien repressiv, während »the emancipatory mode is most closely associated with postmodern media (Internet)« (Galloway 2004, 58). Michael Hardt und Antonio Negri haben ganz ähnlich das Internet als exemplarisches Beispiel eines horizontalen, distribuierten und vor allem demokratischen Netzwerks aufgefasst (Hardt und Negri 2000, 299) und dort ein Modell ihrer Multitude als posthierarchischer und dezentraler Gesellschaft (Hardt und Negri 2005) gefunden. Derartige Schlussfolgerungen von der technischen Form des Netzwerks auf gesellschaftliche Folgen würde man aber gerade dann nicht anstellen, wenn man die Empirie der Verteilung der Datenströme ins Visier genommen hätte. Das Internet hat auf der Grundlage seiner Protokolle neue Zentren (und Peripherien) und neue Hierarchien (und Machtzentren) geschaffen (Ruiz und Barnett 2015). Es trifft sich, dass gerade die Netzwerk-Analyse die Ungleichverteilung der Datenströme und ihrer Kontrolle in den Blick bekommt und daraus Fragen nach dem Zugang ableitet.

Since there is no legal authority or governing body that determines Internet connections, access, or control, the international Internet network is self-regulated by the network owners in their perceived best interests. […] Unequal access reinforces existing inequalities (Ruiz und Barnett 2015, 52f.).

Dass dieselben Medien eben so oder auch anders genutzt werden, übersieht Galloway, denn er geht davon aus, dass die Protokollebene der Medien eine bestimmte Nutzungsform hochwahrscheinlich, wenn nicht unumgänglich macht (Galloway 2004, 241). All seine eigenen Beobachtungen von Rehierarchisierungen des Datenverkehrs im Internet (etwa der DNS-Ebene) hindern ihn nicht, Brechts Radiotheorie für einen Vorschein der »actual architecture of electronic networks« zu erklären (Galloway 2004, 56) und Enzensbergers Liste emanzipatorischen Mediengebrauchs als taugliche Beschreibung des Internets zu deuten (Galloway 2004, 58). So sehr es einleuchtet, dass die Kommunikation im Internet von Protokollen reguliert wird, so wenig überzeugt die These, die auf das Internet gestützten Medientechnologien seien ihrer Natur nach »open, democratic, nonhierarchical, fluid, varied, inclusive« (Galloway 2004, 243). Richtig bleibt vermutlich die Beobachtung, das Protokoll sei ein »system of distributed management«, deren Regelsets »through negotiation« entstehen, »meaning that the future protocol can and will be different« (Galloway 2004, 243). Die Evidenz dieser Behauptung haben bereits die Schweizer Gesandten erfahren müssen.