4.1 Videoanalyse von Bewegungen

Eine in der Physikdidaktik seit vielen Jahren bekannte Methode zur berührungslosen Erfassung von Orten und Zeitpunkten bewegter Objekte ist die (physikalische) Videoanalyse. Zunächst wird hierbei ein Bewegungsablauf einer Person oder eines Gegenstandes mit einer Kamera gefilmt, wobei darauf zu achten ist, dass ein Maßstab oder ein Gegenstand bekannter Größe im Bild zu sehen ist und der gesamte Bewegungsablauf ohne Kameraschwenk mit möglichst ruhig gehaltener Kamera (ggf. Stativ nutzen) gefilmt wird. Eine bestimmte Position des Bildes, z. B. der Kopf einer Person, wird dann relativ zu einem zweidimensionalen Koordinatensystem bei konstanter Bildwiederholungsrate erfasst. Mithilfe des Maßstabes können diese Ortsdaten des Bildes in Pixeln in Ortsdaten in realen Längeneinheiten umgerechnet werden. Aus den so ermittelten zeitäquidistanten Ortsdaten können die Geschwindigkeit und die Beschleunigung des Objekts näherungsweise errechnet werden.

Der historische Ursprung dieser Messmethode liegt bereits in den 1980er-Jahren. Auf einem Bildschirm wurde ein Video der Bewegung Bild für Bild abgespielt und dessen Position mit einem Folienstift auf einer Transparentfolie, die vor dem Bildschirm platziert wurde, markiert (Overcash, 1987).

Beichner (1990) gelang eine Weiterentwicklung hin zur digitalen Videoanalyse: Das von ihm entwickelte Computerprogramm konnte die mit der Maus markierten Positionen automatisch in ein Zeit-Ort- und auch Zeit-Geschwindigkeit-Diagramm überführen. Diese manuelle Erfassung der Ortsdaten ist bei den Lernenden mit einem hohen Zeitaufwand verbunden, sodass dadurch Zeit für den eigentlichen Lernprozess verloren geht. Daher wurde ab Ende der 1990er-Jahre auf eine weitgehend automatische Erkennung der Objekte im Bild gesetzt, um die Analysezeit zu reduzieren und so die eigentliche Lernzeit zu erhöhen (z. B. Beichner & Abbott, 1999).

Bis in die 2010er-Jahre wurde die Aufnahme des Videos meist mit einer Digitalkamera und die Auswertung später an einem PC durchgeführt. Hierbei zeigten sich technische Hürden beim Transferprozess des Videos auf den PC, beispielsweise die Konvertierung in das passende Videoformat, sodass eine Integration in den regulären Schulunterricht erschwert wurde. Zudem stellt die zeitliche Trennung zwischen Aufnahme und Verarbeitung des Videos ein Lernhemmnis dar (siehe 4.3.1). Gleichwohl hatten und haben die in den 2000er-Jahren entwickelten Analyseprogramme einen deutlich größeren Funktionsumfang: Es werden je nach Programm neben den diagrammatischen und tabellarischen Darstellungen der Daten auch Stroboskopbilder, Streifenbilder und Vektorpfeile zur Darstellung der Ergebnisse angeboten (Suleder, 2020). Einige Programme bieten auch die Möglichkeit zur Auswertung der Daten mittels Regressionsanalyse oder gar zur Modellierung, z. B. mithilfe der Newton’schen Bewegungsgesetze (Weber & Wilhelm, 2018).

Heutzutage verfügen mobile Endgeräte über technisch hochwertige, eingebaute Digitalkameras, sodass mit einer geeigneten Applikation das Video mit ein und demselben Gerät aufgenommen und analysiert werden kann. Dadurch entfallen die oben genannten Erschwernisse und die Bedienung wird gleichzeitig deutlich vereinfacht. Die Tablet-PC-gestützte Videoanalyse stellt somit eine Weiterentwicklung der digitalen Videoanalyse dar. Man muss gleichwohl einräumen, dass die meisten zurzeit verfügbaren Applikationen für die Tablet-PC-gestützte Videoanalyse einen geringeren Funktionsumfang haben als die Programme für den stationären PC. Schnelle und unkomplizierte Exportmöglichkeiten in andere Applikationen, die diesen fehlenden Funktionsumfang ersetzen, können diesen Nachteil jedoch größtenteils kompensieren. Aufgrund der Portabilität der Geräte können Experimente auch außerhalb des Physikraums durchgeführt werden. So können beispielsweise Freihandversuche zu Wurfbewegungen mit Bällen auf dem Schulhof oder dem Spielplatz anstatt im Physikfachraum durchgeführt und somit physikalische Lerninhalte an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler angekoppelt werden (z. B. Becker et al., 2020c). Zudem kann die Nutzung dieser Alltagsgeräte für den Physikunterricht sich auch positiv auf die Experimentier- und Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler auswirken (z. B. Hochberg et al., 2018).

4.2 Durchführung einer Videoanalyse am Beispiel der Applikation Viana

Anhand der speziell für den Physikunterricht entwickelten Applikation Viana (Nordmeier et al., 2016) soll die Durchführung der Videoanalyse beschrieben werden, wie sie auch für die in Abschn. 4.4 vorgestellte Unterrichtsreihe verwendet wurde. Die Applikation kann nur auf iPads installiert werden und ist kostenlos erhältlich.

Nach dem Start der Applikation kann ausgewählt werden, ob ein neues Video aufgenommen, ein bestehendes Video importiert oder ein vorhandenes Projekt bearbeitet werden soll. Neue Videos können mit einer Bildwiederholungsrate von 30, 60 oder 120 Bildern pro Sekunde (fps; engl. „frames per second“) aufgenommen werden. Die hohe Bildwiederholungsrate ermöglicht auch die Analyse von Bewegungen, die für das Auge zu schnell ablaufen. Bei der Aufnahme besteht die Möglichkeit, die Verschlusszeit (Shutter-Zeit) der Kamera und die Helligkeit so einzustellen, dass sich das zu erfassende Objekt gut vor dem Hintergrund abhebt. Zu beachten ist, dass die Verschlusszeit der Kamera kleiner als der zeitliche Abstand zwischen zwei Bildern (1/fps) sein muss.

Nach der Aufnahme oder dem Import beginnt die eigentliche Videoanalyse durch Auswahl der entsprechenden Schaltflächen am unteren Bildschirmrand (Abb. 4.1 unten). Zunächst wird über die Schaltfläche Details der zeitliche Analysebereich des Videos so eingestellt, dass die zu analysierende Bewegung mit dem ersten Bild beginnt. Die Positionserfassung kann entweder als manuelle Erfassung, automatische Farberkennung (Farbkontrast) oder automatische Bewegungserkennung (Hell-Dunkel-Kontrast) erfolgen. Bei der manuellen Erfassung muss das Objekt mit dem Finger in jedem einzelnen Bild markiert werden. Dieses Verfahren ist aufgrund des erheblichen Zeitaufwandes nur zu empfehlen, wenn die automatische Erkennung das Objekt nicht präzise verfolgen kann. Nach der Erfassung der zeitabhängigen Positionen werden diese dem Realbild als Kreuze überlagert (Abb. 4.1 mittig). Nun erfolgt die Umwandlung der Positionen gemessen in Pixel in Positionen gemessen in Längeneinheiten, indem über die Schaltfläche Maßstab einer bekannten Länge im Bild die entsprechende Pixelanzahl zugeordnet wird. Über die gleichnamige Schaltfläche werden Ursprung und Orientierung des Koordinatensystems festgelegt (Abb. 4.1 unten). Es ist zu beachten, dass eine Änderung des Koordinatensystems jederzeit erfolgen kann und automatisiert alle generierten Diagramme simultan daran angepasst werden. Durch Auswahl der Schaltfläche Diagramme werden die Zeit-, Orts- und Geschwindigkeitsdaten entlang der Koordinatenachsen x und y berechnet und nacheinander durch Wischbewegung ein x-y-Ortsdiagramm, ein Zeit-Ort-Diagramm und ein Zeit-Geschwindigkeit-Diagramm je für die x- und y-Richtung angezeigt (Abb. 4.2 mittig und unten). Zur weiteren Auswertung, z. B. für eine Regressionsanalyse, können die Daten abschließend sehr einfach über einen Export direkt in eine weitere Applikation transferiert werden. Eine hierfür geeignete, kostenlose Applikation stellt Vernier Graphical Analysis dar. Hinweise zur Bedienung dieser Applikation finden sich bei Becker et al. (2021).

Abb. 4.1
figure 1

Screenshots der Videoanalyse-App Viana; oben: vor der Bewegungsanalyse, mittig: nach der Bewegungsanalyse, unten: Festlegung des Koordinatensystems, Maßstab und Menüleiste

Abb. 4.2
figure 2

Screenshots der Videoanalyse-App Viana; oben: Stroboskopabbildung, mittig: Zeit-Ort-Diagramm, unten: Zeit-Geschwindigkeit-Diagramm

4.3 Lerntheoretischer Hintergrund

Für die Fundierung der Wirksamkeit digitaler Werkzeuge und damit auch der Forschungshypothesen der in diesem Beitrag vorgestellten empirischen Untersuchungen werden drei etablierte Lerntheorien zum multimedialen Lernen verwendet und im Folgenden kurz vorgestellt: der DeFT-Orientierungsrahmen (Design, Function, Task) für das Lernen mit multiplen externen Repräsentationsformen (MER) nach Ainsworth (1999, 2006, 2008) sowie die Cognitive Load Theory (CLT) nach Sweller et al. (2011) und die Cognitive Theory of Multimedia Learning (CTML) nach Mayer (1999, 2003).

4.3.1 DeFT Orientierungsrahmen für multiple externe Repräsentationen

MER sind verschiedene Repräsentationsformen zu einem gemeinsamen Bezugsobjekt (Krey & Schwanewedel, 2018). Ainsworth (1999, 2006, 2008) differenziert den Begriff in Bezug auf die Naturwissenschaften weiter aus, indem nicht nur zwischen bildhaften und textbasierten Informationen unterschieden wird, sondern stattdessen Diagramme, Formeln, Tabellen etc. als eigenständige Repräsentationen bezeichnet werden.

Für einen erfolgreichen Lernprozess mithilfe von MER müssen laut Ainsworth drei Schlüsselfunktionen erfüllt sein. i) Komplementäre Rollen: Die erste Funktion besagt, dass alle relevanten Informationen auf verschiedene MER aufgeteilt werden sollten, wenn die Bündelung auf eine einzige MER zu einer Überforderung der Lernenden führen würde. Eine Unterstützung des Lernprozesses kann aber auch erreicht werden, wenn verschiedene Repräsentationen die gleichen Informationen beinhalten und der Lernende diese dann individuell auswählen kann. Diese Funktion ist bei der Videoanalyse erfüllt, da die Repräsentationen wie Realbild, Stroboskopabbildung, Tabelle, Diagramm und Formel zeitlich quasisimultan zu einem Bewegungsablauf für den Lernenden zur Verfügung stehen und ausgewählt werden können. ii) Interpretationseinschränkung: Die zweite Schlüsselfunktion bezieht sich auf die Darstellung von zwei Repräsentationen, von denen die eine Informationen für die Lernenden bereitstellt, die für sie sehr allgemein oder auch noch unklar sein könnten. Eine zweite Repräsentation, mit der die Lernenden besser vertraut sind, könnte dieselben Informationen so einschränken, dass Unklarheiten aufgelöst werden können. Bei der Videoanalyse kann z. B. die weniger abstrakte Repräsentation der Stroboskopabbildung mit der deutlich abstrakteren und in anderen Kontexten häufiger genutzten Repräsentation des Diagramms kombiniert werden. iii) Die Konstruktion eines tieferen Verständnisses wird für Lernende ermöglicht, indem sie Informationen aus verschiedenen MER integrieren, die sie aus einer einzelnen Repräsentation nicht hätten erhalten können. Dadurch wird das Transferpotenzial in neue Lernsituationen erhöht. Bei der Videoanalyse kann ein tieferes Verständnis von Bewegungsabläufen vor allem dadurch erreicht werden, dass Bewegungsdiagramme, Stroboskopabbildung und realer Bewegungsablauf miteinander kombiniert werden.

4.3.2 CLT und CTML

Beim Lernen mit MER muss auch die kognitive Belastung berücksichtigt werden, die dazu führen kann, dass bei einer zu hohen kognitiven Belastung während des Lernprozesses die Nutzung von MER keinen Mehrwert mehr für das Lernen darstellt. Mayer (1999, 2003) liefert mit seiner Cognitive Theory of Multimedia Learning (CTML) Leitlinien zur Reduktion dieser kognitiven Belastung.

In der Cognitive Load Theory (CLT) wird angenommen, dass das menschliche Arbeitsgedächtnis in seiner Verarbeitungskapazität begrenzt ist. Hierbei spielen der Schwierigkeitsgrad des Lerngegenstandes (Intrinsic CL), die Qualität der Lernumgebung (Extraneous CL) und die Belastung zum Erlernen neuer Inhalte (Germane CL) eine Rolle. Weiterhin geht die CTML davon aus, dass auditive und visuelle Informationen in getrennten, voneinander unabhängigen Kanälen verarbeitet werden. Jeder Kanal besitzt ebenfalls eine beschränkte Verarbeitungskapazität. Das Lernen stellt innerhalb der CTML einen aktiven Prozess dar, d. h., es ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem neuen Lerngegenstand erforderlich, um diesen in das Langzeitgedächtnis einzubetten.

Folglich können durch eine Reduktion der lernirrelevanten Belastung Ressourcen im Arbeitsgedächtnis freigesetzt werden, die zur Wissenskonstruktion lernrelevanter Inhalte genutzt werden können (Mayer & Moreno, 2003). Eine solche Reduktion kann z. B. dadurch erreicht werden, dass korrespondierende Informationen zeitlich und räumlich simultan zur Verfügung stehen und keine Ressourcen für Suchprozesse zusammengehörender Informationen aufgewendet werden müssen (Mayer & Moreno, 2003). Bei der Tablet-PC-gestützten Videoanalyse, insbesondere bei der vorgestellten Applikation Viana, wird dies dadurch erreicht, dass alle zur Verfügung stehenden MER entweder gleichzeitig auf einem Bildschirm zu sehen sind oder durch Fingergesten zeitlich quasisimultan zur Verfügung stehen.

Weiterhin kann durch eine Aufteilung der lernrelevanten Informationen in kleine Einheiten ebenfalls eine Überlastung vermieden werden. Dies kann z. B. bei einer dynamischen Visualisierung von Informationen dadurch erreicht werden, dass diese in mehrere Abschnitte zerlegt werden, deren zeitliche Abfolge und Dauer von den Lernenden kontrolliert werden können (z. B. Mayer & Pilegard, 2014). Bei der Tablet-PC-gestützten Videoanalyse stellen diese Abschnitte die zur Verfügung stehenden MER dar, welche – je nach Lernpräferenz der Lernenden – für eine beliebige Zeit und in beliebiger Reihenfolge betrachtet werden können. So können beispielsweise die Realbewegung (Abb. 4.1) oder auch die dazu gehörende Stroboskopabbildung (Abb. 4.2 oben) und ein für den Lernprozess relevantes Diagramm (Abb. 4.2 mitte und unten) zeitlich dynamisch und in der Reihenfolge flexibel durch den Lernenden genutzt werden.

4.4 Empirische Prüfung der Lernwirksamkeit

4.4.1 Studiendesign

Die Lernwirksamkeit des unterrichtlichen Einsatzes der Tablet-PC-gestützten Videoanalyse als digitales Experimentier- und Lernwerkzeug wurde in mehreren Feldstudien mit Interventionsgruppe (IG) und Kontrollgruppe (KG) untersucht (Pilotstudie: Becker et al., 2019; Hauptstudie: Becker et al., 2020a, b). Als Untersuchungsdesign wurde sich für eine clusterrandomisierte, quasiexperimentelle Feldstudie mit Prä- und Posttests (vgl. Dreyhaupt et al., 2017) entschieden. Es wurden somit nicht einzelne Individuen der IG und der KG zugeordnet, sondern ganze Physikkurse. Auf eine vollständige Randomisierung wurde verzichtet, denn diese hätte bedingt, dass einzelne Schülerinnen oder Schüler innerhalb eines Physikkurses zur IG oder KG hätten zugeteilt werden müssen und eine gegenseitige Beeinflussung aufgrund der fehlenden räumlichen Trennung nicht hätte ausgeschlossen werden können. Forschungsziel war es, durch den Vergleich mit einer Kontrollgruppe die Wirksamkeit des unterrichtlichen Einsatzes der Tablet-PC-gestützten Videoanalyse hinsichtlich Emotionen, kognitiver Belastung und physikalischen Konzeptverständnisses empirisch nachzuweisen. Die Untersuchungspopulation wurde aus Schülerinnen und Schülern der Eingangsphase der gymnasialen Oberstufe rekrutiert. Während die Schülerinnen und Schüler der IG Experimente mittels mobiler Videoanalyse durchführten, taten dies die Schülerinnen und Schüler der KG mit traditionellen Experimentiermaterialien. Sowohl für die IG als auch für die KG wurde im Vorfeld in Kooperation mit Lehrkräften mit mehrjähriger Berufserfahrung jeweils eine Unterrichtssequenz entwickelt, welche von den an den Studien mitwirkenden Lehrkräften in ihrem eigenen Mechanikunterricht durchgeführt wurde. Als physikalisches Thema wurde die gleichmäßig beschleunigte Bewegung auf Grundlage dessen ausgewählt, dass es sich zum einen um ein essenzielles, curricular valides Thema der Oberstufenphysik handelt und dass zum anderen Schülerexperimente zur Erkenntnisgewinnung bezüglich dieser Thematik in gleicher Weise mit und ohne Videoanalyse durchgeführt und ausgewertet werden können. Im Folgenden soll nun die entwickelte Unterrichtssequenz zur gleichmäßig beschleunigten Bewegung näher beschrieben werden.

Die Sequenz beginnt mit einer vier Unterrichtsstunden umfassenden Experimentierphase, in welcher die Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen experimentieren. Hierzu wurde ein kostengünstiger Experimentaufbau bestehend aus einem Aluminiumprofil, einem Gummifuß und einer Stahlkugel gewählt. Durch den Gummifuß wird das Aluminiumprofil geneigt, sodass die Stahlkugel beim Hinunterrollen bzw. Hinaufrollen positiv bzw. negativ beschleunigt wird. Während die Schülerinnen und Schüler der IG Videos der Kugel mit einem Tablet aufnahmen und mittels der in Abschn. 4.2 vorgestellten Videoanalyse-App Viana analysierten (Abb. 4.2), nutzten die Schülerinnen und Schüler der KG für die Messwertaufnahme und -analyse Maßband, Stoppuhr und grafischen Taschenrechner.

An die Experimentierphase schloss eine lernkonsolidierende Übungsphase an, in welcher die in der Experimentierphase erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten durch die Bearbeitung von Übungsaufgaben gefestigt und vertieft wurden. Hierfür analysierte die IG vorgefertigte Videos von gleichmäßig beschleunigten Bewegungen, die KG bearbeitete traditionelle, papierbasierte Übungsaufgaben. Um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden in den papierbasierten Übungsaufgaben diejenigen Repräsentationen verwendet, welche auch bei der Analyse der vorgefertigten Videos vorkommen.

Hervorzuheben ist hierbei die starke Kontrolle hinsichtlich eines fairen Vergleichs zwischen IG und KG. So unterschied sich die Unterrichtssequenz für beide Gruppen nicht bezüglich des Lerninhalts, der Lernzeit, der Sozialform des Lernens, der eingesetzten Repräsentationsformen oder der kognitiven Anforderungen, sondern lediglich in den verwendeten Experimentier- und Analysewerkzeugen. Die vergleichbaren kognitiven Anforderungen ergeben sich aus der Gleichheit des Lerninhalts und der Vergleichbarkeit der Lernmaterialien sowie insbesondere auch der vergleichbaren Aufgabenstellungen (Becker et al., 2019).

Durch einen Prä-Post-Vergleich wurde für beide Gruppen der Lernzuwachs bezüglich physikalischen Konzeptverständnisses für Experimentier- und Übungsphase durch einen Leistungstest bestimmt und anschließend auf signifikante Gruppenunterschiede hin statistisch geprüft. Die durch die Intervention induzierte kognitive Belastung wurde mittels eines validierten Messinstruments (Cognitive Load Scale; Leppink et al., 2013) erhoben. Zur Erfassung der interventionsinduzierten Emotionen wurde ein Fragebogen bestehend aus Items des Achievement Emotions Questionnaire (Pekrun et al., 2011) bezüglich positiv aktivierender (Freude, Zufriedenheit) und negativ deaktivierender Emotionen (Langeweile, Frustration und Unsicherheit) eingesetzt.

4.4.2 Ausgewählte Studienergebnisse

Interventionsinduzierte Emotionen: Beim Experimentieren mit dem Tablet-PC zeigten die Schülerinnen und Schüler eine signifikant schwächere Ausbildung an negativen Emotionen. Die Ursache könnte darin liegen, dass durch die digitale Erfassung von Messwerten und deren automatisierte Visualisierung Routineaufgaben mit einer geringen kognitiven Aktivierung vermieden werden, was zu einer Steigerung der kognitiven Qualität der Unterrichtssequenz beitragen und dadurch die Formation von negativen Emotionen vermindern kann. Der Gruppenunterschied bezüglich negativer Emotionen konnte zudem mit hoher Teststärke statistisch nachgewiesen werden (siehe Abschn. 4.4.3), was für eine Generalisierbarkeit dieses Studienergebnisses spricht.

Kognitive Belastung: Es konnte mit hoher Teststärke statistisch nachgewiesen werden, dass die lernirrelevante kognitive Belastung der Schülerinnen und Schüler, welche mittels der Tablet-PC-gestützten Videoanalyse experimentierten, signifikant geringer war (siehe Abschn. 4.4.3). Auch hierbei kann somit von einer Generalisierbarkeit des Befundes ausgegangen werden. Das digitale Experimentierwerkzeug erweist sich damit als geeignet, die kognitive Belastung in Experimentiersituationen zu reduzieren und damit kognitive Ressourcen bei den Schülerinnen und Schülern freizusetzen, welche diese für eine aktive Wissenskonstruktion während des experimentbasierten Lernprozesses nutzen können, um den physikalischen Lerninhalt vertieft zu verstehen.

Physikalisches Konzeptverständnis: Für den experimentbasierten Lernprozess wirkte sich der Einsatz des digitalen Experimentierwerkzeugs auch positiv auf das physikalische Konzeptverständnis aus. So erzielten Schülerinnen und Schüler, welche mittels Tablet-PC-gestützter Videoanalyse experimentierten, insbesondere bezüglich des Verständnisses der Beschleunigung als gerichtete Größe signifikant bessere Leistungen als Schülerinnen und Schüler, welche die traditionellen Experimentiermittel nutzten (siehe Abschn. 4.4.3). Eine mögliche Ursache für diesen Effekt ist die dynamische Verknüpfung von Koordinatensystem und Bewegungsdiagrammen, welche in der Videoanalyse-App implementiert ist. So werden bei einer Positionsveränderung des Koordinatensystems die Bewegungsdiagramme automatisch von der Videoanalyse-App entsprechend angepasst, sodass die Lernenden die Auswirkung einer Variation des Koordinatensystems quasisimultan beobachten können, d. h., durch eine Wischbewegung können die Bewegungsdiagramme ohne merkliche Verzögerung betrachtet werden.

Auch hier gelang der statistische Nachweis des positiven Effekts mit hoher Teststärke, darüber hinaus konnte der Effekt in insgesamt zwei Studien nachgewiesen und somit repliziert werden. Damit kann von einer Generalisierbarkeit des Effekts ausgegangen werden, also einer Unabhängigkeit von Stichprobenpopulation und Studiensetting. Damit ist ein grundlegender Bedingungsfaktor für den Praxistransfer und die Implementation in den regulären Schulunterricht erfüllt. Offen bleibt jedoch, ob die Wirksamkeit der Tablet-gestützten Videoanalyse auch bei einem längerfristigen Einsatz erhalten bleibt oder sich durch die wiederholte Anwendung in verschiedenen Kontexten möglicherweise sogar verstärkt.

Während für den experimentbasierten Lernprozess eine replizierbare lernförderliche Wirkung einer digitalen Unterstützung nachgewiesen wurde, war dies indes für die an die Experimentierphase anschließende Übungsphase nicht der Fall. Es konnte somit kein positiver Effekt der Analyse vorgefertigter Videos im Vergleich zu traditionellen, papierbasierten Übungsaufgaben festgestellt werden. Zu prüfen bleibt, ob durch eine Weiterentwicklung der Videoanalyse-App mit optimierten vorgefertigten Videos nicht auch in einer Übungsphase ein lernförderlicher Effekt erzielt werden könnte.

4.4.3 Analysemethoden und statistische Kennwerte

Für die vergleichenden Analysen zwischen der IG und der KG wurden die emotionalen Variablen, die kognitiven Belastungsvariablen und die kognitive Leistungsvariable einer Mehrebenen-Regressionsanalyse mit den zwei Aggregatebenen Schülerinnen und Schüler (Individualebene) und Klassen- bzw. Kursverband (nächst höhere Aggregatebene) unterzogen. Grundlage dieses Verfahrens ist eine simultane mehrstufige Regressionsmodellierung, in welcher für jede Ebene ein eigenes lineares Modell definiert wird. Die Regressionsgleichung für die auf der untersten Ebene gemessene abhängige Variable wird dafür mit Regressionsparametern aus höheren Ebenen ergänzt, für welche wiederum eigene Regressionsgleichungen definiert sind.

Die schwächere Ausbildung an negativen Emotionen konnte dabei mit einer hohen Teststärke von \(1-\beta =\mathrm{.878}\) und einer kleinen Effektstärke von \({\eta }^{2}=\mathrm{.057}\) gezeigt werden. Die geringere lernirrelevante kognitive Belastung wurde mit einer sehr hohen Teststärke von \(1-\beta =\) 0,979 und einer mittleren Effektstärke von \({\eta }^{2}=\mathrm{.090}\) nachgewiesen. Das bessere physikalische Konzeptverständnis konnte mit einer sehr hohen Teststärke von \(1-\beta =\mathrm{.974}\) und einer kleinen Effektstärke von \({\eta }^{2}=\mathrm{.053}\) demonstriert werden.

4.5 Zusammenfassung

Die Tablet-PC-gestützte Videoanalyse ist eine Möglichkeit, Zeit-Ort-Koordinaten bei Bewegungen mit hoher zeitlicher und räumlicher Genauigkeit digital zu erfassen sowie in unterschiedlichen Repräsentationsformen zu visualisieren und damit den experimentellen Lernprozess digital zu unterstützen. Durch das mobile Medium können Lernprozesse aus dem Physiksaal in lebensnahe Umgebungen wie den Sport- oder Spielplatz ausgelagert werden, was zu einer lernförderlichen Realitätsanbindung des Physikunterrichts beitragen kann. Die Lernwirksamkeit eines unterrichtlichen Einsatzes der Tablet-PC-gestützten Videoanalyse im Vergleich zu traditionellen Experimentiermaterialien konnte für das Themengebiet Kinematik in ökologisch validen Feldstudien wissenschaftlich nachgewiesen werden. Damit wurde die Grundlage für eine evidenzbasierte Entscheidung von Lehrkräften für die Nutzung des digitalen Experimentierwerkzeugs im eigenen Unterricht und damit für eine gelingende Implementation in den regulären Schulunterricht gelegt.