Lernziele für dieses Kapitel: Die Leserinnen und Leser …

  • können komplizierte und komplexe Herausforderungen voneinander unterscheiden

  • verstehen Exploitation und Exploration als zwei Grundherausforderungen im Innovationsmanagement

  • kennen differenzierende und integrierende Strukturvarianten der Ambidextrie

  • wissen, wie ein hybrides Vorgehen im Unternehmen funktioniert

  • erkennen die Voraussetzungen bei Projekten und im Unternehmen, die ein hybrides Vorgehen im ambidextren Innovationsmanagement fördern.

Nutzen Sie für dieses Kapitel das Lerntagebuch – http://www.hs-pforzheim.de/IMBuch.

Beantworten Sie die Fragen des Quiz zum Kapitel. Die Überprüfung findet erst am Ende des Kapitels statt.

In Abb. 6.1 finden Sie das Gesamtbild „Ambidextres Innovationsmanagements in KMU“. Das in diesem Unterkapitel dargestellte Thema Ambidextrie wird in allen Phasen des Prozesses adressiert.

Abb. 6.1
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Gesamtbild „Ambidextres Innovationsmanagement in KMU“ mit hybridem Projektmanagement – Verortung des Kap. 6 (entwickelt im Forschungsprojekt InnoDiZ; Phasenmodell aufbauend auf Pleschak und Sabisch 1996; Thom 1980; Vahs und Brem 2015)

6.1 Klassisch oder agil?

In den bisherigen Kapiteln zu den einzelnen Schritten des Innovationsmanagements haben wir immer zwischen klassischen und agilen Methoden unterschieden. Bei der Auswahl der Methoden stellen sich einige grundsätzliche Fragen: Handelt es sich hier um ein „entweder oder“ und muss man sich im Unternehmen für die einen und gegen die anderen Methoden entscheiden? Oder handelt es sich vielmehr um ein „sowohl als auch“ und es geht biniert werden können? Und wenn es sich tatsächlich um eine Kombination aus beiden Methoden- Sets handelt, auf Basis welcher Kriterien sollte man sich dann im Unternehmen entscheiden? Wann bietet es sich an, eher klassisch vorzugehen und wann sollte man eher agile Methoden nutzen?

Die Frage nach klassisch oder agil lässt sich allgemein an der Herausforderung festmachen, in der man sich im Innovationsmanagement befindet. Zur Illustration dient dabei die sog. Stacey-Matrix, anhand derer man grob die Qualität einer Herausforderung einordnen kann (siehe Abb. 6.2).Footnote 1 Die hier dargestellte (vereinfachte) Stacey-Matrix ist ein Vier-Felder-Schema mit zwei Dimensionen: Eine Dimension beschreibt die Klarheit bzw. Unklarheit einer technologischen Herausforderung. Die andere stellt die Eindeutigkeit bzw. Uneindeutigkeit einer Anforderung zur Bewältigung der technologischen Herausforderungen dar. Daraus entstehen vier Felder (oder auch Typen) von Herausforderungen, die als simpel, kompliziert, komplex und chaotisch benannt werden. Die Logik ist dabei, dass die Situation umso herausfordernder ist, je unklarer und mehrdeutiger sie wird.

Abb. 6.2
figure 2

Stacey-Matrix (aus Häusling und Fischer 2020; mit freundlicher Genehmigung von © Haufe-Lexware GmbH & Co. KG. All Rights Reserved)

Für das Innovationsmanagement ist insbesondere relevant, ob das Unternehmen eher mit komplizierten oder mit komplexen Herausforderungen konfrontiert ist:

  • Kompliziert ist eine Herausforderung dann, wenn es eine gewisse Klarheit über das WAS (also das Ziel) und das WIE (also den Weg zum Ziel) im Innovationsmanagement gibt. In diesem Fall sind klassische Methoden gut geeignet, weil eine Kompliziertheit durch eine gute Struktur heruntergebrochen werden kann. Dies wird bei klassischen Methoden z. B. mittels Lasten- oder Pflichtenheften gemacht (siehe dazu auch Kap. 5) und ist auch im „Stage-Gate“-Prozess beschrieben (vgl. Cooper 2008, S. 47).

  • Handelt es sich aber um komplexe Herausforderungen, in denen das WAS (also das Ziel) und das WIE (also der Weg zum Ziel) zu Beginn nicht klar sind, lässt sich dies auch nicht einfach durch Struktur reduzieren. Hier kommen eher agile Methoden zum Einsatz, weil sie ein iteratives Vorgehen nutzen, einen klaren Outside-in-Fokus ausgehend von den Nutzer*innen haben und ein schrittweises Vorgehen vom MVP (Minimum Viable Product) zum Gesamtergebnis propagieren (vgl. Schwaber und Sutherland 2016).

Diese Logik kann anhand eines Beispiels aus der Entwicklung von Automobilen veranschaulicht werden. Bei der Entwicklung einer neuen Produktvariante eines PKW war im Jahr 2010 vermutlich relativ klar, wie das Ergebnis 2017 aussehen soll. Es gab Vorgaben, was Verbrauch, Preis, Leistung etc. anbelangt. Entsprechend kompliziert war die Entwicklung. Das zukünftige Modell wurde beschrieben und mittels klassischer Methoden entwickelt.

Anders sieht es jedoch aus, wenn der gleiche Entwicklungsprozess in einer komplexen Herausforderung startet, in der noch nicht klar ist,

  • ob es sich in Zukunft um eine Weiterentwicklung des bestehenden Modells mit einem Verbrennungsmotor handelt oder

  • ob alternative Antriebssysteme und autonomes Fahren eine Rolle spielen,

  • wie sich die rechtlichen Rahmenbedingungen entwickeln,

  • ob der Trend zur Nachhaltigkeit bei der Kaufentscheidung eine stärkere Rolle spielt,

  • wie sich die Steuerlast entwickelt und

  • inwieweit es 2026 überhaupt noch um den Verkauf von Autos geht oder

  • ob es sich vielmehr um die Organisation von Mobilität handelt.

Dann bieten sich eher agile Methoden und ein iteratives Vorgehen an. In beiden Fällen müssen aber – wenn auch in unterschiedlichem Maße – die zwei Grundherausforderungen der Exploitation und der Exploration im Innovationsmanagement bewältigt werden. Diese werden im Folgenden beschrieben.

Übung 6.1: Kompliziert vs. Komplex

Betrachten Sie Ihre letzten Innovationsprojekte und ordnen Sie diese jeweils in die Stacey-Matrix ein. Wie schätzen Sie zu Beginn der Projekte die Klarheit über das WAS (also das Ziel) und das WIE (also den Weg zum Ziel) ein? Zu welchem Ergebnis kommen Sie dann hinsichtlich der Einordnung der Projekte in die beiden Felder „kompliziert“ und „komplex“?

Unter http://www.hs-pforzheim.de/IMBuch finden Sie weitere Informationen sowie Vorlagen zur Dokumentation Ihrer Ergebnisse.

6.2 Die zwei Grundherausforderungen im Innovationsmanagement

Unternehmen sind im Innovationsmanagement wie bereits im Abschn. 1.2 ausgeführt, mit zwei grundsätzlichen Herausforderungen konfrontiert: Sie müssen eine klare Ausrichtung auf die Exploitation und parallel dazu auf die Exploration im Innovationsmanagement haben (vgl. O‘Reilly und Tushman 2004).

  • Exploitation ist dabei die bestmögliche Nutzung vorhandener Ressourcen. Es geht um Effizienz und Optimierung. Der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP) vorhandener Produkte und Dienstleistungen steht im Fokus. Angestrebt wird ein möglichst sicherer Profit und dafür wird auch nur ein möglichst geringes Risiko eingegangen. Dazu passen Methoden mit festen Strukturen, klaren Rollen und klassischen Vorgehensmodellen.

  • Im Gegensatz dazu steht Exploration für die Entwicklung neuer Ressourcen. Sie beinhaltet visionäre Experimente und diskontinuierliche Innovation mit einem klaren Wachstumsziel. Im Vordergrund stehen ein unsicherer Profit und ein hohes unternehmerisches Risiko. Dazu werden flexible Strukturen, variable Rollen und agile Vorgehensmodelle benötigt.

Die Exploitation konzentriert sich damit also auf die bestmögliche Nutzung der vorhandenen Mittel (wie z. B. bestehender Technologie, etablierte Methoden und vorhandenes Personal) für kontinuierliche Verbesserungen und inkrementelle Innovationen, während die Exploration sich auf die Herausforderung konzentriert, neue und manchmal radikale Innovationen zu finden (vgl. O‘Reilly und Tushman 2004). Dies betrifft sowohl Produkt- als auch Prozessinnovationen.

Erfolgreiche Unternehmen organisieren ambidextre (also „beidhändige“) Prinzipien und etablieren ein duales Modell mit zwei verschiedenen Arten von Strategien zur Förderung von Innovationen in Unternehmen (vgl. Duncan 1976). Besonders wichtig ist die Fähigkeit einer Organisation, effizientes Management zur Bewältigung der Anforderungen aus dem Tagesgeschäft mit den Anforderungen der innovativen Anpassung an zukünftige Bedingungen zu verknüpfen (vgl. Raisch 2008).

Es gibt dabei nicht den einen besten Weg. Exploitation ist nicht besser als Exploration – oder umgekehrt. Die Idee ist vielmehr, dass Exploitation und Exploration und damit auch klassische und agile Methoden (und Strukturen) immer gemeinsam auftreten (vgl. Kotter 2015). Nach March ist die Aufrechterhaltung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen Exploitation und Exploration ein Hauptfaktor für das Überleben und den Wohlstand eines Systems (vgl. March 1991, S. 72).

Ambidextrie und das Zusammenspiel von Exploitation und Exploration werden in der Literatur aus verschiedenen Perspektiven diskutiert (vgl. z. B. Nemanich et al. 2007; Soosay und Hyland 2008). Es hat sich dabei gezeigt, dass eine ambidextre Ausrichtung zusammen mit der Verankerung agiler Prinzipien in der Strategie die Wettbewerbsvorteile eines Unternehmens beeinflussen können (vgl. Clauss et al. 2020). Die angemessene Wahl zwischen Exploitation und Exploration wird auch als Ambidextrie-Dilemma bezeichnet (siehe Brix 2019 mit Verweis auf die einschlägige Literatur Gupta et al. 2006; Simsek 2009). Dieses Dilemma kann überwunden werden, indem in einem erfolgreichen Innovationsmanagement sowohl Exploitation als auch Exploration praktiziert wird.

In Bezug auf die Ausführungen zu den komplizierten und den komplexen Herausforderungen im Innovationsmanagement kann nun Folgendes geschlossen werden (vgl. Brix 2020):

  • Exploitation ist immer dort erforderlich, wo es einen kürzeren Zeithorizont und ein präzises Zukunftsbild gibt. Das ist insbesondere bei den komplizierten Herausforderungen der Fall, in denen das WAS (Ziel) und das WIE (Weg) recht klar sind.

  • Im Gegensatz dazu ist überall dort Exploration erforderlich, wo es einen langfristigen Zeithorizont und ein eher diffuses Zukunftsbild gibt. Das ist tendenziell bei den komplexen Herausforderungen so, weil dort weder das WAS noch das WIE klar beschreibbar ist.

Für Unternehmen entsteht dabei die Herausforderung, dass sie sich oftmals in komplizierten und in komplexen Bedingungen bewegen, die sowohl Exploitation mit klassischen Vorgehensmodellen als auch Exploration mit agilen Vorgehensmodellen erfordern. Wie aber können sich Unternehmen strukturieren, um dies auch bestmöglich zu leisten?

Übung 6.2: Exploitation vs. Exploration

Wie werden Innovationen in Ihrem Unternehmen typischerweise ausgestaltet? Sind sie eher exploitativ oder eher explorativ? Steht eher die Weiterentwicklung des Bestehenden im Vordergrund oder vielmehr die Erforschung von etwas Neuem?

Nutzen Sie dazu einige aktuelle Innovationsprojekte und vergleichen Sie dazu Ergebnisse aus der vorherigen Übung. Korrespondieren die komplizierten Herausforderungen mit den exploitativen Projekten und die komplexen Herausforderungen mit den explorativen Projekten?

6.3 Zwei Gestaltungsmuster: Differenzierung oder Integration

Mit Blick in die einschlägige Fachliteratur (vgl. Gibson und Birkinshaw 2004; O‘Reilly und Tushman 2004; Raisch 2008) gibt es unterschiedliche Strukturlösungen, mit denen Unternehmen Exploitation und Exploration im Innovationsmanagement realisieren können. Dabei lassen sich die sogenannte strukturelle, kontextuelle oder sequenzielle Ambidextrie unterscheiden:

  • Bei der strukturellen Ambidextrie werden Exploitation und Exploration auf verschiedene Organisationseinheiten im Unternehmen verteilt.

  • Bei der kontextuellen Ambidextrie werden Exploitation und Exploration innerhalb einer Organisationseinheit im Unternehmen praktiziert. Die Mitarbeitenden verteilen dabei prozentual ihre Arbeitszeit je nach Bedarf zwischen Exploitation und Exploration und richten dies entsprechend an den Bedarfen des Unternehmens und der Herausforderungen aus.

  • Bei der sequenziellen Ambidextrie werden Exploitation und Exploration ebenfalls innerhalb einer Organisationseinheit praktiziert. Sie unterscheidet sich aber von der kontextuellen Ambidextrie dahingehend, dass sich die Mitarbeitenden temporär jeweils vollständig auf die Exploitation oder die Exploration konzentrieren.

Aus diesen drei Varianten lassen sich zwei grundsätzliche Gestaltungsmuster für die strukturelle Lösung von Ambidextrie im Innovationsmanagement ableiten (vgl. Brix 2019):

  • Das differenzierende Lösungsmuster, das separate Organisationseinheiten für Exploitation und Exploration schafft (strukturelle Ambidextrie) und

  • Das integrative Lösungsmuster, das innerhalb einer Organisationseinheit Exploitation und Exploration ermöglicht (kontextuelle oder auch sequenzielle Ambidextrie).

Im differenzierenden Lösungsmuster (strukturelle Ambidextrie) gibt es eine räumliche Trennung von Exploitation (z. B. Produktpflege) und Exploration (z. B. Grundlagenentwicklung) in verschiedene Bereiche (siehe Abb. 6.3). Entsprechend unterschiedlich können auch die Charakteristika in den Managementprozessen wie Führung und Kultur sowie in der Zusammenarbeit zwischen den beiden Bereichen sein. Auch die Unterstützungsprozesse, wie z. B. die jeweiligen Anreizsysteme können sich unterscheiden. Damit wird die Anpassung an die spezifischen Bedarfe der beiden Grundherausforderungen im Innovationsmanagement bestmöglich unterstützt. In der folgenden Abbildung ist der Organisationsbereich A klassisch als Matrix aufgebaut und eher auf Exploitation ausgerichtet, währen der Organisationsbereich B im Sinne eines Netzwerks fungiert und eher Exploration zum Ziel hat.

Abb. 6.3
figure 3

Beispiel für eine mögliche strukturelle Ambidextrie (aus Häusling und Fischer 2020; mit freundlicher Genehmigung von © Haufe-Lexware GmbH & Co. KG. All Rights Reserved)

Vorteil der strukturellen Ambidextrie ist, dass in den beiden spezialisierten Bereichen optimale Bedingungen jeweils für Exploitation und Exploration geschaffen werden können. Nachteile bestehen in der Gefahr einer Isolation der beiden Bereiche und in der geringen Integration und Zusammenarbeit. Diese Lösung ist zudem eher für große Unternehmen geeignet, da diese über die entsprechenden Ressourcen verfügen.

In KMU ist es aufgrund der begrenzten Ressourcen für den Aufbau spezialisierter Organisationsbereiche schwieriger, Exploitation und Exploration strukturell getrennt voneinander zu verfolgen (vgl. Lubatkin et al. 2006). Daher scheint für KMU eher das Modell der kontextuellen oder sequenziellen Ambidextrie geeignet, bei dem die einzelnen Mitarbeitenden in die Lage versetzt werden, ihre Zeit zwischen den Anforderungen der Verwertung bestehender Ideen und der Erforschung neuer Ideen aufzuteilen (vgl. Gibson und Birkinshaw 2004).

Das integrative Lösungsmuster (kontextuelle und sequenzielle Ambidextrie) zeichnet sich dadurch aus, dass Exploitation und Exploration in einem Bereich, einer Einheit, einem Team vereint sind (siehe Abb. 6.4). Dabei kommt es zu großen Gemeinsamkeiten sowohl was die Managementprozesse als auch die Unterstützungsprozesse anbelangt. Diese Gemeinsamkeiten führen dazu, dass es – wenn überhaupt – nur eine geringe Anpassung an die Besonderheiten von Exploitation und Exploration gibt. Dafür wird aber die Integration in ein gemeinsames Ganzes bestmöglich unterstützt.

Abb. 6.4
figure 4

Beispiel für eine mögliche kontextuelle Ambidextrie (aus Häusling und Fischer 2020; mit freundlicher Genehmigung von © Haufe-Lexware GmbH & Co. KG. All Rights Reserved)

Der große Vorteil der kontextuellen Ambidextrie besteht darin, dass sie eine hohe Flexibilität gibt und die Mitarbeitenden je nach Bedarf zwischen exploitativen und explorativen Aufgaben wechseln können. So besteht auch nicht das Risiko der Trennung zwischen den beiden Welten. Gleichzeitig bedeutet das aber auch für die Mitarbeitenden die höchstmögliche Anforderung, denn sie müssen ein breites Spektrum an unterschiedlichen Methoden beherrschen. Der reine Fokus auf klassische Methoden oder auf agile Methoden reicht nicht aus. Vielmehr braucht es das Wissen um die gesamte Bandbreite der möglichen Methoden. Ein hybrides Vorgehen ist damit die logische Konsequenz.

6.4 Hybrides Vorgehen im ambidextren Innovationsmanagement

Unter einem hybriden Vorgehen kann die sinnvolle Kombination von klassischen und agilen Methoden verstanden werden (vgl. Albrecht und Albrecht 2021). Sinnvoll ist eine Kombination dann, wenn bestimmte Rahmenbedingungen, wie die oben genannten komplizierten oder komplexen Herausforderungen und exploitative oder explorative Innovationsbedarfe, gegeben sind und diese dann ein bestimmtes Vorgehen intendieren.

Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den klassischen und den agilen Methoden ist, dass klassische Methoden eher nach dem Wasserfallprinzip funktionieren. Das bedeutet, dass zu Beginn eines Projekts eine mehr oder weniger genaue Beschreibung eines zukünftigen Endprodukts vorhanden ist. Diese Beschreibung wird dann – zumeist von der Zukunft her gedacht – in einzelne Teilschritte zerlegt und bis in die Gegenwart unterteilt. Das Hauptcharakteristikum ist eine Sequenzierung des Vorgehens, die sich durch das Herunterbrechen einzelner Schritte (sog. Arbeitspakete) und die Definition erwünschter Ergebnisse (sog. Meilensteine) auszeichnet (auch wenn hier Schleifen möglich sind).Footnote 2 Dieses Vorgehen wird typischerweise in Großprojekten mit langfristigem Planungsbedarf oder bei Projekten zur Produktweiterentwicklung oder Produktpflege angewendet.

Die Vorteile der klassischen Methoden liegen auf der Hand. Es gibt (meist) eine klare Übersicht von Abhängigkeiten, weil die Arbeitspakete und Meilensteine miteinander in Verbindung stehen. Die Rollen sind im Projekt klar verteilt. Es gibt eine Projektleitung, die je nach Ausgestaltung eine fachliche, disziplinarische oder lateraleFootnote 3 Führungsverantwortung für die Mitarbeitenden im Projekt hat. Das erleichtert die Zusammenarbeit und schafft die Basis für eine Kompensation möglicher Fluktuationen im Projektteam. Auf dieser Basis können dann recht klar die notwendigen Ressourcen geplant und beschafft werden. Alles in allem trägt dieses Vorgehen zu einer möglichst hohen Stabilität beim Vorgehen bei. Damit zahlt es positiv auf den Grundsatz der komplizierten Welt ein, indem es die Herausforderungen mittels Strukturierung handhabbar macht. Demgegenüber stehen aber auch einige Nachteile der klassischen Methoden. Mit der Festlegung eines Zielbilds zu Beginn besteht das Risiko, am konkreten oder sich verändernden Bedarf der Zielgruppe vorbei zu planen. Das verringert die Flexibilisierung und die Anpassungsmöglichkeiten während des Projekts. Durch die Abhängigkeit der Arbeitspakete und der Meilensteine kann es zu Verzögerungen beim Ablauf des Projekts kommen, wenn einzelne Arbeitspakete nicht gestartet werden können, weil andere Arbeitspakete noch nicht abgeschlossen sind. Die klare Struktur im Projekt beinhaltet das Risiko, dass mögliche Fehler – sei es in der Planung oder in der Umsetzung – zu spät entdeckt und dann nur noch schwer korrigiert werden können.

Im Gegensatz dazu zeichnen sich agile Methoden (wie SCRUM, KANBAN und Design Thinking)Footnote 4 dadurch aus, dass zu Beginn noch kein fixes Zielbild vorhanden ist. Vielmehr tastet man sich über einen klaren Blick von außen nach innen (also vom Kunden oder der Kundin her bzw. von typischen Kundengruppen, den sog. Personas, her) an ein mögliches Zielbild heran (vgl. Schwaber und Sutherland 2016). Dieses wird während des Projekts immer wieder hinterfragt und ggf. angepasst. Dazu wird ein etappenweises Vorgehen gewählt, in dem sog. Sprints in gesetzten Zeiträumen dazu genutzt werden, ein bestimmtes Ergebnis (Stichwort: MVP) zu erzielen. Kombiniert wird dieses Vorgehen mit einem hohen Grad an Visualisierung (z. B. über die CANVAS-MethodeFootnote 5 oder über KANBAN Boards) und einen regelmäßigen Austausch von Informationen mit einem klaren Blick auf die Erfolgsfaktoren (sog. Enabler) als auch die Hindernisse (sog. Empediments). So entsteht Transparenz und Kommunikation im Vorgehen. Dies kann anschließend als Basis für eine Anpassung im Projekt und für eine wechselseitige Unterstützung genutzt werden. Zudem dient die Reflexion des eigenen Vorgehens dazu, auf der Meta-Ebene immer wieder auf das eigene Tun zu schauen und so im Projekt und am Projekt zu lernen. Dieses Vorgehen findet man eher bei kleineren und überschaubaren Projekten. Auch hier liegen die Vorteile wieder auf der Hand. Die Zeit zur Projektentwicklung ist relativ kurz, da zu Beginn keine lange Planungsphase erfolgt. Durch die Transparenz und Kommunikation gibt es eine frühe Warnung vor möglichen Problemen im Projekt. Dadurch steigt die Flexibilität, nach Bedarf Anpassungen vorzunehmen. Zudem entsteht eine hohe emotionale Bindung der Projektmitarbeitenden, weil sie sich in hohem Maße einbringen und so auch mitgestalten können. Dem gegenüber kann die Flexibilität auch als Unsicherheit verstanden werden, denn im Zweifel ist unklar, welcher Schritt als nächster kommt. Das wiederum erfordert eine hohe Kompetenz der Mitarbeitenden im Umgang mit Unsicherheit und Ambiguität.

Bei einem Vergleich der beiden Methoden-Sets fallen die Unterschiede deutlich auf. Letztlich ist es wie so oft: es gibt nicht die eine gute und die andere schlechte Methode. Klassisches Vorgehen und agiles Vorgehen haben beide ihre Berechtigung. Es kommt vielmehr auf die Passung der Methode zur Herausforderung und letztlich auf eine möglichst sinnvolle Kombination von klassischen und agilen Methoden, also auf ein hybrides Vorgehen an! Dabei können im Kontext eines hybriden Vorgehens zwei Grundmodelle voneinander unterschieden werden (vgl. Luder 2022, S. 23; Greger 2021).

Innerhalb des sequenziell hybriden Vorgehensmodells während eines Projekts können die Methoden je nach Projektphase neu gewählt werden (vgl. Klimke et al. 2020, S. 699). Ein Wechsel ist möglich, jedoch nicht zwingend erforderlich. Innerhalb einer Phase wird konsequent nach einem Methodenset (klassisch oder agil) gearbeitet. Dadurch können beliebige Varianten entstehen. Einmal wird eher mit klassischen Methoden ins Projekt gestartet und dann agil weitergearbeitet (vgl. Hayata und Han 2011, S. 288; Thesing et al. 2021, S. 751). Im Gegensatz dazu können zu Beginn des Projekts agile Methoden eingesetzt und dann ab der Umsetzung eine klassische Steuerung genutzt werden (vgl. Mills et al. 2020, S. 579).

Beim additiv hybriden Vorgehensmodell ergänzen sich innerhalb einzelner Phasen agile und klassische Methoden. Ebenfalls möglich sind dabei Phasen, die rein agil oder klassisch gestaltet werden und damit als sequenziell hybrid angesehen werden können. Innerhalb der Phasen gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie beide Methoden-Sets miteinander kombiniert werden können. Zum einen kann das Projekt nach innen im Projektteam agil und nach außen zur Organisation hin klassisch geführt werden, um Anschlussfähigkeit zu gewährleisten (vgl. Kuster et al. 2019, S. 18; Thesing et al. 2021, S. 747). Dabei wird häufig langfristig anhand von groben Inhalten sowie Budget- und Zeitfragen mit Meilensteinen klassisch geplant, um einen Rahmen für das agile Arbeiten und die kurzfristige Planung in Iterationen für das Team zu gewährleisten (vgl. Copola Azenha et al. 2021, S. 96). Im Vergleich dazu werden innerhalb eines Projekts Teilprojekte mit unterschiedlichen Methoden bearbeitet. So können z. B. sicherheitsrelevante oder dokumentationspflichtige Teile klassisch bearbeitet werden, Softwareentwicklungen oder Kreatives dagegen agil (vgl. Timinger und Seel 2016, S. 56).

6.5 Entscheidungskriterien für die Methodenwahl im hybriden Vorgehen

Ein zentrales Entscheidungskriterium hinsichtlich der Wahl klassischer und agiler Methoden im hybriden Vorgehen liegt in den Charakteristika des Projekts selbst. Als besonders relevant können die folgenden Charakteristika beschrieben werden (vgl. Luder 2022, S. 30 ff.):

  • Komplexität des Projekts,

  • Möglichkeit zur Kund*innen-Interaktion und

  • Art des Projekts hinsichtlich Innovationsgrad und Projektumwelt

Die Komplexität des Projekts ist ein zentraler Punkt für die Auswahl von Methoden. Diese ist v. a. durch Unsicherheit in Bezug auf Kund*innen-Anforderungen und deren Veränderungen im Projektverlauf sowie die Planbarkeit der Aufgaben geprägt (vgl. Scholz und Schuster 2021, S. 46; Thesing et al. 2021, S. 752). Sofern die Kund*innen-Anforderungen detailliert und transparent zu Projektbeginn vorliegen, eignet sich ein klassisches Vorgehen, um Rollen und Aufgaben von Anfang bis Ende zuzuteilen (vgl. Ciric et al. 2019, S. 1408; Thesing et al. 2021, S. 753). Sind dagegen die vom Kunden bzw. der Kundin geforderten Spezifikationen in frühen Phasen noch nicht abschließend geklärt, sollte ein agiles Vorgehen gewählt werden (vgl. Ciric et al. 2019, S. 1409; Paluch et al. 2020, S. 500; Thesing et al. 2021, S. 747).

Können die Aufgaben für das Projekt auf Basis stabiler Vorgaben vorab geplant werden, kann ein klassisches Vorgehen nützlich sein. Ist die Aufgabenplanung jedoch erst iterativ im Verlauf des Projekts möglich, sollte ein agiles Vorgehen in Betracht gezogen werden (vgl. Albers et al. 2019, S. 841). Planungsstabilität liegt vor, wenn sich die zu Projektbeginn vereinbarten Details im Verlauf nicht mehr verändern. Ist dies der Fall, eignet sich somit ein klassisches Vorgehen (vgl. Kannan et al. 2014, S. 2685; Scholz und Schuster 2021, S. 46; Thesing et al. 2021, S. 753). Sofern sich Spezifikationen des Endprodukts schnell oder häufig verändern bzw. erst im Verlauf der Iterationen im Projekt bestimmt werden, bietet ein agiles Vorgehen die Möglichkeit, schneller und flexibler darauf zu reagieren (vgl. Kannan et al. 2014, S. 2685; Paluch et al. 2020, S. 496; Scholz und Schuster 2021, S. 46; Thesing et al. 2021, S. 752).

Für die Kund*innen-Interaktion wird ein Innen-/Außenverhältnis vorausgesetzt, in welchem das Team mit dem Umsetzungswunsch eines Kunden oder einer Auftraggeberin konfrontiert wird (vgl. Schumacher und Wimmer 2019, S. 12–18). Ist ein regelmäßiger Austausch zwischen dem Projektteam und der Zielgruppe während des Innovationsprozesses nicht möglich, da entweder vom Team oder der Zielgruppe nicht gewünscht, sollte ein klassisches Vorgehen gewählt werden (vgl. Paluch et al. 2020, S. 496–500; Thesing et al. 2021, S. 753 f.). Ein agiles Vorgehen ist dagegen möglich, sofern der direkte Kundenkontakt regelmäßig stattfinden kann, indem die Zielgruppe Feedback gibt (vgl. Ciric et al. 2019, S. 1409; Conforto und Amaral 2016, S. 29 f.; Paluch et al. 2020, S. 496, 500).

Bei der Art des Projekts schließlich determinieren insbesondere der Innovationsgrad und die Projektumwelt das Vorgehen. Fokussiert das Innovationsprojekt einen geringen Innovationsgrad, kann ein klassisches Vorgehen sinnvoll sein, da ausreichend Erfahrungswissen vorhanden ist und somit genauer geplant werden kann (vgl. Hauschildt et al. 2016, S. 162 f.; Paluch et al. 2020, S. 497; Smolnik und Bergmann 2020, S. 50; Thesing et al. 2021, S. 753). Handelt es sich hingegen um eine radikale Innovation oder eine Neuheit mit hohem Innovationsgrad, kann ein agiles Vorgehen geeignet sein. Grund dafür ist, dass die Planung aufgrund unsicherer Anforderungen und fehlender Erfahrungswerte deutlich erschwert ist (vgl. Copola Azenha et al. 2021, S. 91; Hauschildt et al. 2016, S. 163; Niewöhner et al. 2019, S. 828 f.; Paluch et al. 2020, S. 496). Wird das Projekt in einer stabilen Umwelt mit vorhersehbaren bzw. geringen Veränderungen durchgeführt, kann wiederum ein klassisches Vorgehen geeignet sein (vgl. Ciric et al. 2019, S. 1408). Ist die Projektumwelt dagegen dynamisch und sind Veränderungen schwer vorhersehbar, sollte ein agiles Vorgehen in Betracht gezogen werden (vgl. Paluch et al. 2020, S. 497). Gleiches gilt für die Organisationsumwelt, welche in Wechselwirkung zur Projektumwelt steht (vgl. Niewöhner et al. 2019, S. 829 f.; Paluch et al. 2020, S. 500). Daraus ergibt sich zur Einordnung und als Entscheidungshilfe Tab. 6.1.

Tab. 6.1 Einordnung der Projektcharakteristika nach Präferenz für klassische und agile Methoden

Übung 6.3: Charakteristika des Projekts als Entscheidungskriterium

Schätzen Sie Ihr aktuelles Projekt nach den Kriterien von Komplexität, Kundinnen-Interaktion und Art des Projekts ein:

  • Ist die Unsicherheit in Bezug auf Kund*innen-Anforderungen hoch?

  • Ist Planungsstabilität während des Projekts gering?

  • Ist kein regelmäßiger Austausch mit der Zielgruppe möglich?

  • Hat Ihr Projekt einen hohen Innovationsgrad?

  • Ist die Projektumwelt sehr dynamisch?

→ Je häufiger Sie mit JA geantwortet haben, desto eher sollte Ihr Projekt agile Methoden beinhalten!

6.6 Wichtige Voraussetzungen im Unternehmen

Neben den Charakteristika des Projekts gibt es auf der Ebene des Unternehmens weitere Voraussetzungen, die ein klassisches und/oder agiles Vorgehen im ambidextren Innovationsmanagement fördern (vgl. Mu et al. 2022). Dabei lassen sich die folgenden vier Kriterien unterscheiden, die einen Einfluss auf die Methodenwahl haben:

  • Organisationsstruktur,

  • Organisationskultur,

  • Empowerment der Mitarbeitenden und

  • Führungskräfte

In Organisationen, die als Strukturprinzip auf starke Hierarchien sowie ausgeprägte Zentralisierung und damit auf klare Regeln und Prozesse setzen, lässt sich ein klassisches Vorgehen aufgrund der Ähnlichkeit leichter umsetzen (vgl. Paukner et al. 2018, S. 169; Scholz und Schuster 2021, S. 46; Strode et al. 2009, S. 9; Thesing et al. 2021, 753 f.). Dagegen spricht ein geringer Grad an Formalisierung innerhalb der Organisationsstruktur sowie eine egalitäre Führung, die auf Zusammenarbeit basiert, eher für ein agiles Vorgehen (vgl. Paukner et al. 2018, S. 169; Scholz und Schuster 2021, S. 46; Strode et al. 2009, S. 7).

Ist die Organisationskultur grundsätzlich auf Kontrolle aufgebaut, sollte wiederum ein klassisches Vorgehen gewählt werden. Die Orientierung an finanziellem Erfolg, kontinuierlichem Wachstum und dem Leistungsprinzip sind dafür ausschlaggebend. Dies führt zu einer stärkeren Individualisierung, u. a. durch Kennzahlensysteme, individuelle Zielvereinbarungen und das Credo „Wissen ist Macht“. Damit geht eine geringe Fehlertoleranz einher. Ist im Gegensatz dazu Vertrauen die Grundprämisse der Organisationskultur, kann das eher ein agiles Vorgehen fördern (vgl. Laloux 2015).

In Bezug auf die Ermächtigung der Mitarbeitenden, selbstorganisiert zu arbeiten (das sog. Empowerment) steht besonders das strukturelle Empowerment im Fokus. Im Gegensatz zum psychologischen Empowerment beschäftigt es sich nicht mit der individuell erlebten Rolle der Teammitglieder, sondern mit organisationalen Strukturen als Rahmenbedingung für das Handeln der Mitarbeitenden. Grundlegend dafür ist ein klassisches Machtgefälle, welches zugunsten der Mitarbeitenden verändert werden soll. Relevant hierfür sind vor allem die Bereitstellung von Informationen und Ressourcen sowie die Unterstützung, diese für die eigene Arbeit auch tatsächlich nutzen zu können (vgl. Amundsen und Martinsen 2014, S. 489; Nettelbeck 2021, S. 22). Als strukturelle Maßnahmen sind flache Hierarchien, die Übernahme von Entscheidungskompetenzen für die eigenen Aufgaben als auch die ganzheitliche Bearbeitung von Aufgaben in teilautonomen Teams zu nennen (vgl. Schermuly 2015, S. 16–21; Spreitzer 2008, S. 54 ff.). Ist dieses Empowerment auf organisationaler Ebene nicht gegeben und Entscheidungen werden für das Team – und nicht durch das Team selbst – getroffen, ist ein klassisches Vorgehen zu bevorzugen (vgl. Thesing et al. 2021, S. 754). Dagegen ist das strukturelle Empowerment als förderlich für agile Methoden anzusehen (vgl. Hofmann et al. 2018, S. 46; Strode et al. 2009, S. 7).

Und schließlich sind die Führungskräfte relevant. Unterstützen oder akzeptieren diese keine agilen Methoden, gilt dies als Hindernis für deren Nutzung (vgl. Steeger und Kuhrmann 2019, S. 12; Thesing et al. 2021, S. 753). Hingegen gilt die Unterstützung oder gar die Forderung der Führungskräfte nach agilen Methoden als ein Erfolgsfaktor im Innovationsmanagement (vgl. Ciric et al. 2019, S. 1409; Cram 2019, S. 7).

Praxisbeispiel: Projekt „Rasenmäher der Zukunft“ bei der Firma RasenfitKOCH

Frau Koch, die Geschäftsführerin der Firma RasenfitKOCH aus Nagold, will ihre Zukunftsinitiative nun in einem Projekt weiter ausarbeiten lassen. Dazu überlegt sie zusammen mit anderen Mitarbeitenden des Unternehmens, wie das Projekt konkret ausgestaltet sein kann.

Eine Herausforderung ist dabei, dass es aktuell zwei Stoßrichtungen für die Zukunft gibt: Die erste Produktidee geht dahin, auf Basis der bisherigen Firmenstandards, kleinere und leistungsfähigere Batterien für die Rasenmäher zu entwickeln. Der Vorteil bestünde zum einen in günstigeren Herstellungskosten und zum anderen in einer längeren Nutzungsdauer. Die zweite Idee geht in eine radikale Umwandlung des Geschäftsmodells der RasenfitKOCH. Zukünftig würden dann nicht mehr Rasenmäher verkauft, sondern über ein Mietmodell an die Kund*innen abgegeben. Dazu würden Service Level Agreements (SLA) erarbeitet, sodass die Kund*innen je nach Bedarf und SLA-Status (Bronze, Silber oder Gold) entsprechende Wartungen, Reparaturen oder Ersatzteile in vorgegebenen Zeiten erhalten. Im Gold-Status wäre es sogar so, dass die Abnutzung des Rasenmähers elektronisch geprüft und vor Ausfall eines Teils bereits gewartet werden könnte.

Frau Koch kommt nach einschlägiger Prüfung der beiden Ideen zu dem Schluss, dass Zukunftsidee 1 (Produkt Batterie) eine komplizierte Innovation darstellt, die insbesondere Exploitation erfordert und am besten mit klassischen Methoden bearbeitet werden kann (und über den Produktentwicklungsprozess umgesetzt werden kann, siehe Kap. 5). Die Zukunftsidee 2 (Geschäftsmodell Leasing und SLA) hingegen wird als komplexe Disruption verstanden, die vor allem Exploration erfordert und am besten mittels agiler Methoden bearbeitet werden sollte. Dazu wird ein Innovationsteam mit Expert*innen aus mehreren Unternehmensbereichen zusammengestellt (siehe Kap. 5).

Aus dieser Einschätzung heraus entscheidet sich Frau Koch, zwei Projekte zur Zukunft der RasenfitKOCH zu starten. Damit sich beide Projektteams optimal auf die jeweilige Aufgabe konzentrieren können, werden sie bewusst voneinander getrennt im Unternehmen verankert.

6.7 Zusammenfassung und Fazit

Unternehmen sind mit komplizierten und/oder komplexen Herausforderungen konfrontiert. Je nach Qualität der Herausforderung bietet es sich dabei an, im Innovationsmanagement entweder mit klassischen und/oder agilen Methoden zu arbeiten. Bei komplizierten Herausforderungen kann eher klassisch vorgegangen werden, während komplexe Herausforderungen mittels agiler Methoden bearbeitet werden können.

In beiden Fällen müssen Unternehmen im Innovationsmanagement sowohl exploitativ als auch explorativ vorgehen. Dazu benötigt es bestimmte strukturelle Lösungsmuster, mit denen Exploitation und Exploration gestaltet werden können: Zum einen gibt es das differenzierende Lösungsmuster, das separate Organisationseinheiten für Exploitation und Exploration schafft (strukturelle Ambidextrie). Zum anderen lässt sich das integrative Lösungsmuster finden, das innerhalb einer Organisationseinheit Exploitation und Exploration ermöglicht (kontextuelle oder auch sequenzielle Ambidextrie).

Exploitation kann mit Hilfe von klassischen Methoden gefördert werden, während Exploration durch agile Methoden unterstützt werden kann. Da Unternehmen zumeist beide Ansätze im Innovationsmanagement verfolgen, werden sie Kombinationen aus klassischen und agilen Methoden, sog. hybride Methoden und damit ein hybrides Vorgehen nutzen. Dabei lassen sich je nach Form und Ausprägung der Kombination sequenziell hybride und additiv hybride Vorgehensmodelle voneinander unterscheiden.

Zentrale Entscheidungskriterien für die Wahl des adäquaten Vorgehens liegen zunächst einmal im jeweiligen Innovationsprojekt selbst. Besonders relevant sind dabei die Komplexität des Projekts, die Möglichkeit zur Kund*innen-Interaktion und die Art des Projekts. Daneben spielen aber auch Bedingungen im Unternehmen als Kontext für das Innovationsprojekt eine wichtige Rolle. Als besonders bedeutend sind hier die Organisationsstruktur und -kultur sowie das Empowerment der Mitarbeitenden und die Führungskräfte zu nennen.

Was bedeutet das für Ihre konkreten Innovationsprojekte? Je nach der Qualität der Herausforderung können komplizierte und komplexe Anforderungen an das Innovationsmanagement unterschieden werden. Daraus resultiert der Fokus auf Exploitation oder Exploration, die wiederum differenzierend oder integrativ gelöst werden können. Je nach Variante sollte ein klassisches und/oder agiles Vorgehensmodell gewählt werden. Diese Entscheidung kann entweder für ein komplettes Innovationsprojekt gelten oder aber in den verschiedenen Phasen jeweils neu bewertet und neu entschieden werden. Dabei kann es auch vorkommen, dass in einer Phase klassische und agile Modelle miteinander gemischt werden. Dann können die Vorzüge hybrider Modelle genutzt werden. Bedenken Sie aber, dass sich Ihre Rollen ändern, je nachdem, welches Vorgehen Sie wählen. Sie sind z. B. einmal klassische Projektleitung, einmal SCRUM-Master und dann (am herausforderndsten) auch manchmal eine Mischform. Außerdem müssen die Rahmenbedingungen im Unternehmen betrachtet und bewertet werden. So kann festgestellt werden, welches Vorgehen tatsächlich unterstützt wird. Und schließlich bedarf es eines genauen Blicks auf die Trends im Innovationsmanagement und deren Bewertung hinsichtlich der Relevanz für Ihr eigenes Vorgehen. Ein aktueller Trend rückt dabei besonders in den Fokus: der Trend zu einem nachhaltigen Innovationsmanagement. Darauf geht das nachfolgende Kap. 7 ein.

Wiederholungs- und Verständnisfragen

  • Wie heißen die beiden Dimensionen der Stacey-Matrix?

  • Welche vier Typen ergeben sich aus der Stacey-Matrix?

  • Was sind Merkmale einer komplexen Herausforderung?

  • Wie heißen die zwei Grundherausforderungen im Innovationsmanagement?

  • Wann bietet sich Exploration als Vorgehensweise an?

  • Was bedeutet Ambidextrie?

  • Nennen und beschreiben Sie mögliche Strukturvarianten der Ambidextrie.

  • Welche Strukturvariante der Ambidextrie eignet sich besonders für KMU? Warum?

  • Was bedeutet hybrides Vorgehen im ambidextren Innovationsmanagement?

  • Was sind Vorteile, was sind Nachteile klassischer Methoden?

  • Nennen Sie wesentliche Entscheidungskriterien für die Methodenwahl im hybriden Vorgehen.

  • Was sind wichtige Voraussetzungen im Unternehmen für die Methodenwahl?

6.8 Reflexion für die Praxis und Anwendung des Gelernten

Nutzen Sie die folgenden Fragen zum Abschluss des Kap. 6 um die (bisherige) Praxis in Ihrem Unternehmen zu reflektieren und einen Blick auf die (künftige) mögliche Anwendung zu werfen.

  1. 1.

    Wie ist das Innovationsmanagement in Ihrem Unternehmen strukturiert?

    1. a.

      Gibt es eine strukturelle Trennung zwischen der Produktweiterentwicklung und der Produktneuentwicklung oder sind beide Aufgaben in einem Team oder in einer Person vereint?

    2. b.

      Ordnen Sie die Innovationsteams in Ihrem Unternehmen den beiden Ambidextrie-Varianten (strukturell, kontextuell) zu.

  2. 2.

    Betrachten Sie Ihre kürzlich abgeschlossenen Innovationsprojekte.

    1. a.

      Sind Sie dabei rein klassisch oder rein agil vorgegangen?

    2. b.

      Haben Sie hybride Formen des Projektmanagements genutzt und dabei klassische und agile Methoden miteinander verbunden?

    3. c.

      Wenn Sie hybrid vorgegangen sind, welche Variante haben Sie praktiziert? Sind Sie eher sequenziell oder additiv vorgegangen?

  3. 3.

    Schätzen Sie die Voraussetzungen in Ihrem Unternehmen hinsichtlich der vier Kriterien Organisationsstruktur, -kultur, Empowerment und Führungskräfte ein:

    1. a.

      Ist Ihr Unternehmen klassisch und hierarchisch aufgebaut?

    2. b.

      Ist Ihre Unternehmenskultur eher kompetitiv und durch KPI geprägt?

    3. c.

      Ist bei Ihnen kein strukturelles Empowerment der Teams gegeben?

    4. d.

      Gibt es keine systematische Unterstützung durch die Führungskräfte hinsichtlich agiler Methoden?

    → Je häufiger Sie mit JA geantwortet haben, desto eher sollten in Ihrem Unternehmen klassische Projekte durchgeführt werden.

  4. 4.

    Überlegen Sie: Wo würde es sich anbieten, in Ihrem Unternehmen hybride oder agile Vorgehensweisen – ggf. erstmals testweise – zu nutzen? Warum?

  5. 5.

    Was würden Sie sagen im Hinblick auf die Inhalte des Kap. 6:

    1. a.

      Welcher Handlungsbedarf besteht in Ihrem Unternehmen?

    2. b.

      Wer sollte hier federführend aktiv werden?

    3. c.

      Wer sollte noch miteinbezogen werden?

Zu Beginn dieses Buches (siehe Abschn. 1.5) haben Sie einen Projektsteckbrief für Ihr Innovationsprojekt erstellt und pro Kapitel aktualisiert. Nun geht es darum, dass Sie das Gelernte aus Kap. 6 auf Ihr Innovationsprojekt übertragen. Prüfen Sie, ob Sie Ihren Projektsteckbrief ergänzen oder detaillieren sollten. Betrachten Sie insbesondere die Rubriken „Inhalt und Ziele“, „Weitere Anmerkungen“ und „Umsetzung“.

Nutzen Sie erneut das Quiz, das Sie zum Start des Kap. 6 ausgefüllt haben. Welche Fragen würden Sie nun anders beantworten? Überprüfen Sie Ihr Quiz abschließend anhand der Quiz-Lösungen.