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1 Morality Clauses – Eine interdisziplinäre Annäherung

Inwieweit sind Verlage gegenüber ihren Autor*innen verpflichtet, den Verlagsvertrag und die darin enthaltenen Vereinbarungen zu erfüllen, wenn gegen Autor*innen schwere Vorwürfe erhoben werden? Menschen, die im Rampenlicht stehen – und dazu gehören auch Autor*innen – werden genau beobachtet, und Nachrichten (aber auch Gerüchte) verbreiten sich heute schneller denn je. Insbesondere in den USA steigen die Anforderungen an moralisches Handeln der Unternehmen; zudem wird durch das Internet und vor allem die sozialen Netzwerke nahezu jegliches außerberufliche Verhalten „unter das Mikroskop“Footnote 1 gelegt. Damit zusammenhängend werden morality clauses (auch morals clauses, zu Deutsch: Moralklauseln) im Literaturbetrieb, besonders im angloamerikanischen Raum, derzeit virulent diskutiert. Morality clauses in Verlagsverträgen sollen Verlage vor moralischen oder rechtlichen Fehltritten ihrer Autor*innen schützen, die die Verkäuflichkeit eines Werkes beeinträchtigen und/oder die Verlagsmarke beschädigen könnten. Sie geben Verlagen bei unmoralischem oder rechtswidrigem Verhalten der Autor*innen verschiedene Rechte, vor allem das Recht zur Kündigung des Vertrages.

Aus Sicht unserer vier Disziplinen – Buchwissenschaft, Literaturwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft – soll dieser Beitrag dieses Phänomen beleuchten und diskutieren. Unser Untersuchungsgegenstand ist also ein gemeinsamer, den wir mit unseren jeweils eigenen Forschungszielen und -methoden diskutieren.

Aus Sicht der Literaturwissenschaft ist sowohl eine historisierende als auch diskurs- bzw. sozialkritisch-feministische Perspektive auf das Thema relevant. Das Nutzen von morality clauses kann als wirkungsmächtiger Diskursbeitrag verstanden werden, der das gesellschaftliche Verständnis z. B. bzgl. der Frage ‚vertretbarer‘ oder ‚nicht vertretbarer‘ Formen von Verletzungen und Diskriminierungen, in die Autor*innen verstrickt sein können, beeinflusst. Die hier angewandte interdisziplinäre Perspektive schärft das Verständnis für die verlagspolitischen bzw. wirtschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen dieser Maßnahme, sowie ihrer Praktikabilität, Effektivität und potenzieller rechtlicher Probleme. Im Gegenzug sensibilisiert die literaturwissenschaftliche Perspektive die anderen Disziplinen für die Vielschichtigkeit der Wirksamkeit von morality clauses im gesellschaftlichen Diskurs.

Die Buchwissenschaft als Kleines Fach widmet sich den Entstehungsprozessen von Texten und deren Verbreitung im Markt als Buchprodukt sowie deren Rezeption mit kulturwissenschaftlichem Methodenrepertoire. In dem hier vorliegenden Zusammenhang ist vor allem das Verhältnis der Verlage und ihrer Autor*innen von Interesse – ein Verhältnis, das (etwas vereinfacht gesprochen) durch die Verlagsverträge begründet und strukturiert wird. Aber auch die Frage nach dem Wert einer Verlagsmarke ist für die Buchwissenschaft zentral.

Die wirtschaftswissenschaftliche Sicht fokussiert auf die ökonomischen Anreize, die Autor*innen und Verlage dazu motivieren, das gemeinsame Agieren mit oder ohne Hilfe von Moralklauseln zu organisieren und die durch die Anwendung von Moralklauseln verursachten Verhaltensänderungen der Beteiligten. Dabei spielen der Wert der Verlagsmarke und die durch Autor*innen erzielbaren Honorare eine Schlüsselrolle, aber auch Ausweichoptionen auf andere Vertragspartner. Der Ausgleich von Interessen verläuft nicht nur im Rahmen der Vertragsfreiheit, sondern ist eingebettet in dem für die Beteiligten anwendbaren Rechtsrahmen.

Die Rechtswissenschaft, hier in ihrer Ausprägung der Rechtsdogmatik,Footnote 2 tritt mit dem Forschungsziel an, die Zulässigkeit von Moralklauseln nach der deutschen Rechtsordnung zu überprüfen. Dabei ist der methodische Ausgangspunkt, den zu beurteilenden Sachverhalt klar herauszuarbeiten. Hierfür sind die Erkenntnisse der anderen drei Wissenschaften wichtig: Was hat die Buchwissenschaft empirisch über das Vorkommen solcher Klauseln ermittelt? Welche Bedeutung haben die Klauseln für die Arbeit von Autor*innen – kann uns die Literaturwissenschaft etwas darüber sagen? Welche ökonomischen Anreizwirkungen haben die Klauseln, können sie auch der Autor*in nutzen, sind solche Klauseln effiziente Regelungsinstrumente, etwa weil sie Informationsasymmetrien mildern? Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse sind die verschiedenen Arten von Klauseln in der Vertragspraxis zu systematisieren und an unserer Rechtsordnung zu messen. Da diese keine konkreten Aussagen zu Moralklauseln enthält, kommen allgemeine Regeln zur Anwendung, die zum Teil den Charakter von ausfüllungsbedürftigen Generalklauseln haben. Diese sind mit den üblichen juristischen Methoden der Gesetzesauslegung zu lösen, also der Auslegung nach Wortlaut, Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte, Systematik und ggf. verfassungs- und europarechtlichen Aspekten. Bei den Generalklauseln ist die Besonderheit zu beachten, dass es sich nicht um Rechtssätze handelt, aus denen sich durch bloße Subsumtion Rechtsfolgen herleiten lassen. Vielmehr bedarf es ihrer Konkretisierung unter Abwägung der Wertungen der gesamten Rechtsordnung. Es werden genau genommen neue Rechtssätze, oft ausgehend von anerkannten Fallgruppen, entwickelt. Vor allem bei diesen Wertungen kommen die Erkenntnisse der anderen drei Wissenschaften zu dem Phänomen der Moralklauseln zum Tragen.

Im Folgenden besprechen wir zunächst ein konkretes Beispiel – das der USA – und kommen dann zu einer multidisziplinären Betrachtung des Themas.

2 Morality Clauses – Das Beispiel der USA

Eine Moralklausel ist eine Vertragsbestimmung, die einer Vertragspartei (in der Regel ein Unternehmen) das einseitige Recht gibt, den Vertrag zu kündigen oder Sanktionen gegen die andere Partei anzuwenden (in der Regel eine Person, deren Ansehen oder Image genutzt wird) für den Fall, dass die andere Partei ein verwerfliches Verhalten oder ein Verhalten, das sich negativ auf ihre Reputation und damit auch Reputation der einen Partei auswirken kann.Footnote 3 Im Bereich des professionellen Sports, in dem einzelne Personen mit großzügigen Werbeverträgen ausgestattet werden, sind diese Klauseln üblich; die Forschungslage dazu ist allerdings noch eher diffus.Footnote 4

Beispiele solcher Klauseln in der Buchbranche lauten:

  1. 1.

    „In the event that Author is publicly accused of the violation of law, the infringement or invasion of the rights of any third party, inciting infringement or invasion of third-party rights by others, or is otherwise accused of libel, slander, or defamatory conduct, or any other conduct that subjects, or could be reasonably anticipated to subject Author or Publisher to ridicule, contempt, scorn, hatred, or censure by the general public or which is likely to materially diminish the sales of the Work, Publisher may terminate [...].“

  2. 2.

    „Publisher may terminate […] if Author’s conduct evidences a lack of due regard for public conventions and morals, or Author commits a crime or any other act that will tend to bring Author into serious contempt, and such behavior would materially damage the Work’s reputation or sales.“

  3. 3.

    „Publisher may at any time prior to publication choose not to publish the Work if past or future illegal conduct of the Author, inconsistent with the Author’s reputation at the time this Agreement is executed and unknown to Publisher, is made public and results in sustained, widespread public condemnation of the Author that materially diminishes the sales potential of the Work. Should Publisher elect not to publish the Work pursuant to this section, Publisher shall give the Author timely written notice of such decision, all rights in the Work shall revert to the Author, no further advances shall be payable, and the Author shall not be required to repay any sums paid to date.“Footnote 5

  4. 4.

    „If you act or behave in a way which damages your reputation as a person suitable to work with or be associated with children, and consequently the market for or value of the work is seriously diminished, and we may (at our option) take any of the following actions: Delay publication/Renegotiate advance/Terminate the agreement.“Footnote 6

  5. 5.

    Am weitesten gehen Klauseln, die dem Verlag ein Kündigungsrecht geben, wenn der Autor in einer Weise handelt oder gehandelt haben soll, die den Ruf des Verlags wesentlich schädigen oder den Erfolg des Werkes gefährden könnte.Footnote 7

Autor*innen – jedenfalls die, die von etablierten Autor*innenvertretungen vertreten werden – sind offenbar mehrheitlich gegen Moralklauseln. PEN America hat sich eindeutig gegen Moralklauseln positioniert;Footnote 8 die Authors Guild ebenfalls.Footnote 9 Eine Autorin betont: “We need to find a way to address abuse, both in and outside of the publishing industry, but forcing writers to sign morality clauses poses a threat to literature that isn’t worth the risk. Publishers can’t be expected to be arbiters of justice when their motivations are complicated by profits.”Footnote 10

Beispiele für deutschsprachige Moralklauseln waren nicht auffindbar; auch gezielte Rückfragen bei deutschen Verlagen ergaben nicht, dass sie aktuell verwendet werden. Rückfragen beim Verband deutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowie bei PEN Deutschland ergaben, dass hierzulande keine Stellungnahmen vorliegen (Stand: September 2021). In einem deutschen Musterverlagsvertrag ist in einer Klausel, die in ihrem ersten Teil dem Autor die Mitwirkung an Konkurrenzwerken untersagt, folgende weitere Verpflichtung vorgesehen: „Auch im Übrigen unterlässt der Verfasser alles, was die Verbreitung des Werkes durch den Verlag beeinträchtigen könnte.“Footnote 11 Hierunter ließen sich u. U. auch Fälle fassen, in denen unmoralisches oder rechtswidriges Verhalten die Verbreitung des Buches beeinträchtigt.

Gerade bei groß angekündigten Spitzentiteln ist das finanzielle Risiko sehr hoch: “In an era where publishers are still making big bets on individual writers but profits are strained, a single scandal can harm their bottom line.”Footnote 12 Die Grundidee besteht darin, dass ein Verlag im Falle moralischen Fehlverhaltens von Autor*innen von seinen vertraglichen Pflichten gegenüber selbigen zurücktreten kann. Dabei kann die Moralklausel greifen, wenn das Fehlverhalten aktuell auftritt, oder wenn ein zuvor nicht bekanntes Fehlverhalten ans Licht kommt. Damit signalisieren solche Klauseln die Verquickung moralischer und rechtlicher Fragen, die in einigen westlichen Gesellschaften zusehends zunimmt, was sich anekdotisch auch am zunehmenden Gebrauch des Begriffs ablesen lässt.Footnote 13

Die interventionäre Macht der Moralklauseln wird standardgemäß auf den Fall „Roscoe ‚Fatty‘ Arbuckle“ in 1921 zurückgeführt. Nach einem Fall vermeintlichen sexuellen Missbrauchs wird der Comedian Arbuckle aus seinem Vertrag mit Paramount Pictures entlassen.Footnote 14 Bekannte Fälle, die sich auf Fehltritte von Autor*innen beziehen, im 20. Jahrhundert wie auch in der Gegenwart, gibt es zahlreiche; Fälle wie die Erklärung des S. Fischer Verlages, keine weiteren Bücher von Monika Maron zu verlegenFootnote 15 oder die Entscheidung der Seuss-Erb*innen, bestimmte Bücher aus dem Werk von Dr. Seuss nicht mehr weiter verlegen zu lassen,Footnote 16 sind prominente nationale wie internationale Beispiele aus dem Jahr 2020.

Wenn eine Moralklausel zum Einsatz kommt und ein Buchvertrag aufgelöst wird oder ein geplantes Buch nicht erscheint, zurückgerufen oder gar eingestampft wird, dann werden diese Schritte oft mit dem Schlagwort cancel culture betitelt. Allerdings gilt es zu bedenken, dass – wie Schriftstellerin Bernardine Evaristo kürzlich sagte – womöglich besser von challenge als von cancelling die Rede sein sollte: „Marginalised communities have always been de facto cancelled but this isn’t how the media applies the term and the people who are supposed to have been ‚cancelled‘ have instead been ‚challenged‘.“Footnote 17 Diese Auffassung drückt sich auch in dem Vorschlag aus, nicht von cancel culture sondern von consequence culture zu sprechen.Footnote 18 Entsprechend dieser allgemeinen Uneinigkeiten ist auch, wie Brooke Warner erklärt, „Book publishing […] at the center of the conversation about cancel culture because of the obvious importance of books and words in shaping our cultural norms and social values. Publishers take very seriously their role as curators of content and guardians of the messages they package.“Footnote 19 Die Moralklauseln können dabei sehr unterschiedlich gestaltet sein: „The clauses vary from publisher to publisher, and even from one literary agency to the next – every agency strikes its own deal with each publishing house.“Footnote 20

Im Endeffekt soll der Verlag vor negativen Auswirkungen des Verhaltens der Autor*innen auf die Verlagsmarke (und oft auch den ganzen Konzern) geschützt werden; vor allem potenzielle Verkaufsverluste sollen dadurch vermieden werden. Zwar wenden Gegner*innen der Moralklauseln oft den Begriff ‚Zensur‘ an, jedoch ist dieser hier nicht angebracht. Angesichts von Vertragsfreiheit in der freien Marktwirtschaft ist es erfahrungsgemäß in vielen Fällen nicht so, dass die betreffenden Bücher gänzlich von der Bildfläche verschwinden. Den Autor*innen steht die Möglichkeit offen, einen anderen Verlag zu suchen, und ein solcher wird oft innerhalb weniger Wochen – manchmal sogar Tagen – gefunden.

Ein Beispiel: Als der Republikaner Josh Hawley (Senator aus Missouri) dabei fotografiert wurde, wie er die Menge am 6. Januar 2021 in der Nähe des US-Capitols mit geballter Faust anfeuerte, entschied sich Simon & Schuster, ein Mainstream-Konzernverlag,Footnote 21 den laufenden Buchvertrag aufzulösen. Nun war Hawley schon davor ein extremer Rechtskonservativer, der Trump unterstützte und die Lügen rund um die Wahlergebnisse gerne weiterverbreitete. Insofern war sein Verhalten vielleicht weniger überraschend als Simon & Schuster es eingeordnet sehen wollten. Doch wurde die Entscheidung, ihn aus dem Vertrag zu entlassen, schnell getroffen – und ebenso schnell konnte Hawley an seinen ursprünglichen Plan der Publikation wieder anknüpfen, denn binnen weniger Tage hatte er mit Regnery einen neuen, konservativeren Verlag gefunden.Footnote 22 Wie auch bei Simon & Schuster hat Hawley nun bei Regnery eine Moralklausel im Vertrag; allerdings dürften hier verlagsintern Hawleys Vergangenheit und politische Ausrichtung anders beurteilt werden als verlagsintern bei Simon & Schuster, eine Verlagsgruppe, die sich als weltoffen und liberal verstehen will (oder inszenieren will). Möglicherweise wird Hawley bei Regnery die kontroverse Berichterstattung rund um das Buch sogar in die Karten spielen. Denn schließlich ist sein Name jetzt durch die Medien gegangen und der Wiedererkennungswert für potenzielle Leser*innen ist größer als zuvor.

Ein aktueller Fall, der zusätzliche Zusammenhänge dieses Themenkomplexes beleuchtet, ist dieser: Simon & Schuster, einer der großen Big 5-Verlage in den USA, der großes Ansehen genießt,Footnote 23 hat ein eigenes, breit aufgestelltes Verlagsprogramm, agiert aber auch als Verlagsauslieferung für Independent-Verlage in den USA. Dadurch werden Bestellungen gebündelt, wodurch sich kleine Verlage zusätzliche Investitions- und Wartungskosten für Technik und Datenbanken sparen können. Grundsätzlich ist dies eine wichtige Aufgabe, weil die Independent-Verlage so die Infrastruktur des großen, etablierten Verlages nutzen können und bessere Chancen haben, mit ihren Produkten in die Buchhandlungen zu kommen.Footnote 24

Allerdings zeigte sich im April 2021, dass diese Art der Zusammenarbeit auch negative Auswirkungen haben kann. Ein Independent-Verlag, der die Infrastruktur von Simon & Schuster nutzt, ist der Verlag Post Hill Press.Footnote 25 Dieser Verlag verlegt nach eigenen Angaben „a wide spectrum of books, with a focus on the categories of pop culture, business, self-help, health, current events, Christian, and conservative political books“.Footnote 26 Als Kombination aus ‚current events‘ und ‚conservative political books‘ ist wohl der angekündigte Titel einzuordnen. Unter dem Titel The Fight for Truth: The Inside Story Behind the Breonna Taylor Tragedy schreibt Jonathan Mattingly, einer der involvierten Polizisten, über den Vorfall, bei dem Breonna Taylor ums Leben kam. Nach Berichterstattung des Louisville Courier Journal zum angekündigten Buch eskalierte die Situation, vor allem über die sozialen Medien, schnell. Innerhalb von wenigen Stunden erklärte Simon & Schuster, dass sie trotz des bestehenden Vertragsverhältnisses mit Post Hill Press das Buch The Fight for Truth nicht distribuieren würden.Footnote 27 Es ist zu vermuten, dass hier zwar ein Vertrag über die Übernahme der Verlagsauslieferung zwischen Simon & Schuster und Post Hill Press vorlag, aber keine Moralklausel. Hieran sieht man: Die Auswirkungen attribuierten moralischen Fehlverhaltens gehen deutlich über vertraglich vereinbarte Moralklauseln hinaus. Auch ohne deren Vorliegen kann offenbar ein Unternehmen wie Simon & Schuster Konsequenzen ziehen und sich entscheiden, einen Auslieferungsvertrag nicht zu erfüllen.

Da Post Hill Press dieses Buch nicht ausliefern konnte, kündigte Jonathan Mattingly seinen Autorenvertrag.Footnote 28 Nach wenigen Wochen konnte er jedoch schon einen neuen Verlag finden, der das Buch unter verändertem Titel verlegte: DW Books, die Buchsparte des konservativen Nachrichtenportals The Daily Wire.Footnote 29

3 Moral, Materialität und Autorschaft zwischen Symbolpolitik und gesellschaftlicher Transformation – Buch- und Literaturwissenschaftliche Perspektiven

Während es Moralvorstellungen immer gegeben hat – z. B. sind die der Antike ausführlich überliefert – entstand moderne Autorschaft erst im 18. Jahrhundert und damit in einer Zeit weitreichender gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen, die sich auch in der Herausbildung des modernen literarischen Markts manifestierten. Bzgl. Autorschaft ist besonders der Genie-Kult der englischen Romantik in Erinnerung geblieben: Als Genies beanspruchten Schriftsteller*innen eine Sonderrolle in der Gesellschaft. Sie galten als visionär bzgl. dessen, was wirklich Relevanz hatte oder haben sollte. Sie zählten (sich) zu einer Art Avantgarde, die bürgerliche Moralvorstellungen ablehnte. Gleichzeitig popularisierten sie alternative Moralvorstellungen, z. B. mit Pantheismus, Transzendentalismus, usw.Footnote 30 Moral und moderne, d. h. in einem Markt agierende Autorschaft gingen damit eine enge Verbindung ein. Gleichzeitig, so könnte man argumentieren, wurde die Vorstellung, man handele moralisch (oder: anders moralisch), selbst zu etwas, das zunehmend vermarktet werden konnte.

Literaturwissenschaftlerin Sarah Brouillette hat ähnlich geschlussfolgert: Obwohl romantische Dichter*innen in einem zunehmend kommerzialisierten Umfeld agierten und somit in wirtschaftliche Prozesse eingebunden sind (nicht zuletzt entsteht hier das Copyright), „romantic-era literature is thought to have been the first to express a systematic denial of the economic motivations for authorship“.Footnote 31 Damit wird die Idee der Kommerzferne der Literatur geboren, die noch immer im deutschen Gesetz verankert ist: Das Buch ist ein ‚Kulturgut‘ und ein ‚Wirtschaftsgut‘ zugleich. Es erfüllt eine besondere gesellschaftliche Funktion, eventuell fördert Lesen sogar die gesellschaftliche Moral, bildet etwa Studien zufolge Empathie heraus.Footnote 32 Autor*innen profitieren von einer besonderen Art des öffentlichen Interesses: Sie sind vielleicht prominente Autor*innen, aber doch keine Prominente im klassischen Sinne.Footnote 33 Vor diesem Hintergrund könnten die Verlage mit ihren Moralklauseln als berechtigte Akteure in einem moralischen Feld gesehen werden; wenn Literatur rechtlich geschützt wird – und hiervon profitieren sowohl Verlage als auch Autor*innen – könnte es naheliegen, dass gravierende moralische Fehltritte durch Vertragsentlassungen reglementiert werden.

Obwohl der Rückgriff auf den Begriff ‚Moral‘ ein Regelwerk höchster Ordnung impliziert, fallen Moralklauseln in der Praxis meist nicht ins Gewicht. Manche halten sie für gänzlich überflüssig: In ihrem Artikel „Bei öffentlichem Ansehensverlust droht der Rauswurf“Footnote 34 zitiert Meredith Haaf Autorin und Juristin Jacqui Lipton. Sie bezeichnet die Klauseln als „reine Symbolpolitik“. „Kein Verlag gibt einem Autor heute noch einen Vertrag, aus dem er nicht herauskommt“, so Lipton. Die „vagen Moralklauseln“, so Haaf in ihrem Gloss, seien also unnötig. Wozu dienen sie dann? Macht, mutmaßt Haaf durch die Stimme der Autorin und Kulturwissenschaftlerin Moira Weigel, sogar „eine undurchsichtige und willkürliche Macht“, die „den Bossen“ gegeben würde, um “das Verhalten ihrer Mitarbeiter zu bewerten und zu sanktionieren”.Footnote 35 Geht es also um Macht, nicht um Moral? Lässt sich beides überhaupt trennen?

Ob Verlage nun tatsächlich eine Renaissance moralischen Bewusstseins erleben, sei dahingestellt, ist allerdings nicht auszuschließen. Lipton bezeichnet Moralklauseln einerseits als „Symbolpolitik“, andererseits seien sie aber auch schlicht ein Abbild gesellschaftlicher Veränderungen – also von dem, „Was wir im Umgang voneinander erwarten […] Sie wollen als Akteure gesehen werden, die keine Übergriffigkeit tolerieren, da geht es eher um Public Relations als um konkrete Kontrollversuche.“Footnote 36 Symbolpolitik, Public Relations oder Symptom eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses? Lipton ist sich genauso unsicher wie die Autorin des Artikels, Haaf.

Der Vorwurf der Symbolpolitik – und hier ist man dann ganz schnell wieder bei der Vermarktbarkeit moralischen Handelns – ist nicht neu und wird in diversen gesellschaftlichen Zusammenhängen eingesetzt. ‚Window-dressing‘ heißt das im Englischen. Etwas wird getan oder vorgegeben, hübsch arrangiert (Deutsch ‚Schönfärberei‘), aber ein wirkliches, das heißt, inhaltliches Interesse – geschweige denn moralischer oder ethischer Art – verbirgt sich womöglich nicht dahinter. Sobald Stimmen oder Positionen öffentlichkeitswirksam werden oder werden sollen, ob nun in der Politik, in der Presse, in Institutionen oder in den sozialen Medien, müssen sie auch in der ‚symbolischen Ökonomie des Diskurses‘ („symbolic economy of discourse“Footnote 37) vermarktet worden sein oder vermarktet werden. Wir alle tragen zu dieser Ökonomie, zu diesem Markt bei, positionieren uns, formen Allianzen oder grenzen uns ab; werten auf, werten ab – das muss nicht unbedingt intendiert sein, sondern geschieht auch zufällig.Footnote 38 Ohne Wert tragende oder Wert zuschreibende Äußerungen, Verbildlichungen, Narrativisierungen, Positionierungen usw. (d. h. gestaltete metaphorische ‚Fenster‘), durch die Individuen, Gruppen oder Institutionen am (öffentlichen) Leben teilnehmen und an andere herantreten, gäbe es überhaupt keine sogenannte Öffentlichkeit. Es gibt keine unverpackte, nicht-arrangierte, nicht in Bewertungskonventionen verstrickte, neutrale Botschaft; kein schmuckloses Fenster. Somit materialisieren sich sowohl die öffentlichen ‚personas‘ bzw. brands der Verlage sowie auch die der Autor*innen als, in und durch Konglomerate wertender Narrative (brand narratives) und Positionierungen (brand acts),Footnote 39 und nicht selten liegt die Botschaft dabei im Blick der (selbstverständlich von Konventionen geprägten) Betrachtenden.

Verlage möchten also als Akteure wahrgenommen werden, „die keine Übergriffigkeit tolerieren“.Footnote 40 Wahrgenommen werden sie in jedem Fall. Das, was hier implizit als versteckte Marketing-Kampagne kritisiert wird („da geht es eher um Public Relations als um konkrete Kontrollversuche,“ so LiptonFootnote 41), ist ein Routineaspekt öffentlichen Sichtbarwerdens und Einflussnehmens. Diejenigen, die sich gar kein Image geben wollen, tun es doch, werden gedeutet, beurteilt, eingeordnet. Die, die ‚selbst-branding‘ explizit ablehnen (Naomi Klein hat das einmal sehr öffentlichkeitswirksam getanFootnote 42), bekommen das Image, Marktmechanismen mit Skepsis und Ablehnung gegenüberzustehen (Stichwort ‚Kommerzferne‘) oder besonders authentisch zu sein; werden dadurch in ihren Handlungen oder als persona auf- oder abgewertet. Auch sie akkumulieren symbolisches Kapital.

In der öffentlichen Debatte kann es in der Folge zu solcherlei Überlegungen kommen: Gibt es etwas einzuwenden gegen eine ‚Symbolwirkung,‘ die dadurch generiert wird, dass Autor*innen, die z. B. durch Äußerungen in die Schlagzeilen geraten, die andere verletzen oder herabwürdigen, oder sexuell missbrauchen, von ihren Verträgen entlassen werden? Wenn sowieso irgendein Image existiert oder existieren muss; wenn sich also sowieso bei Teilnahme in einem öffentlichen Diskurs eine öffentlich wahrgenommene Marke oder self-brand herauskristallisiert,Footnote 43 warum dann nicht eine solche, die sich gegen ‚Übergriffe‘ positioniert?

Sicherlich bergen Moralklauseln Probleme; in der Vergangenheit galt z. B. queerness, auch unter Autor*innen, als Ausschlussgrund. Moral ist nun einmal perspektivisch gebunden und kulturell geprägt, d. h. sie ist nicht universell gültig. Was für die einen Fehlverhalten ist, ist es nicht für die anderen. Und dennoch impliziert Liptons Hinweis auf den ‚gesellschaftlichen Transformationsprozess‘ eigentlich, dass es gar nicht oder nicht nur um die Sanktionierung des Verhaltens einzelner Personen geht. Es geht um die Signalwirkung für zukünftiges Handeln, um einen normativen Aspekt – und um menschliche Unversehrtheit. Sollte eine Person, die andere (im weitesten Sinne) verletzt haben soll, unbedarft von öffentlicher Valorisierung profitieren dürfen, gefördert von gleich einer ganzen Medienlandschaft? (Verlage, Zeitungen, Kritiker*innen, usw.?) Sollte, z. B., Blake Baileys Biografie von Philip Roth als Spitzentitel beworben und verkauft werden, nachdem mehrere Vergewaltigungsvorwürfe gegen Bailey bekannt geworden sind? Sein Verlag W. W. Norton wollte jedenfalls daran nicht (mehr) teilhaben sowie seine Agentur, die ihn im April 2021 entließ.Footnote 44

Als Christine Blasey-Ford im September 2018 vor dem Senate Judiciary Committee gegen Supreme Court Kandidat Bret Kavanaugh aussagte, gingen die Meinungen über die Tragweite ihrer Anschuldigungen weit auseinander. Viele sahen Kavanaugh als Opfer einer Verunglimpfungskampagne, immer wieder schwang aber auch eine relative Gleichgültigkeit gegenüber dem mit, was Kavanaugh bei seinen Studiumsparties eventuell getrieben haben könnte. Sein gewichtigster Support kam von Donald J. Trump, dem ehemaligen U.S.-Präsidenten, der selbst mehrfach sexueller Übergriffe bezichtigt worden ist. Manche sehen in Baileys biografischer Darstellung Roths eine ähnliche Solidarisierung.Footnote 45 Gleichzeitig stehen auch schon Roths Romane bisweilen für ihre normalisierende Darstellung von sexueller Nötigung in der Kritik. Und Roths Liste verflossener, oft sehr junger Liebhaberinnen ist notorisch lang, der Vorwurf, er sei misogyn gewesen, fest etabliert. Das war schon lange Teil seines Images, wie Hadley Freeman anlässlich der Biografie im Guardian kommentierte.Footnote 46

Im Idealfall geht es bei Moralklauseln genau darum, eine solche Dynamik – die Generierung von Akzeptanz, sogar Zurschaustellung und Valorisierung von Personen, die auf andere übergreifen – abzuschwächen. Die Biografie habe bereits auf der New York Times Bestseller-Liste gestanden, so ein Artikel.Footnote 47 Was aber ist mit den Frauen, die im jungen Alter Baileys Übergriffen zum Opfer fielen? Was wäre es für eine Symbolpolitik, Bailey in diesem Wissen als Roth-Biografen zu feiern? Judith Butler benutzt für solch oft ungleiche Gewichtung von Leid den Begriff ‚grievability‘, womit sie kurz gesagt ausdrückt, dass nicht um alle in der Gesellschaft gleich getrauert wird.Footnote 48 ‚Leid‘ wird sehr unterschiedlich beurteilt und bewertet, und diese Beurteilung und Bewertung verläuft auch entlang von Trennlinien (‚race‘, ‚gender‘, ‚class‘, usw.). Entsprechend werden auch Moralklauseln bzw. ihre Wirkung, wie im Fall Bailey, gerade von solchen als unlautere Einschränkung oder Zerstörung empfunden, deren Übergriffe zuvor mehr oder weniger uneingeschränkt verlaufen konnten. Das Leid des Verlusts des normalisierten Privilegs oder Anrechts, auf andere zu- oder übergreifen zu können, wird hier nicht nur von der Einzelperson stärker empfunden als das den anderen zugefügte Leid, sondern wird auch im gesellschaftlichen Bewusstsein einer majority-patriarchal culture so interpretiert. Wenn Moralklauseln dazu beitragen können, solch normalisiertes Anrecht infrage zu stellen, können sie tatsächlich, wie Lipton beschreibt, einen relevanten Part im gesellschaftlichen Transformationsprozess einnehmen.

Mit ihren Entscheidungen, bestimmte Autor*innen oder Bücher nicht mehr zu fördern, treten Verlage also zunehmend als moralische Akteure in das gesellschaftliche Bewusstsein und schreiben sich mit spezifisch gerichteten, öffentlichen personas in den Diskurs ein. Sie kreieren eine brand, die sich aus unterschiedlichen Narrativen und Positionierungen speist – darunter die Vorstellung, ‚moralisch‘ zu handeln. Indem Verlage spezifisches Fehlverhalten abwerten und sanktionieren, materialisieren sie im Gegenzug ein bestimmtes, kumuliertes Bild ihrer eigenen Affiliationen/Desidentifikationen und Werte, das Signalwirkung entfaltet. Es handelt sich hierbei also um ein dialogisches Verhältnis.Footnote 49

Allerdings ist ein Lossagen von bestimmten Autor*innen durch den Verlag nicht unbedingt linear mit Umsatzsteigerungen für den Verlag in Verbindung zu bringen; ebenso müssen nicht notwendiger Weise die Autor*innen als die wirtschaftlich geschädigte Partei hervorgehen. Während einzelne Autor*innen dadurch heftiger gesellschaftlicher Kritik entweder ausgesetzt werden oder solche Kritik legitimiert wird (wenn z. B. Verlage auf öffentliche Kritik reagieren), stimulieren Skandalschlagzeilen auch die öffentliche Aufmerksamkeit, ja sogar Leser*innenschaft. So schnellten die Absatzzahlen und der Marktwert der aus dem Verkehr gezogenen Seuss-Bücher rapide nach oben. Bisher waren die Bücher, die die Seuss-Erb*innen aus dem Programm strichen, mitnichten die großen Bestseller des Erfolgsautors. Insofern hält sich der wirtschaftliche Verlust der Seuss-Erb*innen bislang sehr in Grenzen. Zudem muss betont werden, dass diese Entscheidung von den Erb*innen selbst getroffen wurde, um die Marke vor weiterer Kritik zu beschützen: „Children’s publishers and literary estates are trying to walk a delicate line by preserving an author’s legacy, while recognizing and rejecting aspects of a writer’s work that are out of step with current social and cultural values.“Footnote 50

Im Falle S. Fischer zeigt sich: Der Verlag hat sich zwar im Oktober 2020 entschieden, keine weiteren Bücher der Autorin Maron zu verlegen, weil die Autorin „politisch unberechenbar“ sei. Grundsätzlich steht es jedem Verlag frei, einen Titel ins Programm zu nehmen – oder auch nicht. Typischerweise würde ein Verlag aber im Sinne der Autor*innenbindung und Backlistpflege ein schriftstellerisches Werk einer mehrfach ausgezeichneten Autorin, die zudem gut verkäufliche Bücher schreibt, versuchen, weiter im Programm zu behalten. Die insgesamt sehr erfolgreichen Titel, die seit Jahren gut laufen, etwa Endmoränen (durchgängig lieferbar seit 2002 in verschiedenen Ausgaben) waren noch eine Zeit lang im Programm. Auch deswegen nannte die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Entscheidung „unsouverän[…] und vielleicht auch unehrlich[…]“.Footnote 51 In diesem Fall war es keine Moralklausel, aber der Effekt war ähnlich – und hat zu Schlagzeilen geführt. Inzwischen sind die Bücher bei Hoffmann und Campe untergekommen; Monika Maron wird noch als Autorin des S. Fischer-Verlages auf der Website geführt, aber ohne lieferbare Titel zu verlinken.Footnote 52

Skandalschlagzeilen, das heißt der öffentlich angeprangerte Bruch mit der Moral, kann damit mitunter eine ähnliche Wirkung entfalten wie die Vorgabe, sich moralisch zu verhalten, oder eine alternative Moral zu vertreten. Sogar deklarierte Kommerzferne wird, und darüber schreibt auch Pierre Bourdieu, zu einer Quelle symbolischen Kapitals im literarischen Feld. Moral heißt hier, zumindest in der Höhenkammliteratur oder literary fiction, immer auch eine Abgrenzung vom Markt und dessen ‚niederen‘ (oder so die Annahme) Motiven und Praktiken. Weil aber die Behauptung der Kommerzferne selbst symbolisches und letztlich auch monetäres Kapital generiert (steigende Absatzzahlen, öffentliche Aufmerksamkeit, Respekt, usw.), wird er selbst zum Marketing-Moment.

Im Hinblick auf die sich ständig wandelnden Moralvorstellungen und näher rückenden Buchmärkte, bei denen internationale Grenzen zusehends verschwimmen, ist dies ein spannendes Feld, das in den nächsten Jahren aus buch- und literaturwissenschaftlicher Sicht beobachtet werden sollte. Allerdings handelt es sich dabei um eine Thematik, die auch aus der Perspektive anderer Disziplinen zusätzlich beleuchtet werden kann und muss. Im Folgenden erfolgt daher zunächst eine wirtschaftswissenschaftliche und dann eine rechtswissenschaftliche Einordnung.

4 Morality Clauses konstituieren unvollständige Verträge – eine wirtschaftswissenschaftliche Einordnung

Eine weite Moralklausel (nach Beispiel 5) kann einseitig vom Verlag aktiviert werden, wenn Typoskriptschaffende, d. h. Autor*innen, in einer Weise handeln oder gehandelt haben sollen, die den Ruf des Verlags wesentlich schädigen oder den Erfolg bereits geschaffener oder noch zu schaffender Bücher gefährden könnten. Damit könnte ein Fehlverhalten aktuell auftreten, wenn ein zuvor nicht bekanntes Fehlverhalten zur Kenntnis genommen wird, oder wenn sich ein bekanntes Verhalten durch eine Änderung der öffentlichen oder vom Verlag durchgeführten Bewertung von akzeptabel zu inakzeptabel ändert. Selbst wenn die Moralklausel regelgerecht nur einseitig, d. h. von Verlegenden, aktiviert werden kann, eröffnet sie aus strategischer Sicht auch einen Spielraum für Typoskriptschaffende.

Wenn die Auslöseschwelle vage definiert ist, beispielsweise kein gerichtliches Urteil vorausgesetzt wird, sondern der öffentliche Tatvorwurf oder sogar das nichtöffentliche, nur dem Verlag bekannte Geständnis ausreicht, besteht auch für Typoskriptschaffende ein Spielraum, Moralklausel-Auslösetatbestände zu konstruieren, ohne dabei wesentliche Abstriche am eigenen Moralwert durchführen zu müssen. Geht man davon aus, dass die Verlegenden einen Bereich moralisch akzeptablen Verhaltens haben und dass Typoskriptschaffende einen anderen Bereich moralisch akzeptablen Verhaltens besitzen, so benötigen Typoskriptschaffende lediglich etwas, das für Verlegende, nicht aber für sie inakzeptabel ist. Da das öffentliche Akzeptieren von Straftaten schwieriger ist als das private, könnte beispielsweise das Geständnis, beim Schaffen des Werkes (wenn es denn mehr als die Verjährungsfrist von 5 Jahren zurückliegt) durch den Kauf und Eigenkonsum von Kokain gegen § 29 Betäubungsmittelgesetz verstoßen zu haben, ein gangbarer Weg sein. Ein Verlag, der seine Verlagsmarke vor unmoralischen Typoskriptschaffenden mit einer Moralklausel schützt, muss sich auch vor dem Vorwurf schützen, unmoralisches Verhalten von Typoskriptschaffenden durch Nichtaktivierung der Moralklausel zu goutieren. Dieses gibt Typoskriptschaffenden die Möglichkeit, falls gewünscht, den Verlag indirekt anzuregen, die Moralklausel zu aktivieren. Je geringer die Überlappung der Moralitätsbereiche von Verlegenden und Typoskriptschaffenden, desto greifbarer ist die Option, auch für Typoskriptschaffende, Verträge (indirekt) auflösen zu können. Allgemeine Moralklauseln, auch wenn einseitig formuliert, sind daher eher als beidseitige Option zu betrachten.

Unbekannte Typoskriptschaffende und Verlegende wollen oft eine langfristige Beziehung aufbauen, da diese Anreize dafür schafft, dass der Verlegende in den Aufbau des Marktwerts von Typoskriptschaffenden investiert und dabei Typoskriptschaffenden künstlerische Freiheiten lässt. Innerhalb dieser länger andauernden Beziehung jedoch beeinflussen die Handlungen einer Vertragspartei die Marktwerte der anderen. Die Berücksichtigung aller verhaltensbezogenen Eventualitäten in einem vollständigen Vertrag, sofern überhaupt möglich, wäre mit hohen Transaktionskosten verbunden. Da nicht alle zukünftig eintretenden Veränderungen festgeschrieben werden können, werden unvollständige Verträge bevorzugt.Footnote 53 Auch durch eine Moralklausel entsteht ein unvollständiger Vertrag. Vertragsänderungen müssen in Nachverhandlungen bestimmt werden, die, falls die Zusammenarbeit ökonomisch nicht mehr sinnvoll ist, auch eine Vertragskündigung zur Folge haben kann. Verträge zwischen Verlegenden und Typoskriptschaffenden sind relationale Verträge.Footnote 54 Der Verweis der Moralitätsbewertung durch die Öffentlichkeit bringt eine weitere Agierende ins Spiel, die jedoch in der Regel nicht aktiv die Nachverhandlungen oder Kündigungen des Vertrags auslöst, sondern eher den Rahmen der nicht akzeptierten Verhaltensweise bestimmt beziehungsweise verändert.

Moralklauseln sind eine Möglichkeit, den Vertrag zu beenden oder Nachverhandlungen zu initiieren. Die Nachverhandlungen können die Aufteilung der Kooperationsgewinne verändern, sie können aber auch zusätzliche Kooperationsgewinne schaffen. Solange also die Beziehung zwischen Verlegenden und Typoskriptschaffenden ökonomisch vorteilhaft ist, wird der Vertrag geändert, aber nicht beendet. Hiervon können Typoskriptschaffende profitieren, deren Werke ökonomisch erfolgreich sind. Ökonomisch weniger erfolgreiche Typoskriptschaffende dagegen werden durch den Unmoralitätsvorwurf eher in ihrer Verhandlungsposition verschlechtert. Darüber hinaus entsteht aber beispielsweise durch die Auftrennung des Werkes in vom Verlag gewünschte und abgelehnte Titel die Option, bestimmte Titel in anderen Verlagen zu positionieren, ohne die Kooperationsmöglichkeiten mit dem Verlag für andere Titel zu verlieren.

Besitzt der Verlag eine kommunizierbare Sammlung von akzeptierten und nicht akzeptierten Verhaltensweisen, können Moralklauseln als SelbstselektionsmechanismusFootnote 55 fungieren. Es ist anzunehmen, dass die für Typoskriptschaffende optimale Verhaltensweisen – und, ob diese noch im Bereich des moralisch akzeptablen Verhaltens der Verlegenden liegen – in der Regel private Informationen der Typoskriptschaffenden darstellen, sodass vor Vertragsabschluss asymmetrische Informationen zuungunsten des Verlags vorliegen. Eine Moralklausel könnte insofern eine Lösungsmöglichkeit dieses Problems darstellen, als Verlage nun auf eine Selbstselektion durch Typoskriptschaffende hoffen könnten, dass also Typoskriptschaffende den Vertrag ablehnen, wenn die Anpassung an die Moralklausel nicht gewünscht ist. Darüber hinaus würden Typoskriptschaffende grenzwertige Verhaltensweisen eher unterlassen, wenn sie ein Auslösen der Moralklausel verhindern wollen. Angesichts der vage definierten Auslöseschwelle von Moralklauseln und der möglichen zukünftigen Veränderung der Moral von Gesellschaft, Verlegenden und Typoskriptschaffenden bleiben jedoch Informationsasymmetrien und damit verbundene ökonomische Gefahren weiter bestehen.

5 Morality Clauses im deutschen Zivilrecht – eine rechtswissenschaftliche Einordnung

Aus juristischer Sicht soll es um Fälle gehen, in denen der Verlag einen bestehenden Vertrag mit einem Autor zu einem Zeitpunkt zwischen dem Vertragsabschluss und dem regulären Ende des Verlagsvertrages beendet (Fälle Bailey, Hawley). Nicht untersucht wird die Verweigerung des Abschlusses eines weiteren Verlagsvertrages (Fall Maron), ebenso wenig die Beendigung anderer Vertragsverhältnisse wie zwischen Autor und Literaturagentur (Fall Bailey) oder auf den verschiedenen Ebenen des Vertriebs (Fall Mattingly). Im Folgenden werden zwei Arten von Moralklauseln unterschieden (Abschn. 5.1). Im Anschluss wird die Rechtsnatur des Verlagsvertrages näher betrachtet (Abschn. 5.2), um im Anschluss die hier in Rede stehenden Leistungsstörungen einzugrenzen (Abschn. 5.3) und nach gesetzlichen Kündigungsrechten (Abschn. 5.4) sowie der Möglichkeit, solche Rechte vertraglich einzuräumen (Abschn. 5.5), zu fragen. Das Zwischenergebnis schließt diesen Abschnitt ab (Abschn. 5.6).

5.1 Arten von Moralklauseln

Moralklauseln sehen als Rechtsfolge ein Kündigungsrecht vor, ggf. auch weitere Rechte wie Rückforderung von Vorschüssen. Im Folgenden soll es um die Kündigungsrechte gehen. Nach ihrem Tatbestand knüpfen manche Klauseln allein an ein bestimmtes Verhalten des Autors an (im Folgenden ‚eingliedrige Tatbestände‘). Dazu zählt z. B. die o. g. Klausel (1) in ihrer ersten Variante. Alle anderen zitierten Klauseln haben ‚zweigliedrige Tatbestände‘, die kumulativ erstens ein bestimmtes Verhalten des Autors voraussetzen und zweitens bestimmte Konsequenzen dieses Verhaltens für den Verlag verlangen, damit gekündigt werden kann, etwa beeinträchtigtes Verkaufspotenzial oder Rufschädigung des Verlages.

5.2 Zur Rechtsnatur des Verlagsvertrages

Verlagsverträge sind Dauerschuldverhältnisse,Footnote 56 also über einen gewissen Zeitraum andauernde Beziehungen, aus denen laufend neue Rechte und Pflichten entstehen.Footnote 57 Die vertraglichen Hauptpflichten des Autors folgen aus §§ 1, 2, 8 VerlG. Er hat dem Verleger das Werk zur Vervielfältigung und Verbreitung für eigene Rechnung zu überlassen, ihm insbesondere das Verlagsrecht zu verschaffen. Zudem muss er Vervielfältigungen und Verbreitungen unterlassen, die einem Dritten während der Dauer des Urheberrechts untersagt sind (§ 2 Abs. 1 VerlG). Hauptpflichten des Verlegers sind es, das Werk zu vervielfältigen und zu verbreiten (§ 1 VerlG), und zwar jeweils in zweckentsprechender und üblicher Weise (§ 14 VerlG). Zudem hat er, soweit vereinbart, die Vergütung zu zahlen (§ 22 Abs. 1 VerlG).

Neben diese wirtschaftliche Dimension tritt die geistige Dimension der Beziehung zwischen Verleger und Autor, die nicht selten aufgrund der intellektuellen Verbundenheit auch eine persönliche Ebene hat. So zieht der deutsche Verleger Siegfried Unseld für die Beziehung zwischen Autor und Verlag die Parallele zu einem „Eheversprechen“.Footnote 58 Es ist das Spannungsverhältnis zwischen Geist und Kommerz“,Footnote 59 das sich in der hier zu besprechenden Problematik niederschlägt. So fruchtbar beide Seiten zusammenarbeiten können, so sehr können sie dem Ansehen der jeweils anderen Seite schaden.

Das Recht des Verlagsvertrages greift die Problematik punktuell auf. Der Verlag kann dem Autor z. B. durch unüblichen Vertrieb, durch eine unangemessene Ausstattung des Buches oder unpassende Werbung schaden. Hier beugt § 14 VerlG vor. Auch eine Änderung des Verlagsprogramms und damit der inhaltlichen Ausrichtung des Verlages kann für den Autor nachteilig sein. Deshalb gibt der Normvertrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und des Verbands Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller dem Autor bei einer unzumutbaren Veränderung des Verlagsprogramms unter bestimmten Voraussetzungen ein Rücktrittsrecht.Footnote 60 Darunter ließen sich möglicherweise auch Fälle fassen, in denen die moralische Positionierung des Verlages der persona des Autors nicht mehr entspricht.

Für die umgekehrte Situation von Veränderungen in der persona des Autors finden sich keine spezifischen Regeln. Dabei ist das Vertrauen des Verlegers darauf, der ihm zu überlassende Inhalt werde auch wirtschaftlich verwertbar sein,Footnote 61 grundsätzlich schützenswert. Dem trägt das Enthaltungsgebot des § 2 Abs. 1 VerlG Rechnung, ebenso die Rechte aus §§ 30, 31 VerlG bei nicht vertragsgemäßer Leistung. Sie alle beziehen sich aber ausschließlich auf das konkret geschuldete Werk. Das Vertrauen des Verlegers in die persona des Autors, das über die wirtschaftliche Verwertbarkeit des Buches hinausgehend den Beitrag des Autors zum Ruf des Verlages umfasst, wird im VerlG nicht adressiert.

Die Einordnung des Verlagsvertrages als Dauerschuldverhältnis ermöglicht es in gewissem Rahmen, dem „Prognoserisiko“Footnote 62 Rechnung zu tragen, das mit der Eingehung länger dauernder Bindungen einhergeht. Insbesondere gibt es spezielle Kündigungsrechte (§ 314 BGB). Ist ein Dauerschuldverhältnis zusätzlich noch in besonderem Maße darauf angewiesen, dass beide Seiten sich vertrauen, können sich daraus gesteigerte Rücksichtnahmepflichten ergeben, und die Kündigung kann auch wegen einer Zerstörung des Vertrauensverhältnisses erfolgen.Footnote 63 Der Begriff des Vertrauensverhältnisses meint eine Beziehung, bei der man – neben wirtschaftlichen Gründen – auch wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften mit dem Vertragspartner zusammenarbeitet, wie etwa bei Gesellschaftsverträgen.

Der Verlagsvertrag ist als ein solches Dauerschuldverhältnis anzusehen, das auf gegenseitiges Vertrauen angewiesen ist.Footnote 64 Der Autor vertraut dem Verlag die Verwertung seines urheberrechtlich geschützten Werkes an, und der Verlag vertraut darauf, dass der Schriftsteller und sein Werk in das Programm des Verlages passen und das Werk wirtschaftlich erfolgreich ist. Der Bundesgerichtshof betont, dass dieses Vertrauensverhältnis zwischen Verleger und Autor nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene, sondern auch auf geistiger und persönlicher Ebene bestehen muss.Footnote 65 Gegenseitige Rücksichtnahmepflichten spielen im Verlagsvertrag nach alldem eine wichtige Rolle, und der Vertrag kann gekündigt werden, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verleger und Autor zerstört ist.Footnote 66

Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass der Verlagsvertrag ein Dauerschuldverhältnis ist, das in besonderer Weise auf einem wirtschaftlichen, aber auch persönlichen und geistigen Vertrauensverhältnis beider Vertragsparteien gründet. Hieraus können sich besondere Rücksichtnahmepflichten, aber auch besondere Lösungsrechte ergeben.

5.3 Art der Leistungsstörung

In den für Moralklauseln einschlägigen Fällen wird das unmoralische oder rechtswidrige Verhalten nicht dem Verlag als Vertragspartner gegenüber begangen. Auch ist der Inhalt des Buches selbst nicht Gegenstand der Kritik (anders z. B. im Fall Dr. Seuss). Vielmehr betrifft das Verhalten des Autors Dritte oder (auch) die Allgemeinheit, und verletzt deren Rechte oder Interessen oder auch nur ihre Moralvorstellungen. Der Verlagsvertrag selbst kann von beiden Seiten so durchgeführt werden wie vereinbart.

Verändert hat sich aber möglicherweise die persona des Autors. Die Maske, die der Autor zu einem künstlerischen Zweck einsetzt, fällt. Da auch Verlage sich auf dem Literaturmarkt mit einem unternehmerischen Image positionieren, können sie durch die Zusammenarbeit mit einem bestimmten Autor beeinträchtigt werden.

5.4 Gesetzliche Kündigungsrechte

5.4.1 Rechtsgrundlagen

Nach § 18 Abs. 1 VerlG kann der Verleger das Vertragsverhältnis mit dem Verfasser kündigen, wenn der Zweck, dem das Werk dienen sollte, nach Vertragsabschluss wegfällt. Gedacht ist an Fälle, in denen dem Werk die tatsächliche Grundlage entzogen wird,Footnote 67 etwa wenn ein Gesetzeskommentar zu einem Gesetz verfasst werden soll, dieses jedoch außer Kraft gesetzt wird.Footnote 68 Fälle, in denen wegen unmoralischen oder rechtswidrigen Verhaltens des Verfassers der Werkzweck wegfällt, sind kaum denkbar. Moralische oder rechtliche Verfehlungen können zwar die Eignung eines Autors entfallen lassen und damit den Werkzweck mit diesem Autor unerreichbar machen, z. B. bei einem feministischen Manifest eines männlichen Verfassers, der sexueller Übergriffe auf Frauen überführt wird.Footnote 69 Der Werkzweck selbst entfällt nicht. Zu denken wäre allenfalls daran, dass der Autor den Verlag arglistig über seine Qualifikation im weitesten Sinne getäuscht hat, was u. U. zur Anfechtung berechtigen könnte.

Der Verlagsvertrag kann als Dauerschuldverhältnis nach § 314 Abs. 1 S. 1, 2 BGB durch jeden Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden.Footnote 70 Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Der wichtige Grund muss also durch eine umfassende Abwägung der gegenseitigen Interessen festgestellt werden; nur die Unzumutbarkeit für den Kündigenden genügt nicht.Footnote 71

Ein wichtiger Grund kann in einer Verletzung vertraglicher PflichtenFootnote 72, aber auch in anderen Umständen, insbes. der Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses,Footnote 73 begründet sein.

5.4.2 Pflichtverletzungen

Zu klären ist also zunächst, ob ein Autor, der sich unmoralisch oder rechtswidrig verhält und damit Dritten oder Interessen der Allgemeinheit schadet, Pflichten gegenüber seinem Verleger verletzt.

Werden, wie im Fall Bailey, Verhaltensweisen aus der Vergangenheit, also der Zeit vor Vertragsabschluss, im Nachhinein entdeckt, kann darin keine Pflichtverletzung gegenüber dem Verlag liegen. Allenfalls lässt sich diskutieren, ob der Autor den Verlag bei Vertragsabschluss über vergangene Sachverhalte aufklären muss. Beim Vertragsabschluss muss jeder „den anderen Teil über Umstände auf[zu]klären, die den Vertragszweck (des anderen) vereiteln können und daher für seinen Entschluss von wesentlicher Bedeutung sind, sofern er die Mitteilung nach der Verkehrsauffassung erwarten konnte“Footnote 74. Der Vertragszweck des Verlages, ein Werk wirtschaftlich erfolgreich zu verlegen, kann durch Umstände wie die hier diskutierten vereitelt werden. Allerdings ist nach der Verkehrsauffassung eine Mitteilung im Sinne einer Selbstbezichtigung dann nicht zu erwarten, wenn kein unmittelbarer Zusammenhang mit den vertraglich übernommenen Pflichten besteht,Footnote 75 denn sonst wäre es dem Betreffenden unmöglich oder deutlich erschwert, einen Vertrag zu schließen.Footnote 76 Eine so weitreichende Aufklärung ist ihm nicht zumutbar und wäre im Umfang auch kaum abgrenzbar. Sämtliche Autor*innenpflichten bleiben trotz rechtlicher oder moralischer Fehltritte des Autors erfüllbar. Denkbar ist, dass persönliche Verfehlungen die Qualifikation des Autors entfallen lassen, etwa wenn ein Arzt einen medizinischen Ratgeber verfasst hat und ihm wegen bestimmter Verfehlungen die Approbation entzogen wird. Über den Entzug müsste er den Verlag aufklären.

Eine Pflicht des Autors, nach Vertragsabschluss den Wert des geschuldeten Werkes sowie den Ruf des Verlages nicht durch Verfehlungen der hier in Rede stehenden Art zu schmälern, könnte aus § 241 Abs. 2 BGB hergeleitet werden. Ein Schuldverhältnis kann demnach jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. Der Verfasser muss es dem Verleger ermöglichen, das Verlagsrecht angemessen zu nutzen (Leistungstreuepflicht). Zudem wäre zu erwägen, ob der Autor den Ruf des Verlages schützen muss, weil er als Autor besondere Möglichkeiten hat, auf diesen Ruf einzuwirken (Schutzpflicht). Ob solche Pflichten im Sinne eines moralischen, rechtmäßigen Lebenswandels anzunehmen sind, ist bisher nicht geklärt.

Möglicherweise lassen sich aus dem Arbeitsrecht Rückschlüsse ziehen. Außerdienstliches Verhalten eines Arbeitnehmers wird nur dann durch Treuepflichten aus dem Vertrag beeinflusst, wenn das Verhalten einen beeinträchtigenden Bezug zum Arbeitsverhältnis hat.Footnote 77 Insbesondere im öffentlichen Dienst wird angenommen, dass aus § 241 Abs. 2 BGB die Pflicht folgt, auch außerhalb der Arbeitszeit auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen.Footnote 78 Bei Arbeitsverträgen besonderer Berufsgruppen setzt die vertragsgemäße berufliche Leistung voraus, dass eine „weit in die persönliche Lebensführung hineinreichende Disziplin geübt wird.“Footnote 79 Beispiele sind etwa Schauspieler, verschiedene Gruppen von Sportlern oder Fernsehmoderatoren.

Diese Fälle sind mit einem Verlagsvertrag insofern vergleichbar, als es auch um ein Dauerschuldverhältnis geht. Zudem kann die vom Verlag gezahlte Vergütung in ihrer Bedeutung mit dem Arbeitseinkommen vergleichbar sein. Anders als beim Arbeitsverhältnis ist aber beim Verlagsvertrag i. d. R. nicht die ordnungsgemäße Erbringung einer geschuldeten Leistung gefährdet, wenn unmoralisch oder rechtswidrig gehandelt wird.

Anderes kann gelten, wenn die Qualifikation des Autors und damit das Werk betroffen ist (s. o. das Beispiel der Approbation) oder wenn dessen Inhalt so stark von der persona des Autors, etwa als moralischer Instanz, geprägt ist, dass er bei einer Veränderung dieser ‚Maske‘ nicht mehr überzeugen kann. Dann kann ein Verstoß gegen eine leistungsbezogene Treuepflicht vorliegen. So wird ein Gebetbuch für Kinder, das ein Mönch verfasst hat, wertlos, wenn dieser Mönch wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt wird. Ein Grenzfall dürfte der Fall Bailey sein. Da Roth selbst wegen seiner Frauenfeindlichkeit und seiner vielen, oft jungen Liebhaberinnen in der Kritik steht, können die Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Autor seiner Biografie auch Einfluss auf das Werk haben. Im konkreten Fall betrafen sie die Zeit vor dem Abschluss des Verlagsvertrages, so dass vertragliche Pflichten nicht verletzt sein konnten.

Schließlich ist denkbar, dass das Verhalten des Autors in bestimmten Fällen den Ruf oder die Verlagsmarke des Verlages schädigt, etwa wenn Straftaten unter Nutzung des Verlagsnamens oder der Marke begangen werden. Dann kann ein Verstoß gegen entsprechende Schutzpflichten für die Marke und den Ruf des Verlages vorliegen. Um diese Fälle geht es hier jedoch nicht. Diskutieren kann man, ob der Autor besonders schwere, besonders gemeinschaftsschädliche Gesetzesverstöße deshalb unterlassen muss, weil sein Name mit dem des Verlages in Verbindung gebracht wird. Eine solche Schutzpflicht würde jedoch zu weit in die private Lebensführung eingreifen; anderes wäre denkbar, wenn das Vertragsverhältnis zum Verlag in besonderer, sich an den Arbeitsvertrag annähernder Weise ausgestaltet wäre.

5.4.3 Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses

Ein wichtiger Grund kann auch in der Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen Verlag und Autor liegen.Footnote 80 Beispiele aus der Praxis zu Verlagsverträgen betreffen Verhaltensweisen, die die direkten vertraglichen Beziehungen berühren und zugleich Pflichtverletzungen gegenüber dem Vertragspartner sind, etwa die Anmeldung eigener, potenziell konkurrierender Schutzrechte durch den VerlegerFootnote 81 oder beleidigende Äußerungen gegenüber dem Vertragspartner, die an die Öffentlichkeit dringen.Footnote 82 Es geht in diesen Fällen um das Vertrauen in die Vertragstreue und Rechtschaffenheit der anderen Seite.Footnote 83 Bei Straftaten, die nicht gegenüber dem Vertragspartner begangen werden, wird in der Literatur darauf abgestellt, ob durch die Taten der Vertragszweck gefährdet ist.Footnote 84 Dazu könnte es etwa zählen, wenn jemand mit der Abrechnung eines Projektes beauftragt ist, der wegen Betruges verurteilt wurde. Bezogen auf den Verlagsvertrag könnte darunter z. B. der Fall zu fassen sein, dass ein Autor in anderem Zusammenhang wegen Plagiats verurteilt wurde; das könnte, je nach den Umständen des Einzelfalls, den Vertragszweck bezüglich des neuen Buches gefährden.

In den hier zu diskutierenden Fällen lässt sich aus dem rechtswidrigen oder unmoralischen Verhalten des Autors jedoch nicht darauf schließen, dass man mit ihm im Rahmen eines Verlagsvertrages nicht zuverlässig zusammenarbeiten kann. Vielmehr hat der Verlag sich allein hinsichtlich der moralischen persona des Autors verschätzt. Das Risiko könnte grundsätzlich der Sphäre des Verlages zuzurechnen sein. Maßgeblich für die Risikoverteilung sind Vertrag, Vertragszweck und die anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen.Footnote 85

Verlagsverträge, die keine Moralklauseln enthalten, geben i. d. R. keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Autor dafür verantwortlich sein soll, mit seinem persönlichen Lebenswandel zum wirtschaftlichen und geistigen Erfolg des Buches beizutragen. Auch der Vertragszweck legt nicht generell nahe, dass das Risiko einer Veränderung der persona auf den Autor zu verlagern ist. Der Zweck des Verlagsvertrages ist auf den oben beschriebenen Leistungsaustausch, bezogen auf ein konkretes Werk, gerichtet. Das Werk selbst und auch den Autor kann der Verleger kennenlernen und sich so einen Eindruck von der Persönlichkeit des Autors verschaffen. Zwar hat der Autor einen Wissensvorsprung bzgl. vergangener, unbekannter Ereignisse und die (weitgehende) Hoheit über sein künftiges Verhalten. Allerdings bezieht sich beides auf seinen höchstpersönlichen Lebensbereich und betrifft nicht das geschuldete Werk. Dass Aspekte aus dem persönlichen Bereich den Zweck des Verlagsvertrages gefährden können, der auf das Verlegen eines bestimmten Buches gerichtet ist, dürfte selten der Fall sein. Persönliche Skandale um Autoren erhöhen nicht selten zumindest kurzfristig die Verkaufszahlen – langfristig mag sich das für den Verlag insgesamt anders darstellen, wenn sein Ruf leidet. Dieser Aspekt geht aber über den des Zwecks des Werks selbst hinaus. Er wird nur in extremen Fällen besonders schwerer oder gemeinschaftsschädlicher Straftaten geeignet sein, das Vertrauensverhältnis zu zerstören.

Will der Verlag die über die genannten Beispiele hinausgehenden Risiken, die sich aus dem Lebenswandel des Autors ergeben, nicht tragen, muss er sie – soweit rechtlich zulässig, dazu unten 5. – im Rahmen der Vertragsgestaltung auf den Autor abwälzen. Er weiß, dass gerade heute angesichts der Öffentlichkeit des Internets das Verhalten seiner Autoren ihm wirtschaftlichen Schaden bereiten kann. Sorgt er hier nicht vor, ist er auch grundsätzlich nicht zur Kündigung berechtigt. Das ergibt auch eine Abwägung des Interesses des Verlages an der Lösung vom Vertrag mit dem Interesse des Autors am Weiterbestand desselben. Der Autor hat seine vertraglichen Pflichten erfüllt und hat ein berechtigtes Interesse daran, auch künftig ein Honorar aus dem Vertrieb des Buches zu erhalten. Der Verlag hat zwar ein ebenfalls berechtigtes Interesse, keinen wirtschaftlichen Schaden durch schlecht beleumundete Autoren zu erleiden. Er ist aber bezogen auf das Werk zumindest insoweit geschützt, als die Vergütung sich üblicherweise als prozentualer Anteil an den Einnahmen aus den verkauften Büchern errechnet, bei Nichtverkauf des Buches der Autor also nicht bezahlt wird; anders ist dies nur bei umsatzunabhängiger Mindestvergütung,Footnote 86 die der Verlag aber nicht vereinbaren muss.

Das Ergebnis, dass der Verlag grundsätzlich das Risiko des Imagewandels seines Autors trägt, entspricht auch den Wertungen des VerlG. Es gesteht dem Verlag ein Lösungsrecht in den hier erörterten Fällen nicht zu und schützt punktuell den Autor vor Maßnahmen des Verlages, die seinen Ruf schädigen (s. § 14 VerlG).

Nach alldem kann ein Verlag grundsätzlich nicht nach § 314 BGB außerordentlich kündigen, wenn sein Autor durch rechtswidriges oder unmoralisches Handeln seine persona, seine ‚Maske‘ teilweise verliert. Anders mag es in Extremfällen liegen, in denen das Verhalten des Autors ausnahmsweise den Vertragszweck – bezogen auf den konkreten Verlagsvertrag – oder den Ruf des Verlages insgesamt gefährdet.

5.5 Vertragliche Kündigungsrechte

Moralklauseln mit Kündigungsrechten könnten jedoch in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (a) oder individuell vereinbart werden (b).

a) Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen

Angesichts des weiten Begriffs der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) werden in der Regel solche Klauseln, die ein Verlag seinen Autoren präsentiert, AGB sein. Ihre Inhaltskontrolle setzt nach § 307 Abs. 3 S. 1 BGB voraus, dass sie von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen treffen. Das ist bei Moralklauseln der Fall, weil sie vom VerlG abweichen, das keine solchen Klauseln kennt.

Eine Inhaltskontrolle kommt allein am Maßstab des § 307 BGB in Betracht. Da Schriftsteller im Sinne des BGB Unternehmer sind (§ 14 BGB),Footnote 87 sind die § 308 Abs. 1 Nr. 1, 2–8 und § 309 BGB nicht anwendbar (§ 310 Abs. 1 S. 1 BGB); § 308 Abs. 1 Nrn. 1a und 1b BGB sind nicht einschlägig. Eine Moralklausel ist nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders der Klausel, also den Autor, unangemessen benachteiligt.

aa) § 307 Abs. 2 BGB

Das ist nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB der Fall, wenn die Klausel mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist. Eine Abweichung von den Grundgedanken der gesetzlichen Regelungen in diesem Sinne liegt vor, wenn das Leitbild abgeändert wird, das dem Gesetz zugrunde liegt, oder „tragende[…] Gedanken des gesetzgeberischen Gerechtigkeitsmodells“Footnote 88 beeinträchtigt werden.Footnote 89

Betrachten wir zunächst die eingliedrigen Klauseln, die allein an ein bestimmtes rechtswidriges oder unmoralisches Verhalten des Autors anknüpfen. Oben wurde ausgeführt, dass der Autor das Werk erstellen, dem Verleger überlassen und das Verlagsrecht verschaffen muss. Das VerlagsG erlegt das Risiko der wirtschaftlichen Verwertbarkeit des Werkes im Grundsatz dem Verleger auf und schützt ihn durch die Enthaltungspflicht des Autors aus § 2 VerlG und durch die Rechte aus §§ 30, 31 VerlG, die Verzug und Mängel des Werkes betreffen. Zudem kann die persönliche Vertrauensbeziehung gesteigerte Pflichten mit sich bringen, nach dem oben Gesagten aber grundsätzlich nicht für die Lebensführung des Autors als solche.

Dem Autor nun vertragliche Obliegenheiten für seine sonstige Lebensführung aufzuerlegen, bei deren Verletzung er Rechte aus dem Vertrag verliert, würde seinen Pflichtenkanon in einer Weise erweitern, die über das gesetzliche Modell des Verlagsvertrages hinausginge und das ‚Gerechtigkeitsmodell‘, das dem VerlG zugrundliegt, maßgeblich verändern würde. Den Autor träfen für die gesamte Laufzeit des Verlagsvertrages dauernde Handlungsvorgaben über den werksbezogenen Leistungsaustausch hinaus, die eher zu einem Arbeitsverhältnis passen, das aber gerade nicht vorliegt; der Verlagsvertrag ist, wie dargelegt, eher einem Werkvertrag verwandt. Die Voraussetzungen des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB sind daher erfüllt, die Klauseln daher unwirksam.

Eingliedrige Klauseln könnten auch die wesentlichen Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben (‚Kardinalpflichten‘), so einschränken, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Auch dann wären sie unwirksam. Moralklauseln schränken die Pflichten des Verlegers, das Werk zu vervielfältigen und zu verbreiten und – wenn vereinbart – ein Honorar zu zahlen, erheblich ein, indem sie ihm ein Kündigungsrecht geben, das nicht auf Mängel des Werkes selbst und werkbezogenes Verhalten des Autors, sondern auf dessen allgemeine Lebensweise abstellt. Damit wird, wenn tatsächlich gekündigt wird, auch der Zweck des Verlagsvertrages, im gegenseitigen Leistungsaustausch ein urheberrechtlich geschütztes Werk zu veröffentlichen, verfehlt.

Danach benachteiligen eingliedrige Klauseln den Autor grundsätzlich unangemessen.

Die zweigliedrigen Moralklauseln setzen – mit unterschiedlichen Formulierungen im Detail – zusätzlich voraus, dass der Absatzerfolg des Buches geschmälert wird. Durch dieses Erfordernis wird die Reichweite der Klauseln begrenzt und es fragt sich, ob die für eingliedrige Klauseln festgestellte Unangemessenheit so beseitigt wird. Immerhin stellen die zweigliedrigen Klauseln eine Beziehung zwischen dem Verhalten des Autors und dem Absatzerfolg des Buches her, denn es werden nur Verhaltensweisen erfasst, die sich auf den Verkauf des Buches auswirken. Insofern besteht eine gewisse Nähe zu dem Enthaltungsgebot aus § 2 VerlG und vertraglichen Wettbewerbsverboten, die dem Verfasser eine anderweitige Nutzung des Werkes untersagen. Und doch besteht ein wesentlicher Unterschied, denn die letztgenannten Pflichten betreffen den konkreten Umgang mit dem Werk selbst – der Autor darf es nicht anderweitig verwerten und nicht an direkten Konkurrenzprodukten mitwirken. Die hier in Rede stehenden Klauseln sind dagegen offen formuliert, weil die Möglichkeit zur Beeinträchtigung des Absatzes nicht näher qualifiziert oder quantifiziert wird. Es bleibt daher dabei, dass sie den Pflichtenkreis des Autors ebenfalls in einer Weise verändern, die über das vom VerlG vorgesehene Gerechtigkeitsmodell hinausgeht. Erst recht unzulässig sind dann zweigliedrige Klauseln, die neben dem Verhalten des Autors ohne Bezug zum Werk voraussetzen, dass der Ruf des Verlages geschädigt werden kann.

bb) Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB

Eine unangemessene Benachteiligung i. S. v. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB kann auch daraus folgen, dass die Klausel nicht klar und verständlich ist. Die oben zitierten Klauseln beschreiben das inkriminierte Verhalten des Autors teilweise präzise (z. B. öffentliche Anklage wegen einer Gesetzesverletzung), oft aber vage (z. B. Verhalten, das den Autor der Verachtung preisgibt). Sind – so in den zweigliedrigen Klauseln – zusätzlich bestimmte Auswirkungen auf den Verlag Voraussetzung der Kündigung, wird meist ein Schaden für den Absatz des Buches oder den Ruf des Verlages genannt. Fraglich ist, ob diese Klauseln intransparent sind und eben diese Intransparenz den Autor unangemessen benachteiligt.Footnote 90

Die Anforderungen an die Transparenz sollen sicherstellen, dass der Verwender der AGB die Rechte und Pflichten des Vertragspartners „durchschaubar, richtig, bestimmt und möglichst klar darstellt.Footnote 91 Maßgeblich ist hier der unternehmerische Geschäftsverkehr. Allerdings ist zu beachten, dass viele Autoren keine Kenntnisse über Verlagsverträge haben und sich häufig auch keine entsprechende Beratung leisten.Footnote 92 Zudem ist auch ein Unternehmer vor zu pauschal und zu vage gefassten Klauseln zu schützenFootnote 93, und um genau diese Fälle geht es hier. Eine mögliche Intransparenz folgt hier nicht primär daraus, dass die Moralklausel unverständlich wäre, sondern sie ergibt sich aus ihrer Unschärfe und Weite. Die zitierten Klauseln bemühen sich zwar teilweise um konkrete Benennung der Verhaltensweisen, die zu einer Kündigung führen können, stützen sich aber alle auch auf vage beschriebene Sachverhalte. Da häufig zudem auf die – oft gänzlich unvorhersehbaren – Reaktionen der Öffentlichkeit abgestellt wird, kann der Autor keine klaren Rückschlüsse auf die Reichweite der Kündigungsrechte ziehen. Nimmt man hinzu, dass gleichermaßen ungenau die wirtschaftlichen Folgen (Absatzrückgang etc.) beschrieben werden, folgt aus diesem Klauselteil eine Intransparenz. Die Benachteiligung des Autors folgt daraus, dass für ihn unvorhersehbar ist, wann der Verlag sich auf Klausel berufen wird. Das Kündigungsrecht gibt dem Verlag eine für den Autor auch wirtschaftlich nicht einschätzbare Exit-Option. Auch wenn Unmögliches vom Verwender nicht verlangt werden kann, ist doch nicht ersichtlich, warum die Klauseln derart offen und weit gefasst werden müssen.

Wegen Intransparenz sind die Moralklauseln daher unwirksam, wenn sie in allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart werden.

b) Individualabreden

Individuell vereinbarte Moralklauseln, die keine AGB sind, liegen vor, wenn nicht der Verlag eine vorformulierte Klausel ohne jeglichen Verhandlungsspielraum für den Autor in den Vertrag aufnimmt, sondern über die Klausel und ihren konkreten Inhalt mit dem Autor verhandelt.

Für individuell vereinbarte Moralklauseln gilt nach § 138 Abs. 1 BGB die gegenüber § 307 BGB deutlich höhereFootnote 94 Schwelle der Sittenwidrigkeit. Rechtsgeschäfte, die so weit von den ethischen Grundlagen der Rechtsgemeinschaft abweichen, dass sie für diese unerträglich sind, sind nichtig.Footnote 95 Das ist der Fall, wenn sie, so die bis heute übliche, wenn auch viel kritisierte Formel, gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstoßen. Dabei kann das Verhalten gegenüber dem Vertragspartner, aber auch gegenüber Dritten oder gegenüber der Allgemeinheit sittenwidrig sein.Footnote 96 Hier kommt eine Sittenwidrigkeit gegenüber dem Autor unter zwei Aspekten in Betracht: Zum einen, weil dieser durch eine solche Klausel in seiner Handlungsfreiheit beschränkt wird, und zum anderen, weil u. U. der Verlag seine Übermacht ausnutzt, wenn er dem Autor eine Moralklausel oktroyiert. Der letztgenannte Fall dürfte im Fall einer echten Verhandlung der Klausel allerdings nicht gegeben sein, so dass hier das AGB-Recht i. d. R. Abhilfe verspricht. Es bleibt daher die Sittenwidrigkeit unter dem Aspekt der Freiheitsbeschränkung zu betrachten, wobei dort das eventuelle Ausspielen verlegerischer Macht – etwa indem überhaupt über eine Moralklausel verhandelt wird – eine Rolle spielen kann.Footnote 97

Eine sittenwidrige Freiheitsbeschränkung kann darin liegen, dass der Autor in der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit behindert wird, indem ihm für sein persönliches Verhalten außerhalb des Verlagsvertrages Vorgaben gemacht werden,Footnote 98 an die sich ein Rechtsverlust knüpft. Wie stets, hängt es von sämtlichen Umständen des Einzelfalls ab, ob eine Moralklausel die Freiheit des Autors auf sittenwidrige Weise beschränkt. Dennoch lassen sich einige Eckpunkte festhalten, die sich auf das inkriminierte Verhalten, den Zusammenhang mit dem Geschäftsinteresse des Verlages und die Bestimmtheit der Klausel beziehen.

Solange Moralklauseln nur Verhalten erfassen, das strafbar ist, ist der Autor insofern nicht schutzwürdig. Ein sachlicher Zusammenhang mit dem verlegten Werk, etwa Folgen für dessen Absatz, muss nicht als zusätzliche Voraussetzung in die Klausel aufgenommen werden. Ein Verlag hat ein legitimes Interesse daran, nicht mit straffälligen Autoren zusammenzuarbeiten. Allerdings sollte die Klausel auf die rechtskräftige Verurteilung, nicht nur auf den Verdacht einer Straftat abstellen. Zwar gilt die Unschuldsvermutung des Art. 11 EMRK nicht zwischen Privaten, aber die ihr zugrundeliegende Wertung ist zu beachten.

Moralklauseln, die ohne nähere Beschränkung jegliches rechtswidrige Tun erfassen, reichen zu weit, denn sie sind durch ein Interesse des Verlages nicht gerechtfertigt. Die Art der Rechtsverstöße, z. B. Diskriminierungen, sollte näher bezeichnet werden. Ob dann in der Klausel zusätzlich ein Zusammenhang mit dem Geschäftsinteresse des Verlages hergestellt werden muss, hängt vom Einzelfall ab; es dürfte Rechtsverletzungen geben, bei denen der Verlag prinzipiell ein Interesse daran hat, die Zusammenarbeit mit dem Autor zu beenden, etwa wenn der Autor bezüglich anderer Werke des Plagiats überführt wurde.

Reichen Moralklauseln in den rein moralischen Bereich hinein, sind eingliedrige Klauseln im o. g. Sinne, die dem Autor etwa vorgeben, partnerschaftliche Treue oder eine bestimmte Sexualmoral zu wahren, grundsätzlich als sittenwidrig anzusehen. Auch ein näher definiertes Geschäftsinteresse, etwa die Einschränkung, dass das Verhalten den Absatz des Buches vermindert, dürfte es nur bei besonders engem Zusammenhang mit dem betreffenden Buchinhalt rechtfertigen, dem Autor moralische Vorgaben zu machen.

Schließlich beschränken Klauseln, die einen zu vagen Tatbestand haben, also die einschlägigen Verhaltensweisen nicht klar benennen, den Autor auf unzumutbare Weise – er kann im Vorhinein nicht einschätzen, wann die Klausel nach Ansicht des Verlages eingreift, und sein Verhalten nicht darauf ausrichten. Dem Verlag wiederum ist es zumutbar, Verhaltensweisen zu benennen, die die persona des Autors für ihn untragbar machen. Dabei nicht allein auf das Verhalten des Autors, sondern eine bestimmte öffentliche Reaktion (abgesehen vom Rückgang von Absatzzahlen) abzustellen, also etwa eine öffentliche Verachtung oder Ähnliches, ist ebenfalls zu unbestimmt, weil häufig nicht voraussehbar.

5.6 Zwischenergebnis zu 5

Verlage können Verlagsverträge wegen der hier diskutierten Verhaltensweisen der Autoren, die Rechte oder Interessen Dritter oder Allgemeininteressen oder Moralvorstellungen verletzen, grundsätzlich nicht kündigen. Anders mag es in Extremfällen liegen, in denen das Verhalten des Autors ausnahmsweise den Vertragszweck – bezogen auf den konkreten Verlagsvertrag – oder den Ruf des Verlages insgesamt gefährdet. In Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Verträgen, die deutschem Recht unterfallen, können die in den USA üblichen ein- oder zweigliedrigen Moralklauseln nicht wirksam vereinbart werden. In individuell ausgehandelten Verträgen sind Moralklauseln in gewissen Grenzen zulässig.

6 Fazit

Ziel dieses Beitrags war es, Moralklauseln als Forschungsobjekt interdisziplinär zu begegnen und unterschiedliche disziplinäre Perspektiven konstruktiv zu verflechten. Über vier Disziplinen hinweg – Buchwissenschaft, Literaturwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft – haben wir dieses Thema erarbeitet, diskutiert (auch kontrovers), und beschrieben. Mit unseren verschiedenen methodischen Wegen haben wir uns mit den Moralklauseln einem Erkenntnisgegenstand mit unterschiedlichen, aber auch überlappenden Erkenntniszielen gewidmet. Die Ansätze und Analysen haben zum Teil divergente Ergebnisse zu Tage gefördert – und weitere Forschungsdesiderate für die jeweiligen Disziplinen und darüber hinaus aufgeworfen. Zum Beispiel stellt sich aus Sicht der Buchwissenschaft die Frage, wie sich solche Debatten mittel- und langfristig auf die Verlagsmarke (Imprint oder Konzernmarke) auswirken? Auch könnte man untersuchen, wie innerhalb eines Verlagskonzerns solche Entscheidungen für und wider Moralklauseln gefällt werden. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, wie sich die Debatten auf die Literatur selbst und auf erzählte/gelebte Autor*innenschaft auswirken, d. h. auf die brand narratives der jeweiligen Autor*innen? Die wirtschaftswissenschaftliche Sicht betont die Grenzen, mit Hilfe von morality clauses zukünftiges Verhalten regeln zu können. Eine ökonomisch vorteilhafte Zusammenarbeit von Autor*innen und Verlagen kann durch morality clauses stabilisiert werden, ohne beiderseitige Vorteile ist sie jedoch zum Scheitern verurteilt. Diese Stabilisierungsfunktion muss dann so ausgestaltet werden, dass sie ökonomisch sinnvoll ist, aber auch nicht den entsprechenden Rechtsrahmen sprengt. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist deutlich geworden, dass es eine klare, einfache Lösung des Konflikts, der sich in den Moralklauseln niederschlägt, nicht gibt. Letztlich müssen unter verschiedenen normativen Ansätzen in jedem Einzelfall die Interessen beider Seiten umfassend abgewogen werden. Ist das Vertrauensverhältnis zwischen Verlag und Autor zerrüttet? Verletzt die Klausel das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden? Oder weicht sie von wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes ab? Wie differenziert ist die wechselseitige Abhängigkeit von Autor und Verlag in ihrer persona, ihrem Image, zu beurteilen? Moralklauseln sind in Zeiten, in denen politische Korrektheit und cancel culture diskutiert werden, offenbar nur die Spitze eines Eisbergs, der weiterer Erforschung harrt.

7 Ausblick

Die Beziehungen zwischen Autor*innen und Verlagen sind langfristiger Natur und unterliegen einer großen Unsicherheit über zukünftige Entwicklungen, nicht nur, aber auch hinsichtlich der Moral und Rechtstreue von Autor*innen. Während das deutsche Recht nur in sehr wenigen, besonders gelagerten Fällen dem Verlag gesetzliche Kündigungsrechte gewährt, wenn die persona des Autors sich in puncto Moral oder Rechtstreue wandelt, erlaubt es in gewissen Grenzen, individuelle Moralklauseln zu entwickeln. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind, jedenfalls in Gestalt der üblichen Moralklauseln, kein zulässiges Instrument. Aufgrund der Rechtsunsicherheit und der Transaktionskosten individueller Verhandlungen dürften einzeln ausgehandelte Klauseln jedoch kaum in der deutschen Vertragspraxis Einzug halten.

In den USA werden viele Verlagsverträge aufgelöst, und zahlreiche geplante Bücher erblicken nicht das Licht der Welt. Verlagsarchive sind die Orte, an denen diese Nie-erschienenen-Titel ihr Dasein fristen. Nur sehr selten stützt sich der Verlag auf eine Moralklausel. In einem Kommentar in der New York Times ging die Autorin Judith Shulevitz den Moralklauseln aus Sicht der Autor*innen nach: “Must Writers Be Moral?”, fragte sie. Deutlich wurde, dass die wenigen Fälle, die es in die Medien schaffen, ein verzerrtes Bild der Moralklausel zeichnen. Laut Shulevitz wissen einerseits viele Autor*innen gar nicht, dass sie eine Moralklausel im Vertrag hatten. Andererseits erfahre die Öffentlichkeit nur in den seltensten Fällen davon, wenn eine Moralklausel zum Einsatz und ein Buch deswegen nicht zustande kommt. Nur im Falle prominenter Autor*innen oder eines anschließenden Gerichtsverfahrens würden die Moralklauseln öffentlichkeitswirksam diskutiert.Footnote 99 Ebenso intransparent können die von den Verlagen gezogenen Konsequenzen sein.

Die mediale Breitenwirkung des Einsatzes von Moralklauseln mag zwar dem kündigenden Verlag insofern nützen, als er sich moralisch positionieren kann. Ob freilich das – tatsächlich oder angeblich – darüberstehende moralische Ziel, also eine Welt mit weniger Gesetzes- und Moralverstößen und mit weniger ‚Übergriffen‘, erreicht wird, muss bezweifelt werden. 2020 entschied sich das Imprint Grand Central Publishing der Hachette Book Group (ebenfalls ein Big-5-Publisher) dagegen, Woody Allens Memoiren Apropos of Nothing zu publizieren und gab die Rechte dafür zurück. Auslöser für die Entscheidung war ein öffentlichkeitswirksamer Protest der Kinder Woody Allens sowie der Angestellten der Hachette Book Group.Footnote 100 Es scheint keine Moralklausel im Vertrag vorgelegen zu haben; und die Missbrauchsvorwürfe gegen den Schauspieler und Regisseur Woody Allen waren wohl allen Beteiligten hinlänglich bekannt, als der Vertrag geschlossen wurde. Während der Fall Anfang März 2020 noch sehr virulent in den Medien diskutiert wurde, verdrängte schon bald die COVID-19-Pandemie diese wie auch andere Themen fast gänzlich. Nach wenigen Tagen hatte Woody Allen mit Arcade Publishing (ein Imprint des Independent-Verlags Skyhorse)Footnote 101 bereits einen neuen Verlag gefunden und das Buch erschien nur zwei Wochen später in einer stattlichen Erstauflage von 75.000 Exemplaren.Footnote 102 Skyhorse hat sich schnell bereit erklärt, die erwähnte Roth-Biografie von Blake Bailey zu veröffentlichen.Footnote 103 Von einer cancel culture kann demnach auch in diesem Fall nicht die Rede sein; vielmehr lässt sich eine Reallokation von Inhalten und Autor*innen beobachten, welche mit wenig finanziellem Risiko für die angeblich ‚Gecancelten‘ einhergeht. Mit genügend symbolischem Kapital wird es (fast) immer einen anderen Verlag geben, der dem vermeintlich ‚Gecancelten‘ eine Plattform bietet.

So oder so sind die geführten Debatten über Bücher, die aus moralischen oder rechtlichen Gründen ‚gecancelt‘ werden, im Interesse einer Gesellschaft, die faire und demokratische Strukturen sowie die Unversehrtheit verschiedener Gruppen (und nicht nur die Freiheiten einzelner privilegierter Sektionen) schützen möchte.

Um zur Titelfrage zurückzukehren: „Must writers be moral?“ – nein, müssen sie nicht. In der langfristigen Beziehung von Autor*in und Verlag jedoch beeinflussen immer häufiger moralische Wertungen des gesamten Verhaltens aller Beteiligten ihren jeweiligen Erfolg. Dieser Wandel des Zeitgeistes geht nicht spurlos an der Verlagsbranche vorbei, sondern führt zunehmend zu Verflechtungen in Form von Recht, Literatur und Autor*innenschaft.